E-Book 2008-2017 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 2008-2017 E-Book

Diverse Autoren

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Eine Mami für mich ganz allein … E-Book 2: Eine sehr junge Mutter E-Book 3: Mit meinen Kindern allein E-Book 4: Wir sind keine Waisenkinder mehr E-Book 5: Aus den Augen verloren... E-Book 6: Eine Mutti wird dringend gesucht E-Book 7: Kinder, die nicht mehr weinen müssen E-Book 8: Mein neuer Dad soll der Tierarzt sein E-Book 9: Glückseligkeit bei Wind und Wellen E-Book 10: Liebe ist, wenn man verzeiht

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1178

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Eine Mami für mich ganz allein …

Eine sehr junge Mutter

Mit meinen Kindern allein

Wir sind keine Waisenkinder mehr

Aus den Augen verloren...

Eine Mutti wird dringend gesucht

Kinder, die nicht mehr weinen müssen

Mein neuer Dad soll der Tierarzt sein

Glückseligkeit bei Wind und Wellen

Liebe ist, wenn man verzeiht

Mami – Staffel 29 –

E-Book 2008-2017

Diverse Autoren

Eine Mami für mich ganz allein …

Emily muss keine Angst mehr haben

Roman von Mansdorf, Annette

»Ich glaube das ja wohl nicht!«

Bibis Ausruf schreckte Iris aus ihrer tranceähnlichen Betrachtung des Bildschirms hoch.

»Was? Was glaubst du nicht?« fragte sie neugierig und schob den Bildschirm ihres Computers zur Seite, um ihre Kollegin besser anschauen zu können. Bibis Augen glänzten aufgeregt, ein Zeichen, daß sie sich ganz sicher nicht mit den Akten der Kunden beschäftigte.

»Der Typ schlägt mir ein Treffen vor. Bei sich zu Hause!«

Iris lachte. Bibi war wirklich naiv.

»Was hast du denn geglaubt? Daß er der Mr. Right ist und auf einem weißen Pferd zu dir eilt? Oder in einer goldenen Kutsche? Was der will, ist doch wohl klar, das habe ich dir aber gleich gesagt. Ich meine, wenn sich einer schon Batman nennt!«

»Ach was, es gibt inzwischen schon viele Traumpaare, die sich durch das Internet gefunden haben! Meine Nachbarin hat einen total süßen Typen aufgegabelt, der sie jetzt schon dreimal besucht hat. Sie wollen vielleicht sogar heiraten!«

»Mag ja sein, aber das ist bestimmt eher die Ausnahme. Die meisten haben wahrscheinlich eine Ehefrau zu Hause und amüsieren sich nebenbei ein bißchen mit den naiven…«

»Sei vorsichtig, was du sagst, Iris!«

»Schon gut. Ich bin ja schon still.«

Iris richtete ihren Blick wieder auf den Bildschirm, doch bevor sie sich erneut einlesen konnte, klingelte ihr Handy. Sie meldete sich und runzelte die Stirn.

»Ja, okay, ich komme. Bitte sagen Sie Emily, daß ich sie gleich abhole.«

Bibi vergaß ihre Verteidigungsrede und schaute Iris ahnungsvoll an.

»Hat deine Tochter wieder den Kindergarten aufgemischt?«

»Es ist wirklich schrecklich mit ihr. Aber irgendwie bin ich auch stolz, daß sie ihren eigenen Kopf hat.«

»Woher sie den wohl hat?«

»Ja, ich weiß. Erbgut. Trotzdem muß ich wohl mal ein ernstes Wort mit ihr reden. Sie hat den Teller mit ihrem Essen über den Tisch geschoben, bis er runterfiel und verkündet, daß sie so ekelige Spaghetti noch nie gesehen hätte.«

Bibi lachte. Iris fiel ein. Sie hatte zwar noch nie an einem Mittag­essen im Kindergarten teilgenommen, aber schon hin und wieder Reste auf den Tellern gesehen, wenn sie Emily abholte. Das war nicht immer unbedingt angenehm. Drei Mütter wechselten sich in dem privaten Kindergarten mit dem Kochen ab. Wahrscheinlich waren sie alle bester Absicht, doch ein vierjähriges Kind wie Emily verstand noch nichts von höherer Diplomatie. Iris war eine begnadete Köchin, und entsprechend verwöhnt war ihre Tochter.

»Na gut, ich muß los. Wir sehen uns morgen.«

»Bis dann. Und gib Emily einen Kuß von mir.«

»Mache ich. Und du laß die Finger von den Chat-Räumen.«

»Nee, werde ich nicht. Ich weiß genau, daß da irgendwo mein Traummann wartet.«

Iris ersparte sich eine Antwort. Sie hatte so ihre Erfahrungen mit Traummännern.

Nein, sie wollte jetzt nicht an Patrice denken. Er war seit zwei Jahren aus ihrem Leben verschwunden, und das war auch gut so. Nie hatte er wirklich zu ihr und Emily gestanden, seine künstlerischen Ambitionen waren ihm immer wichtiger gewesen. Überhaupt – ein Kind kam in seiner Lebensplanung nicht vor. Als Iris die von ihm erwartete Abtreibung vehement abgelehnt hatte, war es mit ihrer Ehe auch schnell bergab gegangen.

Natürlich war die Schwangerschaft nicht geplant gewesen. Iris hatte einen heftigen Magen-Darm-Infekt gehabt, dem Emily letztendlich ihr Leben verdankte, denn die Pille hatte dadurch offenbar ihre Wirkung verloren. Doch als Iris die Schwangerschaft festgestellt hatte, hatte sich sofort ein tiefes Gefühl der Freude eingestellt.

Nicht so bei Patrice. Er hatte sie angestarrt, als sei sie ein besonders häßliches Insekt und nicht lange gefackelt.

»Das geht nicht. Ich habe wirklich keine Nerven für vollgemachte Windeln und Babygeschrei.«

»Aber du hast doch dein Arbeitszimmer, das am anderen Ende der Wohnung liegt.«

»Das spielt keine Rolle. Du wirst kaum noch Zeit haben für mich.«

Egal, welches Argument Iris vorgebracht hatte, Patrice war bei seiner ablehnenden Haltung geblieben. Fast ein halbes Jahr hatten sie nur das Nötigste miteinander gesprochen. Schließlich war es zu einer stillen Übereinkunft gekommen – Iris bekam ihr Kind, und Patrice lebte sein Leben noch ein wenig eigenwilliger aus als ohnehin schon. Er ging oft weg, kam spät in der Nacht nach Hause, erzählte wenig von dem, was er machte.

Iris ging ganz in ihrer Mutterrolle auf. Ihre Liebe zu Patrice stand auf der Kippe, denn es war ihr unverständlich, wie man ein so bezauberndes Baby wie Emily ignorieren konnte. Als Patrice dann immer öfter Anrufe von irgendwelchen Frauen bekam, die nicht einmal Scheu davor hatten, ihn von seiner Ehefrau ans Telefon rufen zu lassen, war Iris der Kragen geplatzt. Sie hatte Patrice vor die Wahl gestellt, sich als Ehemann und Vater zu verhalten oder zu gehen. Es hatte nur zwei Stunden gedauert, dann war er mit drei Koffern aus ihrem Leben verschwunden.

Die Scheidung erfolgte ein Jahr später und war dann nur noch Formsache gewesen. Er verzichtete auf Möbel und alles andere um den Preis, daß er Iris kein Geld zum Unterhalt zahlen mußte. Auch auf das Umgangsrecht mit seiner Tochter verzichtete er so leicht wie auf Töpfe und Geschirr. Sogar der Richter war irritiert gewesen und hatte Iris einen fast mitleidigen Blick zugeworfen, den sie mit stolzer Haltung erwiderte. Niemand mußte Mitleid mit ihr haben. Sie würde ihr Leben schon in den Griff bekommen.

Daß es ihr recht gut gelungen war, bewies nicht zuletzt ihre quirlige Tochter Emily. Außer, daß sie wunderhübsch war mit den blitzblauen Augen und den hellblonden Locken, zeigte ihr klarer, kritischer Blick, mit dem sie jeden Menschen musterte, daß sie nicht unter Schüchternheit oder irgendwelchen Entwicklungsstö­rungen litt. Sie vermißte keinen Vater in ihrem Leben, da er schon zuvor nie für sie dagewesen war. Iris hatte einen beständigen Freundeskreis, zu dem auch Männer gehörten. Sie alle gaben Emily das Gefühl, überall geliebt zu werden. Nur daß es keine Großeltern gab, tat Iris manchmal ein bißchen weh für ihre kleine Tochter. Ihre Eltern waren vor sechs Jahren bei einem Flugzeugabsturz gestorben. Patrices Eltern lebten in Frankreich und hatten höchstens zu Weihnachten ihre Großelternpflichten erfüllt. Sie waren ebenso ausschließlich mit sich selbst beschäftigt wie ihr Sohn.

Iris fuhr vorsichtig auf den kleinen Parkplatz der schönen alten Villa, in dem der Kindergarten untergebracht war. Frau von Reuter, der die Villa gehörte, lebte im oberen Stockwerk, ihre Nichte hatte die unteren Räume hübsch und kindgerecht hergerichtet und sich damit einen Traum erfüllt. Zehn Kinder zwischen drei und fünf Jahren wurden von ihr und zwei weiteren Kindergärtnerinnen betreut.

Iris klingelte an der doppelflügeligen Eingangstür und wartete darauf, daß man ihr öffnete. Die Sicherheitsvorkehrungen waren vorbildlich. Der große, leicht verwilderte Garten war rundherum durch eine dichte Hecke vom Vordergarten abgetrennt. Zusätzlich schützte ein Zaun die Kinder, so daß sie sich auch nicht durch die Hecke zwängen konnten. Im hinteren Gartenbereich gab es Spielgeräte aus Holz, eine große Sandkiste, im Sommer ein Planschbecken. Ein richtiges Kinderparadies.

»Ah, Frau Grautier, fein, daß Sie gleich kommen konnten. Emily bestand darauf, daß sie abgeholt wird. Sie hat Hunger.«

Frau von Reuter, die Seniorin, trat zur Seite und ließ Iris eintreten. Ihr feines Lächeln beruhigte Iris. Offenbar hatte die alte Dame Verständnis für den Eigensinn ihrer Tochter.

»Tut mir leid, daß Emily sich daneben benommen hat.«

»Ach, wissen Sie, ich habe mal kurz probiert, als ich von dem kleinen Drama hörte. Ich muß sagen…, mir schmeckte es auch nicht. Aber das bleibt bitte unter uns.«

Iris unterdrückte ein Lachen, weil im Hintergrund Frau Richter erschien. Sie hatte heute die Aufsicht über die Kinder und war nicht gerade für ihren Humor bekannt.

»Emily ist noch im Waschraum. Sie hat sich ihr T-Shirt vollgeschmiert.«

»Ich gehe gleich zu ihr. Natürlich komme ich für den Schaden auf. Den kaputten Teller…« beeilte sich Iris zu versichern.

»Das ist versichert. Aber Emily gab wieder einmal ein schlechtes Beispiel für die anderen Kinder ab. Drei wollten auch nicht weiteressen.«

»Nun, sie werden sicher keinen Schaden davontragen, nicht wahr, Frau Richter?« mischte sich Frau von Reuter beschwichtigend ein, bevor sie sich abwandte und die große, geschwungene Treppe hinaufging, die in ihre Räume führte.

Frau Richter wurde rot. Die alte Dame war beeindruckend wie immer, Iris konnte verstehen, daß die Kindergärtnerin sich eingeschüchtert fühlte.

»Na ja…, schlimm war es nicht. Aber Sie sollten auf Emily einwirken, daß sie nicht immer so heftig reagiert.«

Bevor Iris antworten konnte, hörte sie einen begeisterten Aufschrei.

»Mami, da bist du! Ich habe Hunger, aber die Spaghetti waren ganz glitschigitsch. Gar nicht alle Ente.«

Iris lachte und öffnete die Arme, damit sich Emily hineinwerfen konnte. Sie begrüßten sich mit einem Nasenkuß, ihrer üblichen Zärtlichkeit beim Wiedersehen.

»Du meinst al dente, Schatz. Nicht alle Ente.«

Sogar Frau Richter mußte schmunzeln. Damit hatte das Drama wohl ein glückliches Ende gefunden. Iris schob Emily ein wenig von sich weg und seufzte, als sie die Tomatensaucenflecken auf dem weißten T-Shirt sah. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die wieder entfernen sollte. Aber es gab Schlimmeres.

*

»Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Emily vom Geburtstag abholen können. Wir versuchen gerade, einen Fahrdienst zu organisieren, aber Emily wohnt ja nicht weit.«

»Natürlich hole ich sie ab, Frau Doktor Wohlers. Das ist kein Problem. Sie müssen mir nur die Zeit sagen.«

»Kommen Sie doch gegen halb sieben, dann können wir noch einen Moment zusammensitzen und ein Glas Champagner trinken. Wahrscheinlich habe ich es dann bitter nötig.«

Iris stimmte zu. Doktor Anna Wohlers, eine bekannte Rechtsanwältin, stand wahrscheinlich lieber im Gerichtssaal, als einen Kindergeburtstag mit zwölf Kindern zu beaufsichtigen. Aber es gab Dinge im Leben einer Mutter, die sie nur selbst tun konnte.

»Na ja, mehr als zweimal im Jahr muß ich Gott sei Dank nicht ran. Aber ich frage mich, wie andere Mütter das überstehen. Ich bin jedenfalls für zwei Tage fix und fertig.«

»Die lieben Kleinen können einen ganz schön schaffen, das finde ich auch. Ich fürchte nur, es wird nicht leichter. Wenn sie dann Teenies sind, gibt es andere Probleme als Topfschlagen und Negerkußwettessen.«

»O Gott, meinen Sie, man muß ihnen Verhütungsmittel hinlegen und dazu eine Anweisung, wie sie zu gebrauchen sind? Dann doch lieber Wattepusten!«

Sie lachten. Iris mochte die spröde, aber humorvolle Art der Anwältin. Sie hatte sie schon ein paarmal bei den Elternabenden erlebt, die der Kindergarten vierteljährlich veranstaltete. Emily und Anna Marie, die Tochter von Doktor Wohlers, waren gute Freundinnen.

»Lassen wir die Probleme lieber auf uns zukommen. Ich habe keine Ahnung, was Teenager heute erwarten und tun. Aber ich freue mich über die Einladung und bin dann um halb sieben bei Ihnen.«

Frau Doktor Wohlers verabschiedete sich, und Iris legte den Hörer auf. Kurz überlegte sie, ob sie Bibi noch einmal anrufen sollte. Aber da sie sich morgen früh ohnehin sehen würden, ließ sie es. Sie konnte Bibi nicht von Dummheiten abhalten, das war schließlich auch nicht ihre Aufgabe.

Emily schlief, ihren dicken flauschigen Teddy fest im Arm. Ihr Atem ging regelmäßig und leise, ihre Augen bewegten sich hinter den Lidern mit den dunklen Wimpern. Sie träumte. Zärtlich zog Iris die leichte Daunendecke ein Stückchen höher, bevor sie auf Zehenspitzen das Zimmer verließ.

Jetzt begann ihr Feierabend. Heute hatte sie nichts Besonderes vor, aber diese Abende liebte sie ebenso wie die, wenn Freunde sie besuchten oder sie Briefe schreiben mußte.

Gerade hatte sie sich nach dem Stapel Bücher gebückt, die neben der großen hellen Couch auf dem Boden lagen, als das Telefon klingelte.

»Grautier«, meldete Iris sich und rieb sich den Zeh, der schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Tischbein gemacht hatte, als sie zum Telefon hechtete.

»Du klingst aber gequält, meine Süße.«

Philip.

Iris schmunzelte, welche Frage jetzt kam, wußte sie.

»Hab’ mir den Zeh angestoßen.«

»Du Arme. Mußt du mal wieder aufräumen? Oder mich heiraten, dann mache ich es.«

»Das ist ungefähr der neunundneunzigste Heiratsantrag.«

»Nein, genau der achtundneunzigste. Beim hundersten Antrag sagst du ja, oder ich bin leider gezwungen, mich zu erschießen.«

»Und ein armes Wurm vaterlos zurückzulassen?«

»Ach ja… Na gut, aber ich rechne trotzdem mit einem Ja.«

Iris nahm das nicht ernst, bei Philip war sie nicht ganz sicher. Früher mochte er das wirklich ernst gemeint haben, inzwischen aber hatte Philip sicher begriffen, daß sie ihn sehr gern hatte, aber nicht liebte. Philip war ein alter Freund, sie hatten sich vor zwei Jahren zufällig beim Kinderarzt in der Praxis wiedergetroffen. Er war alleinerziehender Vater, seine Freundin hatte das gemeinsame Kind Max einfach bei ihm zurückgelassen und sich nach Amerika abgesetzt. Er hatte nicht sonderlich darunter gelitten, wie er betonte, weil sie, ähnlich wie ihr Exmann Patrice, an eine Karriere auf künstlerischer Ebene hoffte. Sie trafen sich oft, Iris hatte Philip in ihren Freundeskreis integriert.

»Unsere Kinder hätten die besten Eltern diesseits und jenseits des Atlantiks«, meinte er jetzt mit dem Brustton der Überzeugung.

»Ja, und sie würden vermutlich total mißraten angesichts unserer Perfektion«, gab Iris schlagfertig zurück.

»Hm. Na gut, dann laß mich erklären, warum ich dich anrufe. Ich habe ein Seminar am nächsten Wochenende und wollte fragen, ob…«

»Bring Max her. Kein Problem.«

»Ach, Iris, wenn ich dich schon nicht als Ehefrau bekomme, dann bist du mit Sicherheit die beste Freundin, die sich ein Mann wünschen kann.«

»Ich weiß, Dankschreiben aus aller Welt liegen in meinem Briefkasten.«

»Ich meine es durchaus ernst. Aber ich werde mich revanchieren, okay? Du machst mir ein schlechtes Gewissen, weil du immer ja sagst.«

»Sonst würdest du mich doch gar nicht fragen, oder?«

»Stimmt auch wieder. Aber im Ernst, wenn du mich brauchst…, ich bin da. Außer, du hast ein Date mit einem schönen Fremden, natürlich.«

»Die Gefahr besteht nicht. Das ist eher das Ressort meiner Freundin Bibi.«

»Deine Kollegin? Wann lerne ich die mal kennen? Vielleicht ist sie dankbarer als du, wenn sich so ein Mann wie ich vorstellt.«

»Du meine Güte, das wünsch dir lieber nicht wirklich!«

Iris lachte. Bibi war so verrückt, daß Philips Freundin dagegen wie die Vorsteherin einer strengen Mädchenschule wirken mußte. Sie mochte Kinder zwar sehr, aber ihre chaotische Art würde jeden Haushalt zum Erliegen bringen. Philip legte großen Wert auf Ordnung, wie Iris wußte.

»Das kann man ja regeln. Hauptsache sie mag Kinder.«

»Das tut sie. Aber ich glaube kaum, daß du sie dazu bringen kannst, das Geschirr abzuwaschen. Oder weiße Wäsche nicht mit schwarzer zu waschen.«

»Wieso? Trägt sie nur noch grau?«

»Nein, nur Knallfarben oder Schwarz, um diesen Kostenpunkt zu umgehen. Weiß existiert für sie nicht.«

Iris fiel ein, daß das T-Shirt ihrer Tochter noch immer im Waschbecken weichte. Sie hatte noch gar nicht nachgesehen, ob die Fleckbehandlung der Tomatensauce den Garaus gemacht hatte. Philip würde so etwas nicht passieren. Es gab wohl kaum einen Mann, einschließlich seines sechs­jährigen Sohnes, die so aus dem Ei gepellt daherkamen.

»Dann lasse ich wohl lieber die Finger von ihr.«

»Sie liebt ohnehin nur das Abenteuer mit unbekannten Männern aus dem Internet. Nur zu einem Treffen kam es noch nie.«

»Wahrscheinlich will sie gar nicht wirklich. Das ist doch eine super Vermeidungsstrategie. Du verliebst dich, gehst aber kein Risiko ein. Und du kannst dich so phantasievoll schildern, wie es dir gefällt.«

»Ja, das kann sicher seinen Reiz haben. Aber ich mache mir doch manchmal Sorgen. Sie ist so leichtgläubig. Irgendwann gerät sie mal an den Falschen.«

»Sie hat ja dich zum Aufpassen. Okay, meine Liebste, dann muß ich mal wieder an meine Bücher. Wir sehen uns dann Sonnabend gegen eins, einverstanden? Sonntag um sechs hole ich Max wieder ab.«

»Prima. Ich freue mich. Grüße ihn herzlich. Emily wird begeistert sein.«

»Max auch. Er hat mir bereits erklärt, daß er deine Tochter eines Tages heiraten wird.«

»Wahrscheinlich hast du es ihm eingeredet.«

»Nein, bestimmt nicht. Mein Sohn hat eben meinen guten Geschmack geerbt. Und deine Tochter ist genauso hübsch wie du.«

Dieses Kompliment war nicht zu toppen, fand Iris. Sie verabschiedete sich lächelnd und kuschelte sich nun endlich auf die Couch. Aus dem Bücherstapel wählte sie einen neuen Roman aus, von dem sie viel Gutes gehört hatte. Sie liebte Bücher und konnte völlig in der Handlung versinken. Auf dem Tisch stand ein Glas Wein. So ließ sich das Leben aushalten.

Am nächsten Morgen brach wieder ein kleiner Streit mit ihrer Tochter aus, als diese allen Ernstes erklärte, ihre schwarzen, puscheligen Ohrenschützer tragen zu wollen, die sie unter dem Bett hervorgezogen hatte. Dort waren sie seit langer Zeit hinter dem Rollkasten mit den Legosteinen verschwunden gewesen.

»Draußen sind fast zwanzig Grad über Null. Du kannst unmöglich mit Ohrenschützern gehen, Emily!«

»Kann ich doch. Ich will sie aufsetzen!«

»Und deine neue rote Schleife? Die sieht doch viel schöner aus.«

»Ja, und die Ohren.«

Emily sprach nur von Ohren, wie sie sowieso hin und wieder dazu neigte, Worte abzukürzen, was manchmal für reichlich Verwirrung sorgte. So hatte sie im Kindergarten einmal hartnäckig nach ihrer ›Hand‹ gesucht und Frau Richter damit zur Verzweiflung gebracht. Die Kindergärtnerin glaubte wahrscheinlich schon, daß Emily an geistiger Umnachtung litt, denn immer wieder versicherte sie der Kleinen, daß ihre Hände doch da seien, wo sie hingehörten. Schließlich hatte Emily ihr nach langer Suche triumphierend ihr buntes Handtuch vor die Nase gehalten, mit dem sie sich nach dem Händewaschen abtrocknete. Jedes Kind hatte sein eigenes mit Namen versehenes Handtuch.

»Das ist mein Hand!«

»Das ist ein Handtuch!«

»Ja. Ich weiß.«

Iris hatte sogar eine Bekannte, eine Kinderpsychologin gefragt, ob sie gegen diesen Tick etwas unternehmen müsse. Doch diese hatte nur den Kopf geschüttelt.

»Deine Tochter ist sehr phantasievoll und schnell. Da findet sie es praktischer, lange Worte abzukürzen, damit sie ihren nächsten Gedanken formulieren kann. Das gibt sich später von selbst, zumal dann, wenn andere Kinder sie nicht verstehen.«

Jetzt bemühte sich Iris immer, es ihrer Tochter nicht zu leicht zu machen, obwohl sie sich manchmal ein Lachen verkneifen mußte.

»Keine Ohrenschützer. Dafür eine rote Schleife und das neue rote T-Shirt.«

»Ich will die Ohren!«

Ein Blick auf die Uhr belehrte Iris, daß sie jetzt besser eine Lösung fand.

Es war schon ziemlich spät, und sie mußte Emily noch zum Kindergarten fahren.

»Die Kinder werden lachen, wenn sie dich damit sehen. Sie wissen, daß man Ohrenschützer nur im Winter trägt.«

»Ich will die Ohren.«

»Na gut. Dann los jetzt. Hast du deine Tasche mit dem Frühstück?«

»Hier. Mama, wann besuchen wir Max?«

»Ach ja, hab’ ich noch gar nicht erzählt. Max kommt am Wochenende zu uns und darf hier schlafen. Und Anna Marie lädt dich zu ihrem Geburtstag in der nächsten Woche ein.«

»O ja, o ja, o ja«, tanzte Emily begeistert in der Diele herum und wirbelte ihre Tasche durch die Luft.

Mit ihren Ohrenschützern, der roten Schleife um den blonden Pferdeschwanz und dem roten T-Shirt sah sie unglaublich süß aus. Iris war stolz auf die Kleine, auch auf deren Eigenwilligkeit.

Eine halbe Stunde später betrat sie etwas atemlos das Büro. Knapp zehn Minuten vor Bibi, die regelmäßig länger arbeiten mußte, weil sie morgens nie pünktlich war.

Heute lächelte Bibi maliziös, als sie Iris begrüßte.

»Na, bereit für gute Nachrichten?«

»Nein, das tust du nicht wirklich«, protestierte Iris ahnungsvoll.

»Ich weiß nicht, wovon du redest. Du kannst nichts davon wissen. Ich habe gestern abend im Chat den Mann der Männer kennengelernt. Und wir sehen uns am Wochenende. Er besucht hier jemanden und will mich bei der Gelegenheit unbedingt kennenlernen.«

Iris atmete ein wenig erleichtert auf. Das klang immerhin besser, als wenn sich Bibi zu einem fremden Mann in die Wohnung einladen ließe.

Leider kamen sie erst einmal nicht dazu, die Unterhaltung zu vertiefen, denn die Akten warteten auf Bearbeitung. Aber Iris war ganz sicher, daß sie bis zum Mittag in alle Einzelheiten eingeweiht sein würde.

*

Bibis Sehnsucht nach einer Partnerschaft endete meistens in Tränen. Sie verliebte sich gern und schnell, doch leider vergaß sie immer wieder, sich erst einmal etwas genauer über den Charakter ihrer neuen Liebe zu informieren. So waren die Männer entweder verheiratet, natürlich unglücklich, oder lebten in einer sogenannten offenen Beziehung, was Iris fast noch schlimmer fand. Wenn sie ausnahmsweise nicht gebunden waren, hatten sie oft andere unvereinbare Fehler. Aber meistens wollten sie nur einen kurzen Spaß und ließen Bibi in einem Meer von Tränen zurück. Heute allerdings mußte selbst Iris zugeben, daß Bibi nicht übertrieb, vorausgesetzt, es stimmte, was der Neue ihr erzählt hatte.

»Ich finde es ja gerade so toll, daß er nicht gleich von Verliebtsein spricht, sondern nur gesagt hat, daß ihm gut gefällt, wieviel Humor ich habe, und daß wir uns ja mal unverbindlich treffen könnten. Ich habe versucht, ihn ein bißchen aus der Reserve zu locken, aber er ist einfach nicht darauf eingegangen. Meinst du nicht auch, daß er es ernst meinen könnte?«

Iris wollte Bibis Hoffnungen nicht schmälern. Sie kam sich immer uralt vor, wenn sie Bibis fehlende Vernunft bemängeln mußte.

»Ich weiß nicht, ob man es so sehen kann. Aber auf jeden Fall scheint er nett zu sein, und er macht dir keine falschen Versprechungen. Sieh es doch einfach mal als eine Bekanntschaft und warte ab, was sich daraus entwickelt. Ich bin ja immer noch ein bißchen skeptisch, wenn Leute überhaupt in diesen Chats herumlungern. Haben die nichts anderes zu tun?«

Bibi ging hoch wie eine Rakete.

»Sei bloß nicht so überheblich! Schließlich kann man nicht immer nur hochgeistige Bücher lesen oder klassische Musik hören! Oder neue Rezepte ausprobieren.«

»Ich wollte dich nicht kränken, Bibi, entschuldige. Es ist mir trotzdem nicht ganz klar, warum man stundenlang dem folgen sollte, was die Leute da an Quatsch verzapfen. Vielleicht war ich aber auch nur im falschen Chat.«

»Felix hält seine beruflichen Kontakte über das Internet. Und wenn er dann gerade mal auf irgendwelche Antworten wartet, dann schaut er in einen Chat für Leute über dreißig. Das macht er nicht oft, aber immer hatte gefallen, was ich da gerade geschrieben hatte, als er reinkam. Und da hat er mir geantwortet und ich ihm und er wieder mir und dann ging das so zehn Minuten hin und her.«

»Und was macht er beruflich?«

»Weiß ich nicht genau, aber ich glaube, was Künstlerisches.«

Iris preßte kurz die Lippen zusammen. Natürlich konnte sie Bibi nicht verübeln, daß diese ihre Abneigung gegen Künstler nicht teilte.

»Na, dann warte einfach ab. Bis zum Wochenende ist ja nicht mehr lang. Was ist denn mit dem anderen, den du besuchen solltest?«

Bibis Gesicht verfinsterte sich ein wenig.

»Der gibt keine Ruhe und mailt mir dauernd…«

»Wie gut, daß er nichts weiter über dich weiß. Du mußt ja nicht antworten.«

»Stimmt«, gab Bibi merkwürdig einsilbig zurück.

Bevor Iris nachfragen konnte, störte ein Kollege ihr Gespräch. Er brachte einen Stapel Akten herein und ließ sich auf Bibis Schreibtischkante nieder, um ein bißchen zu plaudern.

Nachdem er wieder gegangen war, setzten sie das Gespräch nicht fort, weil die Arbeit ja auch getan werden mußte.

Mittags sprang Iris’ Auto nicht an. Sie fluchte leise vor sich hin. Der Wagen war gerade zur Inspektion gewesen, und jetzt das! Sie war knapp dran, Emily wartete darauf, abgeholt zu werden, außerdem hatte sie am Nachmittag noch einen Termin. Bis sie den ADAC erreicht hätte und diese einen Techniker schickte, wäre es schon viel zu spät. Ein Taxi?

Sie lief ins Büro zurück. Bibi rüstete sich gerade zur Mittagspause. Sie hielt den knallroten Lippenstift in der Hand und fixierte ihren Mund im Spiegel ihrer goldfarbenen Puderdose, als Iris hereinkam.

»Was vergessen?«

»Nein, mein Auto springt nicht an. Muß ein Taxi rufen.«

»Nimm doch meinen. Dann warte ich auf den ADAC, und morgen tauschen wir wieder.«

»Echt? Das ist lieb von dir. Ich gebe dir meine Kundenkarte.«

Iris nestelte die Mitgliedskarte aus ihrem Portemonaie und schob sie Bibi hinüber. Sie tauschten den Kfz-Schein und die Schlüssel, und dann sauste sie wieder nach unten. Bibi war ein Schatz, ihre Unkompliziertheit wog ihre wenigen negativen Seiten bei weitem auf.

Als sie aus der Tiefgarage auf die Straße hinausfuhr, fiel ihr ein schwarzer Golf auf, der sehr dicht an der Ausfahrt stand. Der Mann hinter dem Steuer starrte sie auf unangenehme Weise an. Iris kannte ihn nicht. Offenbar wartete er auf jemanden.

Sie hatte keine Zeit, lange über fremde Männer in fremden Autos nachzudenken. Bereits jetzt war sie schon zehn Minuten zu spät dran. Natürlich würde Emily nicht auf der Straße stehen müssen, aber ihre Tochter schätzte es gar nicht, warten zu müssen.

Kurz bevor sie in die kleine Seitenstraße einbog, in dem die Villa lag, meinte sie den schwarzen Golf noch einmal hinter sich zu sehen. Aber wahrscheinlich war das unsinnig, schließlich gab es von dieser Marke unendlich viel Autos. Und warum sollte ein fremder Mann Grund haben, ihr zu folgen?

Emily stürzte sich mit ihrer üblichen Weise in Iris’ Arme. Sie tat immer so, als hätte sie ihre Mutter über Wochen nicht gesehen, doch Iris genoß diese Zärtlichkeiten. Sie würden schnell genug aufhören.

Heute war alles bestens gelaufen. Sogar das Essen hatte Emily geschmeckt, wie sie eifrig erklärte. Ihre Ohrenschützer waren bei ihren kleinen Freundinnen gut angekommen.

»Anna will auch solche. Wo hast du sie gekauft, Mama?«

»Ach, du meine Güte! Ich weiß gar nicht mehr, ich habe sie ja schon lange.«

Ursprünglich hatten sie Iris gehört, bis ihre Tochter sie in der Abseite entdeckte.

»Und was machen wir jetzt? Ich will in den Park!«

»Nein, mein Schatz, jetzt nicht. Du kannst zu Hause noch eine halbe Stunde spielen, bis ich gegessen habe, dann muß ich einiges erledigen, und du kommst mit. Wenn wir dann noch Zeit haben, können wir in den Park gehen.«

»Aber ich möchte ein Eis.«

»Einverstanden, später.«

Der Nachmittag verging wie im Flug. Iris war froh, als sie Erledigungen hinter sich hatte. Sie kaufte ihrer Tochter das versprochene Eis und bestellte sich einen Cappuccino. Mit dem Gesicht in der Sonne, die Wärme auf der Haut spürend und das muntere Geplapper ihrer Tochter dazu, ließ es sich aushalten…

»Mama, der Mann guckt dich an.«

Iris öffnete die Augen und blickte in die Richtung des ausgestreckten Fingers ihrer Tochter.

»Welcher Mann? Ich sehe keinen.«

»Jetzt ist er da ins Geschäft gegangen. Er hat geglotzt.«

»Emily, das sagt man nicht.«

»Hat er aber doch!«

»Vielleicht hat er uns verwechselt.«

»Nee.«

»Woher willst du das wissen, Fräulein Neunmalklug?«

»Was ist neunmal?«

Nun mußte sich Iris eine lange, komplizierte Erklärung ausdenken. Ihre wißbegierige Kleine war nicht leicht zufriedenzustellen, und bis Iris endlich von dieser schwierigen Frage loskam, war der Mann vergessen.

Auf dem Spielplatz im Park herrschte reges Treiben. Emily riß sich von der Hand ihrer Mutter los und lief fröhlich rufend auf die große Sandkiste zu.

»Anna! Anna, ich bin auch hier!«

Iris sah Anna Marie Wohlers mit dem Au Pair-Mädchen Alice in der Sandkiste. Alice erhob sich und war offenbar froh, Iris zu sehen. Sie kam auf sie zu, nachdem die beiden kleinen Mädchen jetzt nebeneinander hockten und eifrig wisperten.

»Hello, Iris«, begrüßte die unkomplizierte Amerikanerin Iris.

»Hallo, Alice. Wie geht es dir?«

»Oh, seehhr guuute. I am… äh… sehr wohl.«

Sie hatte noch große Mühe, deutsch zu sprechen, was nicht zuletzt daran lag, daß Frau Doktor Wohlers meistens englisch mit ihr sprach, weil es so schneller ging, Alice etwas begreiflich zu machen.

Iris unterdrückte einen kleinen Seufzer. Sie hatte sich ein neues Hochglanzmagazin gekauft und darin blättern wollen. Immerhin mußte man über den Herbsttrend aus Paris informiert sein… Das war jetzt nicht mehr möglich. Alice ließ sich neben Iris auf der Bank nieder und begann in schnellem Englisch auf sie einzureden, dabei warf sie hin und wieder einen Blick auf die Mädchen, die jedoch sehr intensiv damit beschäftigt waren, sich abwechselnd die Ohrenschützer aufzusetzen und diese vor Lachen und Kichern immer wieder in den Sand fallen zu lassen. Anna Maries Bruder Felix saß oben auf dem Klettergerüst und tat mit der Überlegenheit eines älteren Bruders so, als kenne er die beiden nicht.

Iris erfuhr, daß die Geburtstagsvorbereitungen in vollem Gange waren, daß Frau Doktor Wohlers immer neue verrückte Ideen habe und überhaupt ziemlich crazy sei. Außerdem erwarte die Familie heute den Besuch des Bruders von Frau Wohlers, der ein berühmter Künstler sei. In der Stadt solle eine Ausstellung seiner Fotos stattfinden, und er müsse das an Ort und Stelle planen.

»Er ist so eine nice Mann! Wou, er sieht aus spektakulär«, schwärm­te Alice und brachte das Wort so fließend über die Lippen, daß Iris schmunzeln mußte.

Wahrscheinlich wurde es im Haushalt der Wohlers oft ausgesprochen.

Plötzlich hörte Iris einen spitzen Schrei. Sie schaute alarmiert auf und entspannte sich gleich wieder ein wenig. Emily war empört, nicht verletzt.

Gott sei Dank. Felix hatte den Mädchen die Ohrenschützer weggenommen und kletterte damit, sie hoch in der Hand schwenkend, gerade wieder auf den Holzturm.

»Du bist doof! Gib die Ohren wieder her!« kreischte Emily wütend.

Sie stemmte die Hände in die Hüften, oder jedenfalls an die Stelle, wo ihre Hüften später einmal sitzen würden, und war hochrot im Gesicht. Anna Marie stand neben ihr und schaute hilflos zu Alice herüber.

»Felix is eine bad boy. Immer muß er ärgern sein sister«, radebrechte Alice und stand auf. »Ich muß help ihr.«

»Ich glaube, das sollten die Mädchen allein klären. Emily macht das schon.«

Emily war nicht dumm. Sie sah das Skateboard, das Felix gehörte, am Rand der Sandkiste liegen und hob es triumphierend auf. Weil es ziemlich schwer war, mußte sie ihre ganze Kraft aufwenden.

»Ha, ich habe dein Brett! Das schmeiße ich jetzt ins Wasser!«

Sie marschierte entschlossen auf den kleinen Springbrunnen zu, das Skateboard mit beiden Händen umklammernd.

Anna Marie schaute sie bewundernd an, doch Felix hatte schnell abgewogen, was ihm lieber war. Mit einem wütenden Schrei kletterte er schnell wieder von dem Turm herunter und lief hinter Emily her.

»Gib das her, du doofe Ziege!«

»Selber doof!«

Emily war nicht einzuschüchtern. Iris beobachtete amüsiert, wie ihre Tochter dem älteren Jungen entschlossen die Stirn bot.

»Gib mir die Ohren. Und sag: Entschuldige bitte!« forderte sie streng.

»Du kannst ja nicht mal richtig sprechen! Ohren!« spottete Felix.

»Ich kann wohl! Gib die Ohren und sag…«, widerholte Emily und hielt das Skateboard über das Becken des Springbrunnens, so daß eine Seite bereits naß wurde.

»Na gut, entschuldige! Hier hast du die blöden Dinger!«

Er riß ihr das Skateboard weg, so daß Emily fast stolperte, und warf die Ohrenschützer auf die Erde. Anna Marie hob sie schnell auf, bevor der Streit noch weiterging. Sie war immer recht gutmütig und kannte ihren Bruder schließlich.

»Laß ihn doch, Emily. Komm, wir gehen zur Rutsche.«

Alice äußerte ihre Bewunderung für Emily. Iris stimmte ihr zu. Ihrer Tochter würde niemand so schnell Angst machen. Dachte sie.

*

Am Freitag fiel Iris auf, daß Bibi ein bißchen blaß um die Nase wirkte. Sie schrieb es der Aufregung vor dem Treffen mit Mr. Right zu, dem Künstler. Wenn sie Bibi damit neckte, ging Bibi ganz gegen ihre Gewohnheit darauf kaum ein.

»Sag mal, hast du solche Angst vor dem Treffen, Bibi? Es kann doch nichts passieren. Wenn er dir nicht gefällt, gehst einfach wieder«, versuchte sie ihre Kollegin aufzuheitern, als sie mittags ihre Sachen zusammenpackte.

»Ja, das wird schon…«

»Freu dich doch! Ist doch irgendwie spannend. Hast du denn schon mehr über ihn erfahren?«

»Nicht viel. Er spricht wohl nicht gern über sich. Aber er ist nett.«

»Na also. Dann hast du Montag bestimmt viel zu erzählen.«

»Hhmhmm.«

»Und der andere?«

»Äh…, das ist schon okay…«

»Läßt er dich in Ruhe?«

»Na ja… Du, Iris…, irgendwie…«

Iris schaute auf die Uhr. Wenn Bibi jetzt ihr Herz ausschütten wollte, war das ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Sie mußte noch jede Menge Einkäufe machen. Emily würde heute von Alice vom Kindergarten abgeholt werden, weil sie den Nachmittag bei ihrer Freundin Anna Marie verbringen wollte. Das gab Iris Gelegenheit, ein bißchen ausgiebiger zu shoppen. Morgen würde Philip dann seinen Sohn bringen, auch dafür mußte Iris noch Besorgungen machen. Die Kinder freuten sich auf ein Schokoladenfondue.

»Sag mal, wollen wir heute abend telefonieren? Dann habe ich mehr Zeit und wir können ausgiebig beratschlagen, was du anziehst und so.«

Sie meinte Bibis Gedanken zu kennen. Natürlich wollte sie beim ersten Date den besten Eindruck machen. Dazu mußte die Kleiderwahl strengen Kriterien unterzogen werden. Ihr erginge es nicht anders.

»Ja gut. Ich ruf dich heute abend an. So gegen acht?« gab Bibi ein wenig entspannter zu­rück.

»Ja, einverstanden. Und nun grübel nicht mehr. Es wird schon schiefgehen.«

Kam es ihr so vor, oder sah sie so etwas wie Furcht in Bibis Augen? Na, das war nun aber bestimmt übertrieben!

Von ihrem Handy aus erkundigte sich Iris wenig später, ob Alice die Kinder abgeholt hatte, was diese ihr bestätigte. Die Kinder spielten in Anna Maries Zimmer, gleich wollte sie mit ihnen in den Park gehen.

Alles war in Ordnung. Ihrem Einkaufsbummel stand nichts mehr im Wege. Fröhlich schloß Iris ihr Auto ab und überlegte, ob sie sich das traumhafte Seidenkleid, das den Körper wie eine zweite Haut umschloß, kaufen sollte. Sie bewunderte es seit einigen Tagen im Schaufenster ihrer Lieblingsboutique. Natürlich war es sündhaft teuer, aber das Schwarz würde immer modern bleiben, war also gewissermaßen eine Anschaffung fürs Leben. Sie mußte über ihre eigene Argumentation schmunzeln. Natürlich war es unvernünftig, aber wo stand geschrieben, daß sie immer nur vernünftig zu sein hatte? Dabei gab es noch nicht einmal Gelegenheit, das Kleid zu tragen …

Ein kleiner Dämpfer legte sich über ihre Freude. Nahm sie das Leben vielleicht doch zu schwer, wie Bibi ihr immer vorwarf? Sie ließ keinen Mann an sich heran, jedenfalls stellte ihre Kollegin es so dar. Aber Iris hatte auch keine Lust auf Herzschmerz, wer wollte ihr das verübeln? Sie wußte, daß ein Mann, der ihr gefallen sollte, einige schwer zu erfüllende Kriterien aufweisen mußte. Humor, Treue, Zuverlässigkeit, Eigenständigkeit, und natürlich mußte er Kinder lieben, auch wenn es nicht seine eigenen waren. Niemals könnte sie sich auf einen Mann einlassen, der Emily nicht genauso liebte wie sie.

Ach, Unsinn, eines Tages würde es vielleicht so einen Mann in ihrem Leben geben. Und bis dahin wollte sie sich nicht den Kopf schwermachen, schließlich war alles auch irgendwie ein bißchen Schicksal. Wenn es sein sollte, würde es geschehen.

Sie erledigte erst einmal alle Pflichteinkäufe, bevor sie sich einen Cappuccino genehmigte und mit sich rang. Das Kleid war noch immer da…

Am Nebentisch saßen zwei Freundinnen, die vielleicht ein wenig älter waren als sie. Um sich herum hatten sie etliche Tüten verschiedener Boutiquen verstreut und waren jetzt dabei, sich die Gesichter ihrer Lover, wie sie sie nannten, auszumalen. Iris hörte einen Moment amüsiert zu. Die dunkelhaarige Frau schien nicht so ganz glücklich zu sein, jedenfalls bemerkte sie, daß ihr Freund vermutlich wieder an ihrer Figur herummäkeln würde, wenn er ihre neuen Kleider sähe. Die andere machte Vorschläge, wie man in zwei Tagen drei Pfund abnehmen könnte, bis zur Party, die ins Haus stand. Iris gruselte es. Soviel Aufwand für einen Lover, der mäkelte? So etwas könnte ihr nicht passieren. Aber ähnliche Sorgen kannte sie von Bibi, obwohl die gertenschlank war.

Sie trank ihren Cappuccino aus und löschte die Glut ihrer Zigarette. Rauchen war verpönt in Gegenwart ihrer Tochter, deshalb kam sie kaum auf mehr als fünf Zigaretten am Tag. Die aber rauchte sie mit Genuß.

Das Kleid paßte vorzüglich und verwandelte Iris in eine Göttin, wie die begeisterte Verkäuferin versicherte. Das tat sie so laut, daß zwei andere Kundinnen giftig zu Iris herüberschauten. Iris verschwand schnell wieder in der Umkleidekabine. Sie haßte diese Zurschaustellung, doch leider herrschte auch hier die Unsitte, in der Kabine keinen Spiegel aufzuhängen, so daß die Kunden gezwungen waren, sich im Verkaufsraum anzuschauen. Wahrscheinlich tat man das, um den Verkäuferinnen die Möglichkeit zur Überredung zu geben.

Iris zückte ihre Kreditkarte und schaute zu, wie das Traumkleid erst in Seidenpapier eingeschlagen und dann in eine weiße Lacktüte versenkt wurde. Ihr schlechtes Gewissen war wie weggeblasen. Irgendwann würde sie in diesem Kleid ihren großen Auftritt haben.

Ihr Handy klingelte, als Iris gerade den Laden verließ. Weil sie etliche Tüten tragen mußte, kam sie nicht schnell genug dran. Schon erklang das zweimalige Summen, der Anrufer hatte eine Nachricht hinterlassen.

Sie ging zu ihrem Auto zurück und verstaute erst die Tüten, bevor sie sich setzte und nach dem Handy angelte. Ihre Mailbox war nicht anwählbar, besetzt. Bevor sie entscheiden konnte, ob sie jetzt erst losfahren und es später noch einmal versuchen sollte, klingelte das Handy erneut.

»Ja?« meldete Iris sich nun doch leicht beunruhigt.

»Wohler. Frau Grautier, können Sie gleich herkommen?«

»Ist etwas mit Emily passiert?«

Iris merkte, wie ihr ganz flau wurde. Warum rief die Anwältin sie sonst an? Sie hätte Emily mitnehmen sollen, statt so egoistisch zu sein, nur an ihr Vergnügen zu denken!

»Nein…, nicht direkt. Ich würde es Ihnen lieber persönlich erklären. Ich bin zu Hause.«

»Aber was…«

Frau Doktor Wohlers hatte bereits aufgelegt. Fassungslos starrte Iris auf das Handy in ihrer Hand. Sie war für einen Moment nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte das bedeuten? Was war passiert, das die Anwältin ihr nicht sofort sagen konnte? Und was hieß ›nicht direkt‹?

Mit zitternden Fingern startete sie das Auto. Sie vergaß, die Parkkarte zu lösen und mußte vor der Schranke umkehren. Gott sei Dank stand kein anderes Auto hinter ihr. Sie wäre kaum in der Lage gewesen, jemandem klarzumachen, was sie vorhatte. Zu allem Überfluß fiel ihr das Portemonaie herunter, als sie einen Euro herausfischen wollte. Das Geld rollte über den Betonboden. Ein junger Mann half ihr, es aufzuheben, wobei er sich wunderte, daß Iris überhaupt nicht darauf achtete, ob sie auch alles wieder hatte. Mit der Parkkarte, die der Automat ausspuckte, mußte er noch hinter ihr herlaufen.

»Sie sollten besser nicht Auto fahren, in Ihrem Zustand«, meinte der junge Mann leicht besorgt.

Iris murmelte irgend etwas, während sie nur einen Gedanken hatte. Sie mußte so schnell wie möglich zu den Wohlers, um ihre Tochter hoffentlich gegen alle Erwartung gesund in die Arme schließen zu können. Vielleicht war Emily nur frech gewesen und hatte irgendeine der Kostbarkeiten beschädigt, die im Haushalt der Wohlers herumstanden.

›Bitte, lieber Gott, laß es eine Ming-Vase sein! Laß es nur so etwas sein‹, betete sie auf der ihr endlos erscheinenden Fahrt unab­lässig.

Mit quietschenden Reifen bog sie in die vornehme Straße ein, in der die Wohlers wohnten. Vor der Villa stand ein Streifenwagen der Polizei.

Iris fuhr fast gegen einen Baum, so erschrak sie. Mühsam kletterte sie aus dem Wagen, ihre Beine wollten sie kaum tragen. Automatisch schloß sie den Wagen ab, ihre Handtasche wie einen Rettungsring umklammernd. Was würde sie erwarten?

Sie kam bis zum weißlackierten Eingangstor, taumelnd und wohl sehr blaß im Gesicht, denn der Beamte, der sie sah, stürzte sofort auf sie zu und legte ihr die Hand unter den Ellbogen.

»Sind Sie Frau Grautier?«

»Ja…, was ist… mit meiner Tochter?« stammelte Iris.

»Ach, wahrscheinlich ist gar nichts los. Haben Sie ein Foto Ihrer Tochter?«

Iris schossen sofort schreckliche Gedanken durch den Kopf. Emily war durch einen Unfall so entstellt, daß man sie nicht ohne weiteres identifizieren konnte, warum brauchte man sonst ein Foto?

»Ja, ja, warten Sie… Irgendwo in meiner Tasche…«

»Kommen Sie erst einmal mit ins Haus. Dann machen wir das ganz in Ruhe.«

In Ruhe! Wovon redete dieser Mann! Sie wußte ja nicht einmal, was überhaupt los war!

Er brachte sie mit sanftem Nachdruck dazu, neben ihm herzugehen. In der Halle der Villa standen eine weinende Alice und eine sehr blasse, aber gefaßte Frau Doktor Wohlers. Als Iris die Halle betrat, sah es fast so aus, als wolle Alice weglaufen. Doch ein Blick der Anwältin genügte. Sie blieb wie zur Salzsäule erstarrt stehen, schluchzte und schaute zu Boden.

»Frau Grautier…, es tut mir so leid. Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren und…«

»Vielleicht sagt mir mal jemand, was überhaupt los ist!« schrie Iris jetzt und war selbst erschrocken über ihre schrille Stimme.

»Natürlich. Wie es scheint, ist Emily weggelaufen. Jedenfalls war sie plötzlich nicht mehr da, als Alice zur Bank zurückkam, wo Emily auf sie warten sollte.«

»Wieso… Das verstehe ich nicht! Wieso war sie nicht bei Alice und Anna Marie? Sie läuft nie weg!«

»Alice und Anna Marie waren kurz zum Toilettenhäuschen hinübergegangen, aber Emily wollte warten, um auf die Sachen aufzupassen. Es tut mir so leid, Frau Grautier, aber sicher klärt sich das alles ganz schnell auf. Die Beamten werden gleich mit einem Foto von Emily ausgerüstet und dann suchen. Und wir können ja auch noch einmal suchen gehen. Vielleicht ist Emily auch nach Hause gegangen…«

»Wie lange ist es jetzt her…?«

»Äh…, ungefähr anderthalb Stunden«, murmelte Frau Doktor Wohlers, sehr wohl wissend, daß das für Iris eine Ewigkeit bedeutete.

»O mein Gott… Wenn meiner Tochter etwas passiert ist…, das verzeihe ich mir nie…«, schluchzte Iris verzweifelt.

Ihre Beherrschung reichte nicht, um Haltung zu bewahren. Schreckliche Bilder drängten sich ihr auf.

»Ich mir auch nicht«, fügte Alice hinzu, die im Schock plötzlich einwandfrei deutsch sprach.

*

Die nächsten Stunden waren ein nicht endenwollender Alptraum. Fremde Menschen kamen und gingen, die Gesichter zogen an Iris vorbei, ohne daß sie sie noch länger zuordnen konnte. Nur der Kommissar, der jetzt vor ihr saß und sie noch einmal nach Einzelheiten befragte, schien ihr schon fast vertraut. Seine dunklen Augenbrauen hoben und senkten sich bei seinen Worten, als hätten sie ein Eigenleben. Wie merkwürdig, daß sie das überhaupt wahrnahm in dieser furchtbaren Situation! Die blauen Augen, die sie unausgesetzt anschauten, würde sie sicher nie mehr vergessen.

»Ich weiß, wie schrecklich das Nichtstun für Sie sein muß, Frau Grautier. Und doch, es ist wichtig, daß uns nicht die kleinste Beobachtung entgeht. Noch immer ist es natürlich möglich, daß Ihre Tochter einfach weggelaufen ist und sich verirrt hat, aber…«

Iris schüttelte wieder und wieder den Kopf. Es war nicht möglich, daß Emily einfach weggelaufen war. Wie oft sollte sie das noch wiederholen?

»Nein, nein, das würde sie nicht tun…«, entgegnete sie schwach.

»Gut, wir hätten sie dann sicher auch schon gefunden. Also müssen wir einmal davon ausgehen, daß jemand sie mitgenommen hat. Sie sagten, daß Emily ein furchtloses kleines Mädchen ist.«

»Ja…, sie hat keine Angst vor Fremden, ist aber auch überhaupt nicht vertrauensselig. Ich habe ihr immer gesagt, daß sie nicht mit jemandem mitgehen darf, ohne ihn zu kennen oder Bescheid zu sagen. Das wußte sie.«

»Sie ist erst vier Jahre alt…«

»Trotzdem.«

Im Raum wurde es plötzlich hell. Verwirrt blinzelte Iris in das Licht. Ihr Blick fiel auf die großen doppelflügeligen Fenster, die zum Garten hinausgingen. Draußen war es schon fast dunkel. Sie fröstelte noch mehr und schlang die Arme um ihren Körper.

»Wir haben alle Beamten im Einsatz, die verfügbar sind. Wir werden Ihre Tochter finden…«

Seine Stimme klang grimmig, aber Iris hörte mehr aus seinen Worten heraus, als er sagte. Er hätte hinzufügen müssen: so oder so…

»Aber jetzt müssen wir noch einmal Schritt für Schritt die letzten Tage durchstehen.«

An der Tür entstand Bewegung. Iris hob den Kopf. Aber es war nicht Emily, die hereinstürmte, um sie zärtlich zu begrüßen. Natürlich nicht.

Emily wurde irgendwo festgehalten… Sie mußte alle Kraft aufwenden, um das Bild zu verdrängen, das sich vor ihrem inneren Auge zeigen wollte.

In der Tür stand Frau Doktor Wohlers. Sie war sehr blaß, aber beherrscht. Das Tablett in ihrer Hand zitterte nicht.

»Ich bringe noch einmal Kaffee und Tee. Auch Wasser. Darf ich?«

Sie wartete das Nicken des Kommissars nicht ab, sondern kam näher und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. Dann legte sie Iris die Hand auf die Schulter. Eine Geste des Mitleidens, das Iris fast unerträglich war. Sie machte der Anwältin keine Vorwürfe, nicht einmal Alice, die jetzt, nach unzähligen Anhörungen, oben in ihrem Zimmer lag und eine Beruhigungsspritze vom Hausarzt der Wohlers erhalten hatte.

»Iris…, wenn Sie einen Arzt brauchen… oder eine Tablette zur Beruhigung… Ich bin im Nebenzimmer.«

»Nein, nein, ich muß… klar denken können…«

»Schon gut. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß niemand erwartet, daß Sie das ohne Hilfe durchstehen.«

»Vielleicht sollten Sie wirklich…«, griff Kommissar Hattenbach den Vorschlag auf.

»Nein. Aber sollte ich nicht nach Hause gehen? Falls sich jemand meldet.«

»Unsere Leute sind in Ihrer Wohnung und haben das Telefon umgeleitet. Es wird hier klingeln.«

Er deutete auf den Apparat auf dem Tisch.

»Sie können hierbleiben, solange Sie wollen, Iris. Sie sollten jetzt nicht allein sein.«

Der Kommissar nickte zu den Worten Frau Wohlers.

Iris sank tiefer in die helle Ledercouch. Am liebsten würde sie sich auflösen, um das Schreckliche nicht länger ertragen zu müssen.

Plötzlich schrillte das Telefon auf dem Tisch. Alle zuckten zusammen. Iris wollte nach dem Hörer greifen, zögerte aber ängstlich. Würde sie gleich mit dem Menschen sprechen müssen, de rihre kleine Emily entführt hatte?

Der Kommissar nickte.

»Halten Sie ihn solange wie möglich hin.«

Iris meldete sich mit zitternder Stimme. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment ersticken zu müssen.

»Hallo, Iris, ich bin es, Bibi.«

»Oh…«

»Ich merke, ich störe wohl gerade. Ist alles in Ordnung bei dir? Soll ich später…«

Iris wollte schon etwas sagen, als der Kommissar warnend den Kopf schüttelte und den Finger auf den Mund legte.

»Äh… ja, ich kann jetzt nicht.«

»Gut, dann rufe ich dich morgen an. Wenn ich zurück bin von meinem Date. Drück mir die Daumen. Einen schönen Abend noch.«

Es schien Iris, als sei Bibi fast erleichtert, sich nicht mit ihr unterhalten zu müssen. Doch die Verwunderung darüber drang nicht wirklich in ihr Bewußtsein.

»Ja, gut. Bis morgen…«

Der Kommissar nahm ihr den Hörer ab. Kurz streifte seine warme Hand die eiskalte, feuchte von Iris. Sie fühlte sich seltsam getröstet durch diese Berührung.

»Wir sollten erst einmal so wenig Menschen wie möglich einweihen. Wer war das? Eine Freundin?«

»Ja…, halb. Eigentlich ist Bibi eine Kollegin von mir.«

»Vertrauen Sie ihr?«

»Bibi? Ja…, natürlich. Sie kann unmöglich etwas damit zu tun haben!«

Hörte der Alptraum nie auf? Mußte sie jetzt alle ihre Freunde verdächtigen! Niemand würde Emily oder ihr ein Leid antun wollen, dafür könnte sie die Hand ins Feuer legen!

Noch einmal gingen sie gemeinsam Stunde für Stunde der letzten zwei Tage durch. Iris fiel nichts ein, was außergewöhnlich gewesen wäre, so sehr sie sich auch anstrengte. Es war, als ob in ihrem Kopf eine Endlos-Spirale abliefe, die immer wieder fragte: Wo ist Emily?

»Schön, Frau Grautier, dann machen wir jetzt erst einmal Schluß. Ich melde mich, sobald ich etwas Neues höre. Eine Beamtin wird jetzt hier bei Ihnen bleiben. Falls das Telefon wieder klingeln sollte, versuchen Sie, den Anrufer so lange wie möglich hinzuhalten. Dann können wir die Spur eventuell zurückverfolgen.«

Iris nickte wie betäubt. Sie versagte. Sie war nicht fähig, Emily zu helfen!

Kaum war der Kommissar hinausgegangen, erschien die Anwältin, hinter ihr betrat ein Mann das Zimmer. Iris stöhnte leise. Bitte nicht noch ein Beamter, der alle Fragen noch einmal stellte!

Doch es war kein Polizeibeamter. Frau Wohlers stellte ihr den Fremden vor.

»Iris? Das ist mein Bruder Felix Mahler. Er möchte auch gern helfen, wenn er kann.«

»Ich weiß zwar nicht, in welcher Form das geschehen könnte, aber ich würde mit meinem Wagen noch einmal die Umgebung abfahren…«

Iris empfand Ablehnung. Der Mann erinnerte sie ein wenig an Patrice, die gleiche lässige Haltung, die langen schlanken Hände, die dunkle Haartolle, die er ungeduldig nach hinten schob, die jedoch immer wieder in seine Stirn fiel. Nur die Augen waren anders, grün statt blau wie bei Patrice.

»Nein, danke.«

Er schien sich keineswegs zurückgestoßen zu fühlen. Sein Blick bekundete Mitempfinden. Iris schlug die Augen nieder. Wenn sie jetzt eines bestimmt nicht brauchte, dann war es Konversation.

»Wollen Sie sich nicht ein wenig hinlegen? Ich bringe Ihnen eine Decke.«

»Nein…, nein…, ich…«

Die Polizeibeamtin betrat den Raum. Sie wirkte frisch und energisch und sehr jung. Entschlossen blieb sie am Tisch stehen und sah die Hausherrin und ihren Bruder auffordernd an.

»Ich denke, wir sollten Frau Grautier jetzt etwas zur Ruhe kommen lassen. Vielleicht fällt ihr dann noch etwas ein.«

»Natürlich. Iris… Wenn Sie mich brauchen, wir sind nebenan.«

Frau Doktor Wohlers ließ sich ihre Rechte nicht nehmen. Hoch aufgerichtet wartete sie Iris’ Nicken ab, bevor sie langsam hinausging.

Iris schloß die Augen, blieb aber sitzen. Hatte sie etwas vergessen? Hätte sie sich noch an etwas erinnern müssen? Was war anders gewesen als sonst? Also, noch einmal…, die letzten zwei Tage…

*

Wirre Bilder… Autos… Blikke… Emily…

»Emily!« schrie Iris und riß die Augen auf.

War sie tatsächlich eingeschlafen? Wie war das möglich, wenn ihre Tochter sie mehr brauchte als jemals in ihrem Leben?

»Scht…, ganz ruhig, Frau Grautier. Sie sind hier im Hause der Wohlers und…«

»Das weiß ich! Was ist mit Emily? Haben Sie sie schon gefunden?«

Iris wollte aufspringen, weil eine panische Unruhe sie ergriffen hatte.

Doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie sank auf die Couch zurück und schlug die Hände vor die Augen.

»Nein, noch nichts. Es ist jetzt halb eins…«

»Aber man muß doch etwas tun können! Hat der… Entführer sich gemeldet?«

»Nein«, erwiderte die Polizeibeamtin und tat so, als sei das ganz normal.

»O Gott…«

»Frau Grautier, versuchen Sie sich mal zu erinnern. Sie haben sehr unruhig geschlafen und Ihre Augen wild hin und her bewegt. Also haben Sie geträumt. Erinnern Sie sich?«

Die Tür öffnete sich. Felix Mahler kam herein. Er trug ein Tablett mit zwei abgedeckten Tellern.

»Ich bringe einen kleinen Imbiß. Kann ich sonst noch etwas tun?«

Niemand schenkte ihm Beachtung. Iris kniff die Augen zusammen, um die Bilder aus ihrem Traum zurückzuholen, die Beamtin sah sie gespannt an.

»Ja…, da war ein Auto…«

»Wann?« kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Gestern? Nein, es muß ja schon vorgestern gewesen sein…«

»Moment, ich rufe Kommissar Hattenbach an. Das will er sich sicher selbst anhören.«

Sie eilte aus dem Raum. Felix Mahler nahm ihren Platz ein.

»Es tut mir so leid, was passiert ist. Es muß die Hölle für Sie sein.«

Iris antwortete nicht. Was sollte sie dazu sagen? Der Mann sollte hinausgehen, sie alleinlassen. Sie mußte sich erinnern…

»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann…«

»Nein. Bitte. Lassen Sie mich.«

Er blieb sitzen und legte die Hände wie zum Gebet zusammen. Das irritierte Iris für einen Augenblick. Er schien wirklich betroffen zu sein.

»Es… tut mir leid. Ich bin eigentlich nicht… so unhöflich.«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und war schon wieder verschwunden. Aber für eine Sekunde fühlte sich Iris angezogen von diesem Lächeln. Es hatte das kühle, asketische Gesicht mit einem Schlag verwandelt.

»Der Kommissar kommt sofort. Sie sollen alles aufschreiben. In Stichworten. Alles, was Ihnen einfällt.«

Die Beamtin drückte Iris einen Stift und einen Block in die Hand.

Iris konzentrierte sich. Da war ein Auto gewesen. Wann war es ihr aufgefallen?

Felix Mahler stand nun neben der Couch und schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein. Der Duft belebte Iris ein wenig. Sie nahm einen Schluck und verbrannte sich fast die Zunge.

Fünf Minuten später stand der Kommissar im Zimmer.

»Na? Was gibt es?«

Enttäuscht sah er auf den leeren Block in Iris’ Hand. Doch sie schüttelte den Kopf.

»Ich erinnere mich an ein Auto. Es war mir aufgefallen, weil es… mich behinderte!« schloß sie fast triumphierend.

»Gut. Sehr gut. Weiter. Was war das für ein Auto? Erinnern Sie sich an die Farbe, die Marke? Alles ist wichtig. Wo stand es? Was taten Sie, als Sie sich behindert fühlten?«

Langsam kam die Erinnerung wieder.

Iris fühlte sich schlagartig besser, sie hatte das Gefühl, etwas für Emily tun zu können, obwohl sie keine Ahnung hatte, was ihre Erinnerung für einen Wert hatte.

»Ich wollte aus der Tiefgarage fahren. Er stand so dicht an der Ausfahrt, daß ich sogar seine Augen sah…«

Sie schauderte. Felix Mahler glitt neben sie auf die Couch und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter, als wolle er ihr so Kraft geben. Iris spürte es gar nicht.

»Hat er Sie beobachtet? Meinen Sie, er stand da, weil er auf Sie wartete? Hat er Sie verfolgt?«

Die Fragen prasselten auf sie ein. Iris legte die Hände auf die Ohren und begann zu sprechen. Sie sah die Situation jetzt wieder klar vor sich.

»Ich weiß nicht. Ich hatte den Eindruck, daß er auf jemanden wartete. Und ich meine, ich habe den Wagen später noch einmal gesehen. Ich war auf dem Weg zum Kindergarten. Ich habe Emily abgeholt. Es war ein schwarzer Golf. Der Mann sah… irgendwie zornig aus…«

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. Zornig… Traf es das? Ja, irgendwie schon.

»Beschreiben Sie ihn.«

Iris tat es so gut wie möglich. Dann fiel ihr noch etwas ein.

»Ich war nicht mit meinem Auto unterwegs. Ich hatte mir Bibis Auto leihen müssen, weil mein Wagen nicht ansprang…«

Jetzt schien der Kommissar wie elektrisiert zu sein. Er schaute die junge Beamtin an und nickte kaum merklich.

»Gut, Frau Grautier. Geben Sie mir jetzt mal den Namen und die Anschrift Ihrer Kollegin.«

»Aber sie kann damit ja nichts zu tun haben.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht hat der Mann geglaubt, er habe sie vor sich. Vielleicht wollte er dort auf sie warten.«

»Aber… Er müßte sie doch kennen, wenn er auch ihren Wagen kennt! Oder… Oh…«

»Was fällt Ihnen da gerade ein?«

»Bibi… Sie chattet gern mit irgendwelchen Männern. Und einer war wohl ein bißchen aufdringlich… Da fällt mir ein, daß Emily von einem Mann gesprochen hatte, der mich… anglotzt. Aber ich habe niemanden gesehen, als ich in die Richtung schaute.«

»Dann hat er sich möglicherweise versteckt. Na also, wir kommen gut voran. Wenn Ihre Kollegin da jemanden verärgert hat, könnte er sich an ihr rächen wollen. Und vielleicht hatte sie ihm erzählt, welchen Wagen sie fährt und wo sie arbeitet. Würde das zu ihr passen?«

»O ja. Sie ist ein bißchen… leichtgläubig und sehr offen…«

Iris mußte plötzlich daran denken, wie verstört Bibi gestern gewirkt hatte. Vielleicht waren sie jetzt ja wirklich auf der richtigen Spur?

»Bingo. Jetzt fühle ich, daß sich der Kreis schließt. Wir müssen sofort mit ihr sprechen. Frau Grautier, wollen Sie jetzt in Ihre Wohnung zurück? Ich glaube, den Rest können Sie uns überlassen. Es wird sicher keinen Anruf geben.«

»Wieso…«

»Weil der Entführer sich sicher per e-mail bei Ihrer Kollegin meldet. Vielleicht weiß er ja noch gar nicht, daß er ein Kind entführt hat, das gar nichts mit dieser Bibi zu tun hat… Ich… hoffe es fast«, murmelte der Kommissar noch leise hinterher.

Iris hörte es. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie begriff, was der Kommissar damit zum Ausdruck bringen wollte. Wenn der Entführer begriff, daß er Emily gar nicht als Druckmittel einsetzen konnte, war sie ihm zu nichts nutze…

»Ich bringe Sie nach Hause, Frau Grautier. Aber besser wäre es sicher, wenn Sie nicht allein dort sind«, meldete sich Felix Mahler zu Wort.

»Nein, nein…, ich… möchte nach Hause.«

»Na schön. Dann kommen Sie. Meine Schwester hat sich ein wenig hingelegt. Ich hole sie kurz.«

»Nein, bitte nicht. Sie hat schon genug für mich getan. Lassen Sie sie schlafen.«

»Ich fahre Sie.«

Iris fühlte sich viel zu erschöpft, um ihm zu widersprechen. Außerdem erschien es ihr undenkbar, sich jetzt ans Steuer ihres Wagens zu setzen, und mit einem Streifenwagen nach Hause gebracht zu werden, konnte sie sich auch nicht vorstellen. Auch wenn dieser Felix Mahler sie an Patrice erinnerte…

Sie bekam noch einmal die Anweisung, eventuelle Telefonate so lang wie möglich hinauszuzögern, obwohl niemand davon auszugehen schien, daß jetzt noch ein Anruf erfolgen würde.

Die Fahrt war kurz und verlief schweigend. Iris hielt die Augen geschlossen und den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt. Felix Mahler respektierte ihr Schweigen.

»Ich möchte Sie noch nach oben begleiten, nur um mich zu versichern, daß alles in Ordnung ist.«

Wieder war sein Ton so bestimmt, daß Iris sich nicht auflehnen mochte.

Er folgte ihr ins Treppenhaus und stieg die Treppe hinter ihr hoch. Iris war sich seiner Gegenwart sehr bewußt. Als sie leicht taumelte, griff er sofort nach ihrem Arm und war neben ihr. Sie machte sich los und hastete die letzten Stufen nach oben.

Im Flur lag ein Ball von Emily. Als Iris ihn sah, brach sie unvermittelt in Tränen aus.

Felix Mahler schloß sie in die Arme und hielt sie so eng umfangen, daß Iris nicht anders konnte, als den Kopf an seine Schulter zu lehnen. Es tat so wohl, für einen Moment die Verantwortung für sich abgeben zu können.

»Es wird alles gut. Sie finden Emily, ganz bestimmt…«, murmelte er in ihr Haar.

Wie gern wollte sie das glauben! Alles andere würde das Ende ihres Lebens bedeuten.

»Ich kann bei Ihnen bleiben. Ich setze mich ins Wohnzimmer und passe auf.«

»Nein…, nein, das kann ich… nicht verlangen…«

Iris machte sich los. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr in die Augen.

»Bitte, Frau Grautier, ich hätte keine Ruhe, wenn ich Sie jetzt allein hierlasse.«

»Ich… schaffe… das schon.«

»Natürlich schaffen Sie das. Darum geht es nicht. Aber wenn man in so einer Situation ist, sollte man Freunde um sich haben.«

Er bezeichnete sich als Freund. Iris spielte kurz mit dem Gedanken, einen ihrer wirklichen Freunde anzurufen, doch es war mitten in der Nacht und erst alles erklären zu müssen, nein, das ging über ihre Kraft.

»Aber…«

»Kein Aber. Sie legen sich jetzt hin und ich setze mich ins Wohnzimmer. Wenn irgend etwas ist, wecke ich Sie.«

»Ich kann sowieso nicht schlafen.«

»Versuchen Sie es. Morgen müssen Sie wieder bei Kräften sein.«

Wieder lächelte er, diesmal einen Moment länger und sehr liebevoll. Iris senkte den Blick. Vielleicht sollte sie das Angebot wirklich annehmen.

Sie zeigte ihm das Wohnzimmer und ging dann ins Bad hinüber. Ihr Anblick im Spiegel entsetzte sie. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, ihre Wimpern­tusche war verschmiert und der Mund verspannt. Iris schöpfte mit den Händen kaltes Wasser und kühlte ihr Gesicht einen Moment. Dann legte sie sich auf ihr Bett. Zum Ausziehen war sie viel zu erschöpft.

Ihre Gedanken gingen im Kreis, doch bald verschwammen sie zu einem uneinheitlichen Brei, und schließlich schlief sie wider Erwarten doch ein. Unruhig warf sie sich hin und her, aber sie merkte nichts davon, daß Felix Mahler ein paarmal nach ihr schaute und sie auch zugedeckt hatte.

*

Bibi schlief nicht. Sie saß auf dem Bett und goß den Rest Rotwein aus der Flasche ins Glas. Die letzte Mail hatte sie aus dem Haus getrieben. Hier im Hotel fühlte sie sich ein wenig sicherer. Doch eine Lösung für ihr Problem fiel ihr nicht ein. Wenn sie doch mit Iris sprechen könnte! Sie traute sich allerdings nicht, sie mitten in der Nacht anzurufen. Außerdem würde ihre Kollegin ihr mit Sicherheit Vorwürfe machen, weil sie wieder einmal zu leichtsinnig gewesen war. Diesmal wahrscheinlich mit Recht. Iris hatte immer gesagt, daß sie irgendwann einmal in Schwierigkeiten kommen würde.

Dabei hatte sie doch nur erzählt, in welcher Stadt sie arbeitete und lebte. Gut, die Versicherung war bekannt, und so schlimm war es doch bestimmt nicht, daß sie den Namen ihres Arbeitgebers genannt hatte. ›Batman‹ hatte mal nach ihrem Auto gefragt, und auch die Marke und Farbe hatte Bibi ihm mitgeteilt. Na und? Ihren richtigen Namen kannte er ebensowenig wie ihre Adresse. Und er hatte sie auch noch nie gesehen, das verlangte Foto hatte Bibi ihm allerdings nur deshalb verweigert, weil sie fand, daß sie darauf nicht so vorteilhaft aussah wie in Wirklichkeit.

Und jetzt bedrohte er sie. Seine letzte Mail hatte merkwürdig geklungen.

Jetzt bleibt Dir wohl nichts anderes übrig, als ganz lieb zu mir zu sein, nicht wahr? Eigentlich müßte ich sehr böse sein, weil Du mir nichts von ihr erzählt hast, findest du nicht, daß ich dafür eine Entschädigung verlangen kann? Keine Angst, ich tue ihr nichts, wenn du machst, was ich sage. Morgen treffen wir uns, morgen vormittag. Und dann verbringen wir ein wunderschönes Wochenende, aber nicht zu dritt. Du wirst sie wohl irgendwie loswerden können. Ich melde mich bei Dir, ein bißchen darfst du noch zittern, dann bist du sicher bereiter für meine hübschen Ideen.

Seine hübschen Ideen… Eine Gänsehaut kroch über Bibis Rücken, als sie an diese Formulierung dachte. Doch so richtig schlau wurde sie aus der Mail nicht. Wovon sprach er eigentlich? Wem wollte er nichts tun? Wen sollte sie loswerden? Bestimmt war er verrückt. Jedenfalls war sie nach dieser Mail Hals über Kopf aus der Wohnung geflohen und hatte sich hier im Hotel eingetragen.