Easy Deutschland - Norbert Müller - E-Book

Easy Deutschland E-Book

Norbert Müller

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Beschreibung

Stimmen zum Buch „Man hat eine Menge zu lachen, und laut habe ich das beim Lesen eines Romans lange nicht mehr gemacht.“ – Katharina Rutschky, Frankfurter Rundschau „Das Komische in dem Tragikomischen der Handlung ist dabei so sehr auf die Spitze getrieben, dass man darin unwillkürlich den Ausgleich eines vermiedenen gesteigerten Tragischen vermutet.“ – Dirk Knipphals, taz „In dieser Spannung zwischen selbstverliebter Selbstwahrnehmung und gnadenloser Fremdwahrnehmung liegt der Humor des Romans. Und seine Lebensnähe.“ – Cornelia Gellrich, Berliner Zeitung

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Norbert Müller

EasyDeutschland 

Roman

VOLLTEXT Verlag

 

© 2021 eText GmbH

Goldschlagstraße 78/22

1150 Wien

 

https://volltext.net

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlaggestaltung: Manuel Fronhofer

Typografische Gestaltung, Satz: Larissa Plath

Es sieht ganz so aus, als kämen wir aus dem Schlamassel nicht mehr heraus.Roberto Bolaño 

Für meine Tochter Emma und für meinen Freund Axel Bagatsch 

Inhaltsverzeichnis

Personenverzeichnis 

Schatzihassrückfall 

Relocation-Agentur 

Anrufbeantworter 

Burmeister 

Interview 

Doktor Markus 

Entspannung 

Amore 

Prinz Eugen 

Kleinschreibung 

Tiefe 

Sponsoring 

Gebote 

Vater 

Nasebohren 

Grunewald 

Ziegelhofweg 

Gefühlsgrütze 

Café Oren 

Dozentenraum 

PEKiP 

Lebensendtaste 

Kotzlache 

Horny 

Gartenschlauch 

Kaffeekochen 

Krise 

Autobiographie 

Deal 

Freund 

Ponderosa 

Amerika 

Liebe 

Begegnung 

Vernissage 

Tennenbaum 

Peppering 

Spurensuche 

Kursverteilung 

Kosmetikkoffer 

Dosis 

Picknick 

Ultraschall 

Midlife 

Burger 

Sprachkrise 

Hopper 

Horror Vacui 

Perlmann 

Terror 

Diminutivschock 

Netzwerkfliese 

Aufzug 

Comeback 

Kostkinder 

Windeldiskurs 

Volkshochschulleitbildbeauftragter 

Tod 

Traum 

Ehrengrab 

Personenverzeichnis

 

Hauptfiguren

 

Arthur Schulze: Angestellter bei der Relocation-Agentur EasyDeutschland,vormalsTheater-undFernsehregisseur, Erfinder der TV-Serie DoktorMarkus 

Carol Tolbert: Eigentümerin von Easy Deutschland  

Eckhard: ehemaliger Dramaturg, Sponsorenakquisiteur beim Theater 94, verheiratet mit Carol 

Erik König: Deutsch-Programmleiter an der Volkshochschule Großfelde-Marienrade, Audifahrer 

Marion König: Multi-Künstlerin, verheiratet mit Erik 

Guido Duvall: Darsteller des Doktor Markus, interimistisch Hausmann und Vater 

Ann Charlotte Sauber: Schriftstellerin, Freundin von Marion 

Nebenfiguren

 

Simone: Investmentbankerin, verheiratet mit Guido Duvall 

Zoe und Thomas: Königs Kinder 

Justin: Sohn von Simone und Guido Duvall  

Philip Goldberg: Kunde von Easy Deutschland  

Ellen: seine Tochter 

Waltraud Kurz-Kowalski: kommissarische Leiterin der Volkshochschule Großfelde-Marienrade 

Möllenkötter: Lektor von Ann Charlotte Sauber 

Fritz Nägele: Leiter des Theaters 94 

Sabine, Kerstin, Annette, Franz, Roswitha, Hildegard: Kursleiter an der Volkshochschule Großfelde-Marienrade  

Heidi Brockmann: Schauspielerin, Namensgeberin einer Strickblusenkollektion 

Max Perlmann: Schauspieler, Autor von Sentimental Escape 

Ariane Jobst: Schauspielerin 

Frau Weiss: Pflegerin von Perlmann  

Gillian und Dick Tolbert: Carols Eltern 

Cornelius Schreker: Künstler, Kunstlehrer  

Adele Güssing: Ärztin 

Schatzihassrückfall

 

Telefon! Sicher Marion. Aber Arthur ging nicht ran. Wegen der Service-Männer, die gerade dabei waren, seine nagelneue Einbauküche unter Wasser zu setzen. Der Ältere der beiden meinte, offenbar hätten sie beim Anschließen des Geschirrspülers, statt eines Aquastopp, einen Aquago eingebaut. Die Ansage ertönte schon, und er glaubte zu sehen, wie die Service-Männer die Ohren spitzten. 

»Schatz, bist du da?«, fragte Marion. Aus der Küche Lachen. Er suchte den Ausschaltknopf des Anrufbeantworters. »Schatz, bist du da? Wenn du da bist, Schatzi, dann geh doch bitte, bitte ran!«

DieSchatzihasssoßekochtewiederhoch.BeiSchatzi dachteerwenigeranLiebealsanMord.AuchbeiHasi, Mausi,Bärchen,Wuffi,Schnuffi,Arthurleinundsoweiter. Da hatte erst Marion kommen müssen, um ihn von seinemSchatzihasszukurieren.Undjetzt,imBeiseinder angeblichenService-Männer,derallerbrutalsteSchatzihassrückfall.Da,endlich,dieRettung,erzogdenStecker desAnrufbeantworters.Washeißtziehen,errisssokräftigamStecker,dassAnrufbeantworterundTelefonvom Telefontischchenfielen.ErflüchteteinsBadezimmerund wählte Marions Handynummer, aber es meldete sich nur die Mailbox. Erneutes Wählen, erneut die Mailbox. Ein Handyhassrückfall kündigte sich an. Sein letzter Handyhassrückfall lag sechs Monate zurück. 

 

Oktobernachmittag,MarionhattekurzfristigZeit,ihnin einem Café am Winterfeldtplatz zu treffen. Es war das ersteMal,dasssiesichinderÖffentlichkeitbeiTageslicht küssten. Und das erste Mal, dass Marion ankündigte, ihren Mann verlassen zu wollen. Mein Gott, er traute seinen Ohren nicht! Wie oft hatte er in den drei Jahren MarionvordieWahlgestellt–ichoderdeinMann!Und jedesMalhatteihrManngewonnen.DennzwanzigEhejahrezählten.DieKinderzählten.Diegemeinsamen,auf Fotos, Dias und Videos festgehaltenen Erinnerungen zählten.DenNamendesManneshatteArthurbisheute nicht in den Mund genommen. War es unumgänglich, von ihm zu reden, nannte er ihn Audifahrer. Mitten hinein in Marions Ankündigung meldete sich ihr Handy. Und Marion ignorierte es nicht, sondern sprach. Nein, quatschte. Fünf Minuten Quatschen mit ihrer Freundin SusanneinIngolstadt.WieeraufeinmalSusannehasste. UndIngolstadt.DasHandyansichundMarionsHandy alssolches. 

 

Ein dritter Versuch, wieder die Mailbox. Plötzlich die Panik, sie könnte die Affäre beenden. Aber warumPanik,wollteerdieAffärenichtlängstbeendenundsollte erjetztnichteigentlicherleichtertsein,dasssiedastat, wozu er die Kraft nicht hatte? Wie oft hatte ersonntagmorgensdagesessenundgedacht,wäredochjetztschön, mit Marion zu frühstücken. Und nach dem Frühstück mit Marion durch den Treptower Park zu spazieren. MitMarionmaleinWochenendezuverreisen.Überhaupt dieses lächerliche, demütigende Versteckspiel. WeilsieihreFamilienichtzerstörenwollte.Wieofthatte ersichschondenganzenTagaufdieein,zweiStunden mit Marion gefreut – und dann plötzlich die Absage. Wasdazwischengekommen.Hausaufgabenproblembei SohnemannThomas,StreitmitTöchterleinZoe,Operneinladung vomAudifahrer. 

Der Handyhassrückfall war abgeflaut. Er sah ein, dass ohne ihr Handy die Geschichte zwischen ihnen viel komplizierterwäre.Siewarkompliziertgenug.Erdurftesieja nicht auf dem Festnetz anrufen. Trotzdem wählte er jetzt die Nummer. 

»Ja«, sagte Marion.

»Ich bin’s«, sagte Arthur.

»Sie haben sich offenbar verwählt«, sagte Marion.

Arthur sagte nichts mehr. Dafür seine Atmung. Die mal wieder zu schnell und zu flach war. Was, wie er nur allzu gut wusste, zu einem Überangebot an Sauerstoff im Körper führte und damit das Gleichgewicht zwischen Sauerstoff und Kohlendioxid störte. Mit der Konsequenz, dass sich die Blutgefäße zusammenzogen. Hyperventilation nannte man das. Die Sauerstoffzufuhr im Blut wurde zwar erhöht, die Sauerstoffabgabe an die Körperzellen aber verringert. Wodurch es zu Schwindelgefühl, Sehstörungen, feuchten Händen, Taubheitsgefühl in den Gliedmaßen, Erstickungsgefühlen, Gefühlen von Unwirklichkeit und noch mindestens zwanzig anderen Symptomen kommen konnte. Das wusste Arthur, weil er seit acht Wochen an der Volkshochschule einen Abendkurs besuchte, um das richtige Atmen zu lernen. Bisher hatte sich der Kurs mit dem richtigen Atmen in Alltagssituationen beschäftigt. Das hier war eindeutig eine Stresssituation. Er hechelte wie ein alter Hund, der die Treppe hochgejagt wird. Wo er doch wie eineSchildkröte atmensollte–ruhigundtief.Hunde,hattederKursleiter gesagt,werdenfünfzehnJahrealt,Schildkrötendagegen dreihundert. 

Es klopfte, die Service-Männer. Sie waren fertig. Die Küche stand noch. Er begleitete sie zur Tür. Sie blieben länger im Türrahmen stehen als für die Verabschiedung nötig. Arthur erblickte darin eine aggressive Trinkgelderwartung und gab nichts.

Relocation-Agentur

 

Das Gespräch mit Frau Jäger lief schon eine Viertelstunde. Nett war die Frau zweifellos. Auch qualifiziert. Perfektes Englisch, perfektes Portugiesisch, perfektes Französisch. Drei Jahre Lektorat an der Universität von Braga. Zwei Jahre an einer Sprachschule in Paris. Trotzdem zögerte Carol noch mit der Zusage.

»Ein Relocation-Consultantbraucht Persönlichkeit«, sagteCarol.»SiemüssendemKundenzeigen,wieman in Deutschlandlebt.« 

Frau Jägernickte. 

»WiemandieMentalitätderDeutschenversteht.« ErneutesNicken. 

»Den Kunden die Angst vor Deutschland nehmen. Vor allem vor den Deutschen. Denn kurz nach der AnkunftbekommenesdiemeistenAusländermitderAngst zutun.« 

Erneutes Nicken.

»So haben sie sich Deutschland nämlich nicht vorgestellt. Nicht die Mülltrennung, nicht die Behördengänge, nicht die Sprache.«

Frau Jäger nickte und sagte, sie habe einfreiwilliges JahraufderVogelbeobachtungsstationaufAmrumverbracht.UndseinachderZwischenprüfungdreiMonate in China gewesen. Direkt nach dem Abitur ein sechsmonatigesPraktikumineinemAltenheimabsolviert. 

Carol dachte an die Donnellys: DasHeadquarter vonProcter&GamblewillMr.DonnellyfürfünfJahre nachBerlinschicken.NachRücksprachemitderFamilie sagt Mr. Donnelly zu, denn Auslandseinsatz bedeutet Karrieresprung. Doch dann: Kulturschock!AllmorgendlichesundallabendlichesHändeschüttelnmitallen fünfundzwanzigMitarbeiternseinerAbteilung.Undbei den anderen Abteilungsleitern geschlossene Türen, als würden Geheimverhandlungen geführt. Mrs. Donnelly wird im Supermarkt an der Kasse angemacht, weil sie ihreSachennichtschnellgenugindieTütebekommt.In Chicago dagegen freundliche Studenten, die das füreinenerledigen.AlsMr.DonnellyaufeinerPartydenVorschlagmacht,denTüteneinpackdienstauchinDeutschlandeinzuführen,weildochsoauchvieleJobsgeschaffen werdenkönnten,wirderalsAusbeuterbeschimpft.Und die Kinder? Die müssen in der Schule den amerikanischen Imperialismusausbaden. 

EsgabnochschwierigereFälle.PhilipGoldbergaus Boston, der schon einen Relocation-Consultant verschlissen hatte, wegen angeblicher antisemitischer Äußerungen.Oderdie Wangs ausShanghai,dienochkeinen einzigenPunktderListeumgesetzthatten,diealleKundenzuAnfangbekamenunddiebeiderIntegrationhelfensollte.Auchsoeinfachenicht,wiemaleindeutsches Essenzuprobieren.DieWangsaßenausschließlichChinesischundkauftenausschließlichimAsia-Supermarkt ein.Deutschzulernenweigertensiesich,undwennHerr WangeinmalseinenchinesischenRedestromunterbrach, dann,umaufEnglischMartha,derRelocation-Consultin, klar zu machen, wie unwohl er und seine Familie sich in Deutschland fühlten. Da nutzte es nichts, dass Martha Herrn Wang erklärte, dass aller Anfang schwer sei.DassauchsiesichimerstenJahrinPekingunwohl understimdrittenJahrsorichtigwohlgefühltundnach sechsJahrengarnichtmehrfortgewollthabe.HerrWang wusstenicht,wieerundseineFamiliedienächstensechs Wochen überstehensollten. 

»PersönlichkeitistdasWichtigste«,wiederholteCarol. Frau Jäger nickte und sagte, sie sei ehrenamtliche Mitarbeiterin imTierheim. 

»Sie bekommen in den nächsten Tagen Bescheid«, sagteCarolundstandauf.KaumwarFrauJägerausder Tür, klingelten beide Telefone. Auf der einen Leitung HerrBashir,derägyptischeOberarzt,derseiteinerWocheKundevonEasyDeutschlandwar.ErschrieinsTelefon,dassersoforteinenanderenDeutschlehrerhaben wolle. 

»BeruhigenSiesich«,sagteCarol.»SagenSiemir,was passiertist.« 

»Wir über Essen reden. Herr Schulze fragen, was essen ich gern. Ich sagen: Bizza. Herr Schulze sagen: Bizza falsch. Herr Schulze dann sagen: Bizza richtig. Ich nix verstehen. Ich sagen: Bizza. Herr Schulze sagen: Bizza falsch. Dann Herr Schulze wieder sagen: Bizza richtig. Andere Student lachen.« 

»Herr Schulze will Ihnen nur helfen.«

»Herr Schulze haben keinen Resbekt für meine Kultur.« 

»Er muss Sie korrigieren.«

»Ich haben dreitausend Euro bezahlt. Ich erwarten Resbekt.« 

Auf der anderen Leitung ein nicht minder erboster Goldberg, der auf der Stelle sein Geld zurückhaben wollte,weilerderMeinungwar,dassauchderzweiteRelocation-Consultant antisemitischsei. 

»Impossible«,sagteCarol.»HerrLemmlerdidhiscivil service for Aktion Sühnezeichen in akibbuz.«

»I’m not impressed by that. Mr. Lemmler goes on and on talking about Israeli politics. And the Palestinians. I’m not from the Middle East. I’m not Israeli. I’m not Palestinian. I’m American. Like you. But I don’t want to talk about American politics either. I don’t want to talk about politics at all. I just want to get on with my life in Germany.« 

»I’msorryaboutthat.IwillgiveyouMr. Schulze.He’s definitely not antisemitic. He is a member of the Gesellschaft für christlich-jüdischeZusammenarbeit.«

»Fine. But if it doesn’t work, I want my money back. And I’ll expect Mr. Schulze in half an hour.«

SiewählteArthursNummer,aberesmeldetesichnur der Anrufbeantworter. Zweiter Anruf, und ein hörbar um Atem ringenderArthur. 

»Ich bin gerade auf dem Sprung. Die O’Briens warten.«

»Vergiss die O’Briens. Ich brauche dich jetzt sofort für Philip Goldberg.« 

»Und die O’Briens?«

»Ich rufe an und sage, dass du krank bist.«

»Wo ist der Haken bei Goldberg?«

»Kein Haken, sondern großer Fisch. Sehr großer Fisch. Oberster Personal Manager bei Sony Europa. Wenn Goldberg mit Easy Deutschland zufrieden ist, wird er sicher noch andere Sony-Manager zu unsschicken.« 

»Verstanden.«

»Und kein Wort über Nahostpolitik!«

»Selbstverständlich.« Arthur hatte sich bisher bei Easy Deutschland immer an Regel Nummer eins gehalten: SprichnieüberPolitik,ReligionoderSex,esseidenn,der Kunde willes. 

Anrufbeantworter

 

Es klopfte, König rührte sich nicht. Vor einer Minute hatte er die Tür abgeschlossen, um ungestört den Bezirksstadtratanrufenzukönnen.DenganzenVormittag hatteespausenlosgeklopft.Dozenten,dieCDsoderBücherausleihenwollten,diefragten,obsiemehrStunden haben könnten, die sich vertreten lassen wollten. Frau Berger von der Verwaltung, weil irgendein Papier zu unterschreibenwar,derMedienwart,weilerdenSchlüssel zum Videoschrank verloren hatte, die Frau von der MediothekmitderBitte,dieDozentenaufdasvielfältige Angebot von Computerlernprogrammen hinzuweisen. NichtzuredenvondempausenlosklingelndenTelefon. Einmal war es ein Beamter vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der die beantragten Mittel für die Deutschkurse immer noch nicht bewilligenkonnte, dannjemandvomLangenscheidt-Verlag,dereineBuchpräsentationvorschlug,danneinDozent,dervergessen hatte,sichaufderTeilnehmerlistefürdiePrüferschulung einzutragen,unddastelefonischnachholenwollte.Und geradeebenderKollegeausNeukölln,derfürkommendenMittwocheineSitzungallerDeutsch-Programmbereichsleiter einberufen wollte, um eine Stellungnahme andennochimmerüberdasZuwanderungsgesetzberatenden Vermittlungsausschuss zuformulieren. 

Erneutes Klopfen. Das Licht würde man durchs Schlüsselloch sehen können. Schloss er jetzt auf, musste er erklären, warum er abgeschlossen hatte. Man würde Vermutungen anstellen. Wenn es kein Dozent war, der geklopft hatte, sondern etwa die Kurz-Kowalski, würde die jetzt sicher ihre Chance wittern, mit ihm einen der drei schärfsten Konkurrenten auf den Volkshochschulleiterposten aus dem Feld zu schlagen. Die brauchte als kommissarische Leiterin der Volkshochschule nur den Hausmeister unter irgendeinem Vorwand zu bitten, sein Büro aufzuschließen. Wie groß ihre gespielte Überraschung dann wäre, ihn im Büro vorzufinden. 

UndwennerausdemFensterkletterte?SeinBürobefandsichimErdgeschoss,dasmüsstezuschaffensein. Aberwennihnjemanddabeibeobachtete?DasFenster gingaufdieStraßenseitehinaus,undderHaupteingang warinnächsterNähe.UndwennereinenSchwächeanfall simulierte?DerHausmeisterwürdedieTüraufschließen, die Kurz-Kowalski hereinstürzen – und er, König, läge wietotaufderAuslegeware.VorböswilligenGerüchten wäre er damit gerettet, die Chance auf den VolkshochschulleiterpostenhätteeraberalsoffensichtlichgesundheitlichangeschlagenerKandidatgleichfallsverspielt. 

Kein Klopfen mehr, was eine Falle sein konnte, um ihninSicherheitzuwiegenundsoausdemBürozulocken.DerKurz-Kowalskiwardaszuzutrauen.Auchder Wagner, dem Remminger und dem Hartmann, den drei anderenKonkurrenten.Diewürdenallestun,umVolkshochschulleiterzuwerden.Aberaucherwarzuvielem bereit. Zu gut erinnerte er sich noch des jahrelangen Frondienstes als Honorarlehrkraft. Viel Lehrkraft gegeben, aber wenig Honorar dafür bekommen. Nicht zu redenvonPrestige.EinProfessorstelltewasdar,einStudienratstelltewasdar,einVolkshochschuldozentstellte nichtsdar.ManwurdeVolkshochschuldozentnichtaus Berufung, sondern aus Einsicht in die eigenen begrenzten Möglichkeiten: Für die Universitätskarriere reichte nicht der Intellekt, für die Schullaufbahn nicht das Nervenkostüm. Programmbereichsleiter, das war schon was. Das war Festanstellung, bezahlter Urlaub, Weihnachtsgeld. Und erst Volkshochschulleiter! Neujahrsempfang beim Bezirksbürgermeister. Einladung zur Aidsgala des Regierenden Bürgermeisters. 

Telefon!Nichtrühren,auchdaskonnteeineFallesein. Sie sind also doch da, würde Remminger sagen. RemmingerfuhrschonseitfrühestenSchüler-Unions-Tagen auf dem CDU-Ticket. Wenigstens konnte Remminger, im Gegensatz zur Quereinsteigerin Kurz-Kowalski auf dem SPD-Ticket, einen Computer bedienen. Und hatte wie König als unterprivilegierte Honorarlehrkraft angefangen.ImGrundewäreRemmingerderidealeStellvertreter,zumLeiterfehltenihmdieVisionen.Wieauch Hartmann,seitStudententagenimCharlottenburgerAltbaubiotopzuHause.BekennenderMerlottrinker,dermit seiner Merlotkennerschaft protzte. Zwei Jahre in einer Plattenbausiedlung in Marzahn und Mineralwasserkur tätendemgut.DieWagnerwarvielleichtamgefährlichsten,weiltatsächlichamkompetentesten.Diehatte,bevor sie zur Volkshochschule gekommen war, FortbildungsseminareinderErwachsenenbildunggeleitet.Hatteauch Bücher darüber geschrieben. War eine Zeitlang als ReferentindesStaatssekretärsimBildungsministeriumim Gesprächgewesen. 

Immer noch das Telefon. Wahrscheinlich eine Falle, aber vielleicht der Bezirksstadtrat.

»Marion, du bist’s. Ist was passiert?«

»Immer wenn ich dich im Büro anrufe, fragst du, ob etwas passiert ist.«

»Du rufst mich nicht so oft im Büro an.«

»Soll ich dich öfter anrufen?«

»Worum geht’s?«

»Wird’s heute wieder spät?«

»Warum fragst du?«

»Ich geh heute Abend ins Kino.«

»Schon wieder?«

»Darf ich nicht ins Kino gehen, wann ich will?«

Es klopfte, er legte auf. War es dieselbe Person wie vorhin? Das Telefon klingelte. Er wartete eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten. Wartete und schwitzte und lauschte. Und sprang auf und lief zur Tür und schloss sie auf und riss sie auf und – niemand! Und schloss sie wieder zu und setzte sich und rief endlich im Büro des Bezirksstadtrats an. Wo sich ein Anrufbeantworter meldete. Ein Anrufbeantworter! Hatten die Sparmaßnahmen jetzt schon das Büro des Bezirksstadtrats erreicht? Er überlegte, ob er auf den Anrufbeantworter sprechen sollte. Normalerweise hatte er keine Probleme mit Anrufbeantwortern, im Gegenteil, es gab Anrufe, bei denen er fürchtete, statt des Anrufbeantworters könnte sich die Person melden. Er legte auf. Schnell noch Marion anrufen,umzuklären,ob…ja,was?Bloßjetztkeinegedanklichen Nebenkriegsschauplätze eröffnen. Andererseits, stand die Heimatfront nicht hinter einem, war die Bewerbungsschlacht gleichverloren. 

»Wir wurden vorhin unterbrochen.«

»Du hast einfach aufgelegt.« 

»MiristderHörerausderHandgefallen.Vorhinsagtestdu,dugehstheuteAbendinsKino.Wasschaustdu dir dennan?« 

»Du willst wissen, mit wem ich ins Kino gehe.« 

»Mit wem gehst du denn?«

»Ist das ein Verhör?«

»Bis heute Abend dann.«

DieHeimatfrontstand,wennauchnichtgeschlossen. JetztraschderAnrufbeimBezirksstadtrat,wosichwiederderAnrufbeantwortermeldete.DiesmallegteKönig nachdemPfeiftonnichtauf,sondernsagte:»Icherwarte IhrenRückruf!« 

Im nächsten Moment dachte er: Ich Idiot! Er, der Programmbereichsleiter, sprach auf den Anrufbeantworter des Bezirksstadtrats: Ich erwarte Ihren Rückruf. Das war’s. Blackout, Karriere imArsch. 

Burmeister

 

Zu kalt, das Fahrrad zu nehmen. Und zu weit, denn Goldberg wohnte im Bötzowviertel. Am besten nahm Arthur die U-Bahn. Das Problem mit der U-Bahn war, dass sie ein bevorzugtes Anschlagsziel für Terroristen darstellte. Und wenn er den Bus nahm? Er schaute auf den Stadtplan. Dreimal müsste er umsteigen. Und eine StundewürdedieFahrtmindestensdauern.Erkämezu spät,GoldbergwürdeseinGeldzurückfordernundCarol ihn rausschmeißen. Und wirklich sicher wäre er im Bus auchnicht. 

Als die U2 zwischen den Stationen Stadtmitte und Hausvogteiplatz stehen blieb, bekam er Herzrasen.Die anderen Fahrgäste lasen weiter ihre Zeitung,unterhielten sich, schauten vor sich hin und rechneten offenbar nichtmiteinemTerroranschlag.Derauchausblieb,wenigstensbiszuderStation,woArthuraussteigenmusste. Wie demütigend diese Angst doch war! Liefe ihmjetzt ein Terrorist über den Weg, würde er zu ihm sagen: Du Arschgesicht!StattdessenliefihmeinKampfhundüber denWeg,gefolgtvonseinemBesitzer.DerKampfhund warnichtanderkurzenLeine,obwohldasneueHundehaltergesetzdasvorsah.TrugauchkeinenBeißkorb.Der Mann machte nicht den Eindruck, als warte er darauf, vonArthurüberdasneueHundehaltergesetzaufgeklärt zuwerden.DerMannmachtedenEindruck,alsmüsste erselberankurzerLeineundmitBeißkorbgeführtwerden. 

Arthur hatte wieder einmal Probleme mit den Hausnummern. In keiner Stadt, weder im In- noch im Ausland, hatte er bislang Probleme mit den Hausnummern gehabt,inderHauptstadthatteersie.Arthursuchteauch jetztschonwiederzehnMinutennachderNummer48. Nummer46und47unddannplötzlich102.AufderanderenStraßenseite69.SchonzehnMinutenVerspätung, weilsichihmdasHausnummernzählsystemderHauptstadt nicht erschließen wollte. Da kam Gott sei Dank eineFrauvorbei,dieerfragenkonnte. 

»Na, machen Sie doch die Augen auf, junger Mann! Sie stehen direkt vor der Nummer 48.«

In der Tat, das Haus direkt vor seiner Nase hatte er übersehen.AnderTafelmitdenNamenkeinGoldberg. Hatte er am Telefon die Hausnummer etwa falsch verstanden?JetztwäreeinHandygünstiggewesen,dennes gab weit und breit keine Telefonzelle. Nach einer Viertelstundefanderendlicheine.CarolbestätigtedieRichtigkeit der Hausnummer. Und sagte, er solle sie in fünf Minutenwiederanrufen,siewerdeinderZwischenzeit Goldberganrufen.WährendArthuraufdieUhrschaute, trateinMannnäher,deroffenbartelefonierenwollte. 

»Dauert es lange?«, fragte Arthur.

»Was geht dich das an?«

»Ich muss gleich telefonieren.«

»Du kannst nach mir telefonieren.«

»Es eilt.«

»Verpiss dich! Sonst gibt’s was auf die Schnauze.«

Arthur schaute sich nach Passanten um, die ihm zur Hilfe kommen könnten. Aber da war niemand. Der Mann sah kräftig aus. Fitnessstudio, wenn nicht Kampfsportschule. Messer- oder Schlagringbesitzer. Höchstwahrscheinlich arbeitslos oder Sozialhilfeempfänger mit entsprechendem Frustrationsstau und leicht abrufbarem Aggressionspotenzial. Arthur versuchte sich schnell und unauffällig zu entfernen und eine neue Telefonzelle zu finden, die möglichst weit entfernt war. Das dauerte eine halbe Stunde, während der Carols Ungeduld mit seinem Handyanschaffungswiderstand offenbar so ins Unermessliche gestiegen war, dass sie ihm das Ultimatum stellte, sich entweder bis zum Montag ein Handy oder einen neuen Job zu besorgen. Arthurs Hinweis auf die noch ungeklärte Forschungslage bezüglich der Frage, ob Handys Krebs auslösen, konnte Carol nicht beschwichtigen. Sie sagte, die Hausnummer stimme und er solle bei Burmeister klingeln, und legte grußlos auf. Er klingelte dreimal bei Burmeister, bis sich eine Stimme aus der Gegensprechanlagemeldete. 

»Burmeister.«

»Arthur Schulze von der Relocation-Agentur Easy Deutschland. Sind Sie nicht Herr Goldberg?« 

»Burmeister.«

»Wohnt Herr Goldberg nicht im Haus?«

»Burmeister.«

»Ich will zu Herrn Goldberg.«

»Burmeister. Vierter Stock, nehmen Sie den Aufzug!«

Arthur nahm die Treppe, weil in fensterlosenAufzügendieGefahrbestand,dasserhyperventilierte.DieGefahreinerPanikattackewardannnichtweit.AußerAtem erreichteerdenviertenStock.Erklingeltedort,woBurmeisterstand.EinMannumdiesechzigöffnete. 

»Herr Goldberg?«, sagte Arthur.

»Burmeister«, sagte der Mann. »Kommen Sie rein!«

»Ich verstehe nicht …«

»Kommen Sie endlich rein!« Der Mann, der sich als Burmeister vorgestellt hatte, zog Arthur in die Wohnung. Als die Tür geschlossen war, sagte Burmeister: »Ich bin Philip Goldberg.«

»Wie habe ich das zu verstehen?«

»Denken Sie doch mal nach!«

»Sie wollen nicht –«

»Richtig.«

»Goldberg … die Leute denken –«

»Richtig.«

»Obwohl es auch –«

»Nichtjuden mit Namen Goldberg gibt. Und Juden mit Namen Maier oder Schmidt.«

»Haben Sie denn schon –«

»Anonyme Anrufe bekommen? Ja!«

»Niemand im Haus weiß …?«

»Nein, niemand. Nur der Hausverwalter. Der Hausverwalter ist Jude.« Goldberg nahm Arthur den Mantel ab und führte ihn ins Wohnzimmer. »Mögen Sie etwas trinken?« 

»Einen Kaffee, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ihr Deutsch ist übrigens ausgezeichnet.«

»Ihres auch. Mit Milch und Zucker?«

»Nur mit Milch. Danke.« Fünf Minuten später war Goldberg zurück.

»BevorwirindieEinzelheitenunserer…nennenwir esZusammenarbeit…gehen,lassenSiemicheinesvornewegsagen:KeinWortüberIsrael!« 

»Ich weiß.«

»Den Nahostkonflikt im Allgemeinen …«

»Klar.«

»Und die israelische Rolle dabei im Besonderen.«

»Klar.«

»Und benutzen Sie niemals, ich wiederhole: niemals, die Worte amerikanische –« 

»Ostküste, ich weiß. Amerikanische Ostküste als Synonym für die angebliche Macht der Juden in der Welt.«

»Richtig. Ihre beiden Vorgänger haben nämlich …, aber lassen wir das. Und lassen Sie niemals, ich wiederhole: niemals, egal, in welchem Zusammenhang, das Wort Weltverschwörung fallen, denn Weltverschwörung wird immer gleich mit –« 

»Jüdischer Weltverschwörung assoziiert, ich weiß.«

»Überhaupt das Wort Verschwörung, benutzen Sie es in meiner Gegenwart nicht. Das ganze Leben ist eine einzige Verschwörung, darüber brauchen wir nicht zu reden.« 

»Klar.«

»Undnocheins:ErzählenSiemirnicht,wieeinerIhrer beiden Vorgänger, dass die Gebrüder Albrecht die drittreichsten Männer der Welt seien–« 

»Gebrüder Albrecht?«

»DieEigentümervonAldi.ErzählenSiemirdasalso bitte nicht und schon gar nicht, dass die Gebrüder Albrecht Juden seien, denn wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe, sind sie nur die fünftreichsten Männerder Welt und obendreinkatholisch.« 

»Klar.«

»Ich sehe, wir verstehen uns.«

»Klar.«

»Dann können wir ja anfangen.«

»Ja.«

»Eines habe ich noch vergessen: Falls Ihr Großvaterin der SS war und Juden erschossen haben sollte, behalten Sie’s bitte für sich. Und falls Ihre Großmutter Juden im Kellerversteckthabensollte,behaltenSie’sbitteebenfalls fürsich.« 

Interview

 

»Aufgelegt. Komisch. Gestern und vorgestern auch schon.«

»Da hat sich jemand verwählt«, sagte Marion. Erik verschwand wieder hinter der Zeitung.

»Hast du das Interview mit dem Bischof gelesen?«

»Nein.«

»Das musst du lesen. Toller Mann! Bewundernswert! Fünfunddreißig Jahre verheiratet.«

»Was ist daran so toll?«

»Hör mal zu: Es gab immer wieder Zeiten, wo ich meiner Frau Anlass gab, sich von mir scheiden zu lassen.« 

»Bist du fertig mit Frühstücken?«

»Hör doch mal zu: In der Zeit als Studentenpfarrer war ich morgens von sieben bis Mitternacht unterwegs, während meine Frau zu Hause mit drei kleinen Kindern wartete. Obwohl ich ihr versprochen hatte, spätestens gegen neun Uhr abends zurück zu sein.« 

»Das kenne ich, auch wenn es bei uns nur zwei kleine Kinder waren.«

»Warte,esgehtweiter:Esgingnichtanders.Dawaren junge Studentinnen, die mit mir dringend ihre Probleme besprechenmussten.« 

»Bis Mitternacht?«

»Offenbar.«

»Gevögelt hat er die.«

»Was du immer denkst.«

»Eine nach der anderen hat er sie gevögelt. Das machen doch alle Studentenpfarrer so.«

»Was du nicht sagst … Jedenfalls hat die Ehe das ausgehalten.«

»Und was sagt seine Frau dazu?«

»Der Bischof sagt, der Gedanke an Scheidung sei ihnen beiden nie gekommen. Gekämpft hätten sie um ihre Ehe,gerungen.« 

»So ein Heuchler! Er lebt im reinsten Vögelparadies, während seine Frau mit den Kindern allein zu Hause hockt.« Wieder das Telefon, Erik ging ran. 

»Wieder aufgelegt. Sag mal, da stimmt doch was nicht.«

MarionstürzteinsBad.StürzteausdemBad,umihr Handyzusuchen.FandihrHandyimSchlafzimmerund stürzte zurück ins Bad. Auf der Mailbox ihres Handys zehn Nachrichten. Eine von ihren Eltern, neun vonArthur:NeunmaldiegleicheNachricht:Wobleibstdu?Ich drehdurch!MariondrückteaufdenSpülknopfundwählteArthursNummer.DasKlorauschenwarabgeebbt,ehe sichArthurmeldete.SiedrehtedenWasserhahnaufund versuchte es erneut. Esklopfte. 

»Brauchst du noch lange?«, fragte Zoe.

»Fünf Minuten.«

»Geht es nicht schneller?« Jetzt reichte es. Marion riss die Tür auf und fuhr ihre Tochter an, sie solle gefälligst warten.

»Was ist los mit dir?«

»Was soll los sein mit mir?« 

»Du … du … machst so eine Hektik.«

»Ich mach eine Hektik?« Jetzt nicht auch noch mit Zoe streiten. »Geh schon rein!«, sagte Marion. Das würde dauern.Arthurwartete.WarteteschonseiteinerStunde. 

»IstallesinOrdnung?«,fragteZoe.SekundenschnelleVerwandlungvomTeenagerimErster-fester-Freund-StressindiegroßeSchwester.Sagmir,wasdiraufdem Herzenliegt,Marion,mirkannstdudochvertrauen.Von wegen! Kein Geständnis jetzt ihrer Verfehlung.Letzter GeschlechtsverkehrmitErikvorzweioderdreiJahren. WasheißtVerkehr:Motoreinschalten,Dingsrein,Dings raus,Motorausschalten.DaswardieEhe.Daswarauch dieEhe.Vonwegen,HerrBischof,dieEheseieinwunderbares, unvergleichlichesGut! 

»Marion,schonwiederdieserAnruferundgleichaufgelegt.« 

»Woher weißt du, dass es derselbe Anrufer war?« Marion hämmerte gegen die Badezimmertür, und Zoe stürzte mit einer Reinigungsmaske auf dem Gesicht heraus: »Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?«

Ohrfeige! Gleich zwei. Die große Schwester heulte. Schrie: »Ich hasse dich! Und wie ich dich hasse!«

Aber das Bad war frei. Marion stellte die Dusche an, obwohl sie nach dem Aufstehen schon geduscht hatte. Erik würde gleich fragen, warum sie zweimal duschte. Würde fragen, warum sie Zoe geohrfeigt hatte. Würde fragen, was los sei. Würde wieder mit dem Bischof anfangen. Würde sie aufhalten, so dass Arthur Telefonamok lief und alles verriet. Kämpfen, ich muss jetzt kämpfen um mein Glück. Quatsch, nicht Glück, um Sex! Um diese kleine, schmutzige Affäre, Herr Bischof! 

»Ja«, meldete sich Arthur.

»Idiot!«,sagteMarion.Siekamnichtweiter,weiljemand gegen die Türhämmerte. 

»Ich muss mit dir reden«, sagte Erik.

Marion öffnete die Tür. Sie standen eine Weile stumm im Flur herum. Zoe ging ins Bad, kam wieder heraus, zog Mantel und Schuhe an und knallte die Wohnungstür zu. Würde wahrscheinlich heute Abend dem Papa mit Auszug drohen. Die oder ich. Von wegen große Schwester. Erik ging in die Küche, Marion folgte. Das Telefon klingelte. 

»Wieder aufgelegt. Jetzt habe ich aber genug. Hast du mir nicht etwas zu sagen?«

Marion überlegte und sagte: »Du solltest mal zum Friseur gehen.«

Erik griff wieder zum Interview mit dem Bischof:

»Hör mal zu …«

»Ich muss los.«

»Ein ehrlicher Mann, der Bischof … hörst du zu? Ich war nicht da, als meine drei Söhne meine Zeit und Aufmerksamkeit brauchten. Ich war auf Konferenzen, Sitzungen, Dienstreisen. Meine Frau musste jeden Tag auf die Frage meiner Söhne, ob denn der Papa sie gar nicht liebhabe,weilerdochniedaseiundniemitihnenspiele, antworten: Der Papa hat euch lieb, auch wenn er nichtda ist. Er trägt euch immer imHerzen.« 

»SoeinStuss!DasverstehtdochkeinKind.DerPapa ist da oder ist nicht da. Ein Kind muss den Papa sehen. Und zwartäglich!« 

»Hör zu, was hier noch steht: Wir sind froh, trotz mancher schwieriger Zeiten zusammengeblieben zu sein.« 

»Das ist der Gipfel! Wir! Wo doch nur er froh sein kann, dass die Frau alles ertragen hat. Ich muss gehen. Ann Charlotte wartet.« 

»Wo trefft ihr euch denn?«

»Im Café.«

»In welchem Café?«

»Warum willst du das jetzt wissen?«

»Kann ich mitkommen?«

»Du magst Ann Charlotte doch gar nicht.«

»Unddubistsicher,dassdumitAnnCharlotteverabredetbist?Ichrufesiejetztanundfrage,obdasstimmt.« 

»Mach dich nicht lächerlich!«

»DerBischofundseineFrausindseitfünfunddreißig Jahrenzusammen,ingutenwieinschlechtenTagen.« 

»Du bist kein Bischof – und ich bin nicht bescheuert!«

Doktor Markus

 

Guido Duvall sammelte Justins Sandspielzeug ein. Die blaue Schaufel fehlte. Auf jedes Sandspielzeug hatteDuvall Justins Namen geschrieben. Trotzdem fehlte nach dem Spielplatzbesuch meistens ein Sandspielzeug, manchmal fehlten auch zwei oder drei. Um den Schwund nicht zu groß werden zu lassen, sammelte er gelegentlich fremde Sandspielzeuge mit ein. Auch solche, wo Namen draufstanden, Namen wie Leander oder Vivi. Zu Hause entfernte er sie mit einem Essigreiniger und schrieb Justindrauf. 

»Auto«, sagte Justin.

»Kein Auto«, sagte Duvall. »Wir gehen jetzt nach Hause.«

»Auto.«

»Wir sind schon den ganzen Nachmittag Auto gefahren.«

»Auto.«

»Also gut, noch ein Viertelstündchen.«

»Schaukel.« Die Schaukel war besetzt. Zwei Schaukeln gab es, und vier oder fünf Kinder warteten.

»Auto«, sagte Duvall. »Komm, wir fahren mit dem Auto.«

»Schaukel«, sagte Justin.

»Eben wolltest du noch mit dem Auto fahren.«

»Schaukel.«

»Schaukel besetzt, Auto frei!«

»Schaukel.«

Er nahm das Sandspielzeug aus dem Kinderwagennetz, aber Justin ignorierte es. Justin hatte den PlastikspateneinesanderenKindesentdecktundgleicherobert. Das andere Kind war größer und nicht bereit, den Verlust seines Spatens hinzunehmen. Es zog Justin an den Haaren, Justin schrie. Die Mutter schimpfte mit ihrem Kindundforderteesauf,beiJustinEieizumachen.Das Kindweigertesich,dieMutterlächelte,Duvalllächelte zurück. 

»Sie kommen mir irgendwie bekannt vor«, sagte die Frau.

»Ich bin fast jeden Tag auf dem Spielplatz«, sagte Duvall.

»Das meine ich nicht … Ich meine, bekannt aus dem Fernsehen.«

»Justin, komm!«, rief Duvall.

Die Frau ließ nicht locker: »Sind Sie nicht Doktor Markus?«

»Ich? Nein!«

Mittlerweile kam es nur noch selten vor, dass ihn jemand für Dr. Markus hielt. Auf dem Höhepunkt der Doktor-Markus-Hysteriehatteersichohneangeklebten VollbartundeineSonnenbrille,diedashalbeGesichtbedeckte, nicht aus der Wohnunggetraut. 

Wendepunkt der Doktor-Markus-Hysterie war der AbendimGrunewaldgewesen,andessenEndebeinahe eine Frau gestorben war. Die Frau eines VorstandsmitgliedsausdemBundesverbandderDeutschenIndustrie hatteihnzueinemAbendessenimkleinenprominenten Kreiseingeladen.IchbindergrößteFanvonIhnen,stand auf der Einladungskarte. Zwei Tage vor dem Abendessen meldete eine Boulevardzeitung, Duvall habe eine Affäre mit einer CDU-Bundestagsabgeordneten. Auf der Titelseite ein Foto, wo sie mit ihrem Mann undden drei Kindern Eis isst. Daneben ein Foto von ihm. Und dieFrage:LiebtsieDoktorMarkus?AmselbenTagrief dieSekretärindesVorstandsmitgliedsan,dasAbendessenmüssewegenKrankheitausfallen.EinenTagspäter rief dessen Frau an, ein Missverständnis liege vor, das Abendessen finde statt und sie freue sich sehr auf sein Kommen.AmselbenTagriefseinAgentanundempfahl den vorläufigen Rückzug aus der Öffentlichkeitinklusive AbsagedesAbendessens.AmTagdesAbendessenserschieneinZeitungsinterviewmitGerlinde.Gerlindewar einmalseinegroßeLiebegewesen.Jetztließsiesichmit verweintenAugenfotografierenundsagteimInterview: DasSchweinhatmichvonAnfanganbetrogen.EinSäufer.Erhatmichgeschlagen.Eristimpotent.Kurznachder Lektüre, noch beim Frühstück, rief sein Agent an und plädierte für eine Öffentlichkeitsoffensive. Wozu auch dieTeilnahmeanjenemAbendessengehöre. 

DasaßeralsounterdemachtstrahligenKronleuchter der Maisonette-Wohnung im Grunewald und kämpfte mit dem Schlaf, denn er hatte bereits drei jeweils halbstündigenAnsprachendesWirtschaftsministers,desRegierenden Bürgermeisters und des Vorstandsmitglieds aus dem Bundesverband der Deutschen Industrie lauschenmüssen.UndjetztsprachderParteivorsitzendeder FDP,unddasseitbereitsvierzigMinuten.BeiderBegrüßunghattedieserDuvallgefragt,obernichtLusthabe, die FDP im Wahlkampf zu unterstützen. Duvall hatte geantwortet,erspielezwareinenArzt,wähleabernicht wieeinArzt.ZumGlückwurdenimmerzuKanapeesgereicht,auchamChampagnerwurdenichtgespart. 

ImkaltenNieselregenlauerteeinHaufenFotografen, umsichihmandieFersenzuheften.AbzehnUhrbegann sichdasTorderTiefgarageperiodischzuöffnenundzu schließen.SeinChauffeurlugtekurzhinausundberichtete ihm übers Handy. Die Fotografen hatten offenbar ihreFahrzeugeindenEinfahrtenderNachbarngeparkt, damit sie je nach Fluchtroute gleichermaßen schnell linkswierechtsdieStraßehinunterrasenkonnten.WährendsichdieGastgeberinvorbeugteundtiefenEinblick inihrDekolletébot,fragtesieDuvall,obvonFrauenarzt DoktorMarkusnocheineweitereStaffelgedrehtwerde. Duvall nickte, obwohl das eher unwahrscheinlich war. ArthurSchulze,Regisseur,DrehbuchautorundErfinder vonDoktorMarkus,warvoreinemMonatgefeuertworden,einNachfolgernochnichtgefunden. 

DasDekolletévorAugen,dachteeranalldieFickangebote, die er seit der Übernahme der Doktor-Markus-Rolle bekommen hatte. Die meistens nach ähnlichem Muster abgelaufen waren: Dekolletézeigen, Augenverdrehen,Zungeschnalzen,nachobengeheninsSchlafzimmeroderinsBad,unddanneinschnellerFick.Auchdie Gastgeberingingjetztnachoben.Abererfolgteihrnicht. Im mittlerweile fünften Doktor-Markus-Jahr spürte er eine gewisse Übersättigung. Wenn es beim einmaligen Fickgebliebenwäre.Aberoftwurdedannmehrvonihm verlangt.MehrfickenodergarLiebe.Undwennficken, dann nicht nur ficken, sondern Doktorspiele. Auch die verheiratete CDU-Bundestagsabgeordnete mit dendrei Kindern stand auf Doktorspiele. Und auf schnelle Ficks auf der Reichstagstoilette. Aber irgendwie schien sie anders. Besonders. Duvall konnte nicht mehr ausschließen, dass er in sie verliebt war. Jedenfalls erwartete sie ihn in spätestens einer Stunde. Ohne Fotografenpulk. 

Er rief seinen Chauffeur an. Die Fotografen lauerten unverändert. Trotzdem gab er das Signal für den Aufbruch, um nicht Zeuge der Rückkehr der vermutlich dann noch tiefer dekolletierten Gastgeberin zu werden. Wenige Minuten später schoss Duvalls BMW mit zugezogenen Seitengardinen aus der Tiefgarage und stoppte amEndederAusfahrt.DerChauffeurblinktenachrechts. Duvall sagte, er solle aufhören zu blinken und losfahren. Der Chauffeur fragte, ob nach links oder rechts. Duvall sagte, egal, der Chauffeur zögerte. Und blinkte jetzt nach links. Duvall schrie, er solle endlich aufhören zu blinken und losfahren. Der Chauffeur zögerte. In dem Moment, wo Duvall ausstieg, um den Fahrersitz einzunehmen, Blitzlichtgewitter. Im Innenspiegel sein hochrotes Gesicht. Das morgen in diversen Blättern abgebildet sein würde. Duvall, der Choleriker. Wasser auf Gerlindes Interviewmühlen. Der Frauenarzt, der die Frauen schlägt. Hinter sich hatte er sieben oder acht Autos. Obwohl er hundertzwanzig fuhr – dreißig waren erlaubt –, überholte ihn ein Mercedes. Stellte sich vor der gerade rot werdenden Ampel quer. Duvall bremste, brach nach rechts aus, schlitterte mit quietschenden Reifen über den Bürgersteig, war schon an dem Mercedes und der Ampel vorbei und wollte zurück auf die Straße, als er eine Frau auf dem Radwegerfasste. 

Frau im Koma – Doktor Markus schuld, stand am nächsten Tag in der Zeitung. Mit einem Foto von ihm, wo er versuchte, sein Gesicht vor den Kameras zu verdecken. 

Entspannung

 

KönigsaßinseinemBüroundgabbeiGooglealsSuchwort Ann Charlotte Sauber ein. DreizehntausendeinhundertSeitenwurdenangezeigt.BeiIndenErgebnissen suchen gab er Lesbierin ein. Acht Seiten wurden angezeigt,aberkeinemiteinerVerbindungzurSchriftstellerin Ann Charlotte Sauber. Auf dem Schreibtisch lagen ihre Bücher. Auch twintowersterror. Nächste Woche sollte ihr neues erscheinen: cool & terror. Auf dem Cover vontwintowersterrordasBilddesindenzweitenTurm rasendenFlugzeugs.AufdemBuchrückenderHinweis, Ann Charlotte Sauber sei am Tag des Anschlags vor Ort gewesen, habe alles aus nächster Nähe erlebt. Ihre splatterdocufiction beklemmend von der ersten bis zur letztenZeile.EinesdererstenbleibendenZeugnissefür Wahnsinn und Schrecken einer neuen Epoche. Präzise undprophetisch.Hellsichtigundvisionär.Poetischund provokativ.Zärtlichundrasant.Crossoverundpolydramatisch.Allerdings,wieKönigbeimkursorischenLesen festgestellt hatte, kein einziger Hinweis, ob Ann CharlotteSaubernunlesbischwarodernicht. 

Telefon. Hoffentlich der Bezirksstadtrat. Bisher war es nie der Bezirksstadtrat gewesen. Es war auch jetzt nicht der Bezirksstadtrat. Es war die Kurz-Kowalski, kommissarische Leiterin der Volkshochschule, die eine Tür weiter ihr Büro hatte. 

»Kommen Sie doch bitte in mein Büro«, sagte sie. »Es gibt ein Problem.« 

Vorbei die Zeiten, in denen sie sich geduzt hatten. Beide waren sie Programmbereichsleiter für Deutsch gewesen,sieanderVolkshochschuleMarienrade,eran der in Großfelde. Abends waren sie ein paar Mal auf ein Bier gegangen. Und hatten über Kollegen gelästert. ZumBeispielüberdenMerlottrinkerHartmannvonder Volkshochschule Charlottenburg. Doch dann die Bezirksreform,undmitderBezirksreformdieZusammenlegung derVolkshochschulenGroßfeldeundMarienrade.Schon beiderNamensgebungderersteStreit:Volkshochschule Großfelde-Marienrade oder Marienrade-Großfelde? Bei Großfelde-Marienrade Zurücksetzung derMarienrader, bei Marienrade-Großfelde Zurücksetzung der Großfelder. Schließlich die Entscheidung: Volkshochschule Großfelde-Marienrade.EinPyrrhussiegfürdieGroßfelder,wie König als Großfelder bald merkte. Zunächst allerdings wurdeerLeiterfürdengemeinsamenProgrammbereich Deutsch, und nicht die Kurz-Kowalski. Die wurde ProgrammbereichsleiterinfürEnglischunddieromanischen Sprachen.Aberkurzdarauf,alsderVolkshochschulleiter inPensionging,zusätzlichkommissarischeLeiterinder Volkshochschule,vermutlichwegenihrerfrüherenJuso-Karriere und ihren noch immer guten SPD-Kontakten. Womit der Krieg begann. Der Krieg der Marienrader gegendieGroßfelder.DieMarienraderinKurz-Kowalski gegen ihn, den Großfelder König. Beide als Festangestelltesogutwieunkündbar,alsoStellvertreterkrieggegendiefreiberuflichenDozentenaufHonorarbasis.Ihre Marienrader gegen seine Großfelder Honorardozenten. Die Fußtruppen. Nach zwei Semestern vollerVerleumdungen,IntrigenundVerratKapitulationderGroßfelder: Von seinen neun Großfelder Deutschhonorardozenten blieben ihm fünf, die anderen vier ersetzt durch neue Honorardozenten. Marienrader Honorardozenten, weil durchgedrückt von der Kurz-Kowalski, obwohl das gar nicht mehr ihr Fachbereich war. Aber er war nicht nur Großfelder, sondern auch ohneParteibuch. 

Beim Eintritt hielt die Kurz-Kowalski ihm eine Zeitung entgegen.

»Sie wissen, was das hier ist?«

»Eine Zeitung.«

»Nicht irgendeine Zeitung, sondern die Großfelder Stadtteilzeitung. Für die Sie auch diesmal wieder über Menschen in der Volkshochschule geschrieben haben.« 

»Diesmal auf Ihre Anregung hin über den EnglischdozentenAndrewSummer,weilderdenerstenBerliner Kirschkernweitspuckclubgegründethat.Stimmtwasmit dem Artikelnicht?« 

»DerArtikelistinOrdnung.Etwasblumigformuliert, aber das ist eben IhreArt.« 

»Also?«

»Das Problem ist … Ihr Problem ist, Sie haben sich malwiedernichtandieSpielregelngehalten.Die,wieSie sehr gut wissen, besagen, dass alles, was ein Mitarbeiter der Volkshochschule verfasst, von oben abgesegnet werdenmuss.« 

»Ich bitte Sie, ein Text über das unschuldige Hobby desKirschkernweitspuckens.« 

»Egal. Sie haben den Text nicht als Privatperson verfasst, sondern als Volkshochschulmitarbeiter. Und als solcher handeln Sie immer im Auftrag der Volkshochschule. Damit die Volkshochschule in der Öffentlichkeit ein einheitliches Bild abgibt, muss alles, was nach außen geht, geprüft werden. Zunächst von mir, dann vom Bezirksstadtrat. Ich sage bewusst alles. Von der Kursbeschreibung fürs Programmheft bis zu Ihrem Artikel für die Stadtteilzeitung.« 

»Aber Sie haben doch gar keine Zeit dafür. Und der Bezirksstadtrat schon gar nicht.«

»Lassen Sie das unsere Sorge sein. Ich habe Sie schon einmal davor gewarnt, die Regeln auf die leichte Schulter zu nehmen. Gerade in dieser schwierigen Zeit der knappen Haushaltsmittel wird nach jeder Möglichkeit gesucht, den Volkshochschulen ans Bein zu pinkeln. Da dürfen wir keinerlei Angriffsfläche bieten.«

»Mit einem Text über das Kirschkernweitspucken?« Zurück in seinem Büro der Zusammenbruch. Telefon, Türklopfen, keine Regung. Wenn jetzt ein Dozent reingekommenwäreundihnsoangetroffenhätte,Kopf auf dem Tisch, Tränen in den Augen, Mördergrube im Herzen. Fünf Minuten später hatte er sich so weit gefangen, dass er die Tür abschließen und ins Waschbecken wichsen konnte. Das erste Mal mit dem Bild von HelenaErikssonimKopf,beimzweitenMalmiteinem Pornoheft.DieSchwedischdozentinwarleidervordrei JahrenzurücknachStockholmgegangen.DasPornoheft war ihm geblieben und hatte seinen festen Platz in der abschließbaren Schreibtischlade. Fühlte sich jetzt entspannt genug, den Bezirksstadtrat anzurufen. Seit dem AnrufbeantworterdesasterhatteeresnocheinpaarMal versucht, aber immer nur die Sekretärin am Apparat gehabt.MitdenimmergleichenVertröstungen,derBezirksstadtrat werdezurückrufen. 

Wieder nur die Sekretärin am Apparat, wieder war der Bezirksstadtrat angeblich in einer wichtigen Sitzung, wieder die Frage, ob sie etwas ausrichten könne, wieder Königs Bitte um einen Rückruf des Bezirksstadtrats, es sei dringend. Und wieder die Gewissheit, dieser werde es nicht tun. Natürlich nicht tun, schon gar nicht nach der unautorisiert erschienenen Kirschkernweitspuckgeschichte. 

SollteerandiesemMorgeneindrittesMalinsWaschbecken wichsen? Masturbieren war gesund, hatte er irgendwo gelesen, wegen Abbau des Samenstaus.AusscheidungdesaltenSamens,damitsichneuerbilden konnte. Gesund wie Blutspenden. Sex war natürlich noch gesünder, aber ihm fehlte zur Zeit die Möglichkeit. Am besten dreimal am Tag masturbieren, hatte er gelesen. Fünfmal am Tag war nicht ungesund, doch schon bei dreimal fühlte man sich allein. Schon beieinmal. 

Amore

 

»Ich muss gehen«, sagte Marion.

»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte Arthur.

»Ich rufe dich an.«

Sie küsste ihn und war aus der Tür und Arthur allein. Das Übliche. Keine Rede mehr davon, dass sie denAudifahrerverließ. 

»Schon wegen der Kinder nicht«, hatte Marion gesagt.

»Kinder«, hatte Arthur gehöhnt. »Das Muttersöhnchen ist zwölf und die Göre siebzehn.«

»So sprichst du nicht über meine Kinder!«

»Ich wäre froh gewesen, wenn meine Mutter einen Geliebtengehabthätte.BumsenstattStaubwischenund Hausaufgabenkontrolle. Wäre für den Familienfrieden bessergewesen.« 

»Du bist vulgär.«

»Und du eine Lügnerin. Im Oktober hast du gesagt, du verlässt ihn. Jetzt haben wir bereits Mai.«

»Es geht jetzt einfach nicht. Wenn Zoe das Abitur hat und Thomas besser in der Schule ist, vielleicht dann.«

Schon zwei Stunden lag er auf dem Bett und starrte an die Decke. Hörte Schubert, obwohl das nicht half. AuchBachhalfnicht.VielleichthättedasSechzehnhundert-Umdrehungen-pro-Minute-Schleuderprogramm derWaschmaschinegeholfen.DasTelefonklingelteseit einerStundepausenlos.DerAnrufbeantworterwarbald voll:Carol,diefragte,woerbleibe,dieLipinskishätten angerufen. Roman Lipinski, der ebenfalls fragte, woer bleibe. Philip Goldberg, der fragte, ob er heute Abend Zeithabe.NochmalsCarol,diesagte,HerrLipinskihabe schon dreimal angerufen. Marion, die sagte, sie könne morgenNachmittagumdreinicht.NochmalsCarol,die sagte, so gehe das nicht, die Lipinskis seien totalsauer. EineKollegin,diefragte,oberbeidenArcherseinspringenkönne.NochmalsCarol,dieihnultimativaufforderte,ansTelefonzugehen,sonstmüsstesie… 

Um sieben ging er, wie jeden Dienstagabend, zur Selbsthilfegruppe. Sie waren zu zwölft, acht Frauen, drei Männer und er. Ihre Marion hieß Franz, Michael, Burkhard, Klaus-Tilo oder Sybille. Sie hatten auf ihre Marion auch schon oft vergeblich gewartet. Hatten von ihrer Marion auch schon oft das Versprechen gehört, die Familie zu verlassen. Und waren von ihrer Marion auch immer wieder enttäuscht worden. Und hatten daraufhin ihrer Marion auch schon hundertmal gedroht, die Geschichte ein für allemal zu beenden. Und hatten es bei ihrer Marion dann aber auch nie geschafft. Unddie wenigen, die es doch geschafft hatten, kamen selbstverständlich nicht mehr. Man ging ja auch nicht als jemand, der das Stottern überwunden hat, in eine Stotterselbsthilfegruppe. Heute waren nur Monika und Martina da. Martina sah – das hätte jetzt Schwester Tanja aus dem Team von Doktor Markus gesagt – wie ausgekotzt aus. Das lag daran, dass ihr Geliebter Klaus-Tilo samt Familie übermorgen für vier Wochen in die Marken fuhr. 

»Fahr doch mit!«, sagte Arthur.

»Spinnst du? Seine Frau weiß doch nichts.«

»Ich habe das einmal gemacht«, sagte Arthur. »Drei WochenCesenaticoundRimini.Marion,ihrAudifahrer unddiebeidenBälgerineinerFerienwohnung.Undich in einem Hotel, nur fünf Minuten entfernt. Und alsTarnung eine Bekanntedabei.« 

 

Die Bekannte war Ariane, die Schwester-Tanja-Darstellerin. Er hatte ihr den Urlaub spendiert, und sie war wohl auch deswegen darauf eingegangen, weil sie hoffte, in seiner nächsten Serie, in seinem nächsten Film mitzuspielen. Um sechs Uhr morgens Marions Anruf, es gehe los. Anruf bei Ariane, ihr Freund Jochen am Apparat. Er hatte als Kameramann mit Arthur gearbeitet, allerdings nur zwei Tage, dann hatte Arthur ihn gefeuert. Wegen Alkohol und einer Kameraführung wie bei der Rama-Werbung. Er aber wollte die vierte Staffel vonFrauenarzt Doktor Markus im Stil von John Cassavetes drehen. Jochen hatte von John Cassavetes nie gehört. Der Redaktionsserienfuzzi, der nach dem Anschauen der Muster regelmäßig die Hände über dem Kopf zusammenschlug, auchnicht. 

Als Arthurs Taxi vor Arianes Wohnung hielt, stand JocheninderHaustür,inUnterhemdundTrainingshose, miteinerFlascheBier.SiestiegeninArianesToyotaein, und Jochen rief ihr hinterher: »Du brauchst dich hier nichtmehrblickenlassen,duSchlampe.Treib’sdochmit diesemKunstwichser!« 

Auf der Autobahn keine Spur vom Audifahrer. Ariane hörte Umberto Tozzis Ti amo und weinte. War das Lied zu Ende, spulte sie zurück. Und weinte. Bei hundertachtzig auf der linken Spur. Arthur mit angehaltenem Beifahreratem. Zehnmal Ti amo, bis endlich Arianes Handyklingelte.»Fürdich«,sagteAriane.Marionrief von einer Autobahnraststätte an, die offenbar dieübernächstewar,circafünfzigKilometerentfernt.Siewürde dort im Restaurant auf ihnwarten. 

Nicht mehr Ti amo, aber immer noch Umberto Tozzi. 

Und Hochgeschwindigkeit. Und Tränen.

»Geh ein bisschen mit dem Gas runter«, sagte Arthur.

»Und vergiss diesen Typ. Er ist es nicht wert.«

»Und ist sie es wert?« 

»Du meinst Marion? Was für eine Frage! Wenn sie nicht diesen Lackaffen am Hals hätte und frei wäre, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.«

»Bist du sicher?«

In der Selbsthilfegruppe hatten sie alle Gründe durchgekaut, weswegen sie es nicht schafften, die Geschichte mit Marion, Franz, Michael, Burkhard, Klaus-Tilo oder Sybille zu beenden: Bindungsangst, Verlustangst, gelernte Hilflosigkeit, Masochismus, Liebesunfähigkeit, Liebesüberfülle, Nymphomanie, Frigidität, Impotenz, Promiskuität und so weiter.

Im Restaurant der Autobahnraststätte keine Marion. AufdemParkplatzkeinAudiA6silbermetallicmitdem AufkleberIchbremseauchfürTiere.EineSchnapsidee, dieser gemeinsam-getrennte Urlaub. Ariane wollte auf einmal zurück. Zu diesem Penner von Kameramann. Mit ihrem Handy, in ihrem Toyota. Zehnminütige Diskussion in zunehmenderLautstärke. 

»Jochen ist ein Arschloch«, sagte Arthur.

»Du bist selber eins«, sagte Ariane.

»Aber ein abstinentes, talentiertes.«

»Du manipulierst die Menschen.«

»Ich dirigiere sie.«

»Du bist ein arrogantes Arschloch.«

»Aber ein arrogantes, talentiertes.«

»Du widerst mich an.«

Sie fuhren weiter. Ohne Umberto Tozzi. Aber immer noch im Temporausch. Endlich ein Stau. Aufatmen, durchatmen. Arianes Tränen waren getrocknet. Er tätschelte ihre Schulter, wie er es oft in Drehpausen getan hatte. Plötzlich der Gedanke: Was, wenn er sich in Ariane verliebte? Sonne, Strand, Amore. Wäre doch die Gelegenheit. Die war ja nicht nur eine tolle Schauspielerin. Eine der besten ihrer Generation. Was die aus ihrer Schwester-Tanja-Rolle gemacht hatte. Eben keine Schwester Gaby, die vor den Patienten oder vor dem Chefarzt ihre Titten spielen ließ. Aber auch keine Ophelia oder Hedda Gabler der Gynäkologie. Und war Ariane nicht während der Dreharbeiten in ihn verliebt gewesen? Wenigstens ein bisschen? Wenigstens während der erstenStaffel?AbererhattekeinenBlickdafürgehabt.Oder wollte die Dreharbeiten nicht beeinträchtigen. Hatte nur einen Blick für den Erfolg. Und für gelegentlichen Sex mit dem Script-Girl und derRegieassistentin. 

FrauenarztDoktorMarkusnuralsZwischenstationgedachtaufdemWegzueinemzweitenFrançoisTruffaut. EinemzweitenPeterBogdanovich.EinemzweitenJohn Cassavetes.EinemerstenArthurSchulze.Dieerstendrei Staffeln konventionell. Die vierte Staffel vorsichtigexperimentell.DieerstendreiStaffelnmitTraumquoten.Bei den ersten Folgen der vierten Staffel Quoteneinbruch. Beim Drehen der fünfzehnten Folge SchauspieleraufstandundRedaktionsmachtwort.UndRausschmiss. 

Kurz vor München Marions Anruf: »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Im Hintergrund Klospülung. Auf dem Handy eine SMS von Jochen: Schatz, bitte kommzurück! 

Als sie um neun in Cesenatico ankamen, sagte Ariane: »Eigentlich bin ich froh.« Und ein Wangenkuss für Arthur. 

Das Hotel lag nicht weit vom Strand. Nach dem Duschen rief Marion an: »Wir sind bei al Petrocelli.« 

Auf dem Weg dorthin fragte Ariane: »Soll ich so tun, als ob ich deine Freundin wäre?«

»Bekannte ist genug.« Sie nahmen einen Tisch in Sichtweite. Der leider auch in Hörweite lag. Thomas maulte, er wolle auf der Stelle zum Strand und nicht erst nach dem Essen.

»Nichts da!«, sagte der Audifahrer. Zoe wollte ein zweites Glas Weißwein.

»Eins ist genug«, sagte Marion.

»Lass sie doch«, sagte der Audifahrer.

»Sie ist erstfünfzehn.« 

»WirsindimUrlaub.« 

»Ich habe gesagt: Eins ist genug.«

»Papa hat gesagt, ich darf noch eins haben.«

»Schluss jetzt!«

Würde Marion ihr Versprechen wirklich wahr machenunddenAudifahrerverlassen,hätteerihreKinder amHals.Wollteerdas?WarereinMasochist?Offenbar ja,denngeradesaherMarionaufdieToiletteentschwinden, und er sofort hinterher. Und nur knapp zwei MinutenZeitzumUmarmen,Küssen,Sprechen.Abernoch genug für Vorwürfe ihrerseits, warum er dieseaufgetakelte Nutte mitgenommen habe. Und den Einwand seinerseits, dass Ariane die perfekte Tarnung sei und ihm daneben während der vielen Stunden, in denen siesich nicht sehen könnten, Gesellschaftleiste. 

»Und?«, fragte Ariane.

»Was und?«

»Schleicht Marion heute Nacht in dein Zimmer? Oder trefft ihr euch heimlich am Strand? Oder macht ihr es amTelefon?« 

»Cameriere, prego!

---ENDE DER LESEPROBE---