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Gard Spirlin

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Beschreibung

Die Entdeckung von nur wenige tausend Jahre alten Fossilien des Homo floresiensis auf einer kleinen indonesischen Insel hat die gängigen Lehrmeinungen über die Entwicklung des Menschen auf den Kopf gestellt. Haben frühe Vorfahren des Menschen vielleicht in unmittelbarer Nachbarschaft des modernen Menschen gelebt? Gibt es in abgelegenen Gegenden womöglich noch immer deren Nachkommen? Eine Expedition geführt von dem Anthropologen Dr. Alex van Houten macht sich nach Sumatra auf, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Doch es gibt Gegner, die genau das verhindern wollen …

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GARD SPIRLIN

Ebu Gogo

Roman

Die Entdeckung nur weniger tausend Jahre alter Fossilien des Homo floresiensis auf einer kleinen indonesischen Insel hat die gängigen Lehrmeinungen über die menschliche Evolution auf den Kopf gestellt. Lebten frühe Vorfahren des Menschen möglicherweise gleichzeitig in unmittelbarer Nachbarschaft des Homo sapiens? Existieren in abgelegenen Gegenden womöglich noch immer deren Nachkommen? Geführt von dem Anthropologen Dr. Alex van Houten macht sich eine Expedition nach Sumatra auf, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Doch es gibt Gegner, die genau das verhindern wollen …

Impressum

© Gard Spirlin c/o Gerhard Schneider Weisselgasse 23/2/2 1210 Wienwww.gard-spirlin.com

2. Auflage, Juni 2021 Autor: Gard Spirlin Imprint: Independently published Lektorat: IWO - www.kritzelkunst.de Satz, Coverbild: Gerhard Schneider ISBN: 978-3-7380-5986-1

Über den Autor

Gard Spirlin hat bereits mit der Veröffentlichung zahlreicher Kurzgeschichten aus den Genres Science-Fiction, Fantastik und Krimi auf sich aufmerksam gemacht. In Wien geboren und aufgewachsen arbeitet er hauptberuflich als Elektronik-Konstrukteur an der Entwicklung digitaler Sprachaufzeichnungssysteme. Für die Science-Fiction-Story RoboWrite wurde er 2016 für den Kurd Laßwitz Preis nominiert. Die Kurzgeschichte Dann singe ich ein Lied für dich errang den ersten Platz beim Vincent-Preis 2019. Sein erster Roman Ebu Gogo erschien 2016 und liegt nun in zweiter, überarbeiteter Auflage vor.

www.gard-spirlin.com

Für alle Menschen, die ihr Leben der Erhaltung der Tier- und Pflanzenwelt unseres wunderbaren Planeten widmen.

Prolog

»Sie sind doch nicht extra aus Europa hierher nach Sumatra gekommen, nur um mir zu sagen, dass ich seit Jahren nach einem Tier suche, das vielleicht gar kein Tier ist?«

Überrascht blickte Dr. Alex van Houten von seinem Laptop auf und warf der attraktiven Mittvierzigerin gegenüber einen erstaunten Blick zu.

»Natürlich nicht! Ich dachte, das hätte ich schon erwähnt … entschuldigen Sie. Nein, ich beabsichtige eine Expedition zu organisieren und wollte Sie eigentlich davon überzeugen, daran teilzunehmen. Selbstverständlich würde ich mich auch um die Finanzierung bemühen, aber zuerst lag mir daran zu versuchen, eine Expertin wie Sie für diese Unternehmung zu gewinnen. Nämlich jemanden, der einen Ebu Gogo schon einmal gesehen hat. Was halten Sie davon, Dr. Lindsey?«

»Deborah, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Und ich sah bestenfalls einen Orang Pendek – wobei ich mir dabei mittlerweile selbst nicht mehr sicher bin.«

»Wie die jeweiligen Einheimischen ihre Begegnungen im Urwald benennen, halte ich für nebensächlich. Viel wichtiger ist, dass die verschiedenen Beschreibungen der unbekannten Spezies – auch der Ihren – erstaunlich übereinstimmen. Und für wie wahrscheinlich halten Sie die Existenz zweier unterschiedlicher und unentdeckter Hominiden auf den indonesischen Inseln?«

»Eine einzige bislang unbekannte Hominidenart wäre schon eine Sensation! Natürlich immer vorausgesetzt, dass ihre Theorie stimmt, und es sich wirklich um urzeitliche Menschen handelt, die in der Abgeschiedenheit der letzten Regenwälder bis heute überlebten.«

Nachdenklich drehte Deborah ihr Cocktail-Glas und blickte hinein, als erwarte sie von dort eine Antwort.

»Wissen Sie, Alex, dieses Lebewesen, das ich damals sah – oder zumindest glaube, gesehen zu haben – besaß zwar einen aufrechten Gang, aber auch Menschenaffen richten sich zuweilen auf. Nur weil es die hiesigen Einheimischen mit den indonesischen Worten Orang Pendek als Kleiner Mensch bezeichnen, könnte es sich dennoch einfach nur um eine bislang nicht erforschte Affenart handeln. Immerhin benannten die Indonesier auch den Orang-Utan als ›Waldmensch‹. Und der ist definitiv ein Affe.«

»Selbstverständlich verstehe ich, dass Sie als Zoologin eine andere Sichtweise einnehmen, als ein Anthropologe wie ich. Aber ich war dabei, als wir auf der Insel Flores – gar nicht so weit entfernt von Sumatra – die Fossilien desjenigen Urmenschen fanden, der in der heutigen Wissenschaft als Homo floresiensis, also ›Mensch von Flores‹ geführt wird. Und obwohl dieser Fund Merkmale aufweist, die einem sehr frühen Hominiden ähneln, der vor weit über einer Million Jahre lebte, wurden die jüngsten dieser Knochen auf ein Alter von gerade einmal 12.000 Jahre datiert! Das bedeutet, dass dieser Urmensch die Inseln damals bereits mit dem modernen Menschen teilen musste. Doch wenn man den Einheimischen von Flores glauben mag, existierten dort sogar bis in die jüngste Vergangenheit noch immer solche Ebu Gogo, wie sie selbst sie nennen.«

Draußen war inzwischen die kurze Tropendämmerung in die Nacht übergegangen. An der Decke der Bar mühte sich ein träge rotierender Ventilator vergeblich, die stickig feuchte Luft ein wenig erträglicher zu machen. Dr. van Houten drehte den Laptop zu Deborah.

»Hier, sehen Sie! Das sind forensische Rekonstruktionen unserer fossilen Knochenfunde. So könnten unsere fernen Verwandten ausgesehen haben. Sie waren sehr klein, auch als Erwachsene nicht mehr als einen Meter groß! Daher auch der Spitzname ›Hobbit‹, welchen die Presse gerne für diesen Homo floresiensis verwendet. Wenn Ihnen solch ein Individuum im Urwald begegnet, können Sie es leicht auch für einen Affen halten.«

Deborah blickte auf den Bildschirm, runzelte die Stirn und seufzte.

»Ich sagte ja schon, dass ich manchmal selbst daran zweifle, was ich gesehen habe. Nur eines ist jedenfalls sicher: Es handelte sich um keine mir bekannte Spezies. Später nahm ich dann eine Stelle beim WWF an, um dabei zu helfen, die hier lebenden Tiger vor der Ausrottung durch Wilderer zu bewahren, aber in meiner Freizeit versuchte ich immer wieder, meine Begegnung mit diesem Geschöpf zu wiederholen. Leider erfolglos.«

»Kennen Sie die ›History of Sumatra‹ von William Marsden? Im frühen 19. Jahrhundert beschrieb er darin unter anderem ein Volk von ebenfalls sehr kleiner und affenartiger Erscheinung. Aber laut Marsden benutzten sie eine eigene Sprache, und einer von ihnen soll sogar mit einer Frau vom Stamm der Labun Nachkommen gezeugt haben.«

»Ja, ich kenne diese Geschichte. Aber William Marsden erfuhr vieles, was er aufschrieb, nur aus zweiter Hand, und sogar er selbst räumte eine zweifelhafte Glaubwürdigkeit in diesem Fall ein. Außerdem, da Sie mir schon mit uralten Büchern winken: Bereits Marco Polo erwähnt gegen Ende des 13. Jahrhunderts, dass auf Sumatra ›behaarte Menschen‹ leben würden, allerdings besäßen sie auch einen Schwanz, was doch wohl eindeutig für einen Affen spricht – oder, verehrter Doktor?«

Deborah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, und selbst die bis dahin todernste Miene Dr. van Houtens verzog sich zu einem Lächeln.

»Ja, schon gut, ein Punkt für Sie, meine Liebe. Im Zusammenhang mit meinen Ebu Gogo geht mit mir schnell mal die Begeisterung durch. Aber die momentan wichtigste Frage betrifft Sie: Werden Sie mir helfen? Suchen Sie gerne nach einem Affen, während ich nach Hominiden Ausschau halte – aber ich bin sicher, dass wir beide das Gleiche finden. Was halten Sie davon?«

Deborahs Grinsen wurde noch ein wenig breiter.

»Wenn sich eine Gelegenheit zur Affenjagd bietet, werde ich sie, zum Teufel noch mal, auch ergreifen!«

»Also abgemacht?«

»Abgemacht! Mir hängt das Tigerzählen sowieso allmählich zum Hals heraus. Außerdem haben die Ranger im Nationalpark mittlerweile die Wilderer halbwegs im Griff, daher kann ich mir ruhig eine kleine Auszeit nehmen. Aber wie stellen Sie sich das ganze Unternehmen eigentlich vor? Haben Sie schon eine Idee, wen Sie sonst noch daran beteiligen wollen?«

»Auf alle Fälle einen Genetiker. Ich dachte dabei an einen jungen, sehr talentierten Doktoranden, Karim Samet. Über seine Beziehungen besteht außerdem die Chance auf ein mobiles DNA-Labor neuester Bauart. Das erspart wertvolle Zeit, da etwaige Proben sofort vor Ort analysiert werden könnten.«

»Wäre in der Tat sehr hilfreich. Aber wie steht es um Ihre Dschungelerfahrung? Haben Sie zuvor schon einmal so eine Expedition geplant?«

»Nein, ich war zwar auf Flores dabei, hatte aber mit der Organisation nichts zu tun. Ehrlich gesagt habe ich darauf spekuliert, diesbezüglich auf Ihre Erfahrungen zurückgreifen zu dürfen.«

»Wo ich kann, helfe ich Ihnen gerne, aber wir werden auf alle Fälle noch einen Experten für das Fährtenlesen brauchen. Ein bisschen kenne ich mich zwar auch damit aus, aber in dieser Hinsicht benötigen wir schon einen Spezialisten.«

»Ist Ihnen jemand bekannt, der in Betracht käme?«

»Ich würde Ellen Sindar vorschlagen, mit ihr habe ich schon mehrmals zu meiner vollsten Zufriedenheit zusammengearbeitet. Außerdem kennt sie die infrage kommenden Gebiete wie ihre Westentasche.«

»Eine Frau als Scout?«

»Höre ich da den Anflug eines Vorurteils? Ellen ist nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern von einem befreundeten indischen Paar adoptiert worden und hat praktisch ihr ganzes Leben hier auf Sumatra verbracht. Die meiste Zeit davon zum Leidwesen ihrer Adoptiveltern im Urwald. Sie ist wirklich eine Koryphäe auf ihrem Gebiet.«

»Gut, wenn Sie es sagen … Fragen Sie bitte, ob sie zur Verfügung stehen würde. Noch etwas: Voraussichtlich werden wir eine Menge elektronischer Ausrüstung mit uns führen, daher hätte ich gerne auch einen Techniker dabei, der uns im Falle einfacher Defekte aus der Patsche hilft. Ich selbst verfüge dafür leider über zwei linke Hände. Wäre schade, wenn die Expedition daran scheitert, dass zum Beispiel der Generator den Geist aufgibt. Haben Sie da vielleicht auch einen Bekannten?«

»Nein, leider nicht. Meine Trips in den Regenwald liefen weitestgehend ohne viel Technik ab. Aber ich werde mich umhören.«

»Vielleicht könnte ich Ihnen da weiterhelfen?«, ließ sich eine Stimme hinter ihnen vernehmen. Überrascht drehten sich Deborah und Dr. van Houten gleichzeitig zu dem Sprecher um und erblickten einen etwa dreißigjährigen Mann an der Bar hinter ihnen. Die etwas mehr als nur gesunde Gesichtsrötung sowie sein glasiger Blick ließen vermuten, dass die Batterie leerer Bierflaschen hinter ihm auf sein Konto ging.

»Lauschen Sie gewohnheitsgemäß fremden Unterhaltungen?«, herrschte ihn Dr. van Houten an.

»E-entschuldigung, aber Sie sprachen so laut, dass mir sozusagen nichts anderes übrig blieb, als Ihr Gespräch mitzuverfolgen«, stotterte der Ertappte, wobei seine Gesichtsfarbe einen kräftigen Ton zulegte.

»Mein Name ist Bud Waters, und ich wäre an dem Job als Techniker interessiert, den Sie erwähnt haben. Ich habe einen Abschluss in Elektronik und Informatik und glaube, dass ich Ihnen eine gute Hilfe sein würde.«

Dr. van Houten musterte den jungen Mann mit unverhohlener Skepsis. Angesichts des Zustandes der verlottert wirkenden Kleidung – als auch des Trägers selbiger – schien Zweifel durchaus angebracht. Deborah hingegen schmunzelte amüsiert angesichts der Verlegenheit des Mannes, der unter dem prüfend strengen Blick des Doktors regelrecht zusammenschrumpfte.

»Und was bestärkt Sie in der Annahme, dass ausgerechnet Sie sich dafür eignen? Sie erwecken in mir nicht gerade den Eindruck, für ein Vorstellungsgespräch gerüstet zu sein«, sagte Dr. van Houten schließlich.

»Ich weiß, derzeit bin ich vielleicht ein wenig … underdressed, aber ich konnte ja nicht ahnen, hier vielleicht eine Chance zu bekommen, diesem Drecknest zu entkommen. Bitte glauben Sie mir, ich kann wirklich mehr, als nur Radios und Kühlschranke zu reparieren, womit ich mich derzeit hier über Wasser halte. Und dass dies hier die erste Bar in Padang war, die nun über Wireless LAN und sogar eine eigene Website verfügt, geht auf meine Kappe.«

»Ah ja. Sie sagten, dass Sie sich auch mit Computern auskennen? Na, dann machen wir gleich einen kleinen Test. Mein Laptop hier arbeitet seit ein paar Tagen deutlich langsamer als gewöhnlich. Was könnte damit los sein?«

»Kann viele Ursachen haben, aber wenn Sie erlauben, würde ich ihn mir mal kurz ansehen.«

Bud Waters begann in seinen Hosentaschen zu kramen. Nacheinander beförderte er daraus Verschiedenes ans Licht: Einen zerknitterten Geldschein, eine Sonnenbrille mit nur einem Glas, ein offensichtlich benutztes Taschentuch, eine Dose, deren Deckel aufsprang und einen undefinierbaren pflanzlichen Inhalt enthüllte – und schließlich einen ramponierten USB-Stick. Dieser sah aus, als habe ihn mehrmals ein Lastwagen überrollt. Aber ungeachtet dessen hielt er ihn fragend Dr. van Houten unter die Nase: »Darf ich? Darauf befinden sich ein paar der notwendigsten Tools, Stickware, Sie wissen schon …« Mit weitestgehend verständnislosem Blick nickte Dr. van Houten, worauf Bud sich über den Laptop beugte, den Stick einstöpselte und stehend damit begann, die Tastatur zu bearbeiten. Dabei ging eine bemerkenswerte Wandlung mit ihm vor: Der zuvor noch glasige Blick wich einem Ausdruck höchster Konzentration, das Tempo seiner Anschläge ließ nichts von dem vorausgegangenen Alkoholkonsum erahnen. Deborah sah fasziniert zu und wechselte hin und wieder einen erstaunten Blick mit dem Doktor, während Bud mit finsterer Miene fachchinesische Kommentare, Flüche und Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelte – bis sich auf einmal sein Gesicht schlagartig aufhellte. Mit einem Knall, der die anderen beiden zusammenzucken ließ, klappte er den Deckel des Laptops zu.

»Ha, hab’ dich, du Sack!«, triumphierte er.

»Wie bitte?«, erkundigte sich der Doktor, unsicher, ob er wirklich wissen wollte, wem die rüde Anrede galt.

»Hey, Mann, Sie haben sich einen Banking-Trojaner eingetreten, der sich als Root-Kit tarnt, einen Keylogger betreibt und ihre DNS-Anfragen an einen anderen Server umleitet«, verkündete Bud strahlend.

Die Blicke, die er nach dieser Offenbarung erntete, kennzeichnete eine erstaunliche Leere, was ihn auf die gute Idee brachte, seine Erkenntnisse etwas allgemein verständlicher darzulegen.

»Entschuldigen Sie, Dr. van Houten, das war wohl zu viel Information auf einmal. Einfacher ausgedrückt: Ihr Laptop wurde von einem Computervirus infiziert, der unter anderem versucht, ihre Passwort-Eingaben abzufangen. Diese Aktivitäten belasteten den Rechner zusätzlich, was dessen Verlangsamung erklärt. Seien Sie froh, dass Sie so eine alte Mühle haben, bei einem moderneren Laptop mit mehr Rechenleistung hätten Sie den Unterschied nicht einmal bemerkt. Wann haben Sie denn zuletzt Online-Banking betrieben?« Dr. van Houten erblasste sichtlich, beugte sich vor und stotterte angespannt: »Ähm, heute Morgen erst. Bedeutet das etwa, dass ich mein Konto sperren muss?«

»Nein, Sie hatten anscheinend Glück. Laut den Logfiles sind noch keine Daten abhandengekommen. Aber checken Sie bitte trotzdem umgehend ihr Konto und ändern Sie möglichst alle wichtigen Passwörter. Den bösen Buben … werde ich gleich entsorgt haben.« Energisch klappte Bud den Laptop wieder auf und hämmerte abermals in die Tasten. Dr. van Houten lehnte sich zurück und versuchte vergeblich, sich wieder zu entspannen. Deborah warf einen anerkennenden Blick in Buds Richtung und raunte dem Doktor zu: »Der Bursche scheint gut zu sein. Ich glaube nicht, dass wir hier in Padang jemanden mit ähnlichen Fähigkeiten finden werden.«

Alex van Houten nickte zustimmend und wisperte: »Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.« Dann räusperte er sich und fuhr in normaler Lautstärke fort: »Was wir auch noch besprechen müssen, Deborah, ist die Ausrüstung. Neben dem DNA-Labor benötigen wir zum Beispiel Foto- und Filmequipment zur Dokumentation von Sichtungen.«

»Dafür lassen sich sogenannte Wildkameras verwenden: digitale Kameras in einem getarnten Gehäuse, das man an Bäumen anbringen kann. Das Besondere daran ist, dass sie automatisch aufzeichnen, sobald etwas den Erfassungsbereich der Kamera betritt. Die Videos werden auf Speicherkarten geschrieben, die man anschließend auswerten kann. Wir haben damit Tiger dokumentiert.«

»Sehr gut. Zur Stromerzeugung werden wir auch einen tragbaren Generator benötigen.«

»Keinen Generator!«, meldete sich Bud zu Wort. »Die sind laut und stinken. Damit werden alle Tiere im weiten Umkreis vertrieben. Besser wäre eine Stromversorgung auf Basis von Brennstoffzellen. Die werden mit Methanol betrieben und arbeiten geräuschlos, sowie nahezu geruchsfrei. Übrigens, ich bin fertig, Ihr Laptop ist wieder so clean wie der junge Mond.«

»Danke, Mr. Waters. Die Idee mit den Brennstoffzellen finde ich übrigens hervorragend. Damit Sie die notwendigen Leistungsdaten für den Brennstoffzellengenerator ermitteln können, werde ich Ihnen die Spezifikation des DNA-Labors zukommen lassen.«

»Dann … bin ich also … dabei?«

Dr. van Houten seufzte: »Hoffentlich werde ich diese Entscheidung nicht bereuen, aber ja, Sie kommen mit uns!« Über das ganze Gesicht strahlend wirkte Bud, als könne er nur schwer einen Luftsprung unterdrücken.

»Vielen Dank! Und nein, ich werde Sie nicht enttäuschen, versprochen!«

»Wann soll es denn eigentlich losgehen, Alex?«, unterbrach Deborah.

»Ich muss daheim noch einige Angelegenheiten regeln. Die Finanzierung ist auch noch zum Teil offen – dafür benötige ich übrigens von Ihnen beiden baldigst eine Aufstellung der anfallenden Kosten. Aber ich schätze, wir sehen uns in etwa vier Wochen wieder.«

»Und dann geht es los?«, erkundigte sich Bud.

»Ja, dann geht es richtig los!«, lächelte Dr. Alex van Houten.

Kapitel 1

Es vergingen dann doch etwas mehr als sechs Wochen, bis Dr. van Houten in Begleitung des Genetikers Karim Samet wieder indonesischen Boden betrat. Im zentral gelegenen Hotel Pangeran in Padang bezogen sie Quartier, wo kurz darauf Bud Waters zu ihnen stieß, um bei letzten Vorbereitungen zur Hand zu gehen. Während Karim, ein schlanker und ernster junger Mann, sich mit Bud daran machte, das empfindliche mobile DNA-Labor aus seiner Spezialverpackung zu befreien, traf auch Deborah ein, um den Expeditionsleiter zum nahe gelegenen Markt zu begleiten, wo sie das letzte Teammitglied, Ellen Sindar, treffen wollten. Am vereinbarten Treffpunkt, einem Brunnen aus der Kolonialzeit, war von Ellen allerdings noch nichts zu sehen, daher beobachteten Deborah und van Houten während des Wartens das bunte Treiben und tauschten Informationen über die vergangenen Wochen der Vorbereitung aus.

Lange blieben sie allerdings nicht allein, denn besonders Dr. van Houten fiel durch seine blasse Haut und die Kleidung sofort als Ausländer auf. Schon bald umringte sie eine kleine Schar indonesischer Straßenjungen. Ein besonders vorwitziger halb nackter Bengel zupfte ihn sogar an der Hose und forderte frech: »Gib Dollar!«

»Ich habe keinen Dollar«, erklärte der Angesprochene und schob den Jungen zur Seite.

»Dann gib Euro«, verlangte nun der Quälgeist und zog nun nachdrücklich an van Houtens Hosenbein.

»Jetzt reicht’s aber, verschwindet, hopp, hopp!«, schaltete sich Deborah ein und klatschte zur Bekräftigung energisch in die Hände, worauf die Bande auseinander stob.

Der Doktor aber fasste sich plötzlich erschrocken an die Gesäßtasche und rief: »Der Kerl hat meine Brieftasche geklaut! Stop! Bleib sofort stehen, du kleine Kröte!« Der Dieb dachte natürlich gar nicht daran, der Aufforderung nachzukommen, drehte sich jedoch im Laufen um, wohl um nachzusehen, ob der Bestohlene ihn verfolgte. Dadurch sah er die junge Frau nicht, die ihm blitzschnell in den Weg trat, ihn im Vorüberlaufen an der Hüfte packte und – seinen Schwung ausnützend – auf ihre Schulter wuchtete. Mit dem strampelnden Kerlchen auf der Schulter nahm sie grinsend Kurs auf den Brunnen, wo der Anthropologe das Geschehen mit vor Erstaunen offenem Mund beobachtete.

»Hallo Deb! Dr. van Houten, nehme ich an?«, sagte sie, als sie mit ihrer Last dort ankam, den verhinderten Taschendieb absetzte, ihm die Brieftasche aus den Fingern nahm und sie dem sprachlosen Doktor hinhielt. Dann gab sie dem Burschen einen Klaps auf sein Hinterteil und ließ ihn los, woraufhin er wie der Blitz losrannte und in der Menge verschwand.

»Ja, der bin ich. Und Sie müssen Ellen Sindar sein.« Sichtlich erleichtert steckte van Houten seine Brieftasche wieder ein. »Vielen Dank, aber hätte man den Bengel nicht bei der Polizei abliefern sollen?«

»Wozu? Die lassen ihn sowieso sofort wieder laufen, sobald wir weg wären. Außerdem ist ja nichts passiert.« Sie umarmte Deborah, was Dr. van Houten Gelegenheit gab, die junge Frau ausführlicher zu mustern: Drahtige – fast knabenhafte – Figur, die in Khaki-Shorts und armeegrauem Tanktop gut zur Geltung kam, strahlend blaue Augen und kurzes Blondhaar. Leicht irritiert sagte er: »Wie Sie den Burschen geschnappt haben, das war ja fast zirkusreif. Machen Sie so etwas öfter?«

»Na ja, die gleiche Nummer probierte ich einmal mit einem Tiger, aber da ist sie mir nicht so gut gelungen.«

»Mit einem … Tiger?«

»Ja, er hat mich überrascht. Nach einer kleinen Balgerei konnte ich ihn aber überzeugen, die Tatzen von mir zu lassen. Er hinterließ mir allerdings auch ein kleines Andenken, sehen Sie?« Ellen drehte sich um und schob ihr Tanktop ein wenig hoch, sodass der Wissenschaftler die drei parallelen Narben sehen konnte, die quer über ihren Rücken verliefen.

»Wie … sind Sie ihm entkommen? Hatten Sie eine Waffe?«

»Um Gottes willen, nein! Und selbst wenn: Deborah hätte mich umgebracht, falls ich den Tiger erschossen hätte.«

»Aber … wie dann?«

»Es war ein männliches Tier, und die besitzen Hoden …«

Etwas in Ellens Blick bei diesen Worten bewog Dr. van Houten dringend zu einem Themenwechsel.

»Ähm, wie sieht es denn mit den Geländewagen aus, Ellen? Haben Sie welche besorgen können, wie per E-Mail vereinbart?«

»Ja, alles klar, wir können jederzeit starten. Die Frage ist jetzt nur mehr: Wann geht es los?« Van Houten blickte fragend zu Deborah, aber die deutete nur ein Schulterzucken an.

»Na gut, dann würde ich sagen: Packen wir es morgen früh an, sofern von Karim und Bud nicht noch Einwände kommen sollten. Sie und Deborah verständige ich heute Abend noch telefonisch, um welche Zeit wir uns genau treffen.«

»In Ordnung, die beiden Autos bringe ich mit Deborahs Hilfe morgen vollgetankt zum Hotel. Bis dann also!«

»Bis dann!«

Dr. van Houten begab sich auf den Rückweg zum Hotel, während Deborah und Ellen noch beim Brunnen stehen blieben. Als er sich außer Hörweite befand, wandte sich Deborah lächelnd an Ellen.

»Was hast du dem Straßenjungen bezahlt, um dich vor Dr. van Houten passend zu präsentieren?«

»Gar nichts«, grinste Ellen, »Er war mir sowieso noch einen Gefallen schuldig, und ist außerdem der Sohn meiner Nachbarn.«

»Und mit deiner Tigergeschichte musstest du ja auch unbedingt wieder angeben!«

»Wieso? Die stimmt ja auch! Ich vergesse nur immer zu erwähnen, dass es sich um ein relativ junges Tier handelte«, schmollte Ellen, um kurz darauf ernst fortzufahren: »Aber das war mir wirklich eine Lehre, anschließend habe ich mir geschworen, in der Wildnis nie wieder ein Geschöpf zu unterschätzen.«

»Was hältst du von unserer Expedition? Du warst ja immer sehr skeptisch, was die Affenmenschen betrifft.«

»Stimmt, ich war hier so oft im Urwald unterwegs und habe bis zum heutigen Tag noch nie einen Orang Pendek – oder meinetwegen auch Ebu Gogo – entdeckt. Versteh’ mich bitte nicht falsch, Deb, ich glaube dir natürlich, dass du damals … etwas gesehen hast. Aber seitdem sind schon einige Jahre vergangen und vielleicht gibt es einfach keine mehr.«

»Die Möglichkeit habe ich auch schon in Erwägung gezogen, aber da hilft nur eines, nämlich nachsehen!«

»Bin ganz deiner Meinung. Ist außerdem viel interessanter, als fette australische Millionäre durch den Dschungel zu lotsen und denen Tiere vor die Kameralinse zu treiben. Also: Vielen Dank, dass du an mich gedacht hast!«

»Gern geschehen!«

»Was ist, Deb, nehmen wir noch einen Drink?«

»Nein danke, lieber nicht. Wir müssen morgen früh raus – und außerdem weiß ich, dass du mich nur wieder betrunken machen willst …«

Ellen zwinkerte der Älteren zu und sagte mit kokettem Augenaufschlag: »Ach so? Stehst du vielleicht eher auf Dr. van Houten?«

»Ach was, der ist ein ganz lieber Kerl, aber nicht mein Typ und zudem für meinen Geschmack zu alt!«

»Äh, ich dachte, er ist in deinem Alter?«

»Ja. Eben«, grinste Deborah.

Inzwischen betrat Dr. van Houten das Hotelzimmer, das er mit Karim teilte. Von dem Fußboden der geräumigen Suite war nahezu nichts mehr zu sehen. Überall lag aufgerissenes Verpackungsmaterial, und an den Wänden stapelten sich leere Kartons. Die Betten glichen einem Warenlager für Outdoor-Ausrüstung, und der Schreibtisch, auf dem in der Mitte das DNA-Labor thronte, war zur Technik-Zentrale mutiert.

»Was ist denn hier los?« Von der Eingangstür her versuchte Dr. van Houten sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen. »Morgen früh starten wir – und hier sieht es aus wie nach einem Bombeneinschlag!«

»Hallo Doc!«, begrüßte ihn Bud. »Wir laden gerade ein Software-Update für das DNA-Labor herunter, nur die Datenrate hier im Hotel ist leider erbärmlich. Dann verfügen wir auf der Affenjagd über die neuesten Datenbanken.«

»Es sind keine Affen, das sagte ich Ihnen doch schon!«

»Ja, ich weiß, ist aber einfacher auszusprechen als ›Jagd auf den Homo floresiensis‹. Was ich Sie übrigens fragen wollte: Warum suchen Sie die Urmenschen nicht drüben auf der Insel Flores, wo Sie die Knochen gefunden haben?«

»Eine durchaus berechtigte Frage, Mr. Waters. Laut den Legenden der heutigen Bewohner von Flores sollen ja Nachfahren des Homo floresiensis bis in die vorkoloniale Zeit dort gelebt haben. Die Einheimischen nannten sie Ebu Gogo, was in etwa bedeutet ›Großmutter, die alles isst‹. Der Name stammt wohl daher, weil diese kleinen Urmenschen laut Überlieferung offenbar in den Dörfern immer wieder Lebensmittel stahlen – wahrscheinlich, weil ihr Lebensraum immer mehr eingeengt, und somit ihre Nahrungsgrundlage immer schmaler wurde. Wie auch immer, die Menschen tolerierten die Angewohnheiten ihrer kleinen Nachbarn bis zu einem gewissen Grad – ja, sie stellten ihnen angeblich sogar hin und wieder Essen bereit.«

»Klingt nach halbwegs harmonischem Zusammenleben.«

»Ja, aber leider nimmt die Legende kein gutes Ende: Als in einem Menschendorf ein Baby spurlos verschwand, verdächtigte man die Ebu Gogo, es gestohlen und sogar aufgegessen zu haben. Daraufhin versammelten sich die Bewohner, zogen zu der Höhle der Urmenschen und räucherten sie aus. Seitdem wurde kein Ebu Gogo auf Flores mehr gesehen.«

»Schrecklich … aber wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, klingt das für mich durchaus plausibel«, sinnierte Bud.

»Für mich auch«, meinte der Doktor. »Dann stieß ich bei weiteren Recherchen auf die Berichte über sehr ähnliche Begegnungen mit affenartigen Menschen auf Sumatra – vor allem auf die Aufzeichnungen Dr. Deborah Lindseys. Deshalb entschied ich mich, hier zu suchen. Sumatra ist ja auch um ein Vielfaches größer als Flores und bietet viel mehr Rückzugsgebiete für seltene und sogar bisher unentdeckte Tierarten.«

»Darüber bin ich auch sehr froh, weil sich mir dadurch die Chance bot, dabei zu sein«, sagte Bud. »Übrigens wollte ich Sie noch über etwas in Kenntnis setzen, was den Start unserer Tour vielleicht um einen Tag verschieben könnte.«

»Oje, was haben Sie angestellt?«

»Gar nichts, zumindest nichts Schlimmes. Habe mich nur ein bisschen umgehört und bin einem Gerücht nachgegangen, wonach es noch einen direkten Nachfahren der Labun-Frau mit einem der Affenmenschen geben soll, die dieser William Marsden erwähnt hat. Na, was sagen Sie jetzt?«

»So etwas soll ich glauben?«

»Warum nicht? Sicher, klingt ein wenig weit hergeholt, aber mit diesem Baby hier …«, Bud deutete auf den DNA-Tester, »… könnten wir das beweisen oder eben widerlegen. Wäre vielleicht sowieso eine gute Idee, gleich hier zu überprüfen, ob die neue Software reibungslos funktioniert. Nicht erst im Urwald. Dort habe ich nämlich keine Hotline!«

»Was meinen Sie, Karim?«, wandte sich Dr. van Houten an den bisher nur abwartend zuhörenden Genetiker.

»Na ja, wenn diese Geschichte wahr sein sollte, müssen sich auch Spuren in seiner DNA finden lassen, die nicht vom Homo sapiens, also dem modernen Menschen stammen. Dann könnte ich die fremde DNA isolieren und es ließen sich wertvolle Rückschlüsse daraus ziehen, um welche Art Mensch es sich im Falle dieses Vorfahren handelte. Außerdem muss ich Bud recht geben, was das Labor betrifft: Ich würde es auch lieber hier testen.«

»Aha, ihr beiden habt das also quasi schon beschlossen … Nun, zugegeben, wenn etwas an dem Gerücht dran ist, wäre das sensationell. Und ein Tag Verzögerung lässt sich wohl verschmerzen. Nur, wie sollen wir diesen angeblichen Nachfahren finden?«

»Glücklicherweise, mein lieber Doktor, habe ich auch eine Adresse …«, grinste Bud.

Kapitel 2

Am nächsten Tag machten sich Dr. van Houten und Bud Waters in einem der beiden gemieteten Geländewagen auf, um Padang in Richtung Pariaman – der nächstgelegenen kleineren Stadt an der Küste – zu verlassen. Bud, gewöhnt an den in Indonesien üblichen Linksverkehr, saß am Steuer und dirigierte den schweren Wagen zunächst vorsichtig durch das schier unglaubliche Gewühl der Innenstadt Padangs, bevor sie die nordwestliche Ausfallstraße erreichten und das Tempo erhöhen konnten. Während sie die endlosen Reihen trostloser Wellblechhütten passierten, die den Stadtrand Padangs bildeten, erzählte Bud, dass ihre Zielperson so etwas wie eine lokale Berühmtheit darstelle.

»Sein Name ist Eko Rimba, und er gilt als ziemlich wunderlich und verschroben. Scheint aber unheimlich stolz auf seine Abstammung von den Urwaldmenschen zu sein und erzählt angeblich jedem davon, der sich interessiert zeigt – und allzu oft auch denen, die es nicht interessiert.«

»Und woher haben Sie die genaue Adresse?«

»Also, naja, um ehrlich zu sein, es ist eher eine Wegbeschreibung – aber wir werden es schon finden. Im Notfall müssen wir uns halt durchfragen.« Dr. van Houten blickte zwar skeptisch, enthielt sich aber eines entsprechenden Kommentars.

Sie passierten Minangkabau, den internationalen Flughafen Padangs, dann verließ Bud die bisher gut ausgebaute Hauptstraße und steuerte das Auto durch ein Gewirr unasphaltierter Nebenstraßen, das sich zwischen kleinen Dörfern und Palmölplantagen erstreckte. Dabei änderte er so oft die Fahrtrichtung, dass sich Dr. van Houten zu fragen begann, ob sein Fahrer noch irgendeine Ahnung hatte, wo sie sich gerade befanden. An einer Kreuzung stoppte Bud schließlich, ließ das Fenster herunter und wechselte ein paar Worte in indonesischer Sprache mit einem Bauern, der an seinem kleinen Stand Obst und Gemüse anbot. Der Angesprochene gestikulierte wild in die Richtung, aus der sie gerade kamen, und ließ dabei einen Redeschwall los, der Bud offenbar überforderte, denn er hob nur dankend die Hand und wendete den Wagen auf der Kreuzung.

»Haben Sie sich verfahren?«, konnte sich Dr. van Houten nicht verkneifen zu fragen.

»Hab’ nur die letzte Abzweigung übersehen, es muss hier ganz in der Nähe sein, der Bauer kennt unseren Mann.«

»Woher beherrschen Sie so gut indonesisch?«

»So gut ist es gar nicht, eben nur das, was ich hier im Lauf der Zeit aufgeschnappt habe. Das Notwendigste verstehe ich – und für den Rest helfe ich mir meistens mit Händen und Füßen. So, hier hätte ich links fahren müssen …«

Bud bog in einen noch schmaleren Feldweg ein, der nach wenigen hundert Metern an einem Zaun endete, vor dem Bud den Wagen anhielt und den Motor abstellte. Hinter der Begrenzung stand eine windschiefe Hütte, die nicht den Eindruck vermittelte, den nächsten Taifun auch nur ansatzweise überstehen zu können. Sie stiegen aus und gingen zu einem nur mittels einer Drahtschlaufe an einem Pfosten angehängten Gatter.

»Türglocke gibt es hier wohl keine«, stellte Bud fest und öffnete das Tor kurzerhand, da sich keine Menschenseele blicken ließ. Kaum betraten sie jedoch den Weg, der zwischen unordentlichen Gemüsebeeten zu der Hütte führte, öffnete sich deren Türe und ein uralter krummbeiniger Mann erschien in der Öffnung.

»Was wollen?«, krächzte er unfreundlich, aber zur Erleichterung Dr. van Houtens in gebrochenem Englisch.

»Mein Name ist Doktor Alex van Houten. Sind Sie Eko Rimba?«

»Ja, ich Eko Rimba. Was wollen?«

»Ich bin Wissenschaftler und würde gerne mehr über Ihre Abstammung von den Urwaldmenschen erfahren, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Der Angesprochene blickte den Doktor verständnislos an, worauf Bud mit ein paar indonesischen Wörtern versuchte, ihr Anliegen zu erklären. Offenbar mit Erfolg, denn das Gesicht des Alten hellte sich merkbar auf und seine Gestalt straffte sich. Er trat zur Seite und wedelte mit den Armen, um die inzwischen Nähergekommenen ins Innere seiner Behausung einzuladen.

»Ja, ja, ich sein Waldvolk, kommen gerne herein!«, radebrechte er währenddessen, wobei er ein strahlendes Lächeln sehen ließ, dessen Wirkung nur der eklatante Mangel an Zähnen minderte.

Als sie zu ihm traten, wurde offenbar, dass Eko Rimba sogar für einen Indonesier sehr klein war, denn er stand zwar auf der obersten Stufe seines Hauses, aber der groß gewachsene Dr. van Houten überragte ihn am Fuße der Stiege stehend dennoch um einen halben Kopf. Um durch die niedrige Tür in das dämmerige Innere der Hütte zu gelangen, mussten die Besucher sich bücken. Als sich ihre Augen drinnen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sahen sie, dass die Hütte aus einem einzigen Raum mit sehr spärlicher Einrichtung bestand: Neben einer Propangaskochstelle in der Ecke und einem Wandbord, auf dem sich Lebensmittel und primitives Küchengerät stapelten, gab es nur noch ein niedriges Bettgestell und – zur Überraschung der Besucher – ein Bücherregal. Der restliche Raum schien indessen als Müllhalde zu dienen, denn fast überall lag Gerümpel aller Art.

Der Alte humpelte zu dem Bett und ließ sich ächzend auf dessen Rand nieder. Da sich im Zimmer ansonsten keine weiteren Sitzgelegenheiten befanden, setzte sich Alex van Houten einfach ihm gegenüber im Schneidersitz auf den Boden, wobei er sich dennoch fast auf Augenhöhe mit dem Indonesier befand. Bud schlenderte inzwischen zu dem Bücherregal, um die Aufschriften der Buchrücken in Augenschein zu nehmen.

»Sie sagen, dass Sie von dem Waldvolk abstammen, erzählen Sie mir bitte davon!«, eröffnete der Doktor das Gespräch.

»Die Geschichte erfahren mein Vater von sein Vater – und der von sein Vater. Urahn von mir liebte Mädchen von Labun, und er sie immer beobachtet hat aus Wald. Dann er sich in Nacht in Dorf geschlichen, aber man gefangen ihn. Mädchen sehr traurig war, hat Urahn befreit und mit ihm gegangen. Darum ich Nachfahre von ihm.«

»Eine sehr romantische Geschichte, aber können Sie sie auch beweisen?«

»Ja, haben Zeichnung von Waldmensch!«, erwiderte der Alte zu Dr. van Houtens Erstaunen. Er hob am Kopfende eine Ecke seiner fleckigen Matratze und kramte aus einem Sammelsurium alter Zeitungsausschnitte, kleiner Banknoten und bekritzelter Zettel ein vergilbtes Blatt Papier hervor, das er dem Doktor reichte.

Dieser nahm es, stand auf und trat an das einzige kleine Fenster des Raumes, um es genau in Augenschein zu nehmen. Eine primitive Bleistiftskizze zeigte einen aufrecht stehenden, aber affenartig behaarten Menschen mit überproportional langen Armen und einem langen Speer in einer Hand. Die Gesichtszüge waren jedoch zu einfach dargestellt, als dass sie Rückschlüsse auf Rasse oder Abstammung zugelassen hätten.

»Diese Zeichnung scheint zwar recht alt zu sein, aber doch sicher nicht so alt, dass sie Ihren Vorfahren zeigt, oder?«, fragte Dr. van Houten zweifelnd.

»Bild ich gemacht!«, verkündete der Alte stolz.

»Was soll das heißen? Haben Sie das Waldvolk etwa selbst gesehen?«, erkundigte sich der Doktor mit plötzlich aufflammendem Interesse.

»Oft Waldvolk sehen, sind Brüder von mir. Kann Sie hinführen, wenn gut bezahlen!« Jetzt wirkte Eko Rimba wie die sprichwörtliche Katze knapp vor Verspeisen der gefangenen Maus, wobei er allerdings geflissentlich versuchte, diesen Eindruck durch ein möglichst vertrauenserweckendes Lächeln zu verwischen – was ihm aber aufgrund der fehlenden Zähne nicht zufriedenstellend gelang.

Dr. van Houten, in dessen Gesicht während der letzten Worte des Alten der zweifelnde Ausdruck zurückkehrte, überlegte lange, während er den Indonesier durchdringend musterte.

Der begann sich unter den Blicken des Doktors sichtlich unwohl zu fühlen und meinte schließlich: »Nicht so teuer sein, ich machen guten Preis für Doktor!«

»Gut, angenommen Sie sagen die Wahrheit. Sicher werden Sie aber verstehen, dass wir einen besseren Beweis benötigen, als nur eine Bleistiftzeichnung?«