Scott V.P.I. - Gard Spirlin - E-Book

Scott V.P.I. E-Book

Gard Spirlin

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Beschreibung

Als der Schriftsteller Frank Dekker nach einem One-Night-Stand in einem Hotel aufwacht, ahnt er zunächst nicht, dass sein Leben sich in Kürze radikal verändern wird. Die Realität holt ihn unerbittlich ein und macht ihn zum Hauptverdächtigen in einem Mordfall. Um nicht zum Spielball in einem Strudel aus Gewalt, Politik und Leidenschaft zu werden, muss er die Initiative ergreifen und selbst Ermittlungen beginnen.

Schon bald stellen sich Fragen, die weit über die ursprüngliche Aufgabe hinausgehen. Agieren verängstigte Bürger zunehmend aggressiver gegen Roboter und künstliche Intelligenzen? Schrecken sie auch vor Mord nicht zurück? Und was hat seine Assistenz-KI mit alldem zu tun? Ein ungewöhnliches Ermittlerduo nimmt die Herausforderung an.

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GARD SPIRLIN

SCOTT V.P.I.

MÖRDERJAGD IM CYBERSPACE

© 2021 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2021

Autor: Gard Spirlin

Lektorat: Martin Wohlrab

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Veronika Schnabel

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Weberson Santiago

Druckerei: CPI books GmbH, Leck

ISBN:

Print978-3-947619-73-3

PDF978-3-947619-74-0

ePub978-3-947619-75-7

mobi978-3-947619-76-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Gard Spirlin hat bereits mit der Veröffentlichung zahlreicher Kurzgeschichten aus den Genres Science-Fiction, Fantastik und Krimi auf sich aufmerksam gemacht. In Wien geboren und aufgewachsen, arbeitet er hauptberuflich als Elektronik-Konstrukteur an der Entwicklung digitaler Sprachaufzeichnungssysteme. Für die Science-Fiction-Story »RoboWrite« wurde er 2016 für den Kurd Laßwitz Preis nominiert. Die Kurzgeschichte »Dann singe ich ein Lied für dich« errang den ersten Platz beim Vincent-Preis 2019. Mit dem Tech-Thriller »Scott V.P.I.« liegt nun sein zweiter Roman vor.

www.gard-spirlin.com

Kapitel 1

Die schwere Metalltür fiel hinter ihm mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Die Wächter packten ihn an den Armen und zerrten ihn den endlos scheinenden Korridor entlang auf eine weitere vergitterte Tür zu. Er strampelte. Wehrte sich. Genauso gut hätte er sich gegen einen Güterzug stemmen können. Nein, nicht einsperren! Er versuchte zu schreien, aber kein Ton kam über seine Lippen. Die Wände schienen enger zusammenzurücken, so eng, dass er sie fast berühren konnte. Er griff an einem der Wächter vorbei, streckte die Hand so weit wie möglich aus, spürte rauen Verputz unter seinen Fingern, kratzte mit den Nägeln entlang. Da, ein Spalt! Er krallte sich darin fest, spürte, wie seine Fingernägel splitterten, aber er hielt sich! Doch die Wächter zerrten ihn mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Mit Entsetzen bemerkte er, dass sein Arm immer länger wurde, er dehnte sich mit zunehmender Entfernung zum Spalt wie ein Gummiband! Er verdrehte den Kopf und sah den Wächtern ins Gesicht. Es gab keines. Unter den Schirmmützen war rosig pulsierendes Fleisch ohne jede Kontur. Er brüllte und schlug mit dem anderen Arm wild um sich. Er traf auf Stoff … weichen Stoff? Was zur Hölle …?

Stöhnend wälzte sich Frank Dekker auf den Rücken. Wieder dieser Albtraum. Ich sollte mal wirklich einen Seelenklempner aufsuchen, dachte er und massierte den eingeschlafenen Arm, der im Traum meterlang überdehnt gewesen war. Er atmete tief durch. Die Zeit, die er bis zu seinem Prozess vor fast fünf Jahren in Untersuchungshaft gesessen hatte, war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Als Schriftsteller, der seinen Tagesablauf normalerweise vollkommen frei zu planen gewohnt war, hatte er diesen Gefängnisaufenthalt als traumatischen Einschnitt in seinem Dasein erlebt. Eine Zäsur, an der einzig und allein er selbst schuld gewesen war. Das wusste Dekker zwar, aber dieses Wissen schützte ihn nicht vor gelegentlichen Panikattacken – wie die soeben im Traum erlebte. Zum Glück hatte er sich damals aufgrund seiner vorherigen Unbescholtenheit nur eine Bewährungsstrafe eingehandelt. Wäre es anders gekommen … er mochte lieber nicht daran denken!

Langsam beruhigte sich Dekker wieder. Wo war er überhaupt? Er starrte an die Decke. Es war noch dunkel, aber das diffuse Licht der Straßenbeleuchtung, das durch die Vorhänge drang, reichte ihm, um zu erkennen, dass er ganz sicher nicht in seinem eigenen Bett lag. Nach und nach kam die Erinnerung an den letzten Abend zurück. An die Lesung aus seinem neuen Roman im renommierten Hotel Peyton. Sein Verlag ließ sich in letzter Zeit nicht lumpen, was die Locations betraf. Zumindest, seit sich seine romantischen Geschichten beim anvisierten Zielpublikum ganz passabel verkauften. Böse Zungen bezeichneten seine Werke zwar als Schnulzen, aber das kümmerte Dekker nicht. Immerhin hatte er früher, als er noch regalmeterweise billige Heftromane für seinen Lebensunterhalt schreiben musste, so manche heftige Durststrecke zu überwinden gehabt. Das hatte sich inzwischen gebessert, wenn er auch noch lange nicht mit der Schriftstellerei reich werden würde. Aber zu den angenehmen Seiten seines Lebens gehörte, dass sein Lesepublikum zum Großteil aus gelangweilten reiferen Damen der oberen Mittelschicht bestand, die bei den Lesungen oft schmachtend an seinen Lippen hingen. So auch gestern, kam ihm jetzt wieder in Erinnerung. Besonders die üppige Brünette in der ersten Reihe, die mit ihrer blonden Freundin erschienen war, hatte mehr als nur ein Auge auf ihn geworfen. Dann der Sekt, das Signieren, das Geplauder. Dekker war zwar aus Prinzip Single, konnte aber ein sehr charmanter Unterhalter sein, wenn es sein Hormonspiegel erforderte. Es hatte noch mehr Sekt gegeben und irgendwann hatte die Brünette wie beiläufig erwähnt, dass sie sich hier im Hotel ein Zimmer genommen habe, um nicht so spät heimfahren zu müssen. Dekker war alles andere als begriffsstutzig, den Wink mit dem Zaunpfahl hätte er gar nicht benötigt. So waren sie kurz darauf in den achten Stock gefahren und hatten die lange Liftfahrt mit einem hungrigen Kuss verkürzt. Sie hatte vor der Zimmertür die Schlüsselkarte hektisch aus ihrer Handtasche hervorgenestelt, während er sie bereits aus ihrem teuren Designerkleid zu schälen begann. Die restliche Kleidung hatten sich die beiden anschließend nach und nach auf dem Weg zum breiten Doppelbett gegenseitig ausgezogen, in dem sie sich stundenlang hitzig geliebt hatten. Wie war ihr Name doch gleich gewesen? Ah ja, Felicia. Die Glückliche also …

Dekker wandte den Kopf zur anderen Hälfte des Doppelbetts. Da war sie ja noch. Im Halbdunkel bemerkte er, dass sie sogar wach war, denn sie sah ihn mit einem ganz eigenartigen Blick direkt an. Hatte er in seinem Albtraum laut geschrien und sie damit aufgeweckt? Hoffentlich glaubte sie nicht, dass er jetzt mit ihr den Rest seines Lebens verbringen würde, nur wegen einer Nacht. Auch wenn diese durchaus angenehm verlaufen war, wie Dekker sich eingestehen musste. Aber nein, hatte sie nicht erwähnt, dass sie verheiratet sei? Und dass sie ihren Mann sehr liebe, aber sich oft vernachlässigt fühle, sehr oft sogar? Für Dekker alles nichts Neues, immerhin schrieb er Herzschmerz-Romane. Wenn er sich mit etwas hervorragend auskannte, dann mit allem, was menschlich war.

Aber trotzdem: Besser gleich klarstellen, wie es um ihre Beziehung stand, das vermied später böse Szenen. Er langte zu ihr hinüber.

»Du, Schatz?«

Schatz passte immer gut. Schon allein, falls es ihr Name wegen des Alkoholkonsums am Vortag doch nicht allzu präzise durch sein Kurzzeitgedächtnis geschafft haben sollte.

Keine Reaktion. Er rüttelte sie sanft am Oberarm.

»Hallo Darling!«

Abermals keine Reaktion. Obwohl sie ihn direkt ansah. Alarmiert schüttelte er sie fester. Ihr Kopf wackelte widerstandslos hin und her. Und ihr Blick war vollkommen starr. Mein Gott! Die wird doch nicht einen Herzinfarkt erlitten haben?! Während Dekker sich ruckartig aufsetzte, sah er im Geist schon die Schlagzeile vor sich:

Tod beim Liebesspiel mit Autor!

Gar nicht gut, weder für das Image noch für das Geschäft!

Er beugte sich zu ihr und fasste sie am Nacken. Was war denn das? Er spürte einen harten Gegenstand an ihrem Genick. Licht, er brauchte dringend Licht!

»Licht an!«, befahl er dem Zimmersystem. Die sanft aufdimmende Beleuchtung ließ seinen Pupillen gerade genug Zeit, um sich an die geänderten Verhältnisse zu gewöhnen. Was ihn aber nicht davor bewahrte, vor Entsetzen zurückzuprallen: Aus dem Nacken seiner Bettgenossin ragte der kurze Griff eines Messers!

Mit einem Aufkeuchen krabbelte Dekker hektisch rückwärts aus dem Bett, schlug sich das Schienbein an dessen Kante an. Panisch sah er sich um. War er überhaupt allein? Oder war der Mörder noch im Zimmer und wollte auch ihn erledigen? Er wich rückwärts bis zur nächstgelegenen Wand, presste sich an sie.

»Ist da jemand?«, krächzte er. »Ich bin bewaffnet!«

Ja, mit einem Kissen. Er hatte nicht gemerkt, dass er das Ding aus dem Bett mitgenommen hatte und jetzt wie einen Schild vor sich hielt.

Ruhig, ganz ruhig! Denk nach, Frank!

Er begann, das Zimmer systematisch mit Blicken abzusuchen, aber von seiner Position aus war niemand zu sehen. Mit zitternden Knien zwang er sich dazu, zur Badezimmertür zu schleichen. Mit einem Ruck riss er sie auf, das Licht flammte automatisch auf – nichts! Das Kissen hielt er noch immer mit einer Hand vor sich her. Schon ein wenig mutiger öffnete er nun vorsichtig die Tür des großen Hängeschranks – auch leer! Okay, er war allein im Zimmer, abgesehen von Felicias Leiche natürlich. Der Mörder war offensichtlich abgehauen. Sein Albtraum fiel ihm wieder ein. Hatte er darin nicht eine Tür schlagen hören? Dekker ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er sie angehalten hatte. Er ließ sich in den Polstersessel fallen, zu dem Bett brachten ihn keine zehn Pferde mehr. Jetzt erst bemerkte er sein schmerzendes Schienbein. Er begann, es geistesabwesend zu massieren. Knapp oberhalb des Knöchels stießen seine Finger an einen Ring aus Duroplast, der das Gelenk vollständig umschloss. In diesem Moment durchfuhr es ihn siedend heiß: seine elektronische Fußfessel! Die Bewährung lief erst in eineinhalb Monaten ab! Er hatte sich so daran gewöhnt, dass er das Ding fast vollständig vergessen hatte, zumal es im Vergleich zu früheren Modellen kaum auftrug. Aber das Gerät zeichnete kontinuierlich seine Position auf, Tag und Nacht. Die Schlagzeile, die Dekker jetzt vor sich sah, war deutlich drastischer als die zuvor:

Autor ermordet seine Geliebte in Hotelzimmer!

Er brauchte dringend Hilfe, aber von wem? In seinen Romanen tauchte in ausweglosen Situationen immer ein bester Freund oder eine beste Freundin zur Rettung auf, quasi als Deus ex Machina. Der Haken daran war nur: Dekker hatte keine Freunde. Jedenfalls keine im engeren Sinn. Aber, warte mal, Frank, denk nach. Ex Machina? Vielleicht konnte er wieder …? Dekker schüttelte den Kopf. Nein, das war schon einmal schiefgegangen und noch dazu der Grund, warum er die Fußfessel überhaupt tragen musste.

Aber andererseits … Welche Wahl hatte er? Selbst die Polizei rufen? Die würden einem Vorbestraften neben einer Leiche glauben, ja, ganz bestimmt!

Zögernd tippte Dekker zweimal an sein rechtes Ohrläppchen, um einen Audiokanal zu öffnen. Das Implantat in seinem Gehörgang verband sich in Sekundenbruchteilen mit seinem ComPad, das achtlos auf dem Nachttisch lag.

»Scott, melde dich bitte!«, sagte Dekker. Das ComPad registrierte das übermittelte Schlüsselwort und leitete den Befehl an das richtige Programm weiter. In diesem Fall an die Assistenz-KI von RoboWrite, der Autorensoftware, die er benutzte. Irgendwo in der Cloud des weltweiten Datennetzes fügten sich elektronische Neuronen zu einem gemeinsamen Ganzen zusammen.

»Ja, Meister?«, erklang Marc Scotts tiefe, weiche Stimme direkt in Dekkers Ohr.

»Himmelarsch, du sollst mich nicht so nennen!«

Dekker konnte fast körperlich spüren, wie Scott hämisch grinste, obwohl er dessen Avatar nicht sah. Die künstliche Intelligenz, die nach seiner erfolgreichsten Romanfigur benannt war, zeigte manchmal einen schrägen Sinn für Humor, obwohl Scott selbst das vehement bestritt.

»Natürlich, das hatte ich glatt vergessen. Immerhin hast du mich gerade aufgeweckt«, säuselte er.

»Ja klar, du Scherzkeks. Heute ist mir aber nicht nach Späßen zumute. Ich habe ein gewaltiges Problem. Sieh mal!«

»Was soll ich sehen?«

»Na da, auf dem Bett!«

»Ich sehe nur eine Nachttischlampe. Würdest du bitte deine Datenbrille aufsetzen, damit ich auch sehe, was du meinst?«

»Natürlich, entschuldige!«

Dekker ging in großem Bogen um das Bett herum und nahm die Brille vom Nachttisch, wo sie neben seinem ComPad gelegen hatte. Er setzte sie auf und richtete seinen Blick auf die reglose Gestalt im Bett.

»Oh, là, là, très jolie, die Lady. Deine letzte Eroberung, nehme ich an?«

»Ganz genau, du Schlaumeier. Und jetzt schau mal hierher!«

Dekker beugte sich mit deutlichem Widerwillen über Felicias Leiche und schob ihr Haar ein wenig zur Seite, sodass ihr Nacken sichtbar wurde.

»Oh!«

»Ja, oh! Und weißt du, was das bedeutet?«

»Du hast sie umgebracht?«

»Nein, natürlich nicht! Jemand anderes hat sie umgebracht! Moment mal … das würdest du mir zutrauen?«

»Na, immerhin bist du ein vorbestrafter Verbrecher, und die tun manchmal so etwas.«

Dekker lief rot an.

»Du weißt genau, warum ich damals eingebuchtet wurde! Immerhin bist du schuld daran!«

»Un moment, mon capitaine! Es war definitiv nicht meine Idee, online eine Bank auszurauben und dazu meine – in aller Bescheidenheit – überragende Intelligenz auszunutzen. Und schon gar nicht war es meine Idee, dass du die hundert Millionen Euro, nachdem ich sie anonym durch zig Kryptowährungen schleusen musste, auf dein stinknormales Konto überweist, wodurch dir die Polizei natürlich sofort auf die Schliche gekommen ist. Sorry, aber das hast du dir schon selbst eingebrockt.«

Dekker wedelte ungeduldig mit seinen Armen.

»Jaja, du hast ja recht. Du weißt doch, dass ich das damals als einzigen Ausweg aus meiner Finanzmisere gesehen habe! Aber könnten wir uns jetzt bitte auf mein Problem konzentrieren?«

Scott blendete sich als Butler gekleidet über die Retinaprojektion der Datenbrille in Dekkers Gesichtsfeld ein und vollführte eine vollendete Verbeugung.

»Sehr wohl, Sir! Womit darf ich dienen?«

»Du musst meine Fußfessel hacken und die Positionsdaten manipulieren. Wenn die Polizei mitbekommt, dass ich mit ihr zusammen war, bin ich schon so gut wie verurteilt!«

»Wow, halt! Stopp! Du erinnerst dich aber schon daran, dass nicht nur du damals angeklagt warst, sondern auch die Hersteller von RoboWrite? Sie wurden dazu verdonnert, meine Fähigkeiten so zu beschneiden, dass ich nicht mehr für kriminelle Zwecke missbraucht werden kann. Also, wir können gerne gemeinsam an deinem nächsten Roman arbeiten oder meinetwegen auch über deine Weibergeschichten plaudern, aber eine Fußfessel zu hacken fällt eindeutig nicht in mein Ressort. Ich könnte das auch gar nicht mehr.«

Dekker schien in sich zusammenzusacken.

»Dann ist alles aus …«, flüsterte er.

»Nebenbei, was würde dir das nützen? Es haben dich sicher Zeugen mit ihr gesehen, und hat das Hotel – das ist doch ein Hotel, oder? – keine Überwachungs…«

Ein schriller Alarm unterbrach Scott. Dekker schreckte auf und versuchte, die Ursache des nervtötenden Gepiepses zu lokalisieren. Es schien aus Felicias Handtasche zu kommen, die sie nachts in der Hitze ihrer Leidenschaft achtlos im Vorzimmer zu Boden fallen gelassen hatte. Dekker hob sie auf und begann, hastig darin zu wühlen. Inmitten des üblichen Inhalts einer weiblichen Handtasche fand er die Lärmquelle in Gestalt von Felicias ComPad, dessen Display einen großen rot blinkenden Schriftzug zeigte:

INSULINPUMPEIMPLANTAT-ALARM: KREISLAUFSTILLSTAND ERKANNT

Und darunter in kleinerer Schrift:

Die Einsatzkräfte wurden alarmiert.Bitte veranlassen Sie bis zu deren EintreffenWiederbelebungsmaßnahmen!

»Das wird wohl nicht mehr zielführend sein«, bemerkte Scott trocken, der über Dekkers Datenbrille das Geschehen verfolgte.

»Scheiße, was mache ich jetzt? Die sind in ein paar Minuten hier! Scheiße, Scheiße, Scheiße …«

Fluchend rannte Dekker ins Zimmer zurück und sammelte hektisch seine Kleidung zusammen.

»Die kriegen mich nicht noch mal dran, ich hau ab …«, keuchte er, während er sich auf einem Bein hüpfend in das andere Hosenbein kämpfte.

»Jetzt sei vernünftig, Dekker! Du hast doch keine Chance mit deiner Fußfessel! Und außerdem kannst du auch im Gefängnis Bücher …«

»Ich geh nicht wieder in den Knast!«, brüllte Dekker und stürmte halb angezogen zur Tür. »Vorher hacke ich mir den Fuß ab!«

»Okay, dann bin ich raus. Viel Glück noch. Und tschüss!«, sagte Scott und verschwand mit einem dezenten Plopp vom Display der Datenbrille.

Kapitel 2

Dekker riss die Tür auf und war schon halb auf dem Korridor, als er das unverwechselbare Pling vernahm, das in allen Hotels der Welt die Ankunft einer Aufzugskabine ankündigte. Das konnte unmöglich schon der Rettungsdienst sein, seit dem Alarm waren nicht einmal zwei Minuten vergangen! Er wich hastig in das Zimmer zurück und lugte mit einem Auge um die Ecke, wo sich die Schiebetüren öffneten. Heraus rollte … ein Medbot! Natürlich! In Hotels dieser Preisklasse konnte man bei Notfällen mit einer Erstversorgung durch ein halbautonomes medizinisches System rechnen. Offenbar war der Roboter über die Haus-KI alarmiert worden, nachdem Felicias ComPad den Notruf abgesetzt und die Position gemeldet hatte. Dekker fluchte leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. Über dem rot blinkenden Kreuz am Torso des Bots reflektierten die zwei Augen des Kamerasystems die Gangbeleuchtung. Mit dessen Hilfe navigierte der Bot nicht nur, er würde damit auch den gesamten Einsatz protokollieren. Dekker durfte auf dem Video unter keinen Umständen zu sehen sein! Zielstrebig surrte der Roboter in Dekkers Richtung und der machte, dass er schleunigst komplett ins Zimmer verschwand und die Tür hinter sich ins Schloss schnappen ließ. Was jetzt? Der Bot hatte mit Sicherheit einen elektronischen Generalschlüssel, er musste aus dem Zimmer verschwinden, und zwar pronto! Sein Blick irrte hektisch suchend im Zimmer umher und blieb an der verglasten Tür hängen, die an das breite Fenster fast nahtlos anschloss. Hatte das Zimmer einen Balkon? Als er mit seiner liebeshungrigen Begleitung am Abend ineinander verschlungen in den Raum gekommen war, hatte er aus naheliegenden Gründen nicht darauf geachtet. Schnell öffnete er die Tür und trat hinaus, zog hinter sich den blickdichten Teil des Vorhangs bis auf einen schmalen Streifen zu, um dem Geschehen im Zimmer zu folgen, ohne selbst gesehen zu werden. Die Balkontür ließ er nur angelehnt. Keine Sekunde zu früh! Dekker hörte die Zimmertür aufgehen, dann erklang die mechanische Stimme des Roboters:

»Medizinische Notfalleinheit MedHelper C9730 am Einsatzort, Zimmer 846, Hotel Peyton. Leblose Person, weiblich, auf Liegefläche detektiert. Keine weiteren Personen anwesend. Beginne Untersuchung.«

Dekker spähte vorsichtig durch den Spalt. Aus dem Torso des Bots wuchsen verschiedene tentakelartige Gliedmaßen, die begannen, Felicias Körper mit verschiedenen Sensoren abzutasten. Schon nach kurzer Zeit kommentierte die Maschine emotionslos:

»Herz-Kreislauf-Stillstand bestätigt. Wiederbelebungsmaßnahmen initiiert.«

Dekker konnte nicht genau sehen, was vor sich ging, und veränderte leicht seine Position. Mist! Er hatte gehofft, hinter dem Roboter vorbeischleichen zu können, solange dieser beschäftigt war, aber leider stand er so, dass seine Optik die Balkontür im Blick hatte. Der Bot hatte Felicias Körper auf den Rücken gedreht und drückte mit einem Manipulator rhythmisch ihren Brustkorb zur Herzmassage, während ein anderer ihren Kopf vorsichtig anhob, um eine Atemmaske auf ihrem Gesicht zu befestigen. In diesem Moment hielt der Roboter inne. Er drehte den Körper zur Seite und examinierte den Nackenbereich. In der nächsten Sekunde wurden seine Extremitäten eingezogen und der Bot rollte ein Stück vom Bett weg.

»Unklare Sachlage, übertrage Steuerung an Operator!«, tönte es aus seinem Lautsprecher. Es knackste ein paar Mal, dann meldete sich eine gelangweilte, missgelaunte Männerstimme:

»Steuerung übernommen. Falls sich Personen vor Ort befinden, bitte vom Roboter zurücktreten. Hallo, ist da jemand? … nein? Scheiß-Nachtdienst. Was haben wir denn da, was der Blechtrottel nicht allein auf die Reihe kriegt?«

Die Maschine, jetzt unter menschlicher Kontrolle, beugte sich erneut über die Leiche. Kurze Pause, dann war ein anerkennender Pfiff zu hören.

»He, Tom, schau dir das mal an, wir haben hier einen astreinen Code 110, oder?«

»Echt jetzt, Mord? Lass sehen!«, war eine andere, nicht minder gelangweilte Stimme zu hören. Wieder Pause.

»Hast recht, die Rettung kannste abbestellen. Die Tussi war sofort tot. Ruf die Bullen an, die müssten in ein paar Minuten da sein. Ist ja nicht weit.«

Dekker brach der Angstschweiß aus. Wohin sollte er flüchten? Er sah sich hektisch um. Der Balkon erstreckte sich über die gesamte Zimmerbreite und war auf beiden Seiten durch eine Trennwand, die bis zur Decke reichte, vom jeweiligen Nachbarbalkon abgeteilt. Er huschte auf die linke Seite, beugte sich über die Brüstung und schaute in den Nachbarbalkon hinüber. Alles dunkel. Gut. Aber wie sollte er da rüberkommen? Sportlichkeit gehörte nicht zu Dekkers Stärken. Genauer gesagt hielt er es mit dem seligen Premierminister Churchill, dem ja angeblich jegliche körperliche Betätigung ein Gräuel gewesen war. Egal … ihm blieb keine Wahl. Mit Mühe schwang er ein Bein über das Balkongeländer. Zum Glück hatte die Trennwand gitterartige Verstrebungen, an denen Dekker sich jetzt mit einer Hand festhielt, während er mit der anderen versuchte, das Bein in den angrenzenden Balkon zu hieven. Seine Korpulenz war dabei nicht gerade hilfreich. Als er mit dem Rücken zur Straße halb im einen, halb in dem anderen Balkonabteil hing und sich verzweifelt am Gitter festkrallte, bewirkte sein Bauchumfang, dass sein Hinterteil weit über den Abgrund hinausragte. Noch dazu machte er den Fehler, über seine Schulter hinabzuschauen. Acht Stockwerke! Die wenigen Fahrzeuge, die unten durch die Nacht glitten, erinnerten an Spielzeuge. In ihm begann sich alles zu drehen. Dekker musste die Augen schließen. Weiter, Frank, und auf keinen Fall mehr hinuntersehen! Mit Schwung wuchtete er seinen massigen Körper auf die andere Seite. Geschafft! Das zu diesem Balkon gehörende Zimmer war dunkel. Vorsichtig schlich er zur Balkontür und drückte dagegen. Geschlossen, natürlich. So eine verdammte Scheiße! Vielleicht hatte er beim nächsten Balkon mehr Glück? Ihm graute zwar davor, noch einmal über die Brüstung zu steigen, aber zu seiner Überraschung hatte er jetzt den Dreh heraus und kam relativ glatt hinüber. Puh! Auch in diesem Raum brannte kein Licht. Als er sachte gegen die Tür drückte, gab sie nach und schwang nach innen auf. Gott sei Dank! Dekker trat einen Schritt in das Zimmer. Ein wuchtiger Schlag traf seinen Kopf. Der hätte ihm das Bewusstsein geraubt, wäre er besser platziert gewesen. Zum Glück glitt der schwere Gehstock seitlich ab und prallte mit einem dumpfen Laut auf seine Schulter. Dekker schrie schmerzerfüllt auf. Gleichzeitig ging ein schrilles Gezeter in einer fremden Sprache los und das Licht flammte auf. Vor ihm stand eine alte Dame im Nachthemd, deren Stock bereits wieder hocherhoben und im Begriff war, erneut auf ihn herabzusausen! Geistesgegenwärtig duckte sich Dekker und flüchtete erneut auf den Balkon. Leider gefolgt von der wehrhaften Lady mit erhobenem Stock. Verdammt, warum hatte er ausgerechnet auf eine Oma mit seniler Bettflucht treffen müssen? Derart in Bedrängnis schwang sich Dekker gleich wieder über die Brüstung zum nächsten Balkon. Zu seinem Pech war da keiner mehr. Dafür eine Feuerleiter, allerdings einen guten Meter entfernt! Dekker hing in der Luft, strampelte mit den Beinen und zog sich hoch, bis seine Füße außen am Balkon Halt fanden. Die Lady nutzte ihre Chance und drosch mit dem Stock auf eine seiner Hände. Dekker ließ mit einem Schmerzensschrei los und hielt sich nur mehr mit der anderen Hand fest. Mit Entsetzen sah er, wie die alte Dame ein weiteres Mal ausholte. Bevor jedoch der Stock auf die Stelle niedersauste, wo eben noch Dekkers Finger gewesen waren, war er verzweifelt seitlich weggesprungen und hatte die Hände nach der Feuerleiter ausgestreckt. Wie in Zeitlupe musste er mitansehen, wie die anvisierte Sprosse nur Zentimeter an seinen Fingern vorbeiglitt. Die nächste Stufe war seine letzte Chance, sonst war er aller Sorgen ledig, und zwar für immer! Im allerletzten Moment griff er zu. Mit einem hässlichen Geräusch knallte sein Körper gegen die Leiter, aber er hing! Dekker schickte ein Stoßgebet zu sämtlichen Göttern des Erdkreises. Von oberhalb hörte er die zeternde Stimme der Alten, die bald das ganze Hotel aufwecken würde. Dekker begann hastig den Abstieg. Als er sich auf Höhe des zweiten Stockes befand, hörte er das an- und abschwellende Geräusch einer Polizeisirene, das sich rasch näherte. Er erstarrte und versuchte, sowohl mit dem Mauerwerk als auch mit der Feuerleiter zu verschmelzen. Ein Schweber blieb vor dem Hoteleingang stehen und zwei uniformierte Beamte sprangen heraus und rannten ins Foyer.