Eckstein - Pascale Quiviger - E-Book

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Pascale Quiviger

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Beschreibung

Zwei Jahre lang hat Prinz Tibald mit seiner Mannschaft die Meere des Südens durchsegelt. Erschöpft und voller Sehnsucht nach ihrer Heimat Eckstein machen sie sich auf den Weg nach Hause. Mit an Bord so mancherlei Schätze aus fernen Ländern - und eine blinde Passagierin: Ema, die vor einem Leben voller Gewalt geflohen ist, hofft in Eckstein auf eine friedliche Zukunft. Nicht alle sind begeistert davon, dass eine Frau sich aufs Schiff geschlichen hat. So wird der Admiral nicht müde zu betonen: »Eine Frau an Bord treibt das Glück hinfort.« Doch Tibald fühlt sich immer mehr zu Ema hingezogen. Was Ema nicht weiß: Das Königreich ist verflucht. Im düsteren Wald im Süden der Insel, den seit Jahrhunderten niemand mehr betreten hat, lauern zahllose Gefahren. Und auch im Schloss droht Unheil: Tibalds skrupelloser Bruder Jesko will die Krone an sich reißen. Tibald und Ema stellen sich gemeinsam den Abenteuern, die in Eckstein auf sie warten.

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Seitenzahl: 558

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Pascale Quiviger

Eckstein

Band 1 Die Kunst des Schiffbruchs

Roman

Aus dem Französischen von Sophia Marzolff

atlantis

1

Die Woge sah aus wie ein schneebedeckter Gipfel. Das Schiff rollte auf sie zu, und sie rollte auf das Schiff zu. Dies war das Ende, vielleicht, vielleicht auch nicht.

Zwei Stunden zuvor hatten die Seeleute sich den Bauch mit trockenen Keksen und kaltem Reis vollgeschlagen, denn ein gut gefüllter Magen rebelliert nicht. Doch Reis hin oder her, der jüngste Schiffsjunge erbrach sich über die Reling hinweg die Seele aus dem Leib, der Wäscher war froschgrün im Gesicht, und Felix, der hünenhafte Rudergänger, klammerte sich an das Steuerrad.

Wie das Jüngste Gericht brach die Welle über die Isabelle herein. Fast wäre der Schiffsjunge über Bord gespült worden, doch Felix konnte ihn im letzten Moment am Knöchel packen. Die Matrosen, die im Kielraum Wasser pumpten, hörten die Wurzel des Großmasts knarren, und die Männer, die an Deck arbeiteten, hielten sich an den Tauen fest. Es war nicht das erste Mal, dass ihre letzte Stunde schlug. Sie nahmen das Unheil geduldig hin und konzentrierten sich auf die Befehle von Admiral Dorec, der gegen das Donnern anbrüllte. Nur ein einziger Mann an Bord war so mächtig, seine Befehle zu missachten.

»Prinz Tibald!«, rief der Admiral. »Kehrt in Eure Kajüte zurück, ich flehe Euch an!«

Prinz Tibald zog sich nicht gern in seine Kajüte zurück. Genau genommen waren die Isabelle sein Schiff, die Expedition seine Idee und die zweiunddreißig Seeleute seine Mannschaft. Doch wenn man ihn jetzt sah, wie er an Deck mit einem Kessel Wasser schöpfte, die Wachshosen zu den Waden hochgerollt und einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, aus dem es triefte wie aus einer Regenrinne, dann erkannte man keinen Unterschied zwischen dem Thronfolger des Königreichs Eckstein und dem einfachsten Matrosen.

Die Wellen türmten sich so hoch, dass sie dreifach den Großmast überragten. Ihr Kamm brach sich schäumend, ihre smaragdgrün schillernden Hänge waren von seltsamen Figuren durchzogen – schwebenden Pottwalen, fliegenden Delfinen. Bei jedem Unwetter war es das Gleiche: Ein flüssiger Himmel, schwer gewordene Kleider, gerötete Finger, verworrene Taue, erloschene Lampen, grelle Blitze; die Isabelle eine Nussschale auf einem bodenlos tiefen Meer, die Männer bedeutungslose Staubkörnchen auf der Nussschale.

Ihre Not bewirkte, dass die Stunden schnell verstrichen, ihre Erschöpfung, dass sie sich hinzogen. Der Tag ging unverändert in die Nacht über, und als man es am wenigsten erwartete, gab die dichte Wolkendecke plötzlich einen Stern frei, dann zwei, dann ein ganzes Sternbild.

Es war vorüber. Das Gewitter beruhigte sich so schnell, wie es gekommen war.

»Positionsbestimmung!«, schrie Admiral Dorec.

Peupel, der Navigator, kletterte in den Ausguck an der Spitze des Großmasts und rief die überraschende Antwort herab:

»Land in Sicht!«

»Ist es Khyriol, Admiral?«, fragte Prinz Tibald, der sich das tropfnasse blonde Haar aus dem Gesicht strich.

Admiral Dorec gab die Frage an den Mann im Ausguck weiter.

»Ist es Khyriol, Peupel?«

Der Navigator stützte dort oben seine Ellbogen auf den Mastkorb, um das Gleichgewicht zu bewahren, und erforschte das Stück Himmel mithilfe seines Kompasses. »Ja, Admiral!«

»Hm«, machte Dorec.

»Schon Khyriol?«, ertönte eine wohlklingende Stimme hinter ihnen.

Es war Willem Schöne, der Steuermann, der mit hochgekrempelten Ärmeln auf sie zukam. Ihm war die vergangene Anspannung noch anzusehen, doch seine dunklen Augen funkelten wie eh und je. Sein kurz geschorenes graues Haar bildete einen auffälligen Kontrast zu seinem jungen, sonnengebräunten Gesicht.

»Hm«, machte der Admiral wieder.

»Großartig«, freute sich Tibald, »so können wir bei Tagesanbruch im Hafen sein.«

Er hatte der Mannschaft einen wohlverdienten Landgang versprochen und das Gewitter verflucht, das sie aufzuhalten drohte.

»O nein, mein Prinz«, widersprach Admiral Dorec. »Wir werfen sofort den Anker.«

»Aber Admiral …«, begann Willem Schöne, der sich müde die Augen rieb.

Admiral Dorec bedachte ihn mit einem strengen Blick. Er pfiff seinen Steuermann so oft wie möglich zurück, weil er ihn beneidete. Willem war jemand, dem alles gelang. Seine klangvolle Stimme verlieh ihm Autorität, sein gerechtes und großzügiges Urteil flößte jedermann Respekt ein: Ehe man sich’s versah, würde er noch Kapitän werden. Es boten sich nur selten Anlässe, ihn zurechtzuweisen, und die kostete der Admiral genüsslich aus.

»Was der Navigator gesehen hat, Willem Schöne, war ein Leuchtturm«, erklärte er herablassend und formte seine Hände zu einem Trichter: »Nicht wahr, Peupel? Ein Leuchtturm?«

»Mehrere Leuchttürme, Admiral«, bestätigte der Navigator. »Ein regelrechter Leitweg.«

»Genau, wie ich dachte. Komm herunter, Peupel.«

Dorec wandte sich an zwei Männer, die gerade vorüberkamen.

»Felix! Ovid! Den Anker werfen, sofort!«

Der riesige Rudergänger und der dicke Schiffsküfer gehorchten, ohne zu murren.

»Ich verstehe immer noch nicht, Admiral …«, sagte Tibald.

»Ach, viele fallen darauf herein, Hoheit. Es ist eine perfekte Täuschung. Man legt niemals nachts in Khyriol an. Niemals. Nicht, wenn einem an seinem Schiff gelegen ist. An der Mannschaft. An der Fracht.«

»Was für eine Täuschung denn? Ein Leuchtturm ist ein Leuchtturm, oder etwa nicht?«

»Nicht, wenn er im Landesinneren steht, Hoheit.«

»Im Landesinneren!«, rief der Steuermann, was ihm einen weiteren tadelnden Blick einbrachte.

»Es ist eine allseits bekannte Tatsache, Willem Schöne. Die Schiffe, die sich von Khyriols Leuchttürmen leiten lassen, laufen unweigerlich nahe dem Ufer auf Grund. Ganz gleich, ob Ebbe oder Flut herrscht. Selbstverständlich eilt man ihnen sofort zu Hilfe, und wie gerne! Backbords hilft man der Besatzung an Land, und steuerbords leert man derweil den Frachtraum. Pah, das ist Piratenpack, das sich nicht einmal die Mühe macht, in See zu stechen! Ich hasse Khyriol.«

»Nun, dies habt Ihr schon hundertmal erwähnt«, bemerkte Tibald.

»Tausendmal«, bekräftigte Willem.

»Und ich scheue mich nicht, es ein weiteres Mal zu sagen. Ich hasse Khyriol.«

Ein langes Schweigen setzte ein, das nur vom Quietschen der Ankerkette begleitet wurde. Niemand ließ sich gern auf einen Streit mit Albert Dorec ein, jenem klein gewachsenen Mann, der sich »Admiral« nennen ließ, obwohl das Königreich Eckstein niemals eine Armee besessen hatte. Ein halbes Jahrhundert auf See hatte ihm die Gabe des richtigen Worts zur rechten Zeit verliehen und dazu einen Glatzkopf, auf dem sich der Ozean spiegelte. Eine missglückte Polarexpedition hatte ihn einst berühmt gemacht, bei der er, damals noch Matrose, die Mannschaft vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Als die Expedition nach Eckstein zurückkehrte, brachte sie zwei Bärenhäute, etwas Robbenfett, weniger Zehen, als es Seeleute gab, und nicht ein einziges Ohrläppchen mit, doch dem jungen Dorec war eine großartige Laufbahn beschieden.

Jetzt unterstand er dem direkten Befehl von König Alberich, der ihm die Sicherheit von Prinz Tibald anvertraut hatte. Dorec lag seine Aufgabe sehr am Herzen, und er widmete sich ihr nach Kräften. Soviel man wusste, hegte er nur eine einzige Schwäche, die er in einer Blechdose unter seiner Koje versteckte: Marzipanplätzchen aus seiner Heimatstadt. Und an die dachte er nun, als er das Schweigen brach:

»Alle Mann ab in die Heia, bis auf die Wache.«

Die Wache bestand aus Gruppen, die sich alle vier Stunden beim Schlag einer Glocke ablösten; die Nachtschicht war in der Regel die ruhigste. Die tropische Luft, feucht und schwer von Düften, umwaberte die Isabelle. Der weiße Fuchs, die Galionsfigur des Segelschiffs, hatte die Ohren aufgerichtet und streckte seine Schnauze in Fahrtrichtung. Nichts störte die nächtliche Ruhe, nur das Klappern der Seilrollen an den Masten und das Plätschern des Wassers gegen den Schiffsrumpf. Von Zeit zu Zeit pfiff einer.

Siebzehn Monate waren die Seefahrer nun schon unterwegs. Sie hatten allerlei exotisches Getier gesehen, wunderliche Pflanzen und magische Rituale. Im Frachtraum türmten sich Artefakte, Gesteinsproben und Mineralien. Doch in der Vorratskammer gab es nur noch Schiffskekse, die so trocken waren, dass man sie mit einem Hammer zerschlagen musste, und in den Trinkwasserfässern wimmelte es von fetten Würmern. Die Isabelle musste dringend ihre Vorräte auffüllen. Außerdem hatten sich alle einen Landbesuch verdient, nachdem sie Wochen um Wochen immer nur denselben flachen Horizont gesehen hatten – als einzige Zerstreuung eine Handvoll temperamentvoller Stürme, die die Mägen in Aufruhr versetzten und die Deckplanken mit Seepferdchen sprenkelten. Ein bisschen Festland würde allen guttun.

Khyriol also.

Admiral Dorec war entschieden dagegen. Khyriol war eine so malerische wie berüchtigte Insel. Auf der einen Seite saftige Mangos, Straßenakrobaten, bunte Fähnchen; auf der anderen finstere Gassen, Taschendiebe, Schmuggler. Man brauchte Humor, um diese Mischung zu schätzen, und dieser Humor ging ihm gänzlich ab.

Kurz vor dem Unwetter hatte Dorec wie jeden Mittwoch eine Partie Schach gegen Tibald begonnen, ganz im Sinne von König Alberich, dem daran gelegen war, dass sein Sohn »seinen Kopf zwischen den Schultern« behielt. Allerdings war der Admiral ein schlechter Spieler und ein noch schlechterer Verlierer. Und so war er kurz vor ihrem Zwischenhalt mürrischer denn je.

»Jemand sollte an Bord bleiben, mein Prinz«, wiederholte er vor jedem Zug. »Ich habe schon erlebt, wie in Khyriol Schiffe ausgeweidet wurden. Jemand sollte Wache halten.«

»Konzentriert Euch, Admiral. Ihr seid dran.«

»Einer sollte unbedingt den Klüver im Auge behalten, Hoheit«, fuhr Dorec fort, während er zerstreut einen Bauern umsetzte. »Das Marssegel, das Sturmsegel, die Stagfock.«

»Kurz gesagt, die Segel.«

»So ist es, Hoheit. Aber auch die Wanten, die Fallen, die Schote …«

»Mit anderen Worten, das Tauwerk.«

»Ganz richtig, mein Prinz, aber auch die Takelage ganz allgemein. Sämtliche Apparaturen, die zur Bedienung des Segelwerks …«

»Ich weiß, was eine Takelage ist, Admiral.«

»Ja, gewiss, Hoheit. Wie auch immer, ich habe nachgedacht und es ist beschlossene Sache: Ich bleibe an Bord.«

»Sehr schade«, sagte Tibald und musste im Stillen lächeln. »Ich werde Euch ein Souvenir mitbringen. Schachmatt, Admiral.«

Tatsächlich sollte Tibald weit mehr als ein Souvenir aus Khyriol mitbringen. Admiral Dorecs Sorgen hatten gerade erst begonnen.

2

Tibald war in seinen Kleidern zu Bett gegangen und hatte nicht einmal die Schuhe ausgezogen. Er war sofort in einen tiefen Schlummer gefallen. Im Schlaf wie im Wachzustand hatte er große Ähnlichkeit mit seiner Mutter, der Spitzenklöpplerin, die König Alberich so geliebt hatte: helle Augenbrauen, eine breite Stirn, ein Gesicht, das offen, ehrlich und freundlich war, ohne perfekt zu sein. Königin Luise war gestorben, als Tibald noch ein Kind war. Danach war sein Vater nicht mehr derselbe gewesen.

An Tibalds fünfzehntem Geburtstag hatte König Alberich ihm die Isabelle anvertraut, weil er spürte, dass sich sein Sohn in dem kleinen Königtum eingeengt fühlte. Und nun ging der schöne Dreimaster aus Weißeichenholz schon seit einigen Jahren in Eckstein nur noch vor Anker, um möglichst bald wieder abzulegen. In der See hatte der Prinz eine perfekte Gefährtin gefunden: Sie ließ ihn mit jedem Tag reifen, so wie Regentropfen nach und nach einen Felsen formen. Er wusste, wenn er erst einmal König war, würde er nicht mehr die Freiheit haben, den Erdball zu umsegeln. Dann würde er ganz für sein Volk da sein, diese zähen Bewohner eines rauen Landes, in dem noch die kleinste Runkelrübe einen Sieg über Wind und Gestein darstellte. Er würde ganz für seine Insel da sein, die berühmt war für ihre Künstler und ihre Goldschmiede und unter jedem König das Kunststück vollbracht hatte, in einer Welt voller Kriege neutral zu bleiben.

Tibald nutzte also seine jungen Jahre, um zu reisen, aber insgeheim strebte er noch aus einem weniger hehren Grund immer wieder in die Ferne: Die Atmosphäre im Schloss bedrückte ihn. Er hatte das dunkle Gefühl, dass die im Lauf der Jahrhunderte gefestigte Harmonie in allernächster Zeit umschlagen könnte. Etwas versetzte ihn in Unruhe. Er wusste selbst nicht, was es war, wollte es auch gar nicht so genau wissen. Statt darüber zu reden oder darüber nachzugrübeln, setzte er lieber die Segel und brach in immer fernere Regionen auf. Diesmal war er unter dem Vorwand losgesegelt, die Kartierung der Tropen zu verfeinern und ihre geologischen Gegebenheiten zu erforschen. Es war seine bislang kühnste Reise und – ohne dass er es wusste – auch seine letzte.

Am Morgen nach dem Gewittersturm holte der Gedanke an Khyriol ihn schon früh aus dem Schlaf. Er brauchte einen Moment, um seine schweren Lider zu heben, aber was er dann sah, verblüffte ihn so sehr, dass er die Augen weit aufriss und beinahe aus seiner Schlafkoje gefallen wäre. Rings um ihn erstrahlte jeder Gegenstand in einer Art kosmischem Leuchten. Die Laterne, die große Truhe aus Zedernholz, die dicken Nägel in der Tür, die Lupe, der lederne Trinkschlauch, die Knöpfe seines am Haken hängenden Mantels, auch der Haken selbst: Alles war durchscheinend wie Kristall. Die geschnitzten Vogelflügel in der Wandvertäfelung schienen kurz davor, sich zu öffnen. Noch nie hatte Tibald etwas Schöneres gesehen. Ein so großes Glücksgefühl erfasste ihn, dass es beinahe schmerzte.

Er stützte sich auf seinen Ellbogen und schüttelte den Kopf. Plötzlich verschwand das seltsame Phänomen. Alles wurde wieder normal, undurchsichtig, kompakt und gewöhnlich. Die Möbel waren an der Wand befestigt, die geschnitzten Flügel lagen wieder gefaltet im Eichenholz. Die Kissen hatten abgescheuerte Bezüge, auf dem Tisch blätterte an der Stelle, wo der Prinz immer seine Handgelenke ablegte, der Lack ab, der Mantel hatte die üblichen Ölflecken und der runde Türrahmen war wie immer zu niedrig. Hatte er geträumt? Es musste wohl so sein. Tibald stand auf, zog seinen Gürtel zurecht und wusch sich das Gesicht. Heute also Khyriol.

Um sich für den Landgang herauszuputzen, waren sich die Seemänner mit dem Läusekamm durchs Haar gefahren und hatten ihre Matrosenjoppe angezogen, eine Uniformjacke, die sie irgendwie sauber zu halten schafften. Einige waren ins Schiffslazarett gegangen, wo sich der Chirurg heute als Barbier befleißigte, mit sehr unterschiedlichen Resultaten. Doch ob die Männer nun hübscher oder hässlicher herauskamen – als sie erst einmal an Land waren, konnte ihnen nichts mehr die Laune verderben.

Den Hafen im Rücken stiegen sie ein Gewirr aus Treppen hinauf, neben denen sich gelbe Häuser übereinanderschachtelten. Oben angekommen, öffnete sich vor ihnen ein großer Platz, wo ihnen Düfte von Gebratenem, frischem Brot und süßem Karamell in die Nase drangen. Das Kopfsteinpflaster wellte sich über dem Wurzelwerk lampiongeschmückter Platanen. Jongleure, Puppenspieler, Amulettverkäufer und Wahrsagerinnen drängten sich in einem großen bunten Durcheinander, das leicht und fröhlich anmutete.

Die meisten Matrosen der Isabelle wollten den Geburtstag des jüngsten Schiffsjungen zum Anlass nehmen, ordentlich zu feiern. Der Junge, der den Spitznamen »Hänfling« erhalten hatte, hatte beim Anheuern über sein wahres Alter gelogen, um mit auf Fahrt gehen zu dürfen. Nun war er dreizehn Jahre alt geworden, womit seine Tätigkeit auf dem Schiff endlich legal wurde. Tibald, der unsicher war, ob eine krachende Feier ebenso legal sei, schloss sich lieber einem kleinen Grüppchen an, das aus dem Smutje, dem Chirurgen und den beiden Rudergängern Felix und Bugspriet bestand.

Felix und Bugspriet waren denkbar unterschiedliche Brüder. Sie stammten aus einer Familie, in der der Beruf des Rudergängers von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Bugspriet (benannt nach dem gleichnamigen Mast) war klein und muskulös, hatte O-Beine und war eine ausgesprochene Spielernatur. Felix, der ihn um mindestens drei Köpfe überragte, war ein fescher Kerl, auf sein Äußeres bedacht, und wechselte im Unterschied zu den anderen regelmäßig sein Hemd. Im Grunde war er ein Mädchen in der Gestalt eines Hünen. An diesem Vormittag hätte er seine Begleiter am liebsten zu dem Verkaufsstand mit exotischem Schmuck hinübergezogen, aber er wagte nicht, darauf zu bestehen. Sein Bruder Bugspriet ermahnte ihn sowieso schon dauernd, er solle sich zurückhalten. Der Smutje, der ihnen wochenlang mit dem berühmten Khyrioler Eintopf in den Ohren gelegen hatte, wollte unbedingt in eine Schenke einkehren. Schon auf dem Weg hatten sie die Arme voller riesiger Weintrauben und entsprechend klebrige Hände.

Sie kamen an zwei Tischen von öffentlichen Schreibern vorbei.

»Oh, là, là! Was für eine Haarpracht …«, seufzte Felix mit Blick auf die junge Frau, die mit tintenverschmierten Fingern über einen Brief gebeugt saß, den ihr eine ältere Dame diktierte.

Am Nebentisch arbeitete ein dicker Mann mit einer kleinen grünen Meerkatze auf der Schulter. Er redete lautstark auf seinen Kunden ein, der ihm eingeschüchtert gegenübersaß. Mitten in seiner Suada schnalzte der Dicke unauffällig mit der Zunge, woraufhin sein Affe unter den Tisch flitzte, um heimlich nach der Geldbörse des Kunden zu fummeln.

Ein Dieb.

Tibald konnte Diebe nicht leiden. Deshalb ließ er eine große grüne Traube neben dem Äffchen fallen, das dieser Verlockung nicht widerstehen konnte. Es rannte der über das Pflaster rollenden Beere nach. Sein Herr rief es laut schreiend zurück, doch Tibald lockte es Traube um Traube vom Tisch des Schreibers weg, wobei er sämtliche Beeren abzupfte. Der Schreiber sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umfiel.

»He, Ihr da, der große Blonde!«, rief er im Dialekt der Insel.

Der Prinz tat, als würde er ihn nicht hören, und drückte mit harmloser Miene die Tür zur Schenke auf. Während sich seine Begleiter riesige Eintopfportionen kommen ließen, beobachtete er interessiert eine Runde von Männern, die in der Nähe des Tresens leidenschaftlich Karten spielten. Nur ihm fiel das Kreuzass auf, das ein Spieler heimlich aus seinem Ärmel zog.

Ein Falschspieler.

Tibald konnte Falschspieler nicht leiden. Ohne lange nachzudenken, versetzte er dem Chirurgen einen Rempler, worauf dieser seinen dampfenden Eintopf über den Tisch ergoss. Die bespritzten Kartenspieler fluchten laut und sprangen wie zuvor der Schreiber von ihren Stühlen auf, die polternd umfielen. Prinz, Chirurg und Rudergänger eilten schnell wieder zur Tür hinaus. Der Smutje umklammerte noch einen Augenblick seine dampfende Schüssel, bis ihm bewusst wurde, dass es lebensgefährlich werden könnte, noch länger in der Schenke zu verweilen. Frustriert suchte er ebenfalls das Weite.

Nach diesem Muster verlief der ganze Vormittag. Sicher, es gab da die Gaukler, die Schokoladenbrunnen, die Paradiesvögel und die Blütenketten, doch Tibald sah überall nur Diebe, Betrüger und Schwindler. Ständig mischte er sich in fremde Angelegenheiten ein, er konnte es einfach nicht lassen. In einer Stadt, in der die Bewohner ihr Geld mit Gesetzesbruch verdienten, brachte er alle gegen sich auf. Seine Begleiter blickten nervös hinter sich und suchten bereits nach einem Vorwand, um zum Schiff zurückzukehren. Als der Prinz auch noch bei einer Straßenschlägerei dazwischengehen wollte, verlor Felix die Geduld.

»Bei allem Respekt, Hoheit, Ihr erlaubt?«

Er schob ihn eilig in Richtung Hafen, wobei er ihn fast vom Boden hob. Hinter ihnen erklangen wütende Stimmen. Gegnerische Banden hatten sich zusammengeschlossen, um ihnen nachzufolgen, und der Chirurg, von dem bereits der Eintopf herabtropfte, bekam noch eine Ladung Tomaten ab. Während Felix den Prinzen sicher an Bord brachte, verteilten sich die anderen über die Stadt, um den Rest der Mannschaft zusammenzutrommeln. Und so fanden sich alle viel früher als geplant wieder auf der Isabelle ein, als man dort noch dabei war, frische Waren zu verladen.

Tibald zog sich in die Offiziersmesse zurück – so hieß der Raum neben seiner Kajüte, in dem die Expedition geplant und vertrauliche Gespräche geführt wurden – und sank verdrossen in den schönen, aber recht unbequemen Ebenholzsessel, in dem er in den vergangenen siebzehn Monaten alle wichtigen Entscheidungen getroffen hatte.

Sogleich tauchte Admiral Dorec auf.

»Ihr seid ja schon wieder zurück, Hoheit. Und obendrein außer Atem …«, bemerkte er im Hereinkommen.

»Khyriol ist eine anstrengende Insel, Dorec. Sie zeigt einem sowohl ihre schöne als auch ihre hässliche Seite.«

»Es ist ein übles Eiland, mein Prinz, Schluss aus. Das völlige Gegenteil von Eckstein.«

Tibald stützte seine Ellbogen auf den langen Tisch, in dessen Schubladen allerlei Navigationsgeräte und Seekarten untergebracht waren.

»Auch Eckstein hat seine hässliche Seite …«, seufzte er.

Damit spielte er auf ein großes Tabu an, einen wunden Punkt, der jedem bekannt und keinem begreiflich war. Statt zu antworten, klopfte der Admiral auf einer der Sanduhren an der Wand herum, als könnte die unangenehme Minute so schneller vorüber- gehen.

»Wir müssen den Anker lichten«, erklärte Tibald.

»Jetzt? Aber nein. Unmöglich, Hoheit.«

Dorec ließ sich auf der Sitzbank nieder.

»Die Trinkwasservorräte sind noch nicht aufgefüllt. Außerdem geht nicht die geringste Brise. Da ist nicht mehr Wind als ein Fliegenfurz. Allenfalls der Furz einer Mücke. Vielleicht ein Läusefurz. Ein …«

Steuermann Willem Schöne steckte seinen Kopf durch die Tür:

»Alle sind abfahrbereit. Wir lichten den Anker.«

»Aber …«, protestierte der Admiral.

»Die ganze Stadt ist hinter dem Prinzen her«, erklärte Willem und deutete mit dem Kinn zum Hafen hinüber.

Der Admiral wandte sich zu dem großen Fenster um, das aus kleinen Rautenscheiben zusammengesetzt war, und sah, dass sich eine große Menschenmenge auf dem Kai versammelt hatte. Er eilte an Deck, um das Kommando zu übernehmen, musste aber feststellen, dass der Steuermann bereits den Befehl zum Segelhissen gegeben hatte. Die Laufplanke, die das Schiff mit dem Festland verband, hatte man gerade noch rechtzeitig eingezogen.

Es war ein mühseliges Ablegen. Ovid, der Küfer, der alles, was ihm unter die Finger kam, mit einem Seemannsknoten versah, beschwerte sich, er habe weder die Waren sicher verstauen noch die Fässer im Frachtraum so verteilen können, dass das Gleichgewicht des Schiffes gewährleistet sei. Er klagte darüber, dass sie zu wenig Frischwasser hätten und man folglich den Rest der Ekelbrühe trinken müsse, die schon seit Monaten vor sich hin modere.

Die anderen Landgänger hatten zu viel intus. Sie torkelten von Backbord nach Steuerbord, sangen in schiefen Tönen und friemelten an den Tauen herum, ohne recht zu wissen, was sie damit anfangen sollten. Die Luken, durch die man die neuen Vorräte vom Hauptdeck zum Zwischendeck und vom Zwischendeck in den Frachtraum befördert hatte, standen noch offen; in eine fiel ein Toppsgast hinein und brach sich das Handgelenk. Die Isabelle musste wegen des fehlenden Windes lavieren. In großen Zickzacklinien entfernte sie sich in Richtung Horizont, als wäre auch sie betrunken.

Erst gegen Mitternacht nahm sie endlich Fahrt auf. Die wenigen nüchtern gebliebenen Matrosen wurden der Nachtwache zugeteilt. Die anderen hauten sich im Zwischendeck aufs Ohr, ohne sich erst die Mühe zu machen, ihre Hängematten vom Haken zu nehmen und ihre Mäntel zu einem Kopfkissen zusammenzurollen.

Niemand hatte den blinden Passagier bemerkt.

3

Ein Hämmern riss Tibald in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf. Jemand klopfte ausdauernd mit kurzen, präzisen Schlägen gegen die Tür: ganz sicher der Admiral.

Und tatsächlich war es Albert Dorec, der verlegen stammelte:

»Hoheit, es scheint, dass sich … tja … dass sich ein Problem ergeben hat.«

»Ein Problem?«

»Offenbar ist … nun ja … etwas Unerwünschtes an Bord gelangt, mein Prinz.«

Ganz untypisch für ihn blickte der Admiral zu den Deckenbalken, als wagte er nicht, den Prinzen anzusehen.

»Etwas Unerwünschtes? Erklärt Euch genauer, Dorec. Ein Pirat? Eine Seuche? Schon wieder Läuse? Mehlmotten?«

»Eine Frau, Hoheit.«

»Wie bitte?«

»Ich dachte erst, es handele sich um einen Knaben, aber tatsächlich ist es … ähm … ein Frauenzimmer, Hoheit. Ein junges Frauenzimmer mit dunkler Haut.«

Dorec starrte immer noch an die Decke. Tibald kratzte sein zerzaustes Haar.

»Na, so was. Wie ist sie denn an Bord gekommen?«

»Wir vermuten, sie ist geschwommen, Hoheit, und … hat sich dann an einem Tau hochgezogen … das ins Wasser hing.«

»Ein Tau, das ins Wasser hing? Ein Tau hing ins Wasser? Seht mich an, Dorec! Wer hat denn ein Tau im Wasser hängen lassen?«

»Wenn ich das nur wüsste, mein Prinz«, seufzte der Admiral und blickte ihm für einen winzigen Moment in die Augen. »Wir waren mit der Warenaufnahme beschäftigt, als …«

»Schon gut.«

»Wie meinen, Hoheit?«

»Es ist gut. Was will sie?«

»Sie sagt nichts, Hoheit. Sie versteht unsere Sprache nicht. Aber wir haben dies hier gefunden.«

Der Admiral ließ mit angewiderter Miene einen alten Beutel aus Wildleder in die Hand des Prinzen gleiten. Der Beutel enthielt Münzen aus drei verschiedenen Königreichen, darunter Khyriol, außerdem ein Medaillon mit dem Bildnis eines kleinen Mädchens.

»Bringt sie zu mir«, sagte Tibald.

Dorec ließ eine sehr junge Frau mit kurzem Haar und großen grünen Augen eintreten, die einen dunklen Mischlingsteint hatte. Ihre noch nassen Jungenkleider hingen an ihrem zierlichen Körper wie an einer Wäscheleine. Anders als der Admiral zeigte sie keine Scheu, den Prinzen anzusehen, während er sie musterte. Sie hatte ein selbstbewusstes Gesicht, eine hohe runde Stirn und einen so herausfordernden Blick, dass Tibald das Gefühl hatte, sie wisse schon alles über ihn. Fast hätte er den Blick vor ihr gesenkt.

»Dein Name?«

»Ich heiße Ema Beatriz Ejea Casarei«, antwortete sie ohne zu zögern.

Tibald sah zum Admiral hinüber, der die Lippen zusammenkniff. Dass die junge Frau plötzlich in der Sprache des Nordens redete, ärgerte ihn erheblich.

»Dein Akzent ist mir nicht vertraut«, meinte Tibald. »Woher kommst du?«

»Ich verstehe sieben Sprachen. Drei davon spreche ich gut, vier nur leidlich.«

»Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.«

»Nein.«

Tibald beharrte nicht weiter darauf. Er war der Überzeugung, dass aufrichtige Geständnisse freiwillig kommen mussten. So eine Einstellung konnte man sich freilich nur als ehrbarer Mann eines gerechten Königreichs leisten.

»Was tust du hier auf dem Schiff?«

»Ich suche Arbeit.«

»Hast du schon mal auf einem Schiff gearbeitet?«

Jetzt mischte sich der Admiral ein:

»Mein Prinz! Wollt Ihr sie etwa anheuern? Ihr werdet doch wohl nicht …«

»Ich lerne schnell«, unterbrach ihn die junge Frau.

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Tibald. »Bist du vor jemandem auf der Flucht? Oder vor etwas?«

»Ich fliehe aus einer Stadt, in der nur Betrüger ihr Brot verdienen.«

»Hm. Und wer sagt dir, dass wir besser sind?«

»Ein kleiner Affe hat es mir gesagt. Und auch von einem Eintopf habe ich gehört.«

»Ein kleiner Aff…?« Tibald unterbrach sich. »Zeige mir deine Hände.«

Sie zeigte ihre Hände vor. Die Innenflächen waren vom Tau des Lademasts aufgeschürft, die Finger tintenverschmiert.

»Ich war mir sicher, dass ich dich schon irgendwo gesehen hatte«, murmelte er.

Ohne die lange Lockenpracht, die Felix so bewundert hatte, war die Schreiberin fast nicht wiederzuerkennen. Tibald versank in ein langes Schweigen, bevor er einen Entschluss fasste:

»Admiral Dorec wird dich in die Obhut von Willem Schöne geben, seinem Steuermann.«

»Hoheit, da muss ich protestieren!«, protestierte der Admiral, dessen Augen von links nach rechts irrten. In seiner Panik überlegte er bereits fieberhaft, wie er diese Angelegenheit vor König Alberich geheim halten konnte.

»Und warum?«

»Aber mein Prinz, wir können diese … Casarei unmöglich hierbehalten! Ihr wisst doch, wie abergläubisch Seeleute sind. Ein Weib an Bord treibt das Glück hinfort. Es bedeutet pu-res Un-glück!«

»Seeleute lassen sich aus Aberglauben auch den Bart bis zum Boden wachsen und kaufen sich völlig überteuerte Amulette. Findet Ihr das etwa vernünftig, Admiral?«

»Vernünftig nicht, Hoheit, aber man muss die Männer bei Laune halten, wenn man will, dass das Schiff fährt.«

»Dann sollen sie eben so tun, als wäre sie ein Junge.«

»So tun, so tun … Das sagt sich so leicht, Hoheit …«

Admiral Dorec war nicht zu beruhigen. Zu oft schon hatte ihn der Prinz in Schlamassel hineingeritten. Er respektierte ihn als Prinzen, konnte ihn sich aber nur schwer als König vorstellen. Doch wieder einmal fand Tibald ein Argument, um sich durchzusetzen:

»Wägt einmal unsere Optionen ab, Admiral. Entweder wir fahren nach Khyriol zurück, wo man uns ordentlich rupfen wird, oder wir werfen die Casarei, wie Ihr sie so ungalant nennt, ins Meer. Mir wäre lieber, sie bleibt vorerst an Bord.«

Der Admiral antwortete nicht. Er hatte wieder begonnen, die Decke anzustarren. Von allen Situationen, in die der Prinz ihn gebracht hatte, war dies bei Weitem die heikelste. Tibald wandte sich der jungen Fremden zu, die ihnen mit gleichgültiger Miene zugehört hatte, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

»Kannst du arbeiten wie ein Junge?«

»Ja, das kann ich.«

»Gut, dann wäre das geregelt. Admiral, bringt sie zum Steuermann. Er soll ihr einen Platz am Matrosentisch zuweisen, trockene Kleidung geben und eine Hängematte für sie ausfindig machen. Sie soll einen Krug und eine Schüssel mit ihren eingravierten Initialen bekommen. Und etwas wie eine Truhe, wo sie ihre Sachen hineintun kann. Vielleicht ein Fass? Und schließlich soll er ihr eine Arbeit zuteilen. Kurz gesagt: Er soll einen Matrosen aus ihr machen.«

»Aber …«

»Beruhigt Euch, Dorec. Und lasst es weitersagen: Wer immer den neuen Schiffsjungen belästigt, muss mit Konsequenzen rechnen.«

Eine halbe Stunde später trug die junge Frau Matrosenkleider, die an ihr flatterten wie ein zu schlaffes Segel im Südwestwind: eine wadenlange Hose, von einem Seil in der Taille festgehalten, ein bauschiges Hemd mit abgenutzten Bändeln und um den Kopf ein ausgeblichenes Tuch zum Schutz vor der Sonne. Unter dem Hemd trug sie noch immer den festen Verband, mit dem sie ihre Brust umwickelt hatte, um sich als Junge auszugeben. Es wirkte täuschend echt.

Anders als alle erwarteten, wurde sie nicht seekrank. Und auf den schmalen Treppenstufen, die so steil waren, dass man sie rückwärts hinabsteigen musste, bewegte sie sich so geschickt, als hätte sie nie etwas anderes getan. Rudergänger Bugspriet ließ sie sogar bis hoch in den Ausguck klettern. Lange hielt sie sich dort an der Spitze des Großmasts auf und erforschte mit zufriedener Miene den Horizont: Khyriol war endlich verschwunden.

Den Rest des Tages hörte sie sich nickend die Arbeitsanweisungen an und machte sich ans Werk wie eine eifrige Schülerin. Ihre Handbewegungen waren präzise, von katzenartiger Langsamkeit. Die Männer stolzierten wichtigtuerisch vor ihr herum, und selbst die einfachsten Matrosen spielten sich vor ihr auf. Dorec schützte eine Migräne vor und zog sich schmollend in seine Kajüte zurück.

Gegen Abend begann Tibald, in der engen Offiziersmesse auf und ab zu gehen, wie jedes Mal, wenn er sich Sorgen machte. Der Admiral hatte recht: Die Anwesenheit der neuen Passagierin barg gewisse Risiken. Sogar Rudergänger Felix hatte es zu Beginn der Expedition schwer gehabt, sich auf dem Schiff zu behaupten. Trotz seiner imposanten Statur hatten die anderen sich ständig über ihn lustig gemacht. »Mädel« hier, »Mädel« dort. Bugspriet, sein eigener Bruder, schämte sich dafür, denselben Nachnamen zu tragen wie er. Doch eines Tages, als sie sich in einem Sumpfgebiet befanden, wo das Beiboot im Schlamm stecken geblieben war, hatte Felix mit bloßen Händen ein Krokodil erwürgt, als das Tier gerade in Hänflings Arm beißen wollte, der es für eine Schildkröte gehalten hatte. Damit hatte sich der Rudergänger den Respekt und die Dankbarkeit der ganzen Mannschaft erworben, ganz zu schweigen von der völligen Ergebenheit des Schiffsjungen. Und seither machte niemand mehr einen Kommentar zu Felix’ Haartüchern, seinen Muschelarmbändern oder den verzierten Gravuren auf seinem Geschirr.

Das Mischlingsmädchen schien sich ganz gut zu bewähren, doch als Krokodilbezwingerin konnte Tibald sie sich eher nicht vorstellen. Auch würde sie niemals wie Felix ein volles Fass auf ihrer Schulter transportieren, mit bloßen Händen ein Seil durchtrennen oder mit einem betrunkenen Seemann unter jedem Arm aus einer Taverne zurückkommen. Da Tibald sie aber natürlich nicht den Haien zum Fraß vorwerfen konnte, würde er sie in Siries, dem nächsten Etappenhalt, absetzen. Letztlich stahl sich niemand als blinder Passagier auf ein Schiff, um eine Vergnügungsreise zu unternehmen; wenn sie sich an Bord geschlichen hatte, dann weil sie keine andere Wahl hatte. Also konnte man ihr ebenso gut einen kleinen Gefallen tun.

Der Prinz drehte und wendete das Medaillon in seinen Fingern. Er klappte es auf, und der trotzige Gesichtsausdruck des kleinen Mädchens tauchte auf. Er klappte es wieder zu, öffnete es erneut. Er kam zu dem Schluss, dass er keinen Grund hatte, Emas persönliche Dinge zu behalten, und ließ ausrichten, sie solle sie abholen kommen.

Sie erschien mit leuchtenden Wangen, wie nach einem Ferientag auf dem Lande.

»Hoheit, Ihr wolltet mich sehen?«, fragte sie und verbeugte sich einigermaßen tief.

Offensichtlich hatte ihr jemand Benimmunterricht erteilt.

»Ich wollte dir deine Sachen zurückgeben.«

Tibald hätte sie gerne gebeten, sich zu setzen, weil sie seine Neugier weckte, doch nur der Admiral und sein Steuermann pflegten in der Messe Platz zu nehmen. Also sprach er vom anderen Ende des Tisches zu ihr.

»Darf ich fragen, wer das Kind in dem Medaillon ist?«

»Meine Schwester, Hoheit. Meine kleine Schwester. Unsere Eltern sind tot, sie ist meine einzige Familie.«

»Und aus welchem Land kommt ihr genau?«

Sie sah ihn einen Moment prüfend an. Er hatte ein freundliches Gesicht, ein nettes Lächeln, in seinen blauen Augen lag ein belustigtes Funkeln, aber auch ein Schatten wie eine alte Traurigkeit. Dies alles sprach für ihn, doch Ema schenkte niemals dem Nächstbesten ihr Vertrauen.

»Wie Ihr wisst, Hoheit, bin ich in Khyriol an Bord gekommen.«

»Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.«

»Nein, Hoheit.«

»Gut, sei’s drum. Wo ist deine Schwester?«

»Verschleppt, Hoheit. Sie wurde von Männern entführt. Sie haben sie nach Norden mitgenommen.«

»So? Wir fahren auch nach Norden, weißt du.«

Das war die Kursrichtung nach Eckstein, und Tibald gedachte, so lange wie möglich auf dem offenen Meer zu segeln, um Höflichkeitsbesuche bei den Herrschern der Nördlichen Gebiete zu vermeiden, denn ihm graute es vor vornehmen Empfängen. Doch musste er wohl oder übel vier Zwischenhalte einlegen: in Siries, in Lamotting, in Greiland und Basilis, Königtümer, die wie Perlen einer Kette an derselben Küste lagen. Bei der letzten Reise hatte er sie vernachlässigt, woraufhin König Alberich ihm beinahe die neuerliche Expedition verweigert hätte.

»Im Norden bleiben Menschen aus dem Süden nicht unbemerkt«, fuhr Tibald fort. »Sollten sie den Äquator überquert haben, stoßen wir vielleicht auf eine Spur von deiner Schwester …«

»Das wäre mein innigster Wunsch, Hoheit.«

Vor Tibald tat sich eine Möglichkeit auf, wie er den Pflichtbesuchen an der Küste doch noch etwas abgewinnen konnte. Er würde die kundigsten Leute befragen und sich so bei den öden Festempfängen weniger langweilen. Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee.

»Nach Norden …«, grübelte er. »Nichts Genaueres? Gibt es noch andere Hinweise?«

»Sie sprachen die gleiche Sprache wie Ihr, Hoheit.«

»Hm. Das ist ein Anfang.«

»Sie hatten auch ein sehr schönes Schiff, Hoheit.«

»Ein schönes Schiff … Also schließe ich die Inneren Gebiete aus. Und auch das Königreich Kosta, dessen klapprige Schoner einer nach dem anderen absaufen.«

Tibald entfaltete eine große Seekarte und begann sie zu studieren. In einer Gewohnheitsgeste, die nichts mit Läusen zu tun hatte, kratzte er sich nachdenklich im Nacken.

»Sonst keine Anhaltspunkte?«

»Nein, Hoheit.«

»Und du glaubst wirklich, dass sie den Äquator passiert haben?«

»Ja, Hoheit.«

Ema legte eine Hand auf ihr Herz, was ihn schließlich überzeugte. Doch dabei glitt ihr zu weiter Ärmel zurück und offenbarte dunkle Male rund um ihr Handgelenk. Der Prinz setzte schon zu einer weiteren Frage an, wagte dann aber nicht, sie zu stellen.

»Bis zu den Nördlichen Gebieten ist es noch eine recht lange Strecke«, sagte er stattdessen. »Zwei Monate, vielleicht mehr.«

»Ja, Hoheit. Ich werde so hart wie möglich arbeiten, um die Fahrt zu entgelten.«

»Gut, sehr gut. Geh dich jetzt ausruhen.«

Sie verbeugte sich und ging hinaus. Eine ganze Weile blickte er auf die geschlossene Tür. Völlig grundlos musste er an das seltsame kristallene Leuchten zurückdenken. Später konnte er lange nicht einschlafen.

4

Die Isabelle war eine in sich geschlossene Welt, in der jeder und jedes seinen Platz kannte, sogar die Trinkbecher und die Seilrollen. Welcher Tätigkeit die Männer auch nachgingen, sie gehorchten ihrem Vorgesetzten; ihr Vorgesetzter gehorchte dem Admiral; der Admiral gehorchte dem Wind und den Wellen. Sie alle hatten vergessen, was Bequemlichkeit war. Die Decken der Räume waren zu niedrig, die Masten zu hoch, die Hängematten feucht. Die Läuse erforderten einen stetigen und aussichtslosen Kampf. Das Zwischendeck stank nach Algen, Fisch und verschwitzten Achseln. An warmen Tagen war es dort drückend heiß, an kalten eisig. Der blaue Himmel war nur ein Aufschub bis zum nächsten Unwetter. Das Leben war hart, anstrengend und manchmal Furcht einflößend.

Trotzdem gaben sich die Männer damit zufrieden. Ein bisschen so, wie man einen alten Strumpf lieb gewonnen hat, fanden sie das Schiff heimelig, seinen Gestank beruhigend, sein hölzernes Gerippe gemütlich. Sie wussten, wie sie sich zu bewegen hatten, wie sie zu reden hatten und wann es zu schweigen galt. Vor allem aber achteten und verehrten sie die See, ihre Kraft, ihre unendliche Weite und Tiefe. Sie schenkte ihnen Nahrung, neue Horizonte und grenzenlosen Schrecken: eine wahre Göttin.

Doch bei aller Liebe zur See kamen ihnen die Tage unter den tropischen Temperaturen endlos vor. Völlig ermattet lungerten sie mit nacktem Oberkörper in der Hitze herum und versuchten, die Zeit mit Kartenspielen oder Würfeln totzuschlagen. Manchmal holte Lukas, der Krankenpfleger, seine Gitarre hervor. Die einträchtige Stimmung hielt jedoch nie lange an: Aus dem einen oder anderen Grund, wohl zuallererst aus Langeweile, lief die Sache jedes Mal aus dem Ruder.

»Schnauze, du Seegurke.«

»Wer, ich? Blöde Fischfresse.«

»Wer, ich? Du Hundsfett!«

»Das heißt Hundsfott, Idiot.«

»Sag ich eben fetter Hundsfott!«

Irgendwann kam dann Tibald an und klatschte in die Hände.

»So! Alle der Größe nach aufstellen!«

Sie wussten, was sie nun erwartete: eine Unterrichtsstunde in Kampfkünsten. Es war die bevorzugte Maßnahme des Prinzen, um die langen Nachmittage auf intelligente Weise zu nutzen. Er hatte seine Kenntnisse aus einem fernöstlichen Handbuch, das er auf einem Basar erstanden hatte, und war darin recht gewieft. Sobald sich die Männer in einer Reihe aufgestellt hatten, führte er an jedem Einzelnen die Techniken vor. Anfangs hatten sich die Männer immer schon zu Boden geworfen, bevor er sie überhaupt angefasst hatte.

»Ein bisschen mehr Zack, liebe Leute! Was seid ihr denn so schlaff?«

»Aber Prinz, Ihr seid doch Prinz, was sollen wir denn tun?«, beklagte sich der Wäscher.

Und der Smutje fragte: »Sollen wir Euch eins mit der Faust aufs Maul geben, Hoheit, oder mehr so Tranfunzeln sein? Was ist Euch lieber?«

»Wohl besser Tranfunzeln …«, meinte ein Toppsgast.

»Ihr habt wirklich gar nichts verstanden!«, sagte Tibald ungeduldig.

»Dabei hat der Prinz es euch doch schon hundertmal erklärt«, mischte sich Willem Schöne ein. »Man muss die Kraft des Gegners gegen ihn wenden. Ohne diese Kraft gibt es keinen Griff. Und ohne Griff keine Kampfkunst. Und ohne Kampfkunst lasse ich euch das Deck schrubben.«

Nun, das war eine klare Ansage: Alles war besser, als das Deck zu schrubben.

Mit der Zeit hatten die Männer Muskelmasse aufgebaut. Sie hatten sogar Wetten abgeschlossen, wer von ihnen den Prinzen als Erster aufs Kreuz legen würde. Als Favoriten galten der Rudergänger Felix (wegen der Sache mit dem Krokodil) und der Küfer Ovid (der seinen eigenen Fässern ähnelte). In Wahrheit war Willem Schöne trotz seiner unscheinbaren Gestalt der einzige Gegner, der dieser Bezeichnung würdig war. Aber Willem hätte es nie gewagt, den Prinzen zu besiegen. Er kämpfte redlich und unterlag dann aus Prinzip.

Admiral Dorec empfand nur Verachtung für die Kampfkünste, so wie er auch Wetten, Karten- und Würfelspiele verachtete. Ihm schwebte eine Mannschaft vor, die sich ganz der Pflege und Instandhaltung des Schiffes widmete, denn seine Sorge war, sie könnten die Nördlichen Gebiete auf einem völlig maroden Gefährt erreichen. Sein Feind Nummer eins hieß Verschleiß: Die beweglichen Teile eines Schiffes nutzten sich durch ständiges Aneinanderreiben kontinuierlich ab; das Salz zerfraß das Metall; undichte Stellen waren auf Dauer unvermeidlich; die Nähte der Segel gaben irgendwann nach, ihre Ecken wurden schwarz, und die Sonne zermürbte das Gewebe; das Tauwerk franste aus, drohte steif zu werden oder zu vermodern; die Fangnetze konnten ausleiern, die Masten verwittern und rissig werden; selbst der Schiffsrumpf aus witterungsbeständiger Eiche verzog sich mit der Zeit. Ein Albtraum.

Deshalb hätte der Admiral die Seemänner am liebsten emsig nähen, polieren, streichen, lackieren und teeren gesehen. Er schien erst zufrieden, wenn er Rattenköttel im Kielraum fand, denn das war der schlagende Beweis, dass der Schiffsbauch so trocken wie möglich war.

»Sehr schön! Auf verwahrlosten Schiffen zieht das Ungeziefer in die oberen Etagen um, aber nicht hier, nicht bei uns. Unsere Ratten können sich wirklich nicht beschweren.«

Ema arbeitete fast bei allen einmal mit. Zuerst schälte sie zusammen mit Hänfling in der Kombüse Kartoffeln, dann zeigte Felix ihr, wie man Fangnetze reparierte und Segel flickte (er liebte Handarbeiten). Anschließend war sie einige Tage damit beschäftigt, Taue und Seile zur Festigung mit Schnüren zu umwickeln. Danach wechselte sie zum Kalfatern über, eine andere mühsame Arbeit, die darin bestand, die Ritzen zwischen den Planken mit einer klebrigen Mischung aus Seilfasern und Teer abzudichten. Die Männer überredeten den Admiral, ihr die Waschküche zu ersparen, aus Sorge, sie könnte Anstoß daran nehmen. Daran nahm wiederum der Wäscher Anstoß, weshalb sie am Ende mehrere Tage lang nur Unterhosen wusch. Schließlich wies Ovid sie in die Kunst der Seemannsknoten ein, getreu seiner Devise: »Ein guter Knoten ist ein schöner Knoten.« Er selbst war mehr gut als schön; sein Gesicht hatte etwas von einer zu schnell aufs Blatt geworfenen Skizze.

Kurz und gut, die blinde Passagierin nahm an allem teil, nur nicht an den Kampfkunstlektionen. Sobald sie die Worte hörte: »Alle Mann der Größe nach aufstellen!«, verzog sie sich in irgendeinen Winkel. Sie ertrug grundsätzlich nicht, dass man sie anfasste. Sobald Ovid sich ihrer Hand näherte, um einen Knoten zu korrigieren, zog sie sie sofort weg; wenn jemand sie mit einem Eimer, einem Fischernetz oder einem Tau streifte, machte sie einen Satz zur Seite. Wenn Hänfling sie am Ärmel zog, um ihr einen Wal zu zeigen, befreite sie sich mit einem Ellbogenstoß.

Wie im Umgang mit einem wilden Tier lernten die anderen schnell, den nötigen Abstand einzuhalten.

Tibald beobachtete sie nur aus der Ferne. Er hatte dem Admiral mitgeteilt, der es dem Steuermann mitgeteilt hatte, der es Ema mitgeteilt hatte, dass sie nicht mit den Toppsgasten in die Segel hinaufklettern durfte. Was einen der Toppsgasten jedoch nicht daran hinderte, sich ihr zu nähern. Er war ein blonder Kerl mit hochempfindlicher Haut, der sich stets Schweineschmalz ins Gesicht schmierte, um es vor Sonne, Regen, Hitze und Kälte, also vor Luft ganz allgemein zu schützen. Wenn das Fett trocknete, bröckelte es ihm schichtweise auf die Schultern und in die Suppe, was ihm den Spitznamen »der Lepröse« eingebracht hatte. Seine Lepra hielt ihn jedoch nicht davon ab, regelmäßig mit Dörrpflaumen, Keksen und gut gemeinten Ratschlägen auf Ema zuzukommen.

»Hüte dich vor dem Küfer und seinen Wurstfingern«, sagte er zum Beispiel.

Oder: »Obacht vor dem Krankenpfleger und seiner Gitarre. Romantisch, dass ich nicht lache …«

Oder: »Nur nicht von dem Prinzen täuschen lassen. Er wirkt vielleicht ganz nett, aber wenn er dich hier an Bord behält, dann hat er dafür seine Gründe.«

Kurz: »Also, wäre ich ein Mädel wie du, würde ich auf der Hut bleiben.«

Hinter seinen Schorfschichten schien der Lepröse ein ganz anständiger Kerl zu sein. Im Unterschied zu den anderen behandelte er Ema wie ein weibliches Wesen. Aber seine mit Knoblauchatem vorgebrachten Ratschläge waren ganz überflüssig, weil sie sowieso niemandem vertraute.

Das war auch der Grund, warum sie sich nachts wohler fühlte. Dann färbte sich alles blau, die Männer, ihr Schiff und ihre nackten Füße, das Meer, der Himmel. Die Wachtposten bewegten sich langsamer und sprachen leise, die Toppsgasten schliefen in den Segeln. Der Mond ließ kleine Täler in den Wolken entstehen, sein metallischer Abglanz tanzte auf dem Wasser und verschmolz mit dem Lichtschein, der aus den drei Kajüten drang: aus jener, in der der Prinz vor sich hin grübelte, der anderen, in der der Admiral seine Plätzchen knusperte, und der dritten, in der der Steuermann in seinem üblichen Durcheinander sein Tintenfass suchte.

Oft verließ Ema ihre Hängematte, um draußen auf dem erhöhten Achterdeck zu schlafen – im hintersten Teil des Schiffes, fern von den Gerüchen und Schnarchtönen des Zwischendecks. Wenn es regnete, zog sie sich stattdessen in die Back zurück, in einen Lagerraum des Vorderschiffs. Zwischen Segeltuchreserven, Werkzeug, Harpunen und Eimern rollte sie sich dann wie eine Katze in einem Korb mit Seilen zusammen.

Es regnete nicht oft, doch die unbewegte tropische Schwüle konnte ganz unvermittelt ins Chaos umschlagen. Wolkenbruchartige Regenfälle setzten so plötzlich ein, wie sie wieder aufhörten. Eines Tages machte sich der Himmel immerhin die Mühe, die Besatzung vorzuwarnen: Nach und nach ballten sich im Westen Wolken zusammen, grau wie eine Herde Elefanten. Das Wasser färbte sich dunkel, geriet in Bewegung, leckte an den Flanken des Schiffs.

»Das wird ordentlich rummeln«, versprach der Lepröse, und ausnahmsweise glaubte Ema, dass er die Wahrheit sagte.

Eine Viertelstunde später zerriss das Klüversegel. Der Smutje übergab sich in seinen besten Kochtopf. Rudergänger Bugspriet band sich an seiner Stehstütze fest, um das Steuerrad zu halten. Die Wellen hoben das Schiff auf ihren Kamm, stießen es in ihre Täler, bildeten Tunnel, in denen es, ungewiss der Wiederkehr, verschwand. Das Balkenwerk ächzte, die Lampen zersplitterten an den Bretterwänden. Vorne am Bug tauchte die Schnauze des weißen Fuchses tief in die Gischt. Nur die Blitze lieferten für den Bruchteil von Sekunden ein scharfes Bild von dem überfluteten Deck, den verhedderten Seilen und den stummen Seeleuten.

Da waren zugleich die Angst und die Gewohnheit der Angst. Mechanische Bewegungen, instinktive Reflexe. Es blieb ihnen nichts anderes übrig als abzuwarten, ihr Amulett zu umklammern und Gebete zu sprechen. Dicht aneinandergedrängt, um nicht davonzurollen, schliefen sie so gut es ging auf dem Boden des Zwischendecks – eine Handvoll Erdenmenschen in den irren Händen des Ozeans, an ihr Boot geklammert wie an den einzig bewohnbaren Planeten.

Drei Tage und drei Nächte. Dann plötzlich, am vierten Morgen, lag die Isabelle unter einer gleißenden Sonne und blauem Himmel, und es herrschte Flaute. Willem Schöne gestattete sich erst jetzt, seekrank zu werden, Tibald wechselte seine Kleider, Ovid ging seine Fässer begutachten, und Admiral Dorec verfluchte das Tropenklima als »so flatterhaft wie die Menschen von Khyriol«.

Peupel, der Navigator, versuchte, anhand der Sonne die Position zu ermitteln. Um den genauen Längen- und Breitengrad zu bestimmen, hätte er die exakte Uhrzeit kennen müssen, doch seine Sonnenuhr war aus seiner Tasche verschwunden. Von den drei vorhandenen Sanduhren waren zwei zerbrochen, und die letzte war sonst wohin gerollt. Peupel gab eine grobe Schätzung ab:

»Wir sind fern von allem.«

Admiral Dorec wollte ihn schon anschnauzen, als Marcelino, einer der Toppsgasten, der sich oben in einem zusammengerefften Segel ausruhte, etwas bemerkte. Er schirmte seine Augen mit der Hand ab, um die blendend helle Wasserfläche zu studieren, und rief:

»Segel in Sicht!«

»Ein Segelschiff … Was tun, Admiral?«, wollte Tibald wissen.

»Was tun, mein Prinz? Es weht nicht der kleinste Fliegenfurz, kein Mückenfurz …«

»Es heißt, das hier sollen Piratengewässer sein …«, bemerkte der Wäscher, der sich gerade den Hosensaum auswrang.

»Piratengewässer? Was weißt denn du schon?«, erregte sich der Admiral, dessen Anspannung sich nach einem Gewitter immer auf den Nächstbesten entlud. »Weißt du auch, wo das Schiff da drüben herkommt? Und wenn wir schon dabei sind, weißt du zufällig, wo wir uns befinden? Das wäre mal wirklich was Nützliches zur Abwechslung!«

»Nun ja, Admiral, der Smutje hat es behauptet.«

»Der Smutje!« Dem Admiral versagte fast die Stimme. »Was weiß denn der schon? Weiß er zufällig auch, wo wir uns befinden? Denn das wäre wirklich mal was Nütz…«

»Schon gut, Admiral, bleiben wir ganz ruhig«, unterbrach ihn Tibald. »Denn es sieht so aus, als würde sich das Schiff auf uns zubewegen.«

Der Admiral guckte durch sein Fernrohr. Was er sah, beunruhigte ihn sehr: verwitterte Außenwände, in Fetzen herabhängende Segel, eine Galionsfigur ohne Kopf. Nicht das geringste Lebenszeichen. Ohne das Schiff aus den Augen zu lassen, reichte er das Fernrohr an den Leprösen weiter, den er für den Prinzen hielt.

»Was sagt Ihr dazu, Hoheit?«

»Na, ich würd mal sagen, das ist ein Geisterschiff. Mein lieber Scholli, ob Piraten das verbrochen haben?«

»Weiß ich nicht«, blaffte der Admiral und riss ihm das Fernrohr aus den Händen. »Aber eines ist sicher, sie liegen vor Anker. Wir sind es, die auf sie zutreiben.«

»Aber was ist mit der Besatzung? Wo ist die?«, wollte der Lepröse wissen.

»Hm«, machte Dorec. »Wenn sie nach dem Sturm nicht an Deck gekommen sind … dann, weil keiner mehr an Bord ist.«

»Oder«, meinte Tibald, »weil alle tot sind.«

In diesem Moment drehte sich das Schiff um seinen Anker herum und offenbarte einen noch grausigeren Anblick: An einer der Wanten hing mit ausgebreiteten Armen ein halb verwester Leichnam, der von oben bis unten mit einer schwarzen Masse bestrichen war, nur der Schädel und die gelben Zähne waren vom Regen freigewaschen worden.

»Aaaah!«, ächzte Ovid und rannte davon, erst hinunter ins Zwischendeck und von dort in die Tiefen des Schiffsbauches.

»Er hat Angst vor Geistern«, erklärte der Lepröse, der ihm hin und wieder einen Schrecken einjagte, um sich ein bisschen zu zerstreuen.

»Es sieht wirklich schaurig aus«, räumte Tibald ein. »Aber was ist das eigentlich?«

»Eine Warnung, Hoheit«, meldete Ema sich zu Wort.

Alle drehten sich nach ihr um.

»Eine Warnung?«, wiederholte der Admiral mit verkniffenem Mund.

»Die Pest«, fügte Ema hinzu.

»Die Pest?«, flüsterte Willem Schöne.

»Die gelbe Pest«, erklärte sie. »Man taucht die Leichen in Teer, damit sich die Epidemie nicht weiterverbreitet. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Kürzlich erst?«, fragte Dorec erschrocken, der schon die Geschwüre vor sich sah, die sie unter ihrem Hemd verbarg.

»Nein, Admiral, als ich noch meine Milchzähne hatte. Es war sehr schlimm. In der allgemeinen Panik hat man die Kranken geteert, bevor sie überhaupt tot waren.«

»Na, wunderbar«, spottete der Chirurg, »und anschließend habt ihr sie für ein obskures Barbarenritual irgendwo aufgehängt?«

Der Chirurg, der Marius hieß, aber von allen »Virus« genannt wurde, war eine sehr nervöse Natur und konnte sich schnell über etwas ereifern. Er war ein gebeugter dünner Mann mit einem bitteren Zug um den breiten Mund, dunklen Ringen unter den Augen und einer kleinen runden Brille, die entweder um seinen Hals hing oder auf seiner Hakennase saß. Mit der Heilkunst von Eingeborenen hatte er eine traumatische Erfahrung gemacht und wollte nichts mehr davon wissen.

»Aber nein, Virus«, seufzte Lukas, sein Krankenpfleger. »Man hängt die Leichen in den Wanten auf, wenn es keine Hoffnung mehr gibt. Um die anderen Schiffe vom Näherkommen abzuschrecken. Eine Warnung eben.«

Während sie noch diskutierten, trieb die Meeresströmung die Isabelle immer näher an das pestbefallene Schiff heran.

»Was sollen wir tun, Admiral?«, fragte Tibald besorgt.

»Nun, mein Prinz, entweder werfen wir den Anker aus, um auf Abstand zu bleiben, oder wir versuchen, gegen den Wind anzukreuzen, um von hier fortzukommen.«

Der Admiral leckte seinen Zeigefinger an und reckte ihn zum strahlend blauen Himmel.

»Allerdings«, setzte er hinzu, »weht nicht das kleinste Lüftchen, nicht der Hauch eines Fliegenfurzes, kein Mückenfurz, kein …«

»Admiralsfurz!«, rief jemand.

Alle brachen in Gelächter aus. Dorec fuhr herum. Aber es war unmöglich herauszufinden, wer das gewesen war. Er presste die Lippen zusammen.

Tibald biss sich auf die Wangen, um ernst zu bleiben. »Admiral«, sagte er, »wir wollen doch gewiss nicht vor einem schwimmenden Grab ankern …«

»Nee, wirklich nicht«, frotzelte der Lepröse, »sonst kippt uns der Küfer noch aus den Latschen.«

»Lavieren wir also«, machte Dorec dem Gerede ein Ende. »Lavieren!«, befahl er. »Willem Schöne, du bist der Steuermann, ich überlasse dir das Kommando.«

»Welchen Kurs nehmen wir?«, wollte Willem wissen.

»Na, weg von diesem Grauen hier. Denk ein bisschen nach.«

Sie brauchten eine ganze Ewigkeit, um sich von dem Geisterschiff wegzubewegen. Zuvor brach noch ein Streit aus, denn Peupel hatte entdeckt, dass die Sonnenuhr, die während des Unwetters aus seiner Tasche verschwunden war, in der des Leprösen wieder aufgetaucht war. Tibald versuchte zu vermitteln (der Dieb bekam für die nächsten Etappen Landgangverbot), dann war er drauf und dran, bei dem Gerangel mitzumischen. Aber als Ema sein Blickfeld kreuzte, blieb er wie angewurzelt stehen: Ein weißer Lichtschein umgab auf einmal die Taue und Segel; er umschimmerte die Wanten, ließ die Seemänner in der Luft schweben und die Blöcke wie Goldbarren funkeln. Das Geisterschiff war ein strahlendes Kristallgefäß, das Meer ein Strom bedingungsloser Liebe, und selbst der Leichnam mit seinen ausgestreckten Armen vibrierte in unbegreiflichem Glück. Völlig verstört zog Tibald sich in seine Kajüte zurück.

Sein plötzlicher Abgang ließ Dorec stutzen. Etwas aus der Vergangenheit kam ihm wieder in Erinnerung: Bei der Taufe des kleinen Prinzen hatte sich ein Sonnenstrahl auf das Gesicht des Kindes geschlichen und die Form einer Blüte auf seine Stirn gezeichnet. Die anwesenden Gäste, darunter auch er, hatten darin ein gutes Omen gesehen. Und eben hatte der Admiral etwas Ähnliches in Tibalds Gesicht entdeckt. Er beschloss, dass es die Lichtspiegelung der Türklinke gewesen sein musste.

5

Ein ganzes Jahr hatte die Isabelle nun schon die immer gleiche Jahreszeit erlebt: Sommer, Sommer und nochmals Sommer. Inzwischen sehnten sich die Männer nach dem typischen Ecksteiner Winter, in dem einem beim Holzhacken die Finger an der Axt gefroren. Ihre am Leibe klebenden Kleider und die salzverkrusteten Hängematten hatten sie gründlich satt. Die Segel erschienen ihnen mit jedem Tag schwerer, die Seile immer glitschiger. Vor allem aber sprach das Meer nicht mehr ihre Sprache. Es überrumpelte sie, täuschte sie. Sie fühlten sich hintergangen.

Erschwerend kam hinzu: Seit der Sache mit dem Geisterschiff verkroch sich Tibald in seiner Kajüte oder der Messe. Manchmal lud er den Admiral oder den Steuermann ein, mit ihm zu essen, aber er tat es nur aus Höflichkeit. Seine Abwesenheit an Deck beunruhigte die Mannschaft zunächst und bekümmerte sie dann regelrecht, denn der Prinz hatte nicht nur am reibungslosen Betrieb des Schiffes mitgewirkt, seine verrückten Einfälle hatten ihnen auch an vielen ereignislosen Tagen Abwechslung verschafft. Selbst Ema, die noch nicht lange mit an Bord war, fand, dass ohne ihn das Wesentliche fehlte.

Was war mit ihm los? Kannten die Männer ihren Prinzen überhaupt? Wenn man es genau bedachte, sprach Tibald niemals von seiner Familie oder vom Schloss oder gar über sich selbst. Machte jemand eine Anspielung in diese Richtung, fand er immer einen Grund, das Thema zu wechseln. Ja, er ließ die Besatzung konstant vergessen, dass er der Kronprinz ihres Landes war, und er schien seinen Privilegien (Kajüte, Schlafkoje und das einzige Paar Stiefel an Bord) keine große Bedeutung beizumessen. Wenn er von seiner Autorität Gebrauch machte, dann aus reinem Abenteurertum – etwa um seine Leute aufzuscheuchen, mit ihm nackt in den Korallenbänken schwimmen zu gehen. Um sie dazu zu bringen, flambierte Grillen zu kosten oder gemeinsam moskitoverseuchte Sümpfe zu erkunden. Aber dieser Tage war nichts mit dem Prinzen anzufangen.

Einer nach dem anderen sammelten die Männer ihren Mut, um an seine Tür zu klopfen, in der Hoffnung, er werde sich zu einer Runde Kampfkunst überreden lassen. Tibald sagte jedes Mal Nein. Als er sich endlich entnervt darauf einließ, zeigte er ihnen einen neuen Griff, der sie alle zu Boden warf, bevor er sich wieder mit den Worten in seine Höhle zurückzog, sie sollten doch bitte fleißiger üben. Er knallte sogar die Tür zu.

Besonders Ema war von diesem Auftritt verwirrt.

»Hat er das öfter?«, fragte sie den Krankenpfleger Lukas, der sich als Einziger mit vorschnellen Urteilen zurückhielt.

»Nein, nie.«

»Er behandelt euch recht gut, wie mir scheint?«

»Er arbeitet sogar mit uns.«

»Und bezahlt er euch anständig?«

»Sehr großzügig, würde ich sagen. Als Prämie schenkt er uns obendrein Pfefferkörner, die ein Vermögen wert sind.«

»Und in seinem Land, was ist er da für ein Prinz?«

»Tja, keine Ahnung. Er ist ja nie in seinem Land.«

»Aber er ist doch dort aufgewachsen«, ließ Ema nicht locker.

»Seine Mutter starb, als er noch klein war. Man sagt, seine Kindheit wurde schwierig, als sein Vater neu heiratete, aber …«

Da ertönte hinter ihnen Willems sonore Stimme:

»Wir reden nicht über Dinge, über die er nicht spricht. Du enttäuschst mich, Krankenpfleger, wo du doch sonst so schweigsam bist.«

Auch Ema war enttäuscht, aber aus dem gegenteiligen Grund. Sie hätte gerne mehr erfahren. Sie ließ noch einmal ihre eigenen Beobachtungen Revue passieren: Tibalds herzhaftes Lachen, seine leichtfüßigen Bewegungen, seine aufmerksame Art und seine großzügige Aufnahme; wäre sie dazu fähig gewesen, Menschen zu vertrauen, hätte sie ihm vertraut. Aber da waren auch sein plötzlicher Rückzug, seine schlechte Laune und dieser Schatten, der tief in seinem Blick lag. Und dann diese alberne Machtdemonstration, die zugeworfene Tür … Er benahm sich wie das tropische Klima.

Mehrere Tage lang bekam niemand den Prinzen zu Gesicht. Es musste erst ein größeres Problem auftauchen, um ihn aus seiner Kajüte zu locken. Ein Problem, in dessen Mittelpunkt zu Emas Leidwesen sie selber stand.

Im Grunde hatte sich die Sache schon länger angebahnt. Es passierte in einer regnerischen Nacht, als Ema im Lagerraum des Vorderschiffs im Halbschlaf vor sich hin döste. Sie war kurz davor, ganz einzuschlafen, als sie hinter sich schleichende Schritte wahrnahm. An schwere Schritte war sie gewöhnt, aber leise Schritte waren verdächtig. Ema hielt den Atem an und wartete regungslos ab. Langsam, ganz langsam näherte sich jemand und berührte ihre Hüfte. Dann legte sich eine Hand grob auf ihren Mund, und eine andere glitt unter ihr Hemd.

Für genau diesen Fall schlief Ema immer mit einem abgebrochenen Flaschenhals in der Hand. Sie warf sich herum und stieß heftig zu.

»Das nächste Mal kriegst du’s ins Auge, Hundsfott!«

Der Mann suchte sofort das Weite, aber sie hätte besser nicht so laut schreien sollen, denn Willem Schöne kam über das Deck gerannt. Er fand Ema zusammengerollt in ihrem Seilekorb, wo sie sich schlafend stellte.

Am nächsten Morgen wartete Willem erst eine Weile ab, aber ihm wurde schnell klar, dass Ema niemanden beschuldigen würde. Sie vermied es stets, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er hatte jedoch für die Disziplin an Bord zu sorgen und konnte nicht einfach über die Sache hinweggehen. Also informierte er Tibald, der Ema zu sich bestellte.

Sie erschien in der Offiziersmesse mit dem müden Gesichtsausdruck von jemandem, der eine schlaflose Nacht damit verbracht hatte, einen Flaschenhals zu umklammern.

»Nun, Schiffsjunge, was ist passiert?«

Seine Frage klang strenger als beabsichtigt; in Emas Anwesenheit war er etwas nervös. Dass sie nicht antwortete, machte die Angelegenheit für ihn nicht leichter.

»Die Männer haben eine klare Anweisung erhalten, Schiffsjunge: Niemand darf dich belästigen. Wer nicht gehorcht, wird bestraft. Das ist die Regel, und das wissen sie.«

Ema hob den Kopf und schwieg weiter. Sie hielt sich so aufrecht, als erwartete sie, eine Ohrfeige zu kassieren. Tibald trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch.

»Schön. Von heute an wirst du in deiner Hängematte schlafen. Keine Nacht mehr unter freiem Himmel oder vorne in der Back.«

Sie schoss ihm einen wütenden Blick zu, bevor sie rasch die Augen senkte.

»Jetzt sag doch etwas«, bat Tibald, und seine Stimme klang flehender als beabsichtigt.

Ema war eindeutig das sturköpfigste Mitglied der ganzen Mannschaft. Doch als sie daran dachte, dass der Prinz über ihr Schicksal entscheiden konnte, ließ sie sich doch noch zu einer Antwort herab.

»Er ist gekennzeichnet, Hoheit.«

»Gekennzeichnet? Wer? Der Täter? Nenne mir lieber seinen Namen …«

Ema schüttelte den Kopf. Sie hatte den Mann sehr wohl erkannt, würde seinen Namen aber für sich behalten.

»Es scheint mir, als würdest du dich schämen, Schiffsjunge. Aber die Schuld liegt nicht bei dir … Inwiefern gekennzeichnet?«

»Mit einem scharfen Flaschenhals.«

Tibald hob seine blonden Augenbrauen.

»Mit einem Flaschenhals? Na, so was …«

Nachdenklich kratzte er sich im Nacken.

»Gut. Das reicht mir. Du kannst gehen. Aber geh ein bisschen vorsichtig mit Flaschenhälsen um. Die Männer sind zwar recht zäh, aber dennoch …«

Kurz darauf rief der Prinz die Mannschaft auf dem Hauptdeck zusammen. Diejenigen, die noch geschlafen hatten, kamen murrend von unten hoch, die anderen ließen ihre Tätigkeiten ruhen. Zutiefst gedemütigt verkroch Ema sich unten im Schiffsbauch. Tibald sprach jedoch so laut, dass sie seine Stimme noch zwei Etagen tiefer hören konnte.

»Ich habe bezüglich des neuen Schiffsjungen sehr klare Anweisungen gegeben. Jemand hat sich nicht daran gehalten, und ich sage gleich: Nicht der Schiffsjunge hat mir davon berichtet. Der Schuldige soll hervortreten, und zwar sofort.«

Keiner rührte sich, wenn man von den Juckbewegungen absah (alle hatten sich so sehr an die Läuse gewöhnt, dass sie sie nur noch in Momenten großer Verlegenheit wahrnahmen). Die Männer musterten einander. Willem Schöne hatte energisch die Arme verschränkt. Admiral Dorec presste seine Lippen zusammen, fest davon überzeugt, dass es diese Casarei so bald wie möglich loszuwerden galt.

»Also gut«, sagte Tibald und trat näher. »In diesem Fall: Frontal aufstellen und Hände herzeigen.«

Er begutachtete jeden Einzelnen. Nirgendwo die Spur eines scharfen Flaschenhalses. Er wollte schon die Hoffnung aufgeben, als er an der Schläfe von Marcelino eine Schnittwunde bemerkte.

»Was hast du da gemacht?«, fragte er den Toppsgast.

»Ähm …«, stotterte Marcelino. »Ich habe … Ich … bin gegen einen Mastbaum gestoßen, Hoheit. Ein Mastbaum ist gegen mich gestoßen.«

Gegen einen Mastbaum zu stoßen, war nicht sehr ungewöhnlich, denn dieses Holzstück, das orthogonal am Mast befestigt ist, um den unteren Teil des Segels zu stützen, ist immer irgendwie im Weg.

»So. Der Mastbaum ist gegen dich gestoßen.«

Tibald besah sich die Schnittwunde genauer, verglich sie im Geiste mit einem scharfen Flaschenhals und kam zu der Überzeugung, dass der Toppsgast ihn anlog.

»Was habe ich neulich bezüglich des neuen Schiffsjungen gesagt, Marcelino? Wenn jemand ihn belästigt, passiert was?«

»Dann muss er die Konsequenzen tragen, Hoheit, aber …«

»Nichts aber. Ab über Bord.«

Marcelino umklammerte das Amulett, das seine Mutter ihm vor der Abreise geschenkt hatte. Das unentbehrliche, kostspielige Ding war dazu da, ihn vor Unglück und besonders vor dem Ertrinken zu bewahren. Trotzdem zitterte er jetzt, als Tibald ihn mit einem Ruck aus der Reihe zog, um ihn zur Reling zu führen. Mit einer Hand drückte er Marcelinos Oberkörper über das Wasser; mit der anderen zog er ihn am Gürtel hoch – übrigens ein bewährter Kampfgriff. Im selben Moment erklang eine heisere Stimme aus den Reihen:

»Wartet, Hoheit! Ich war’s, ich bin schuld.«

Doch es war zu spät. Marcelino kippte bereits vornüber und landete nach einem langen Fall mit dem Platschgeräusch eines Steines im Wasser.

Tibald wandte sich um.

»Wer hat das gesagt?«