Ed McBain: Der letzte Tanz. Kriminalroman aus dem 87. Polizeirevier - Ed McBain - E-Book

Ed McBain: Der letzte Tanz. Kriminalroman aus dem 87. Polizeirevier E-Book

Ed McBain

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Beschreibung

Die Stadt ist riesig. Eine gigantische Big City, von pulsierendem Leben erfüllt. Ein Hexenkessel. Und mittendrin das 87. Polizeirevier. Es beginnt mit einer Leiche: Der Komponist Andrew Hale wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Selbstmord? Nein, Mord. Aber wer sollte einen Mann umbringen, der weder Feinde noch Vermögen hat? Doch dann stoßen die Cops aus dem 87. auf ein mögliches Motiv: Hale hat seiner Tochter Cynthia die Rechte an einem Musical hinterlassen, dessen Produktion er nicht hatte genehmigen wollen … »Ed McBain schreibt so gut, dass er verhaftet gehört.« New York Times

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Über das Buch

Die Stadt ist riesig. Eine gigantische Big City, von pulsierendem Leben erfüllt. Ein Hexenkessel. Und mittendrin das 87. Polizeirevier.

Es beginnt mit einer Leiche: Der Komponist Andrew Hale wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Selbstmord? Nein, Mord. Aber wer sollte einen Mann umbringen, der weder Feinde noch Vermögen hat? Doch dann stoßen die Cops aus dem 87. auf ein mögliches Motiv: Hale hat seiner Tochter Cynthia die Rechte an einem Musical hinterlassen, dessen Produktion er nicht hatte genehmigen wollen …

»Ed McBain schreibt so gut, dass er verhaftet gehört.« Washington Post

Über den Autor

Ed McBain

Der letzte Tanz

Ein Kriminalroman aus dem 87. Polizeirevier

Impressum

Digitale Neuausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten Deutsche Erstausgabe: 2001, Europa Verlag Originalausgabe: The Last Dance, 2000 © Ed McBain © Copyright der deutschen Übersetzung: Uwe Anton

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 10.12.2015

ISBN: 978-3-95988-001-5

Auch dieses Buch ist meiner Frau gewidmet – Dragica Dimitrijevic-Hunter

Die hier geschilderte Stadt existiert nicht. Die Personen und Schauplätze sind frei erfunden. Die Darstellung der Polizeiarbeit allerdings basiert auf authentischen Ermittlungsmethoden.

1. KAPITEL

»Er hatte Herzprobleme«, erklärte die Frau Carella.

Was vielleicht eine Erklärung für die winzigen, stecknadelkopfgroßen Blutergüsse in den Augäpfeln des Toten war. Bei akutem Versagen der rechten Herzhälfte kam es oft zu solchen Blutungen. Die graublauen Füße, die unter dem Laken hervorschauten, waren eine ganz andere Sache.

»Er hat davon gesprochen, dass er sich in den letzten Tagen nicht sehr gut gefühlt hat«, erzählte die Frau. »Ich hab ihm gesagt, er solle endlich zum Arzt gehen. Ja, ja, ich geh schon, meinte er. Dann kam ich heute Morgen vorbei, um zu sehen, wie es ihm geht und hab ihn so gefunden. Im Bett. Tot.«

»Und dann haben Sie die Polizei gerufen«, sagte Meyer und nickte.

Weil er sich an diesem Vormittag eigentlich ein Drogenlabor hatte vornehmen wollen, trug er Bluejeans, ein Sweatshirt und Reeboks. Stattdessen war er mit Carella los geschickt worden und da war er nun. Mitten im Verhör einer Frau, die seines Erachtens log. Stämmig und kahlköpfig, wie er war, stellte er seine Fragen mit sprichwörtlich blauäugiger Unschuldsmiene, so, als hätte er keine Handgranate in petto.

»Ja«, antwortete sie, »dann habe ich die Polizei gerufen. Das war das Erste, was ich tat.«

»Sie wussten sofort, dass er tot war?«

»Nun ... ja. Ich konnte sehen, dass er nicht mehr atmete.«

»Sie haben nicht seinen Puls gefühlt oder ihn anderweitig untersucht, nicht war?«, fragte Carella.

Er war lange nicht mehr so schlank und fit gewesen – seit seinem vierzigsten Geburtstag hatte er sechs Pfund abgespeckt – und trug dunkelblaue Hosen, ein graues Cordsakko, ein kariertes Sporthemd und eine dunkelblaue Strickkrawatte. Um kurz nach zehn an diesem Vormittag hatte er nicht mit einem solchen Einsatz gerechnet. Eigentlich hatte er für Viertel nach zehn im Dienstzimmer eine Vernehmung des Opfers eines Einbruchdiebstahls angesetzt. Stattdessen war auch er hier und redete mit einer Frau, von der er ebenfalls glaubte, dass sie log.

»Nein«, sagte sie. »Also, ja. Na ja, nicht den Puls. Aber ich habe mich über ihn gebeugt. Um nachzusehen, ob er noch atmete. Aber ich konnte erkennen, dass er tot war. Ich meine ... sehen Sie ihn doch mal an.«

Der Tote lag auf dem Rücken. Eine Decke war über ihn gebreitet. Augen und Mund standen offen, die Zunge hing ihm aus dem Mund. Carella betrachtete ihn wieder. Mitleid und Trauer brannten einen Moment lang in seinen Augen. In Situationen wie diesen fühlte er sich besonders verwundbar und wie so oft fragte er sich auch jetzt, ob er nicht doch zu empfindlich für diesen Job war, der ihn ständig mit dem Tod konfrontierte.

»Dann haben Sie die Polizei gerufen«, wiederholte Meyer.

»Ja. Ich sagte der Frau am Telefon ...«

»Haben Sie die 911 angerufen? Oder direkt die Nummer des Reviers?«

»911. Die Nummer des Reviers kenne ich nicht. Ich wohne nicht hier.«

»Sie haben der Telefonistin erzählt, Sie hätten die Wohnung Ihres Vaters betreten und ihn tot vorgefunden. Ist das so richtig?«

»Ja«

»Um wie viel Uhr war das, Miss?«

»Kurz nach zehn heute Vormittag. Übrigens, es heißt Mrs.«, sagte sie in einem fast entschuldigenden Tonfall.

Carella warf einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte zwanzig vor elf. Er fragte sich, wo der amtliche Leichenbeschauer blieb. Sie durften hier nichts berühren, bis der Leichenbeschauer das Opfer amtlich für tot erklärte. Er wollte sich den Rest des Körpers ansehen. Wollte sehen, ob die Beine zu den Füßen passten.

»Mrs. Robert Keating«, sagte die Frau. »Nun, Cynthia Keating, um genau zu sein.«

»Und der Name Ihres Vaters?«, fragte Meyer.

»Andrew, Andrew Hale.«

Besser, wenn Meyer jetzt weitermacht, dachte Carella.

Ihm waren dieselben Dinge aufgefallen wie Carella. Auch er kannte die verräterischen Anzeichen eines Todes durch Erhängen, wofür in diesem Fall auf den ersten Blick vieles sprach. Allerdings konnte man sich kaum selbst erhängen, wenn man keine Schlinge um den Hals hatte und auf dem Rücken in einem Bett lag.

»Können Sie uns sagen, wie alt er war?«

»Achtundsechzig. «

»Und er hatte Probleme mit dem Herzen?«

»Zwei Herzinfarkte während der letzten acht Jahre.«

»Schwere?«

»Oh, ja.«

»Bypässe?«

»Nein, Zwei Angioplastien. Aber sein Zustand war sehr ernst. Beide Infarkte waren beinahe tödlich.«

»Und er hatte ständig Probleme?«

»Also ... nein.«

»Sie sagten, er hätte Probleme mit dem Herzen.«

»Zwei schwere Infarkte in acht Jahren, das dürften Herzprobleme sein. Aber er war in seinen Aktivitäten nicht eingeschränkt.«

»Guten Morgen, Gentlemen«, sagte eine Stimme von der Schlafzimmertür. Einen Moment lang konnten die Detectives nicht entscheiden, ob der Mann, der dort stand, Carl oder Paul Blaney war. Nicht allzu viele Leute wussten, dass Carl Blaney und Paul Blaney Zwillinge waren. Die meisten Detectives in dieser Stadt hatten schon einzeln mit ihnen gesprochen, sei es am Telefon oder persönlich im Leichenschauhaus, aber sie gingen davon aus, dass die gleichen Nachnamen und die Tatsache, dass beide im Büro des ärztlichen Leichenbeschauers tätig waren, reiner Zufall waren. Wie jeder erfahrene Cop wusste, war der Zufall ein wesentlicher Faktor in der Polizeiarbeit.

Beide Blaneys waren eins siebzig groß. Paul Blaney wog hundertachtzig Pfund, während sein Bruder Carl hundertfünfundsechzig Pfund auf die Waage brachte. Carl erfreute sich noch der vollen Pracht seiner Haare. Paul hingegen hatte hinten schon eine kahle Stelle. Beide, Paul und Carl, hatten violette Augen, allerdings war keiner der beiden mit Elizabeth Taylor verwandt.

»Carl«, sagte der Mann in der Tür und sorgte für Klarheit. Er trug einen leichten Mantel und hatte einen karierten Wollschal locker um den Hals geschlungen. Er legte Mantel und Schal ab und warf beides über die Lehne eines Stuhls neben der Schlafzimmertür.

»Sie sind ... ?«, fragte er Cynthia.

»Seine Tochter«, antwortete sie.

»Es tut mir leid, Sie belästigen zu müssen«, sagte er in einem Ton zu ihr, als meine er es ernst. »Aber ich würde jetzt gern Ihren Vater untersuchen. Macht es Ihnen was aus, kurz hinauszugehen?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie und ging zur Tür.

Dann blieb sie stehen und fragte: »Soll ich meinen Mann herholen?«

»Das ist vielleicht eine gute Idee«, sagte Carella.

»Er arbeitet in der Nähe«, sagte sie zu niemand bestimmtem und ging in die Küche. Sie konnten hören, wie sie am Wandtelefon eine Nummer wählte.

»Wonach sieht es aus?«, erkundigte Blaney sich.

»Nach Ersticken«, sagte Carella.

Blaney stand bereits am Bett und beugte sich über den Toten, als wollte er ihn auf den Mund küssen. Die Augen fielen ihm sofort auf. »Meinen Sie das?«, fragte er. »Die Petechien?«

»Ja.«

»Die sind kein eindeutiger Beweis für einen Tod durch Ersticken«, sagte Blaney knapp. »Das sollten Sie eigentlich wissen, Detective. Wurde er so gefunden? Auf dem Rücken liegend?«

»Laut Aussage der Tochter.«

»Demnach kann es sich nicht um einen Unfall handeln, oder?«

»Ich glaube nicht.«

»Haben Sie irgendwelche Gründe, ihr nicht zu glauben?«

»Nur die Blutflecken. Und die blauen Füße.«

»Oh? Wir haben auch blaue Füße?«, fragte Blaney und blickte zum Fußende des Bettes. »Besteht demnach ein Verdacht auf Tod durch Erhängen? Sehe ich das richtig?«

»Die Tochter sagt, er wäre schon längere Zeit herzkrank gewesen«, sagte Carella. »Vielleicht war es ein Herzversagen. Wer weiß?«

»Ja wirklich, wer weiß?«, fragte Blaney die Füße des Toten. »Mal sehen, was wir sonst noch haben, okay?«, sagte er und schlug die Decke zurück.

Der Tote trug ein weißes Hemd, dessen Kragen offen war und eine graue Flanellhose mit einem schwarzen Ledergürtel. Keine Schuhe oder Socken.

»Er ging wohl immer vollständig bekleidet zu Bett, wie ich sehe«, sagte Blaney trocken.

»Aber immerhin barfuß«, meinte Carella.

Blaney stieß ein ungehaltenes Brummen aus, knöpfte das Oberhemd auf und drückte ein Stethoskop auf die Brust des Toten. Er rechnete nicht damit, ein Herz schlagen zu hören und war deshalb nicht überrascht, dass die Hörmuschel stumm blieb. Er entfernte sämtliche Kleidungsstücke des Mannes –

er trug außerdem gestreifte Boxershorts – und bemerkte sofort die graublauen Verfärbungen der Beine, Unterarme und Hände der Leiche. »Falls er erhängt wurde«, sagte er zu Carella, »und ich sage nicht, dass dies tatsächlich der Fall war, geschah es in einer aufrechten Haltung. Und falls er in dieses Bett gelegt wurde und ich behaupte nicht, dass dies auch wirklich geschehen ist, dürfte es nicht allzu kurz nach seinem Tod stattgefunden haben. Anderenfalls hätte die Verfärbung in den Extremitäten abgenommen und sich auf den Rücken und das Gesäß ausgebreitet. Sehen Sie hier«, sagte er und drehte den Toten auf die Seite. Sein Rücken war bleich und sein Hintern leuchtete weiß wie ein Vollmond. »Nein«, sagte er und drehte die Leiche wieder auf den Rücken. Der Penis des Mannes war angeschwollen und ragte hoch.

»Totenblässe«, erklärte Blaney. »Die Ansammlung von Gewebeflüssigkeit.« In der Unterhose der Leiche befanden sich Flecken einer eingetrockneten Substanz. »Wahrscheinlich Samen«, sagte Blaney. »Wir wissen nicht warum, aber das Austreten von Samenflüssigkeit ist beim Erstickungstod eine normale Erscheinung. Es hat nichts mit irgendwelchen sexuellen Aktivitäten zu tun. Der Auslöser ist der Rigor mortis in den Vesiculae seminalis. Er sah zu Carella hoch. Carella nickte lediglich. »Keine von einem Strick verursachten Hautabschürfungen«, sagte Blaney, während er den Hals untersuchte. »Kein Abdruck einer Schlinge, keine Blasen, wo Haut eingeklemmt oder zusammengedrückt wurde. Das hier könnte von einem Knoten hervorgerufen worden sein.« Er deutete auf eine kleine Abschürfung unterm Kinn. »Haben Sie so etwas wie eine Schlinge gefunden?«

»Wir haben noch nicht mit der Suche angefangen«, erwiderte Carella.

»Nun, es sieht tatsächlich nach einem Tod durch Erhängen aus«, sagte Blaney, »aber wer weiß das schon genau?«

»Tja, wer weiß?«, meinte auch Carella, als führten sie im Kabarett einen Sketch auf.

»An Ihrer Stelle würde ich mich eingehender mit der Tochter unterhalten«, sagte Blaney. »Mal sehen, was die Autopsie ergibt. Auf alle Fälle ist er tot und gehört Ihnen.«

Das Team der Spurensicherung traf zehn Minuten, nachdem die Leiche und Blaney verschwunden waren, ein. Carella bat die Männer, speziell nach Fasern zu suchen. Der Cheftechniker erklärte ihm, dass sie immer nach Fasern suchten, was er denn mit speziell meinte? Carella schaute zur anderen Seite des Raums, wo Meyer sich mit Cynthia Keating unterhielt. Der Cheftechniker wusste noch immer nicht, warum sie speziell nach Fasern suchen sollten, doch er stellte Carella keine weiteren Fragen.

Es begann zu regnen.

Das obligatorische Datum zur Inbetriebnahme der Wohnungsheizung war in dieser Stadt der 15. Oktober – das Geburtsdatum berühmter Männer, dachte Carella, sprach es jedoch nicht aus. Man schrieb bereits den 29., aber viele Gebäude ließen sich Zeit, der gesetzlichen Bestimmung nachzukommen. Der Regen und die sinkende Außentemperatur sorgten dafür, dass in der kleinen Wohnung eine unangenehme Kälte herrschte. Die Techniker, die soeben von draußen hereingekommen waren, behielten die Mäntel an. Carella schlüpfte ebenfalls wieder in seinen Mantel, ehe er zu Meyer hinüberschlenderte, der sich noch immer mit der Tochter des Toten unterhielt. Sie wollten beide wissen, ob sie die Leiche wirklich an der Stelle gefunden hatte, wo sie sie zu finden behauptet hatte, stellten jedoch genau diese Frage noch nicht.

»... oder sind Sie einfach nur zufällig vorbeigekommen?«, fragte Meyer gerade.

»Er wusste, dass ich kam.«

»Wusste er auch, um welche Uhrzeit?«

»Nein, Ich hatte ihm nur gesagt, irgendwann heute Vormittag.«

»Aber er lag noch im Bett, als Sie eintrafen?« Die Schlüsselfrage.

»Ja«, antwortete sie.

Ohne im Mindesten zu zögern.

»Vollständig angezogen?«, fragte Carella.

Sie drehte sich zu ihm um. Böser Cop stand in ihren Augen. Es gab zu viele verdammte Polizei-Serien im Fernsehen, jeder kannte inzwischen die Cop-Tricks.

»Ja«, sagte sie. »Allerdings ohne Schuhe und Socken.«

»Schlief er immer in seinen Kleidern?« fragte Carella.

»Nein, Er ist wohl aufgestanden und ...«

»Ja?«, fragte Meyer.

Sie wandte sich zu ihm um, vermutete Guter Cop, war sich aber nicht ganz sicher.

»Und hat sich dann wieder hingelegt«, beendete sie den angefangenen Satz.

»Verstehe«, sagte Meyer und blickte zu Carella, als brauchte er dessen Zustimmung zu dieser absolut einleuchtenden Erklärung, weshalb ein Mann vollständig angezogen bis auf Schuhe und Socken im Bett lag.

»Vielleicht hat er gespürt, dass irgendetwas geschehen würde«, meinte Cynthia weiter.

»Dass etwas geschehen würde?«, wiederholte Meyer fragend.

»Ja. Ein Herzinfarkt. Oft wissen die Betroffenen, wann es so weit ist.«

»Ach so. Und Sie denken, er hat sich vielleicht deshalb hingelegt.«

»Ja.«

»Er rief keinen Notarzt oder so was«, sagte Carella. »Sondern legte sich einfach hin?«

»Ja. Er dachte, es ginge vielleicht vorbei. Der Herzinfarkt.«

»Er zog die Schuhe und die Socken aus und legte sich hin.«

»Ja.«

»War die Tür abgeschlossen, als Sie herkamen?«, fragte Carella.

»Ich habe einen Schlüssel.«

»Dann war sie abgeschlossen.«

»Ja.«

»Haben Sie geklopft?«

»Ich habe geklopft, aber es hat sich nichts gerührt. Deshalb habe ich aufgeschlossen.«

»Und fanden Ihren Vater im Bett.«

»Ja.«

»Lagen seine Schuhe und seine Socken dort, wo sie jetzt sind?«

»Ja.«

»Auf dem Fußboden? Neben dem Sessel?«

»Ja.«

»Und dann haben Sie die Polizei gerufen«, sagte Meyer zum dritten Mal.

»Ja«, sagte Cynthia und sah ihn an.

»Kam Ihnen der Verdacht, dass ein Verbrechen begangen worden sein könnte?«, fragte Carella.

»Nein, Natürlich nicht.«

»Aber Sie haben die Polizei gerufen«, stellte Meyer fest.

»Warum ist das so wichtig?«, schnappte sie. Sie begriff plötzlich, was hier im Gange war. Der gute Cop wurde blitzschnell zum bösen Cop.

»Er fragt nur«, sagte Carella.

»Nein, er fragt nicht nur. Er denkt offenbar, dass es wichtig ist. Er fragt in einem fort, haben Sie die Polizei gerufen, haben Sie die Polizei gerufen, wo Sie doch genau wissen, dass ich die Polizei gerufen habe, sonst wären Sie nämlich gar nicht hier.«

»Wir müssen bestimmte Fragen stellen«, sagte Carella beschwichtigend.

»Aber warum diese eine Frage?«

»Weil einige Leute nicht unbedingt die Polizei rufen, wenn sie jemanden finden, der eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Wen rufen die denn an? Normalerweise?«

»Verwandte, Freunde, sogar einen Anwalt. Nicht unbedingt die Polizei, meint mein Partner«, erklärte Carella geduldig.

»Warum sagt er es dann nicht?«, schnappte Cynthia. »Statt dessen fragt er mich die ganze Zeit, ob ich die Polizei gerufen habe.«

»Tut mir leid, Ma’am«, sagte Meyer in seinem niedergeschlagensten Tonfall. »Ich wollte keinesfalls andeuten, dass es vielleicht ungewöhnlich ist, dass Sie die Polizei gerufen haben.«

»Nun, Ihr Partner scheint es aber für seltsam zu halten«, sagte Cynthia. Sie war jetzt total verwirrt. »Er scheint zu denken, dass ich meinen Mann oder meine Freundin oder einen Priester oder irgendjemand anderen hätte rufen sollen, nur nicht die Polizei. Was wollen Sie beide eigentlich?«

»Wir müssen ganz einfach jede Möglichkeit in Betracht ziehen«, sagte Carella, dessen Überzeugung wuchs, dass die Frau log. »Allem äußeren Anschein nach ist Ihr Vater im Bett gestorben, vielleicht an einem Herzinfarkt, vielleicht an irgendetwas anderem. Wir wissen es nicht, ehe die Ergebnisse der Autopsie vorliegen ...«

»Er war ein alter Mann, der schon zwei Herzinfarkte hinter sich hatte«, sagte Cynthia. »Was glauben Sie denn, woran er gestorben ist?«

»Ich weiß es nicht, Ma’am«, sagte Carella. »Sie vielleicht?«

Cynthia schaute ihm in die Augen.

»Mein Mann ist Anwalt, wissen Sie«, sagte sie.

»Lebt Ihre Mutter noch?«, fragte Meyer und wich der Drohung aus.

»Er ist auf dem Weg hierher«, sagte sie. Sie schaute nicht zu Meyer, sondern hielt den Blick auf Carella gerichtet, als wollte sie, dass er vor ihren Augen zerschmolz. Grün, stellte er fest. Ein Mensch konnte leicht unter einem grünen Laserstrahl zerschmelzen.

»Lebt sie noch?«, fragte Meyer.

»Ja, sie lebt noch«, sagte Cynthia. »Aber sie sind geschieden.«

»Gibt es außer Ihnen weitere Kinder?«

Sie fixierte Carella noch einen Moment länger, dann sah sie Meyer an. Sie schien sich ein wenig beruhigt zu haben. »Nein, nur mich«, sagte sie.

»Wie lange sind sie schon geschieden?«, fragte Meyer.

»Fünf Jahre.«

»Wie waren seine derzeitigen Umstände?«

»Was meinen Sie?«

»Ihren Vater. Lebte er mit jemandem zusammen?«

»Keine Ahnung.«

»War er mit jemandem befreundet?«

»Sein Privatleben war seine Sache.«

»Wie oft haben Sie Ihren Vater besucht, Mrs. Keating?«

»Etwa einmal im Monat. «

»Hat er in letzter Zeit über Herzbeschwerden geklagt?«, fragte Carella.

»Mir gegenüber nicht. Aber Sie wissen ja, wie alte Männer sind. Sie achten nicht sehr auf sich selbst.«

»Hat er sich überhaupt bei irgendjemandem über Beschwerden beklagt?«, fragte Meyer.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Wie kommen Sie dann darauf, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist?«, fragte Carella.

Cynthia sah erst ihn, dann Meyer, dann wieder ihn an.

»Ich glaube, ich mag Sie beide nicht«, stellte sie fest und ging in die Küche. Sie blieb vor dem Fenster stehen und schaute hinaus.

Einer der Techniker schien etwas auf dem Herzen zu haben. Er fing Carellas Blick auf. Carella nickte und ging zu ihm hinüber.

»Ein blauer Kaschmirgürtel«, sagte der Techniker. »Blaue Kaschmirfasern drüben an dem Türhaken. Was halten Sie davon?«

»Wo ist der Gürtel?«

»Neben dem Sessel«, sagte er und deutete auf den Sessel unweit der Schubladenkommode. Ein blauer Bademantel war über die Lehne drapiert. Der Gürtel des Mantels lag auf dem Fußboden neben den Schuhen und den Socken des Toten.

»Und der Haken?«

»Auf der Rückseite der Badezimmertür.«

Carella schaute sich um. Die Badezimmertür stand offen. Dicht unter dem oberen Rand war ein Chromhaken in die Tür geschraubt.

»Der Mantel hat Schlaufen für den Gürtel«, sagte der Techniker. »Schon seltsam, dass er lose auf dem Fußboden liegt.«

»Diese Gürtel rutschen immer raus«, sagte Carella. »Sicher, das weiß ich. Aber es passiert nicht jeden Tag, dass wir einen Toten in einem Bett finden, der aussieht, als wäre er erhängt worden.«

»Wie stabil ist der Haken?«

»So stabil braucht er gar nicht zu sein«, sagte der Techniker. »Beim Erhängen geschieht nichts anderes, als dass der Blutstrom zum Gehirn unterbrochen wird. Dazu reicht schon das Gewicht des Kopfs aus. Und das wären ungefähr zehn Pfund. Die hält auch ein einfacher Bilderhaken.«

»Sie sollten Detective werden«, riet Carella ihm lächelnd.

»Schönen Dank«, erwiderte der Techniker. »Der Gürtel könnte um den Hals des Mannes geschlungen und dann über den Haken gelegt worden sein, um ihn zu erhängen. Vorausgesetzt, die Fasern sind identisch.«

»Und vorausgesetzt, er hat seinen Mantel nicht gewöhnlich an den Haken gehängt.«

»Suchen Sie Beweise für eine natürliche Todesursache? Oder suchen Sie einen Beweis, der darauf hindeutet, dass es ein Mord gewesen sein könnte?«

»Wer hat denn von Mord geredet?«

»Herrje, entschuldigen Sie, ich dachte, davon würden Sie ausgehen, Detective?«

»Wie wäre es denn mit Selbstmord, der wie ein natürlicher Tod aussehen soll?«

»Das wäre auch eine Möglichkeit«, gab der Techniker zu.

»Wann haben Sie die Ergebnisse?«

»Heute am späten Nachmittag.«

»Ich rufe Sie an.«

»Hier ist meine Karte«, sagte der Techniker.

»Detective?«, fragte eine männliche Stimme.

Carella wandte sich zur Küchentür um. Dort stand ein stämmiger Mann in einem dunkelgrauen Mantel mit schwarzem Samtkragen. Die Schultern des Mantels waren feucht vom Regen und das Gesicht des Mannes war von der Kälte draußen gerötet. Er hatte einen schmalen Schnurrbart unter der Nase, dicke Wangen und sehr dunkle braune Augen.

»Ich bin Robert Keating«, stellte er sich vor und kam auf Carella zu. Er verzichtete darauf, ihm die Hand entgegenzustrecken. Seine Frau hielt sich dicht hinter ihm. Sie hatten offensichtlich schon miteinander geredet. Ein erwartungsvoller Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als rechnete sie damit, dass ihr Mann gegenüber einem der Detectives handgreiflich werden würde. Carella hoffte, dass es nicht dazu kam.

»Wie ich höre, haben Sie meine Frau unnötig unter Druck gesetzt«, sagte Keating.

»Das ist mir nicht bewusst, Sir«, sagte Carella.

»Es wäre besser, wenn es nicht der Fall wäre.«

Es wäre besser, dachte Carella, wenn Ihre Frau nicht hergekommen wäre, ihren Vater an der Badezimmertür hängen sah, ihn herunternahm und ins Bett legte. Es wäre wirklich besser, wenn es sich nicht so verhielte.

»Es tut mir leid, falls es zu einem Missverständnis gekommen ist«, sagte er.

»Es wäre besser, wenn es kein Missverständnis gäbe«, sagte Keating.

»Damit es nicht dazu kommt«, sagte Carella, »will ich Ihnen unsere Absichten erklären. Wenn Ihr Schwiegervater an einem Herzinfarkt gestorben ist, können Sie ihn morgen begraben und sehen uns nie im Leben wieder. Aber wenn er aus einem anderen Grund gestorben ist, werden wir es herausfinden und dann werden Sie uns noch für eine Weile ertragen müssen. Okay, Sir?«

»Dies ist ein Tatort, Sir«, sagte der Techniker. »Würden Sie bitte die Räumlichkeiten verlassen, Sir?«

»Wie bitte?« sagte Keating.

Um halb fünf an diesem Nachmittag rief Carella im Labor in der Stadt an und verlangte Anthony Moreno. Der Techniker kam ans Telefon und teilte ihm mit, dass die Fasern, die sie am Haken gefunden hatten, mit den Faserproben vom blauen Kaschmirgürtel des Bademantels übereinstimmten.

Keine zehn Minuten später meldete sich Carl Blaney bei Carella und informierte ihn, dass die Autopsie Hinweise auf einen Erstickungstod Andrew Henry Hales ergeben hätte.

Carella fragte sich, ob Cynthia Keatings Ehemann sie wohl aufs Revier begleiten würde, wenn man sie vorlud.

Es stellte sich heraus, dass Robert Keating Wirtschaftsanwalt war und klug genug einzusehen, dass die Polizei seine Frau sicher nicht vorladen würde, wenn sie keinen Grund zu der Annahme hätte, dass ein Verbrechen begangen worden war. Er hatte einen Freund benachrichtigt, der als Strafverteidiger tätig war. Dieser Mann war jetzt zugegen und wollte wissen, was seine Klientin in einem Polizeirevier zu suchen hatte, obgleich er bereits darüber informiert worden war, dass Mrs. Keating hergebeten worden und aus freiem Willen in Begleitung ihres Mannes gekommen war.

Todd Alexander war ein stämmiger kleiner blonder Mann in einem dunkelblauen Sportsakko mit karierter Weste und grauen Flanellhosen. Er sah aus, als gehörte er eher auf eine Versammlung eines Yachtclubs als in eins der schäbigen städtischen Polizeireviere. Sein Auftreten verriet jedoch, dass er sich schon mit Hunderten von unbegründeten Vorwürfen von Hunderten von rücksichtslosen Polizeibeamten herumgeschlagen hatte. Die augenblickliche Kulisse und die Umstände, die sein Erscheinen hier erforderlich machten, schienen ihn völlig kalt zu lassen.

»Erklären Sie mir, worum es geht«, verlangte er. »Möglichst in fünfundzwanzig Worten oder weniger.«

Carella zuckte noch nicht mal mit der Wimper.

»Uns liegt ein Autopsiebericht vor, aus dem hervorgeht, dass Andrew Hale erstickt ist«, sagte er. »Sind das fünfundzwanzig Worte oder weniger?«

»Dreizehn«, sagte Meyer. »Aber wir wollen ja nicht kleinlich sein.«

»Die Indizien haben ergeben, dass der Gürtel von Mr. Hales Kaschmirmantel um seinen Hals geschlungen, verknotet und dann über den Haken in der Badezimmertür gezogen wurde«, fuhr Carella fort. »Das spricht für Selbstmord oder Mord.«

»Und was hat das mit meiner Klientin zu tun?«

»Ihre Klientin geht offenbar davon aus, dass ihr Vater im Bett gestorben ist.«

»Hast du ihnen das erzählt?«

»Ich habe gesagt, ich hätte ihn im Bett gefunden.«

»Tot?«

»Ja«, antwortete Cynthia.

»Ist Mrs. Keating über ihre Rechte aufgeklärt worden?«, fragte Alexander.

»Wir haben ihr noch keine Fragen gestellt«, sagte Carella

»Sie hat mir gerade mitgeteilt ...«

»Das war am Tatort.«

»Sie haben nicht mit ihr geredet, seit sie hier eintraf?«

»Sie ist ganze drei Minuten vor Ihnen angekommen.«

»Wurde sie irgendeines Vergehens beschuldigt?«

»Nein.«

»Warum ist sie hier?«

»Wir wollen ihr ein paar Fragen stellen.«

»Dann lesen Sie ihr ihre Rechte vor.«

»Natürlich«

»Spielen Sie nicht den Überraschten, Detective. Sie ist in Gewahrsam und Sie werfen mit Begriffen wie Mord um sich, daher möchte ich, dass sie über ihre Rechte aufgeklärt wird. Danach entscheiden wir, ob sie irgendwelche Fragen beantworten will.«

»Natürlich «, sagte Carella und begann den Vortrag, den er auswendig kannte. »In Anlehnung an die höchstrichterliche Entscheidung im Fall Miranda gegen Escobedo«, zitierte er und informierte sie darüber, dass sie das Recht hätte zu schweigen, fragte sie praktisch nach jedem Wort, ob sie alles genau verstanden hätte, erklärte ihr dann, dass sie das Recht hätte, einen Anwalt hinzuzuziehen, was sie bereits getan hatte, machte sie darauf aufmerksam, dass sie ihr einen Anwalt besorgen würden, falls sie keinen hätte, was ja nicht mehr nötig war, sagte ihr, dass sie, falls sie sich entschied, Fragen in oder ohne Anwesenheit ihres Anwalts zu beantworten, die Befragung jederzeit abbrechen könnte, haben Sie das verstanden und fragte sie schließlich, ob sie bereit wäre, zu diesem Zeitpunkt Fragen zu beantworten, worauf sie erwiderte: »Ich habe nichts zu verbergen.«

»Heißt das ja?«, fragte Carella.

»Ja. Ich werde alle Ihre Fragen beantworten.«

»Wo ist dieser Autopsiebericht?«, fragte Alexander.

»Hier auf meinem Schreibtisch.«

Alexander nahm ihn, warf einen kurzen Blick darauf …

»Wer hat ihn unterschrieben?«, fragte er.

»Carl Blaney.«

... schien ihn plötzlich schrecklich langweilig zu finden und ließ ihn wieder auf die Tischplatte fallen.

»Haben Sie persönlich mit Blaney gesprochen?«, wollte er wissen.

»Ja, das habe ich.«

»Hatte er seinen Ergebnissen etwas hinzuzufügen?«

»Nur, dass aufgrund der Tatsache, dass die Schlinge weich und breit war, diese nur einen schwachen Abdruck auf der Haut um den Hals hinterlassen hat. Dass der Knoten jedoch unter dem Kinn eine typische Hautabschürfung verursacht hat.«

»Na schön, dann stellen Sie Ihre Fragen«, sagte Alexander. »Wir wollen hier nicht den ganzen Tag vertrödeln.«

»Mrs. Keating«, begann Carella, »um welche Uhrzeit haben Sie heute Vormittag die Wohnung Ihres Vaters betreten?«

»Um kurz nach zehn.«

»Haben Sie die Notrufzentrale um zehn Uhr sieben angerufen?«

»Die genaue Zeit weiß ich nicht.«

»Könnte das Ihre Erinnerung auffrischen?«, fragte Carella und machte Anstalten, ihr den Computerausdruck zu reichen.

»Darf ich das mal bitte sehen?«, sagte Alexander und nahm den Bogen an sich. Auch diesmal blickte er nur flüchtig auf das Dokument, gab es an Cynthia weiter und fragte: »Hast du angerufen?«

»Darf ich mal sehen?«, fragte sie.

Er reichte ihr den Ausdruck. Sie las wortlos und sagte: »Ja, das habe ich.«

»Ist die Zeit richtig?«, fragte Carella.

»Nun, sie ist hier festgehalten, daher nehme ich an, dass ich um diese Zeit angerufen habe.«

»Um zehn Uhr sieben.«

»Ja.«

»Haben Sie der Telefonistin erklärt, Sie hätten soeben die Wohnung Ihres Vaters betreten und ihn tot im Bett vorgefunden?«

»Ja.«

»Haben Sie sie gebeten, sofort jemanden vorbeizuschicken?«

»Das habe ich.«

»Hier ist das Einsatzprotokoll von Adam Two«, sagte Carella. »Die Ankunftszeit ...«

»Adam Two?«, fragte Alexander dazwischen.

»Von diesem Revier. Einer der Wagen, die heute von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags den Bezirk Adam abfuhren. Mr. Hales Wohnung befindet sich im Bezirk Adam. Als Ankunftszeit ist zehn Uhr fünfzehn angegeben. Und dies ist der Bericht meiner eigenen Abteilung, der der Detectives, in dem als unsere Ankunftszeit zehn Uhr einunddreißig vermerkt ist. Mein Partner und ich. Detective Meyer und meine Wenigkeit.«

»Und was soll all das beweisen, Detective?«

»Überhaupt nichts, Sir, außer den Ablauf der Ereignisse.«

»Bemerkenswert«, sagte Alexander. »Keine vierundzwanzig Minuten, nachdem Mrs. Keating die 911 gewählt hat, waren nicht weniger als vier Polizisten am Schauplatz des Geschehens! Wunderbar! Aber ehe Sie weitere Fragen stellen, darf ich wissen, wohin das alles führen soll?«

»Ich möchte von Mrs. Keating erfahren, was sie tat, bevor sie die Polizei anrief.«

»Das hat sie Ihnen doch schon erzählt. Sie kam in die Wohnung, fand ihren Vater tot in seinem Bett und rief sofort die Polizei. Das hat sie getan, Detective.«

»Das glaube ich nicht.«

»Was glauben Sie denn?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass sie sich fast vierzig Minuten in dem Apartment aufgehalten hat, ehe sie die Notrufnummer wählte.«

»Ich verstehe. Und woher wissen Sie das?«

»Der Hausmeister hat erzählt, er hätte sie um halb zehn reinkommen gesehen.«

»Stimmt das, Cynthia?«

»Nein, das stimmt nicht.«

»In diesem Fall schlage ich vor, dass wir die Befragung abbrechen und uns produktiveren Beschäftigungen zuwenden. Detective Carella, Detective Meyer, es ist ein eindeutiger ...«

»Er wartet am Ende des Flurs«, sagte Carella. »Im Büro des Lieutenants. Soll ich ihn bitten, herzukommen?«

»Wer wartet am Ende des Flurs?«

»Der Hausmeister. Mr. Zabriski. Er erinnert sich, dass es halb zehn war, weil er genau um diese Zeit jeden Morgen die Mülltonnen auf die Straße stellt. Der Müllwagen kommt um Viertel vor zehn.«

Im Raum herrschte für einen Moment Stille.

»Angenommen, Sie haben tatsächlich diesen Hausmeister ...«, begann Alexander.

»Oh, ich habe ihn, ganz bestimmt sogar.«

»Und angenommen, er hat Mrs. Keating um halb zehn ins Haus kommen sehen ...«

»Genau das hat er gesagt.«

»Und was genau ist dann Ihrer Meinung nach zwischen halb zehn und zehn Uhr sieben, als sie die Notrufzentrale anrief, in dieser Wohnung geschehen?«

»Angenommen«, sagte Carella, »sie hat ihren Vater nicht selbst an dem Haken in der Badezimmertür aufgehängt ...«

»Auf Wiedersehen, Mr. Carella«, sagte Alexander und erhob sich abrupt. »Cynthia«, sagte er, »lass uns gehen. Bob«, meinte er zu ihrem Ehemann, »es war gut, dass du mich gerufen hast. Mr. Carella versucht, einen Mordvorwurf zu konstruieren.«

»Versuchen Sie es mal mit Behinderung der Justiz.«

»Wie bitte?«

»Oder mit Manipulation von Beweismitteln.«

»Was?«

»Oder mit beidem. Sie wollen wissen, was ich glaube, Mr. Alexander? Ich glaube, Mrs. Keating hat ihren Vater an diesem Haken hängend vorgefunden ...«

»Wir gehen, Cynthia.«

»... hat ihn abgenommen und zum Bett geschleppt. Ich glaube weiterhin, dass sie ...«

»Das reicht«, sagte Alexander energisch. »Auf Wiedersehen, Detective ...«

»... den Gürtel von seinem Hals entfernt, ihm die Schuhe und Socken ausgezogen und eine Decke über ihn gebreitet hat. Dann erst hat sie die Polizei angerufen.«

»Zu welchem Zweck?«, fragte Alexander.

»Warum fragen Sie sie nicht? Ich weiß nur, dass die Behinderung regierungsamtlicher Stellen bei Ausübung ihrer Aufgaben ein Verstoß gegen Paragraph 195 Absatz 5 des Strafrechts ist. Und die Manipulation von Beweismitteln ist ein Verstoß gegen Paragraph 215 Absatz 40. Behinderung ist nur ein geringes ...«

»Sie haben keinen Beweis für eins der Vergehen!«, sagte Alexander.

»Ich weiß, dass die Leiche bewegt wurde!«, widersprach Carella. »Und das ist Manipulation. Und allein dafür kann sie vier Jahre ins Gefängnis wandern!

Cynthia Keating brach plötzlich in Tränen aus.

Ihr zufolge ...

»Cynthia, ich glaube, ich sollte dich warnen«, unterbricht ihr Anwalt sie immer wieder, aber sie will es loswerden, so wie sie alle es sich – früher oder später – von der Seele reden wollen.

»Folgendes ist geschehen«, sagt sie und jetzt sind da drei Detectives, die ihr zuhören, Carella und Meyer, die dem Notruf gefolgt waren, sowie Lieutenant Byrnes, denn plötzlich ist die Sache interessant genug, um ihn aus seinem Eckbüro heraus und ins Verhörzimmer zu locken. Byrnes trägt einen braunen Anzug, ein weizengelbes Hemd mit Buttondownkragen und dazu eine ebenfalls braune, aber im Ton deutlich dunklere Krawatte mit einem perfekten Windsorknoten. Sogar in diesem formellen Outfit vermittelt er noch den Eindruck eines eisenharten Iren, der gerade aus dem Moor kommt, wo er Torf gestochen hat. Vielleicht liegt es an seinem Haarschnitt. Sein graues Haar sieht wie vom Wind zerzaust aus, obgleich sich in dem fensterlosen Raum nicht das geringste Lüftchen regt. Seine Augen sind von einem geradezu gefährlichen Blau. Er mag es gar nicht, dass jemand, sei er männlich oder weiblich, am Gesetz herumpfuscht.

»Ich bin zu ihm gegangen«, erzählt Cynthia, »weil er sich in den letzten Tagen nicht sehr gut gefühlt hat und ich mir Sorgen um ihn gemacht habe. Ich hatte am Abend vorher mit ihm gesprochen ...«

»Um wie viel Uhr?«, will Carella wissen.

»Gegen neun.«

Alle drei Detectives denken, dass er am Vorabend um neun noch am Leben war. Was immer ihm zugestoßen ist, es ist irgendwann nach neun Uhr abends geschehen.

Die Wohnung ihres Vaters ist mit der U-Bahn vierzig Minuten von Calm’s Point auf der anderen Seite des Flusses entfernt, wo sie wohnt. Ihr Mann macht sich jeden Morgen um halb acht auf den Weg zur Arbeit. Gewöhnlich frühstücken sie gemeinsam in ihrem Apartment mit Blick auf den Fluss. Nachdem er sich verabschiedet hat, macht sie sich für den Tag fertig. Sie haben keine Kinder, aber sie geht auch nicht arbeiten, vielleicht, weil sie nie eine Ausbildung absolviert hat und um halb acht gibt es nichts Produktives, was sie tun könnte. Außer ...

Sie hat sich niemals einer anderen Menschenseele gegenüber geäußert, aber sie erzählt es jetzt in der bedrückenden Enge des Verhörzimmers in Anwesenheit dreier Detectives, die aufmerksam mit steinernen Mienen an einer Tischseite sitzen und ihres Mannes und ihres Anwalts, die genauso distanziert dreinschauend die andere Seite des Tisches besetzen. Sie hat keine Ahnung, weshalb sie es jetzt und vor diesen Männern einräumt, hier in diesem Beichtstuhl zu diesem Zeitpunkt, aber sie erzählt ihnen, ohne zu zögern, dass sie sich selbst nie als besonders intelligent betrachtet hat. Sie ist lediglich in jeder Hinsicht ein einfaches Mädchen (sie benutzt sogar das Wort »Mädchen«), nicht besonders hübsch, nicht besonders gescheit, sondern nur ... nun ... Cynthia. Und sie zuckt mit den Achseln.

Cynthia ist keine von den Ladys, die allmittäglich in geschwätziger Gemeinschaft zu speisen pflegen, aber auch sie sucht sich im Laufe des Tages mehr oder weniger geistlose Beschäftigungen wie Einkaufen, Besuche in Galerien oder Museen, manchmal auch ein Kinofilm am Nachmittag. Im Grunde tut sie nichts anderes, als die Zeit totzuschlagen zwischen halb acht Uhr morgens, wenn ihr Mann zur Arbeit fährt und halb acht Uhr abends, wenn er wieder nach Hause zurückkehrt. »Er ist Syndikus einer Firma«, sagt sie, als erkläre das seinen Zwölfstundentag. Sie ist dankbar für die Gelegenheit, ihren Vater zu besuchen. Sie hat etwas zu tun.

Ehrlich gesagt ist ihr die Gesellschaft ihres Vaters nicht sehr angenehm. Auch das gesteht sie vor der Zufallsjury von fünf Männern, die mit unverbindlichen Mienen an dem langen Tisch sitzen, der mit den Zigarettenbrandflecken zu vieler langer Verhöre aus zu vielen langen Jahren übersät ist. Fast scheint es, als hätte sie sich schon immer gewünscht, dieses Geständnis ablegen zu können. Noch hat sie kein Wort zur Manipulation von Beweismitteln und Behinderung der Justiz gesagt, aber sie scheint gewillt, alles zu gestehen, was sie je getan oder empfunden hat. Und plötzlich kommt Carella in den Sinn, dass sie ein Mensch ist, der niemanden zum Reden hat. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat Cynthia Keating Publikum. Und dieses Publikum schenkt ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Er ist ein Langweiler«, erzählt sie den Männern. »Mein Vater. Er war ein Langweiler, als er jung war und nun, im Alter, ist er ein noch größerer Langweiler. Er war Krankenpfleger, aber ist das ein Beruf für einen Mann? Selbst als Rentner kann er über nichts anderes reden als über diesen oder jenen Patienten im ›Hospital‹, in dem er gearbeitet hat. Ich glaube, er weiß nicht einmal mehr, welches Krankenhaus es war. Es ist immer nur ›das Hospital‹. Dies oder jenes ist im ›Hospital‹ passiert. Das ist alles, worüber er redet.«

Die Detectives nehmen zur Kenntnis, dass sie von ihrem Vater noch immer in der Gegenwart spricht, aber das ist nicht ungewöhnlich und stellt keinen besonderen Hinweis dar. Sie warten geduldig, dass sie endlich auf die Manipulation und Behinderung zu sprechen kommt. Deshalb sind sie hier. Sie wollen wissen, was zwischen neun Uhr gestern Abend und sieben nach zehn an diesem Vormittag, als sie die Polizei anrief, in der Wohnung passiert ist.

Wegen des Wetters hat sie einen grünen Tweedrock und einen Rollkragenpullover, den sie in der Gap-Boutique gekauft hat, angezogen. Dazu flache Laufschuhe und eine zum Rock passende Strumpfhose. Sie geht gern spazieren. Der Wetterbericht hat für den Nachmittag Regen angesagt ...

Es regnet tatsächlich, während sie ihren Bericht fortsetzt, aber keine der Personen in dem fensterlosen Raum weiß oder interessiert sich dafür, was da draußen passiert.

... und deshalb hat sie einen Klappschirm in einer Tasche, die sie sich über die Schulter hängt. Die U-Bahnstation ist nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Um etwa zwanzig vor neun steigt sie in den Zug und ist vierzig Minuten später auf der anderen Seite des Flusses und in der City. Es ist nur ein kurzer Fußmarsch bis zum Haus, in dem ihr Vater wohnt. Sie betritt es um halb zehn. Sie erinnert sich auch, gesehen zu haben, wie der Hausmeister die Mülltonnen nach draußen brachte. Ihr Vater wohnt im dritten Stock. Das Haus hat keinen Fahrstuhl. Einen solchen Luxus kann er sich nicht leisten. Nach seiner Pensionierung hat er herzlich wenig zur Verfügung. Während sie die Treppe hinaufsteigt, verursachen ihr die Kochdüfte im Hausflur eine leichte Übelkeit. Im dritten Stock verharrt sie kurz auf dem Treppenabsatz, um zu Atem zu kommen und geht dann zu Apartment 3-A und klopft an die Tür. Nichts rührt sich dahinter. Sie schaut auf die Uhr. Fünf nach halb zehn. Sie klopft erneut.

Er weiß, dass sie ihn an diesem Morgen besucht. Sie hat ihm am Vorabend gesagt, sie würde kommen. Ist es möglich, dass er es vergessen hat? Ist er irgendwohin frühstücken gegangen? Oder steht er nur unter der Dusche? Sie hat einen Schlüssel zu dem Apartment, den er ihr nach seinem letzten Herzinfarkt ausgehändigt hat, als er es mit der Angst zu tun bekam, er könnte völlig allein sterben und tagelang in der Wohnung vermodern, bis jemand seine Leiche finden würde. Sie benutzt den Schlüssel nur selten und weiß kaum, wie er aussieht, aber sie sucht ihn in ihrer Handtasche inmitten des anderen Kleinkrams und findet ihn schließlich in einem kleinen schwarzen Lederetui, das auch den Schlüssel zu seinem Bankschließfach enthält, eine weitere Versicherung gegen einen unerwarteten Herzanfall.

Sie steckt den Schlüssel ins Schlüsselloch, dreht ihn herum. In der Stille des morgendlichen Korridors – die meisten Leute sind schon zur Arbeit, bis auf die Frau irgendwo ein Stück den Flur hinunter, die irgendetwas kocht, das entsetzlich stinkt – hört Cynthia das ölige Klicken der Schließzylinder. Sie dreht den Türknauf und drückt die Tür auf. Sie zieht den Schlüssel aus dem Schlüsselloch, verstaut ihn in ihrer schwarzen Lederhandtasche, betritt das Apartment ...

»Dad?«

... und schließt die Tür hinter sich. Stille.

»Dad?«, ruft sie wieder.

Kein Laut ertönt im Apartment.

Es herrscht eine seltsame Stille. Nicht die gespannte Stille einer Wohnung, die nur kurzzeitig verlassen ist. Es ist ein ehrfürchtiges Schweigen, eine Stille, die Dauerhaftigkeit in sich birgt. In dieser Stille liegt etwas Endgültiges, etwas so Absolutes, dass sie beängstigend und erregend zugleich ist. Etwas Bedrohliches lauert hier. Etwas Schreckliches wartet in diesen Räumen. Die Stille signalisiert schlimme Erwartungen und lässt ihr ein eisiges Frösteln der Vorahnung über den Rücken rieseln. Beinahe dreht sie sich auf dem Absatz um und geht hinaus. Sie ist kurz davor, wieder wegzugehen.

»Ich wünschte, ich hätte es getan«, erzählt sie jetzt.

Ihr Vater hängt an der Innenseite der Badezimmertür.

Die Tür ist offen und ragt ins Schlafzimmer und seine hängende Gestalt ist das Erste, was sie sieht, als sie das Zimmer betritt. Sie schreit nicht. Stattdessen weicht sie zurück und stößt gegen die Wand. Dann dreht sie sich um und schickt sich erneut an, einfach zu gehen, verlässt auch tatsächlich das Schlafzimmer und tritt in die Diele, aber die stumme, hängende Gestalt ruft sie zurück und sie betritt das Schlafzimmer erneut. Sie durchquert den Raum und geht zu der Gestalt, die an der Innenseite der Badezimmertür hängt. Sie macht immer nur einen Schritt, bleibt vor jedem weiteren stehen, um Luft zu holen und ihren Mut zusammenzuraffen. Sie blickt hoch zu dem Mann, der dort hängt, dann senkt sie den Kopf und schaut nach unten. Um einen weiteren Schritt zu machen. Sie beobachtet ihre sich vorwärts schiebenden Füße und nähert sich immer mehr der Tür und der grotesken Gestalt, die dort hängt.

Etwas Blaues ist um seinen Hals geschlungen. Sein Kopf ist zur Seite gekippt, als wäre er dorthin gesunken, als er einschlief. Der Haken befindet sich dicht unter dem oberen Rand der Tür und das Blaue ein Schal, nicht wahr? Eine Krawatte? ist um den Haken geschlungen, so dass die Zehen ihres Vaters ein paar Zentimeter über dem Fußboden schweben. Sie stellt fest, dass er barfuß ist und seine Füße blau sind, ein Blau, das dunkler und rötlicher ist als der Stoff, der um seinen Hals geknotet ist. Seine Hände sind ebenfalls blau. Es ist dasselbe dunkle rötliche Blau, das an einen schlimmen Bluterguss denken lässt, der die Handflächen und die Finger und die Handrücken verfärbt. Die Hände sind geöffnet und nehmen eine fast betende Haltung ein. Er trägt ein weißes Oberhemd und eine graue Flanellhose. Die Zunge hängt ihm aus dem Mund. Sie ist fast schwarz.

Sie tritt dicht an den Körper heran, der da hängt. Und blickt hoch in sein Gesicht.

»Dad?«, sagt sie ungläubig. Sie erwartet, dass er die Zunge noch weiter herausstreckt, vielleicht ein Prusten von sich gibt, zu grinsen beginnt, sie weiß nicht, was, irgendetwas tut, um ihr zu zeigen, dass er ein Spiel treibt, so wie er früher immer gespielt hat, als sie noch ein kleines Mädchen war, ehe er alt wurde ... und langweilig ... und tot war. Tot, ja. Er rührt sich nicht. Er ist tot. Er ist wirklich und wahrhaftig tot und er wird sie nie mehr anlächeln. Sie starrt in seine weit geöffneten Augen, die so grün sind wie ihre eigenen. Aber jetzt sind sie mit winzigen Blutflecken übersät. Sie kneift die eigenen Augen fast vollständig zu. Ihr Gesicht ist verzerrt, nicht vor Schmerz. Sie verspürt keinen Schmerz, sie empfindet noch nicht einmal so etwas wie Verlust oder Einsamkeit. Sie hat diesen Mann schon sehr lange nicht mehr richtig gekannt. Sie verspürt lediglich Entsetzen und einen tiefen Schrecken und Zorn, ja, unerklärlichen Zorn, Zorn, der unvermittelt und heftig auflodert. Warum hat er das getan? Warum hat er nicht irgendwen gerufen? Was, gottverdammt noch mal, ist mit ihm los?

»Ich nehme solche Ausdrücke normalerweise nicht in den Mund«, sagt sie zu den fünf Männern, die ihr zuhören und im Raum kehrt wieder Stille ein.

Die Polizei, denkt sie. Ich muss die Polizei rufen. Ein Mann hat sich erhängt, mein Vater hat sich erhängt, ich muss die Polizei benachrichtigen. Sie schaut sich im Zimmer um. Das Telefon. Wo ist das Telefon? Er sollte ein Telefon am Bett haben, er hat Probleme mit dem Herzen, ein Telefon sollte stets in Reichweite ...

Sie entdeckt das Telefon nicht neben dem Bett. Sondern am anderen Ende des Zimmers auf der Kommode. Aber gegen ein schnurloses Telefon hatte er sich immer gewehrt. In ihrem Geist wirbeln all die Dinge herum, die sie jetzt erledigen muss, wichtige Aufgaben, die sie wahrnehmen muss. Zuerst wird sie ihren Mann anrufen müssen. »Bob, Liebling, mein Vater ist tot.« Sie werden die Beerdigungsvorbereitungen treffen müssen, sie müssen einen Sarg aussuchen, seine Freunde benachrichtigen, aber wer zum Teufel sind seine Freunde? Auch ihre Mutter, sie wird sie anrufen müssen, seit fünf Jahren geschieden und sie wird sicher sagen: »Gut, das freut mich!« Aber zuerst die Polizei. Sie ist sicher, dass die Polizei bei einem Selbstmord benachrichtigt werden muss. Sie hat mal irgendwo gelesen oder gesehen, dass man die Polizei rufen muss, wenn man seinen Vater an einem Haken und mit heraushängender Zunge vorfindet. Plötzlich bricht sie in hysterisches Gelächter aus. Sie presst eine Hand auf den Mund und lugt über ihren Rand wie ein kleines Kind und lauscht mit weit aufgerissenen Augen und voller Angst, dass jemand hereinkommt und sie bei dem Toten antrifft.

Sie wartet mehrere Sekunden lang. Ihr Herz schlägt wild in der Brust und dann geht sie zum Telefon und will gerade 911 wählen, als ihr etwas einfällt. Etwas taucht plötzlich ungefragt in ihrem Geist auf. Sie erinnert sich an den Schließfachschlüssel in dem kleinen schwarzen Lederetui und ihr fällt gleichzeitig ein, dass ihr Vater ihr erklärt hat, dass sich in dem Schließfach neben anderen Dingen wie seiner silbernen Medaille, die er als Sieger in einem Laufwettkampf auf der Highschool erhalten hat, auch eine Versicherungspolice befindet. Viel ist es nicht, hat ihr Vater ihr erzählt, aber du und Bob, ihr seid die Nutznießer, daher vergiss nicht, dass es sie gibt. Sie erinnert sich auch daran, irgendwo gehört oder gelesen oder im Fernsehen oder im Kino gesehen zu haben – heute kriegt man ja so viele Informationen – also, sie erinnert sich daran, dass, wenn jemand Selbstmord begeht, die Versicherung die Lebensversicherung nicht auszahlt.

Sie weiß nicht, ob das stimmt, aber angenommen, es ist so? Sie hat auch keine Ahnung, wie hoch er sich versichert hat, viel wird es nicht sein, er hat eigentlich nie nennenswert viel Geld besessen. Aber angenommen, die Versicherung beläuft sich auf hunderttausend Dollar oder auch nur fünfzig oder zwanzig oder zehn? Wen interessiert das schon. Soll die Versicherungsgesellschaft die Prämie behalten, für die er all die Jahre eingezahlt hat? Nur weil irgendetwas ihn so sehr bedrückte – was zum Teufel hat dich so bedrückt, Dad? –, dass er sich selbst erhängen musste? Sie denkt, dass das nicht fair ist. Nein, das ist wirklich nicht fair.

Andererseits ... Angenommen ...

Nur einmal angenommen ...