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Gerald Hüther

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Beschreibung

Eine gute Bildung ist entscheidend für die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen. Das ist klar. Aber was genau ist gute Bildung, vor allem im digitalen Zeitalter, das von globalen Umbrüchen geprägt ist und in dem sich die Definition von Arbeit massiv wandelt? Was brauchen unsere Jüngsten von uns, damit sie sich Wissen und Können aneignen und gleichzeitig Orientierung im Leben finden können? Wie lernen sie, wie das Leben und Zusammenleben im 21. Jahrhundert wirklich gelingt? Unsere Bildungseinrichtungen kriegen das nicht allein hin, verhindern es oft sogar. Dafür braucht es jetzt uns alle, die ganze Zivilgesellschaft. #Education For Future ist ein Buch voller nutzbarer Antworten für den Alltag in Familie, Schule und Kindergarten, Nachbarschaft, Kommune und Co. Ein Aufruf zur Emanzipation. Und ein haltgebender Mutmacher für Eltern, Lehrer und alle, denen die Zukunft der jungen Generation am Herzen liegt.

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Buch

»Für ein gelingendes Leben brauchen wir vor allem eins: ein neues Bildungskonzept!« Gerald Hüther, Marcell Heinrich, Mitch Senf

Eine gute Bildung ist entscheidend für die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen. Das ist klar. Aber was genau ist gute Bildung, vor allem in einer Zeit der globalen Umbrüche, in der die Definition von Arbeit sich massiv wandelt? Was brauchen unsere Jüngsten von uns, damit sie sich Wissen und Können aneignen und gleichzeitig Orientierung im Leben finden können? Wie lernen sie, wie das Leben und Zusammenleben im 21. Jahrhundert wirklich gelingt? Unsere Bildungseinrichtungen kriegen das nicht allein hin, verhindern es oft sogar. Dafür braucht es jetzt uns alle, die ganze Zivilgesellschaft. #EducationForFuture ist ein Buch voller nutzbarer Antworten für den Alltag in Familie, Schule und Kindergarten, Nachbarschaft, Kommune und Co. Ein Aufruf zur Emanzipation. Und ein Halt gebender Mutmacher für Eltern, Lehrer und alle, denen unsere Kids am Herzen liegen.

MARCELL HEINRICH | MITCH SENF

GERALD HÜTHER

#EDUCATIONFOR

Bildung für ein gelingendes Leben

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Februar 2020

Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München, unter Verwendung von Motiven von: © Artur Debat/Moment/Getty Images

Redaktion: Regina Carstensen

DF | Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24701-0V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Dieses Buch ist unser Geschenk für alle Kinder und Jugendlichen – als Dank für all das, was sie uns Erwachsenen in dieser Welt immer wieder schenken.

Gerald Hüther, Marcell Heinrich und Mitch Senf

Inhalt

Einleitung – Worum es geht

Teil I Das Ende von Schulen, wie wir sie kannten

Bildung ist der einzige Weg in die Freiheit

1. Wahrnehmen: Die Welt, für die unsere Schulen gemacht worden sind, existiert nicht mehr

Die Veränderung unserer Lebenswelt

Genau hinschauen: Der Aufbruch in die Freiheit

Die Veränderung unserer Arbeitswelt

Ohne Panik betrachten: Das bevorstehende Ende der Lohnarbeit

Die Veränderung unserer Vorstellungswelt

Mit wachem Verstand verfolgen: Der sich abzeichnende Bewusstseinswandel

2. Erkennen: An einmal gefundenen Lösungen wird auch dann noch festgehalten, wenn sie längst nicht mehr funktionieren

3. Verstehen: Jede tief greifende und nachhaltige Veränderung beginnt mit einer inneren Berührung

4. Gestalten: Um das Alte zu ersetzen, muss das Neue für alle Beteiligten attraktiver, leichter und beglückender sein

Teil II Der Anfang von Bildung fürs Leben

Wie wir unseren Kindern den Weg bereiten können

1. Tänzer des Jahres

2. Aufwachsen mit Umhang: Günstige Erfahrungen für ein gelingendes Leben

Begegnung als Subjekt: Weil Kinder Menschlichkeit brauchen

Begegnung mit Mentoren: Wenn jemand kommt und an mich glaubt

Selbst gewählte Herausforderungen: Wie unsere Kinder über sich hinauswachsen

Momente der Selbstgewissheit: Wenn jungen Menschen ein Licht aufgeht

Befreiung vom Leistungsdruck: Wie wir uns von der Zukunftsangst lösen

Ausgestattet mit Umhang: Wie die Reise gelingt

3. Wahre Geschichten: Bildung mitten im Leben

Konstantin

Sophia

Axel und Falk

4. Unsere Verantwortung: Der Aufruf zum Bilden

Der Mensch als Autor seiner selbst: Was Bildung wirklich ist

Nicht Bildung, sondern Ausbildung: Was in Schule und Co. wirklich stattfindet

Vom Kultus zum Volk: Warum wir alle Lehrer sind

Sorgen wir für Bildung: Es liegt in unseren Händen

Die Chance

Literatur

Einleitung Worum es geht

Es liegt in der Luft. Sogar die Bildungspolitiker, auch die in den Bildungseinrichtungen tätigen Personen und vor allem die um die Zukunft ihrer Kinder besorgten Eltern spüren es seit einigen Jahren immer deutlicher: So rasch hat sich die Welt noch nie verändert. Allen ist klar, dass sich dieser mit der Globalisierung und Digitalisierung einhergehende Veränderungsprozess künftig noch weiter beschleunigen wird. Wer jetzt nicht aufwacht und sich lernend auf den Weg macht, wird schnell den Anschluss verlieren. Deshalb sind sich auch alle einig, wie wichtig eine möglichst gute Bildung für die in diese Welt hineinwachsenden Kinder und Jugendlichen ist.

Aber schon bei der Frage, wie diese optimale Bildung aussehen soll, scheiden sich die Geister. Manche fordern intensivere und verbesserte Wissensvermittlung, andere meinen, auf die Aneignung von Kompetenzen komme es vor allem an. Manche finden die Förderung der sogenannten leistungsschwachen Kinder besonders wichtig, andere weisen darauf hin, dass den besonders Begabten dringend bessere Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden müssen. Und so geht die Debatte dann auch munter weiter: Inklusion oder ab in die Sonderschulen, Frontalunterricht oder Projektarbeit, Lernen in Teams oder einzeln. Gesamtschule oder Gymnasium, Notengebung und Sitzenbleiben oder keinen Schüler zurücklassen … Zu jeder Frage gibt es ebenso hitzige wie zermürbende Diskussionen darüber, was denn nun das geeignetere Vorgehen sei.

Aber Uneinigkeit herrscht nicht nur hinsichtlich der Frage, wie ein optimaler Unterricht auszusehen hat. Noch viel breiter wird das Spektrum an Vorschlägen und Ideen, wenn es darum geht, welche Inhalte in der Schule unterrichtet, welcher Stoff dort also in welchen Fächern vermittelt werden soll. Lehrpläne abspecken sagen die einen, mehr Mathe und Naturwissenschaft oder auch intensiveren Deutsch- und Fremdsprachenunterricht die anderen. Kunst und musische Fächer dürften nicht vernachlässigt werden, aber Sport und Politik und Handarbeit ebenso nicht. Und gleichzeitig wächst die Liste mit Vorschlägen, was noch alles in der Schule unterrichtet werden sollte: vom Verhalten im Straßenverkehr über gendergerechte Sexualkunde bis hin zu Körperhygiene, Wirtschaftskunde und selbstverständlich auch dem Umgang mit digitalen Medien.

Die Aufzählung all der vielen Vorschläge und Forderungen, die alle entweder darauf abzielen, wie künftig besser unterrichtet und gelernt oder was in den Bildungseinrichtungen unterrichtet und gelernt werden sollte, ließe sich noch beliebig erweitern. Und natürlich kann man dann auch trefflich darüber debattieren, was davon tatsächlich geeignet ist, um eine möglichst gute Bildung für möglichst viele Heranwachsende zu erreichen. Wer dieses ganze Hin und Her und das ständige Für und Wider der heute üblichen Bildungsdebatten als unbefangener Beobachter von außen betrachtet, kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass da etwas nicht stimmt. Nicht irgendetwas, sondern etwas ganz Grundsätzliches.

Sichtbar wird das ja nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch in allen anderen Bereichen unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Überall kommt es zu einer stetig wachsenden Anzahl unterschiedlicher, oft genug einander widersprechender Vorschläge und Forderungen, die darauf ausgerichtet sind, was alles auf welche Weise umzusetzen ist. Dieses Durcheinander ordnet sich erst dann, wenn die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft sich über den Sinn und Zweck ihres Tuns einig geworden sind. Weshalb das so ist und auch gar nicht anders sein kann, wird uns später noch etwas eingehender beschäftigen. Es wird Sie dann vielleicht überraschen, dass dafür nicht die Kultusbürokratie, sondern der zweite Hauptsatz der Thermodynamik verantwortlich ist.

Für das Bemühen um eine möglichst gute Bildung heißt das: Solange es nicht gelingt, uns miteinander darauf zu verständigen, wofür Bildung gebraucht wird und wozu sie Kinder und Jugendliche befähigen soll, werden wir uns auch weiterhin in einer ständig wachsenden Fülle an gut gemeinten Vorschlägen und wohlbegründeten Forderungen zur Verbesserung der Bildung verheddern.

Wofür und wozu also braucht ein Mensch, brauchen vor allem Heranwachsende eine möglichst gute Bildung? Gibt es da etwas, worauf wir alle uns einigen könnten?

Es müsste ja etwas sein, das nicht nur hier, in unserem Land, sondern überall auf der Welt gültig ist. Und genau genommen dürfte das, was durch diese Bildung erreicht werden soll, auch nicht erst jetzt, in der heutigen Zeit, von entscheidender Bedeutung sein, sondern schon immer, solange es Menschen gibt, die sich in ihrer jeweiligen Lebenswelt zurechtzufinden versuchten. Bereits unsere frühen Vorfahren, die noch als Jäger und Sammler umherzogen, brauchten eine Art von Bildung, die ihnen das Überleben in ihren Gemeinschaften ermöglichte. Ihr erworbenes Wissen und Können oder irgendwelche besonderen Kompetenzen müssen auch sie schon an ihre Nachkommen weitergegeben haben. Vor allem dann, wenn es schwierig wurde und sie nicht mehr weiterwussten, suchten sie bei ihren ältesten und erfahrensten Mitgliedern Rat. Das waren keine Spezialisten, die dieses oder jenes besonders gut erklären und umsetzen konnten, sondern besonders Gebildete. Und diese Ratgeber waren deshalb so gebildet, weil sie im Lauf ihres Lebens vielfältige Gelegenheiten hatten, um nachhaltig zu lernen, was Menschsein bedeutet und wie ein fruchtbares Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften möglich wird. Geht es nicht auch noch heute und in Zukunft genau um diese Art von Bildung, die Menschen immer und überall brauchen? Wer gelernt hat, mit sich selbst klarzukommen, sich im Leben zurechtzufinden und es gemeinsam mit anderen zu gestalten, wird sich mit Freude und Leichtigkeit dann auch all das spezifische Wissen und Können sowie die dazugehörigen Kompetenzen aneignen, um die in seiner Lebenswelt und zu seiner Lebenszeit anfallenden spezifischen Aufgaben zu meistern oder einfach nur mühelos zu erledigen.

Klar, wir leben heute und nicht mehr in der Steinzeit. Aber wie unsere damaligen Verwandten müssen auch wir heute geeignete Orte und Gelegenheiten schaffen, wo unsere Kinder all das lernen können, was sie für ein gelingendes Leben brauchen. Wer könnte uns sagen, worauf es dabei ankommt und wie sich das dann auch praktisch umsetzen lässt? Unternehmensführer? Politiker? Hochschullehrer? Oder unsere Kultusbeamten und Bildungsexperten? Deren Vorstellungen, Konzepte und Maßnahmen haben unser Bildungssystem ja genau dorthin geführt, wo wir heute angelangt sind: in die Orientierungslosigkeit.

Sollten wir deshalb nicht lieber bei denjenigen Rat suchen, denen weniger ihr Ansehen und ihre Karriere am Herzen liegt, sondern – so sehr es nur geht – die Zukunft der in unsere Welt hineinwachsenden Kinder und Jugendlichen? Das können auch Pädagogen, Politiker oder Hochschullehrer sein, aber das sind immer und zuallererst diejenigen, die diesen Kindern ihr Leben geschenkt, die sie begleitet und, so gut sie das vermochten, großgezogen haben.

Und was antworten die meisten Eltern, wenn sie gefragt werden, was sie sich für ihre Kinder wünschen? »Glücklich sollen sie sein, jetzt schon, aber auch noch später, als Erwachsene.« Und wenn man die Eltern dann weiter befragt, was ihrer Meinung nach jedes Kind überall auf der Welt wirklich braucht, um sein Leben so gestalten zu können, dass es glücklich wird, kommen die Antworten hervorgesprudelt wie das Wasser aus einer Quelle: eine Tätigkeit, die Freude macht, verlässliche Freunde, die zu ihm halten, und natürlich auch Geborgenheit, Vertrauen, Zuversicht, viel Fantasie und gute Ideen, auch Herausforderungen und immer wieder ganz viel Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten.

Nicht ganz so schnell wird deutlich, was diejenigen Eltern meinen, die auf diese Frage antworten: »Mein Kind soll später im Leben erfolgreich sein, Karriere machen, Anerkennung finden und genug Geld verdienen. Es soll ihm besser gehen als uns.« Auch das ist ein verständlicher Wunsch. Und es werden ja heutzutage in den Medien sehr gern und oft genug Personen vorgestellt, die besonders erfolgreich in Spitzenpositionen aufgestiegen sind, die viel Geld und wertvolle Besitztümer erworben haben, berühmt geworden sind und von anderen bewundert werden. »Aber«, so sollte man diese Eltern weiter fragen, »sind die auch wirklich glücklich?« Solange der Erfolg anhält vielleicht, aber sonderbarerweise wird die Mehrzahl dieser so überaus erfolgreichen Überflieger irgendwann vom wirklichen Leben eingeholt. Und dort finden sie sich dann gar nicht so gut zurecht, werden depressiv, alkohol- oder drogensüchtig, leben in kaputten Familien und sind alles andere als glücklich. Ist es wirklich das, was diese Eltern ihren Kindern wünschen?

Möglicherweise kommt es gar nicht darauf an, erfolgreich zu sein. Möglicherweise ist es, um wirklich glücklich zu sein, viel wichtiger, dass einem möglichst vieles im Leben gelingt. Möglicherweise geht es gar nicht um den Erfolg, sondern um das Gelingen. Wie schön, dass wir in unserer Sprache diesen kleinen, aber entscheidenden Unterschied zum Ausdruck bringen und uns das deshalb auch bewusst machen können. Wenn wir sagen, etwas sei gelungen, dann meinen wir damit, dass nicht wir es so gemacht haben, wie es geworden ist, sondern dass wir nur ermöglicht haben, dass es so werden konnte. Einfache Aufgaben wie ein Forschungsprojekt oder ein Fahrradrennen kann man erfolgreich abschließen. Aber alles, was im tagtäglichen Zusammenleben stattfindet und deshalb sehr komplex ist und sich in vielfältigen Wechselwirkungen entfaltet, kann nur gelingen. Eine Partnerschaft beispielsweise oder eine Hochzeitsfeier oder das Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft. All das, ja alles, was das Leben an schwierigen Herausforderungen für uns bereithält und was wir irgendwie meistern müssen, kann nur gelingen, aber nicht erfolgreich zu Ende geführt werden.

Nun sind wir endlich dort angekommen, wo die Frage nach dem Sinn der Bildung spannend wird: Auch ein Leben, ein glückliches Leben kann unseren Kindern nur gelingen. Wir können es nicht für sie machen, selbst wenn wir uns noch so sehr darum bemühen. Aber wir können ihnen ermöglichen, sich all das anzueignen, was sie brauchen, damit sie ihr Leben so gestalten können, dass es gelingt. Dann werden sie auch glücklich sein. Und das, was sie dazu benötigen und was wir ihnen dafür mit auf den Weg geben können, ist Bildung. Bildung für ein gelingendes Leben.

Alles andere ist Ausbildung. Und die dient dazu, später im Leben bestimmte Aufgaben übernehmen und bestimmte Leistungen erbringen zu können. Das dabei erworbene Wissen oder Können brauchen die in unsere Lebenswelt hineinwachsenden Kinder und Jugendlichen auch. Wer sich hinreichend viel spezifisches Wissen und Können angeeignet hat, kann das dann möglicherweise sehr gut umsetzen und besonders erfolgreich werden. Aber das, was Heranwachsende in den von uns geschaffenen »Bildungseinrichtungen« lernen können, reicht dazu nicht aus. Eine Ausbildung, also der Erwerb von Wissen und Können, auch von Kompetenzen, ist zu wenig, um sein Leben so gestalten zu können, dass es wirklich gelingt. Allein damit kann aus einem Heranwachsenden kein glücklicher Mensch werden, bestenfalls ein gut ausgebildeter und vorübergehend erfolgreicher.

Um es gleich von Anfang an deutlich zu machen: Wir sind alle drei keine Lehrer und nicht verbeamtet. Wir sind ausgebildet als Hirnforscher (Gerald Hüther), als Sportmanager (Mitch Senf) und als Schulsozialarbeiter (Marcell Heinrich). Aber wir sind vor allem lebendige Menschen, auch Väter, und wir sind auf der Suche nach dem, was uns und unsere Kinder glücklich macht. Dabei ist jeder von uns auf seine besondere Weise aus der Enge seiner jeweiligen Berufsbilder hinausgewachsen. Zu dritt können wir uns das gegenwärtige Geschehen in unseren Schulen deshalb aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit dem nötigen Abstand anschauen. Klar, dass wir so auch etwas anderes sehen und dass wir das, was dabei für uns sichtbar wird, anders bewerten, als das all jene tun, die selbst Teil dieses Systems sind.

Die Welt, in der wir heute schon leben und in der unsere Kinder künftig leben werden, befindet sich schon seit einigen Jahrzehnten in einem dramatischen Wandel. Kaum etwas ist heute noch so, wie es noch zur Jahrtausendwende war. Und wenn unsere Kinder »ausgeschult« sind, wird sich die Welt, in der sie sich dann zurechtfinden müssen, so sehr verändert haben, wie wir Erwachsenen, ob als Eltern oder als Lehrer, uns das kaum vorzustellen wagen. Aber der große Wandel ist längst im Gang. Jeder spürt das, aber fast alle, die nun langsam wach werden müssten, versuchen genauso weiterzumachen wie bisher.

Das kann nicht gut gehen.

Die Voraussetzung, um irgendetwas an unserem gegenwärtigen Bildungssystem verändern zu können, ist eine zumindest einigermaßen klare Vorstellung davon, weshalb es so geworden ist und wie es künftig werden sollte. Mit diesen Fragen beschäftigt sich Gerald Hüther im ersten Teil dieses Buchs. Sein Titel, »Das Ende von Schulen, wie wir sie kannten«, macht schon deutlich, worum es hier geht: Jedes Bildungssystem und damit auch all das, was in Schulen geschieht, dient der Stabilisierung und der Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaft. Diese Aufgabe – also die nachwachsende Generation dafür so gut wie möglich zu befähigen – erfüllen alle in dieses Bildungssystem eingebundenen und in seinen Einrichtungen beschäftigten Akteure.

Es gibt aber auch Zeiten, sogenannte Umbruchszeiten, in denen sich die Gesellschaft und das, was in ihr geschieht, sehr rasch und sehr tief greifend verändert. Ausgelöst werden solche Umbrüche unter anderem durch technische Innovationen, aber ebenso durch politische oder wirtschaftliche Verwerfungen und Verschiebungen. Damit ändert sich in relativ kurzer Zeit sehr vieles von dem, was bisher gültig war und Orientierung bot. Die Bildungsverantwortlichen und die Schulen sind dafür nicht verantwortlich. Das Herbeiführen solcher Umbrüche war noch nie ihre Aufgabe. Wenn sie sich ereignen, sind weder die Bildungsverantwortlichen noch die Schulen darauf vorbereitet. Beide können dann nur noch auf die großen Veränderungen reagieren, die sich draußen, vor den Schultüren vollziehen. Statt Erhalter und Gestalter der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein, werden sie nun selbst immer stärker von den in der Gesellschaft ablaufenden Veränderungen gestaltet und in Frage gestellt. Diesem von außen auf sie wirkenden Veränderungsdruck folgen sie so lange, bis sie dann selbst auch wieder in diese neue Welt passen. Aber dann sind Schulen nicht mehr das, was sie einmal waren, nicht mehr die Bildungseinrichtungen, wie wir sie kannten.

Deshalb geht es in diesem ersten Teil noch nicht so sehr um die anstehende Verwandlung der Schulen, sondern um das Verständnis der gegenwärtig in unserer Gesellschaft stattfindenden Veränderungen und Umbrüche. Es geht um die Folgen der Digitalisierung und all dessen, was die Wirtschaftsleute als Industrie 4.0 bezeichnen. Es geht um die Globalisierung und die vielen Menschen, die ihre Heimatländer verlassen und ein neues Zuhause irgendwo in der Welt suchen müssen. Und es geht um die Auswirkungen der rücksichtslosen Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen, um den Klimawandel, die Vermüllung unserer Landschaften und Meere, das ständig weiter um sich greifende Artensterben, und um die Frage, was eigentlich noch alles auf uns zukommen muss, bis wir endlich aufwachen?

Vor allem aber geht es darum, was all das für unsere nachwachsende Generation bedeutet. Was kommt da auf unsere Kinder zu? Wie und vor allem wo sollen sie damit umzugehen lernen? Es dürfte doch ab sofort kein einziges Kind mehr seine ihm angeborene Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten verlieren. Wem die Freude am Lernen unterwegs verloren gegangen – oder noch deutlicher: verdorben worden – ist, der wird keinen Weg in diese neue Welt finden. Ob mit oder ohne Abitur ist dabei egal.

Damit aber auch wirklich deutlich wird, wohin diese Veränderung führen wird, befasst sich Gerald Hüther in diesem ersten Teil mit der Suche nach dem, was es den Akteuren in unserem Bildungssystem und vor allem den Lehrpersonen so schwer macht, sich diesen neuen Herausforderungen anzupassen. Allem voran sind das die einmal entstandenen und damals wohl noch geeigneten Verwaltungs- und Organisationsstrukturen, die darüber bestimmten, was in den Schulen zu geschehen hatte. Sie haben sich bisher kaum verändert und wirken bis heute, als seien sie in Stein gemeißelt.

Aber so, wie sich innerhalb einer Gesellschaft bestimmte Organisationsstrukturen herausbilden, die dazu neigen, sich selbst zu stabilisieren, strukturiert sich unser Gehirn. Auch dort entstehen aus den anfänglich noch vielfältig verzweigten Fortsätzen und Kontakten, je häufiger und je erfolgreicher sie benutzt werden, erst Wege, dann Straßen und schließlich Autobahnen. Auf denen kommen die betreffenden Personen dann zwar immer schneller voran, aber davon kommen sie nun auch zunehmend schlechter wieder herunter. Diese eingefahrenen Bahnen bestimmen dann allzu leicht ihr gesamtes Denken, Fühlen und Handeln. Das gilt jedoch nicht nur für die Akteure in unserem gegenwärtigen Bildungssystem, sondern für alle, die fest davon überzeugt sind, dass die Schulpflicht notwendig ist, dass Schüler unterrichtet und bewertet werden müssen, dass jemand an einer Hochschule Pädagogik studiert haben muss, um Lehrer sein zu können. Ja, und dass Schüler ohne Druck und Wettbewerb keine Höchstleistungen vollbringen. Es geht nicht darum, ob diese Vorstellungen zutreffend oder hilfreich sind. Wichtig ist nur, dass wir verstehen, dass das alles eben nur Vorstellungen sind. Und die kann man loslassen und durch andere ersetzen, wenn man das will, weil man es für notwendig und sinnvoll erachtet.

Allerdings wird niemand einen neuen Weg einschlagen, sondern lieber auf den alten, bewährten und gut beschilderten Straßen bleiben, solange er nicht weiß, was da auf ihn zukommt. Solange er keine Vorstellung davon hat, wohin dieser neue Weg führt, und er nicht davon überzeugt ist, dass es ihm dort besser geht, dass er ihn unbeschwerter, freier, glücklicher beschreiten kann. Deshalb macht Gerald Hüther am Ende dieses ersten Teils auch einen sehr einfachen Vorschlag, was in Zukunft aus dem wird, was wir heute noch Schule nennen. Wie dieser Vorschlag umgesetzt werden kann, soll hier noch nicht verraten werden. Aber das, was dabei entsteht, muss ja für alle Beteiligen leichter und beglückender sein, sonst würde sich ja niemand auf den Weg dorthin machen.

Im dem von Marcell Heinrich und Mitch Senf verfassten zweiten Teil geht es dann um die praktische Umsetzung. Und hier wollen wir nicht zu viel vorwegnehmen und Sie lieber überraschen. Denn in Wirklichkeit hat dieser Wandel in Richtung Zukunftsfähigkeit unseres Bildungssystems ja schon längst begonnen. Allerdings nicht oben, in den Köpfen und Verwaltungsstuben derjenigen, die für das zuständig sind, was in unseren Schulen passiert, sondern unten, vor Ort. Auch in Schulen, aber vor allem dort, wo jede Art von Bildung für ein gelingendes Leben stattfinden kann: mitten im Leben. Noch längst nicht überall im Land, aber von der breiten Öffentlichkeit und den Medien weitgehend unbemerkt, sprießen diese innovativen Projekte und Initiativen wie Pilze aus vielen ausgetrockneten oder zubetonierten Bildungslandschaften. Leicht haben sie es nicht. Aber solange sie nicht genau überwacht und kontrolliert werden, kann dort noch in Ruhe ausprobiert werden, wie es geht. Wie es möglich ist, Kinder und Jugendliche so auf ihrem Weg in die Welt zu begleiten, dass sie später einmal in der Lage sind, mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der Vielfalt lebendiger Lebensformen anders umzugehen, als wir heutige Erwachsene und unsere Eltern und Großeltern dazu imstande waren: menschlicher, verantwortungsbewusster, achtsamer, weitsichtiger und vor allem liebevoller.

Diesen jungen Kreativen gehört die Zukunft. Für sie, aber auch für alle Erwachsenen, die unsere Kinder und Jugendlichen auf dem Weg dorthin – auch mit dem Kopf, aber vor allem mit dem Herzen – begleiten wollen, haben wir dieses Buch geschrieben.

Teil I Das Ende von Schulen, wie wir sie kannten

Bildung ist der einzige Weg in die Freiheit

Das Dogma vom »Survival of the Fittest« beherrscht seit mehr als einem Jahrhundert das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen in der westlichen Welt. Wir versuchen uns gegenseitig zu überholen, auszustechen, zu überbieten und auszutricksen, und glauben damit, einem Naturgesetz zu folgen, das für alle Lebewesen gilt. Aber der Mensch unterscheidet sich von allen anderen Lebensformen sehr grundsätzlich: Kein anderes Lebewesen verändert seinen eigenen Lebensraum und seine eigenen Lebensbedingungen so grundlegend, so nachhaltig und inzwischen auch so rasch wie wir Menschen. Tiere müssen miteinander und mit der Natur klarkommen. Wir auch. Aber zusätzlich auch noch mit uns selbst und mit dem, was wir und unsere Vorgänger aus der Welt, in der wir leben, gemacht haben.

Der Zustand der Welt, in dem wir sie unseren Kindern überlassen, und was wir ihnen damit aufbürden, ist eine Schande und karikiert den Namen, den wir unserer Spezies zu Zeiten gegeben haben, als noch nicht absehbar war, wie unfähig wir sind, den von uns selbst verursachten katastrophalen Entwicklungen auf dieser Erde mit zumindest ein wenig Weisheit und Weitsicht entgegenwirken.

Aber keine Angst, all diese Miseren werden in diesem ersten Teil nicht noch einmal beschrieben. Das haben andere oft genug und eindringlich genug gemacht. Hier geht es um unsere Fähigkeit, überhaupt erst einmal zu erkennen, was da auf uns zukommt, und zu verstehen, was all das für unsere Kinder und Jugendlichen bedeutet. Welche Fähigkeiten brauchen sie dafür, und was müssten sie auf dem Weg in diese Zukunft in ihrem Rucksack haben? Ein gutes Abiturzeugnis? Einen Bachelor- oder gar Masterabschluss? Wie absurd ist das denn?

Was künftig aus unseren Schulen wird, lässt sich nur erkennen, wenn wir verstehen, was dieser ganzen Schulmisere zugrunde liegt: Wie alle hierarchischen Ordnungen hat auch unser Bildungssystem die innewohnende Tendenz, sich selbst zu erhalten und die dort irgendwann einmal herausgebildeten Macht- und Einflussbereiche ihrer jeweiligen Ressorts und Entscheidungsebenen immer wieder neu zu stabilisieren. Selbst wenn sich die Welt, in der all diese Strukturen entstanden sind, immer stärker verändert, bleiben sie doch, solange es nur irgendwie geht, genau so, wie sie sich ursprünglich einmal herausgebildet hatten.

Es ist gut zu wissen, dass es solche sich selbst verhärtenden Organisationsstrukturen gibt, aber verändern oder gar auflösen lassen sie sich ja nicht dadurch, dass sie beschrieben werden und ihre Herausbildung erklärbar wird. Die spannende Frage ist deshalb, was die Akteure eines Bildungssystems dazu bringen kann, ihre im Lauf des Lebens herausgebildeten und fest im Hirn verankerten Vorstellungen zu verändern, wie Schule zu funktionieren hat. Mit eindringlichen Forderungen und irgendwelchen Druckmitteln geht es nicht. Und es geht auch nicht mit Überredungskunst oder schönen Versprechungen. Es geht nur, indem durch äußere Veränderungen Bedingungen entstehen oder auf kreative Weise Gegebenheiten geschaffen werden, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass zunächst die betreffenden Akteure mit ihren eingefahrenen Denk- und Handlungsmustern und dann auch das betreffende System mit seinen etablierten und eingefahrenen Organisations- und Verwaltungsstrukturen in einen unauflösbaren inneren Konflikt geraten. Wie sich solch ein innerer Konflikt in den Köpfen der unser gegenwärtiges Bildungssystem stabilisierenden Personen auslösen lässt, erfahren Sie am Schluss dieses ersten Teils, wenn es darum geht, wie sich ein tief greifender und nachhaltiger Wandel unserer gegenwärtigen Bildungslandschaft herbeiführen lässt. Aber am Anfang jeder Veränderung steht zunächst immer die Bereitschaft, etwas wahrzunehmen, das diejenigen, die nicht zu einer solchen Veränderung bereit sind, lieber nicht wahrnehmen wollen.

1. Wahrnehmen: Die Welt, für die unsere Schulen gemacht worden sind, existiert nicht mehr

Die meisten Menschen sind der Meinung, das Denken sei die wichtigste Aufgabe des Gehirns. In Wirklichkeit ist es aber viel einfacher. Unser Gehirn sorgt dafür, dass wir am Leben bleiben und gegebenenfalls auch Nachkommen hervorbringen, die ebenfalls möglichst lange leben und sich fortpflanzen. Dafür ist es optimiert. Wenn sich etwas im Körper verändert, werden entsprechende Signale zum Hirn weitergeleitet. Dort werden dann bestimmte Verknüpfungen und Netzwerke von Nervenzellen aktiviert, sodass ein charakteristisches Signalmuster entsteht. Das wird dann zum Körper weitergeleitet und löst dort Reaktionen aus, die dazu führen, die betreffende Veränderung entweder auszugleichen oder zu integrieren, sodass von ihr keine Gefahr mehr für Leib und Leben ausgeht. Auch bei Veränderungen in der äußeren Welt, die über die Sinnesorgane wahrgenommen und zum Gehirn weitergeleitet werden, kommt es zur Aktivierung von entsprechenden Antworten, um sie auszugleichen oder zu integrieren. Da diese Antworten umso wirksamer sind, je früher sie in Gang gesetzt werden können, hat sich die Fähigkeit herausgebildet, vorausschauend zu denken. Wer sich in Gedanken eine Vorstellung davon machen kann, was auf ihn zukommt, kann besser darauf reagieren als jemand, der davon nichts mitbekommt.

Umso erstaunlicher ist es, dass es Menschen gibt, die durchaus bemerken, dass etwas auf sie zukommt, das sie eigentlich zum Nachdenken und dann auch zum Handeln zwingt, die aber dennoch nichts tun. Manche schaffen es sogar, die Wahrnehmung solcher Veränderungen in ihrem Gehirn so effektiv zu unterdrücken, dass sie selbst dann, wenn es wirklich brenzlig wird, unbeeindruckt so weitermachen können wie bisher. Solche Verdrängungskünstler haben keine Lust, sich damit zu beschäftigen, was beispielsweise in unserem Bildungswesen geschieht, oder gar darüber nachzudenken, was das, was viel zu viele Schüler dort erleben, für deren Zukunft bedeutet. Einigen ist es auch deshalb lieber, nichts zu bemerken, weil sie im Lauf ihres bisherigen Lebens die Erfahrung gemacht haben, dass sie an dem, was sie als problematisch erkannt haben, ohnehin nichts ändern können. Die meisten aber sind nicht bereit, sich um etwas zu kümmern, das sie nach ihrer Einschätzung nicht selbst und unmittelbar betrifft. Statt genauer hinzuschauen und den wahrgenommenen Veränderungen nachzugehen, beruhigen sie sich selbst, indem sie sich einreden, das sei doch alles nicht so schlimm, und das würde sich schon wieder geben. Wenn nicht, solle es doch von denen korrigiert werden, die dafür zuständig sind.

Diese bemerkenswerte Dickhäutigkeit und Ignoranz haben eine recht banale Ursache, die in der inneren Organisation und Arbeitsweise des Gehirns begründet ist. Auch das Gehirn muss, ebenso wie der ganze Organismus und jedes lebende System, sich selbst so organisieren und seine Aktivitäten so gestalten, dass dabei der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht verletzt wird. Der fordert, dass in jedem lebenden System der zur Aufrechterhaltung seiner Struktur und Funktion erforderliche Energieaufwand so gering wie möglich gehalten wird. Wenn das nicht gelingt, zerfällt es, und die in ihm gebundene Energie verteilt sich wieder gleichmäßig im Universum.

Der Zustand, in dem die geringste Energie verbraucht wird, ist der, in dem alles optimal zusammenpasst. Die wissenschaftliche Bezeichnung dafür ist Kohärenz. Und diesen Zustand strebt alles, was lebendig ist, also einzelne Zellen und Organe und besonders offenkundig unser Gehirn, aber auch jede lebendige Gemeinschaft die ganze Zeit an. Wenn etwas geschieht, was diesen angestrebten Zustand verschlechtert, wenn also durch die Wahrnehmung einer bedrohlichen Veränderung im Gehirn ein gewisses Durcheinander in Form von Aufregung, Rat- und Hilflosigkeit entsteht, steigt der Energieverbrauch dort oben rapide an. Es ist dann inkohärent geworden und müsste nun möglichst schnell wieder etwas kohärenter werden. Zum Beispiel dadurch, dass die Störung bereinigt, das Problem gelöst wird. Dann wäre alles wieder gut, und die betreffende Person hätte gelernt, was künftig in einem derartigen Fall zu tun ist.

Manchmal weiß man aber nicht, was angesichts einer sich abzeichnenden bedrohlichen Veränderung getan werden kann. Oder alles, was man zu tun versucht, erweist sich als wirkungslos. Manche Veränderungen sind auch so vielschichtig und komplex, dass sie nicht durch das Handeln Einzelner abgestellt werden können. Weil sich die meisten Veränderungen auf Ebenen vollziehen, die hinter den beobachtbaren Phänomenen verborgen sind, werden sie erst viel zu spät bemerkt. Die Aufmerksamkeit richtet sich dann allzu leicht nur auf die Korrektur der jeweils zutage tretenden Symptome. Die tiefer liegenden Ursachen für deren Entstehung bleiben dann oft über lange Zeit unerkannt.

Damit wir beim Nachdenken über die Frage, wie Bildung gelingen kann, nicht in diese Falle tappen, kommt es darauf an, den Blick zu öffnen, um die hinter der so vehement geführten Bildungsdebatte verborgenen Veränderungen unserer Lebens-, Arbeits- und Vorstellungswelt erkennbar und verstehbar zu machen. Denn diese gegenwärtig ablaufenden tief greifenden Transformationsprozesse, nicht aber das Schulsystem, die Kultusminister, die Schulleiter und Lehrpersonen oder gar die Eltern sind es, die unsere bisherigen Vorstellungen von Erziehung und Bildung jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so grundsätzlich in Frage stellen.

Weil es mehr Freude macht, etwas zu lesen, wenn man schon eine gewisse Ahnung davon hat, worauf es hinausläuft, soll an dieser Stelle schon die große Herausforderung benannt werden, mit der unsere Kinder und Jugendlichen konfrontiert sind: Damit ihnen ihr Leben gelingt, müssen sie lernen, mit der Freiheit umzugehen, für die vorangegangene Generationen so sehr gekämpft haben. Was diese mit der Befreiung von Hunger, Not und Elend, von Unterdrückung und Ausbeutung, von Krankheit und anderen Bedrohungen in unserem Kulturkreis geschaffen haben, eröffnet den hier und heute Heranwachsenden ein noch nie dagewesenes Spektrum bisher kaum vorstellbarer Möglichkeiten.

Die Veränderung unserer Lebenswelt

Genau hinschauen: Der Aufbruch in die Freiheit

Sogar die Hirnforscher sind darauf hereingefallen. In den sogenannten Libet’schen Experimenten waren Testpersonen gebeten worden, zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einen Knopf zu drücken. Mithilfe elektrophysiologischer Ableitungen ließ sich nachweisen, dass es im Gehirn bereits 300 Millisekunden, bevor die Testpersonen den Entschluss fassten, diese Handlung auszuführen, zu einer Aktivierung gekommen war. Damit, so meinten die Forscher, sei nun bewiesen, dass der Mensch keinen freien Willen besitzt, dass er nur deshalb in bestimmter Weise handelt, weil die betreffende Handlung in seinem Gehirn vorher vorbereitet ist. Er führe nur noch aus, was dort bereits festgelegt worden sei.

Es entbrannte eine hitzige Debatte darüber, wie frei der Mensch in seinem Handeln sei. Bemerkenswert daran war, dass sie nur in Deutschland stattfand und dass sie allmählich im Sande verlief, als die Hirnforscher zugeben mussten, dass die Probanden in diesem Test ihre Entscheidung ja schon vor der Labortür getroffen hatten, indem sie sich bereit erklärten, an diesem Experiment (gegen eine Bezahlung) teilzunehmen. Mit dem Drücken des Knopfs befolgten sie also nur noch eine Anweisung des Versuchsleiters. Dazu hatten sie sich verpflichtet, weil sie offenbar das damit zu verdienende Geld brauchten.

Interessant ist dieses Experiment deshalb, weil es deutlich macht, dass Menschen keine freien Entscheidungen treffen können, solange sie von irgendetwas oder irgendjemanden abhängig sind. Wenn sie Durst oder Hunger haben, Not leiden oder Schmerz spüren, müssen sie diese körperlichen Bedürfnisse normalerweise zunächst erst einmal stillen, bevor sie etwas anderes wollen und dann auch tun können. Das gilt in gleicher Weise für seelische Bedürfnisse. Den stärksten psychoemotionalen Schmerz erfahren wir immer dann, wenn wir erleben müssen, dass wir von anderen Personen zum Objekt von deren Erwartungen, Belehrungen, Bewertungen, Maßnahmen oder gar Anordnungen und Befehlen gemacht werden. Dann werden unsere beiden seelischen Grundbedürfnisse – das nach Verbundenheit und Zugehörigkeit und das nach eigener Gestaltungsfähigkeit und Autonomie – gleichzeitig verletzt. Im Gehirn kommt es dann zur Aktivierung derselben Netzwerke, die auch immer dann aktiviert werden, wenn wir körperliche Schmerzen erleiden. Es stimmt also, wenn wir sagen, dass es wehtut, nicht gesehen, aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen und von anderen abgelehnt zu werden. Und dass es eine schmerzhafte Erfahrung ist, nicht das tun zu können, was man will, sondern das ausführen muss, was andere von einem erwarten oder verlangen. Unter solchen Bedingungen kann niemand eine freie Entscheidung treffen. Erwachsene nicht und erst recht Kinder nicht.

In den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern ist es in den letzten Jahrhunderten gelungen, Hunger, Not und Elend, auch viele Erkrankungen und Bedrohungen weitgehend zu überwinden. Die Freiheit der dort lebenden Menschen wird also inzwischen weitaus weniger durch die damit einhergehenden Nöte und Leiden eingeschränkt, als das noch vor ein oder zwei Jahrhunderten für die meisten der Fall war. Bei uns sind inzwischen sogar die alten hierarchischen Herrschaftsstrukturen durch demokratische Gesellschaftsordnungen abgelöst worden. Aber auch in denen gibt es noch immer hierarchische Strukturen, und die führen dazu, dass all jene, die weiter »unten« gelandet sind, von denen bevormundet und auf unterschiedliche Weise zum Objekt der jeweiligen Absichten und Ziele derer gemacht werden, die sich einen Platz weiter »oben« in der Hierarchie sichern konnten. Es gibt also weiterhin Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Reiche und Mächtige einerseits und Arme und Machtlose andererseits, Vorgesetzte und Untergebene, Befehlshaber und Befehlsempfänger und eben auch Lehrer und deren Schüler oder Erziehungsberechtigte und deren Kinder. Die Mächtigen und Einflussreicheren müssen aufpassen, dass ihnen ihre Macht nicht verloren geht, und diejenigen, die von deren Entscheidungen abhängig sind, versuchen sich davon zu befreien und selbst in eine etwas einflussreichere Position zu gelangen. Beide stehen daher unter Druck, sind Getriebene und können sich unter diesen Bedingungen nicht frei entfalten.

Aber einen Vorteil haben diese hierarchisch geordneten Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse schon: Sie wirken wie eine unsichtbare Kraft, die alle Beteiligten zwingt, sich so sehr wie möglich anzustrengen. Sei es, um nicht abzusteigen oder – noch begehrter – um endlich aufzusteigen. Das Ergebnis dieser Bemühungen sind von ihnen erbrachte besondere Leistungen. Es geht dabei nicht nur darum, wirksamer, schneller, effektiver als andere zu sein. Die besten Aufstiegschancen haben diejenigen, die etwas Neues entdecken, erfinden, bauen und in die Welt bringen. Sie verschaffen sich damit einen Wettbewerbsvorteil, vor allem dann, wenn sich das Neue rasch ausbreitet.

Aber diese von dem Bemühen um Erfolg und Aufstieg immer schneller und immer zahlreicher in die Welt gebrachten Neuerungen führen zwangsläufig dazu, dass die ursprünglich noch recht überschaubare und durch umsichtige Machthaber bisweilen auch einigermaßen gut geordnete Welt ständig komplizierter, vielschichtiger und unüberschaubarer wird. Die alten, viel zu starren hierarchischen Macht- und Herrschaftsstrukturen erweisen sich dann als zunehmend ungeeignet, um einigermaßen Ordnung in diese hochkomplexe Lebenswelt zu bringen. Aufhalten lässt sich dieser Prozess nicht, wir sind gegenwärtig nicht nur seine Zeugen, sondern seine Mitgestalter. Entstanden ist dabei eine inzwischen globalisierte und digitalisierte Welt, in der alles von allem abhängig ist und die sich so rasch verändert, dass wir selbst kaum noch mitkommen.

Das Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen ist jetzt, erstmals in der gesamten Menschheitsgeschichte seit der Sesshaftigkeit vor etwa zehntausend Jahren, nicht mehr durch hierarchische Ordnungsstrukturen steuerbar. In allen Bereichen unserer Gesellschaft, in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, auch in der Kirche, den Vereinen, im Zusammenleben der Menschen in Dörfern und Städten und sogar in Familien funktionieren sie nicht mehr. Sie sind zu wenig anpassungsfähig und viel zu schwerfällig für diese sich viel zu rasch verändernde Lebenswelt. Deshalb beginnen sich die alten Hierarchien allmählich aufzulösen. In der Familie bestimmt nicht mehr ein Oberhaupt, was dort zu geschehen hat. Auch die bisher Patriarchat genannte hierarchische Ordnung funktioniert nicht mehr. In den Schulen haben die Lehrer wachsende Schwierigkeiten, für Ruhe und Ordnung im Unterricht zu sorgen und ihre Lehrpläne umzusetzen. In den Verwaltungen rumort es angesichts der Vielzahl immer neuer Vorschriften und Erlasse. Die Politiker müssen sich zunehmend auf ständig neue Wünsche und Forderungen ihrer Wähler einstellen, und in vielen Unternehmen sind längst flache Hierarchien und neue, von den Mitarbeitern selbstverantwortlich gestaltete Arbeitsabläufe entstanden.

Das ist erst der Beginn dieser wohl größten Transformation unserer Lebenswelt seit der Entstehung hierarchischer Ordnungsstrukturen, damals vor etwa zehntausend Jahren. Kein Wunder also, dass es nun überall auf der Welt zu Irritationen, Spannungen, Konfrontationen und einem ziemlichen Durcheinander kommt. Das alte Denken ist in den Köpfen der meisten Menschen und in den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen noch immer ziemlich fest verankert. Für die auf uns zukommende Welt von Morgen haben wir noch keine neue Orientierung gefunden. Niemand weiß so recht, wie und vor allem in welche Richtung es weitergehen soll.

So sieht die Welt aus, in die unsere Kinder gegenwärtig hineinwachsen. Anhalten oder zurückdrehen lässt sich diese Entwicklung nicht, auch wenn es mancherorts versucht wird. Damit unsere Kinder und Jugendlichen lernen, sich in dieser Welt zurechtzufinden, brauchen sie unsere Hilfe. Wie aber sollen wir ihnen helfen, wenn wir doch selbst mehr oder weniger ratlos mit ständig neuen Schreckensmeldungen eines sich global ausbreitenden allgemeinen Durcheinanders konfrontiert werden? Um unseren Kindern helfen zu können, sich in dieser zukünftigen Welt zurechtzufinden, müssten wir in der Lage sein, dieses Durcheinander zu verstehen, indem wir seine tieferen Ursachen, also das hinter diesen Phänomenen verborgene Prinzip erkennen.

Natürlich lassen sich dafür die Unfähigkeit einzelner Politiker, die Gier rücksichtsloser Unternehmer, das kapitalistische Wirtschafts- und Finanzsystem verantwortlich machen oder gar eine notorische Unfähigkeit der Vertreter unserer Spezies postulieren, die uns ein friedliches und konstruktives Miteinander unmöglich macht. Es könnte aber auch sein, dass dieses ganze Durcheinander die zwangsläufige Begleiterscheinung eines Entwicklungsprozesses ist, der schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte immer im Hintergrund abgelaufen ist und der sich nun nur immens beschleunigt: die fortwährende Suche nach Möglichkeiten zur immer besseren Entfaltung der im Menschen und im menschlichen Zusammenleben angelegten Potenziale. Ein zunächst langsam beginnender, aber dann immer schneller werdender Aufbruch in die Freiheit.

Denn das ist der älteste Menschheitstraum: die Befreiung aus Not und Elend, Hunger und Armut, aus dem Ausgeliefertsein gegenüber Naturgewalten und Krankheiten, auch aus der Knechtschaft und Bevormundung durch andere, mächtigere und einflussreichere Personen. Einzelne Vertreter unserer Spezies haben es hin und wieder geschafft, sich aus all diesen Zwängen zu befreien. Manche durch Anhäufung von Macht, Geld und Einfluss. Manche durch Loslösung von allem und den völligen Verzicht auf das, was ihre Freiheit auf irgendeine Weise einschränkt. Beide Strategien sind aber ungeeignet für ein befreites und friedvolles Zusammenleben aller Menschen in einer globalisierten Welt.

Weder das individuelle Streben nach immer mehr Macht und Einfluss noch der individuelle Rückzug in meditative und kontemplative Übungen kann einen Menschen in die Freiheit führen. Denn beides ist mit der Grundlage unseres Menschseins unvereinbar. Wir sind zutiefst soziale Wesen und können ohne andere gar nicht leben, geschweige denn die in uns angelegten Potenziale zur Entfaltung bringen. Dazu, also auf dem Weg in die Freiheit, brauchen wir den Austausch mit anderen Menschen. Nicht mit lauter Gleichgesinnten, sondern mit möglichst vielen, die anders sind als wir selbst, die andere Lebenserfahrungen gemacht, andere Vorstellungen herausgebildet, sich anderes Wissen und Können angeeignet haben.

Wie aber sollen wir unsere Kinder auf ein Leben in einer solchen, sich zumindest in unserem Kulturkreis jetzt schon abzeichnenden Freiheit vorbereiten? Was brauchen sie, um sich aus den alten Mustern bisherigen Denkens, Fühlens und Handelns herauszulösen? Wie können wir ihnen helfen, sich selbst als Mitgestalter dieses Aufbruchs in die Freiheit zu erleben und nicht davon überrollt zu werden? Ja, klar, dazu brauchen sie eine qualifizierte Ausbildung. Aber die haben auch all jene, die sich auf Kosten anderer bereichern, die andere Menschen zur Verfolgung ihrer jeweiligen Machtinteressen benutzen, sie verführen und von sich abhängig machen. Jene, die die Regenwälder abholzen lassen und mit ihren Unternehmen die Umwelt verpesten. Die sind als Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler oder Lobbyisten alle bestens ausgebildet. Sonst wären sie ja nicht so erfolgreich.

Was die jetzt heranwachsenden Kinder und Jugendlichen brauchen, ist also vor allem eine Bildung, die es ihnen ermöglicht, ihr Zusammenleben mit anderen Menschen und mit anderen Lebewesen auf unserem Planeten so zu gestalten, dass sich das Leben in seinen vielfältigen Formen hier auch in Zukunft weiter entfalten kann.

Die Veränderung unserer Arbeitswelt

Ohne Panik betrachten: Das bevorstehende Ende der Lohnarbeit

Das menschliche Gehirn ist nicht nur am Anfang seiner Entwicklung enorm offen, es behält diese enorme Offenheit, diese Plastizität und Lernfähigkeit prinzipiell bis ins hohe Alter. Jedenfalls dann, wenn der betreffenden Person ihre anfangs mitgebrachte, in der inneren Organisation des Gehirns angelegte Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten nicht verloren geht. Leider ist das gegenwärtig noch bei zu vielen jungen Menschen der Fall. Oft geschieht es bereits in der Schule, in der die Heranwachsenden alles lernen sollen, was sie brauchen, um eine Ausbildung oder ein Studium erfolgreich zu absolvieren und einen Beruf zu ergreifen, um damit ihren Lebensunterhalt zu sichern und sich all das leisten zu können, was sie für wichtig halten.

Schon vor etwa 150 Jahren hat Friedrich Engels einen Aufsatz mit dem Titel »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« geschrieben. Dabei verstand er unter dem Begriff »Arbeit« allerdings noch etwas anderes als das, was die Mehrzahl der Menschen in unserem Kulturkreis seit dem Beginn der Industrialisierung darunter zu verstehen sich verständigt hat: Lohnarbeit, die Lieferung physischer oder psychischer Leistungen gegen ein Entgelt, das wiederum dazu benutzt wird, den eigenen Lebensunterhalt und gegebenenfalls den der Nachkommen und damit den Erhalt und die Reproduktion der Ware »Arbeitskraft« zu sichern.

Aus heutiger neurobiologischer Sicht stellt sich nun allerdings die Frage, ob diese inzwischen überall verbreitete Art von »Arbeit« dazu beitragen kann, nicht nur den bisher erreichten Stand der kulturellen Entwicklung des Menschen zu sichern, sondern auch die Voraussetzungen für eine weitere Entfaltung der dem Menschen innewohnenden Potenziale zu bieten. Die Antwort lautet nein, denn das menschliche Gehirn ist nicht für die Durchführung bezahlter Dienstleistungen, sondern für das Lösen von Problemen optimiert, die das Leben in einer menschlichen Gemeinschaft bereithält und immer wieder neu schafft. Jede körperliche oder geistige Anstrengung, zu der ein Mensch sich aufrafft, um etwas Neues auszuprobieren, eine Bedrohung abzuwenden oder eine Herausforderung zu meistern, ist also »Arbeit« in einem nicht entfremdeten, dem Menschen gemäßen Sinn.

Erst diese »hirngerechte« oder besser »sinnstiftende« Definition dessen, was »Arbeit« ist, macht deutlich, was Friedrich Engels schon vor 150 Jahren zum Ausdruck gebracht hat: Alles, was Menschen beschäftigt, was sie nach neuen Lösungen suchen oder vielleicht auch nur erneut in alte Muster flüchten lässt, was sie im weitesten Sinn »bewegt« und »anregt«, ist Arbeit. Und das Ergebnis dieser »Arbeit« ist nicht das Produkt, das dabei entsteht, oder die Entlohnung, die sie dafür erhalten. Das Ergebnis dieser »Arbeit« ist die weitere Vervollkommnung, die Entfaltung der in jedem Menschen angelegten Potenziale.

Im gemeinsamen Tätigsein sind wir Menschen in der Lage, unsere beiden seelischen Grundbedürfnisse – das nach Kompetenzerwerb, Autonomie und Freiheit einerseits und das nach Zugehörigkeit, Verbundenheit und Geborgenheit andererseits – gleichzeitig zu stillen. Wer etwas tut, das ihm eine eigene Weiterentwicklung ermöglicht und das ihn gleichzeitig in diesem Tun mit sich selbst und mit anderen Menschen verbindet, ist kein Bedürftiger mehr. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine Person die in ihr angelegten Potenziale frei und aus sich selbst heraus entfalten. Denn nur dann erlebt sie sich als Subjekt, als Gestalter ihres eigenen Lebens und ihres Zusammenlebens mit anderen, nicht aber als Objekt der Absichten und Erwartungen, der Belehrungen und Bewertungen oder gar der Maßnahmen und Anordnungen anderer.

Das Problem ist nur: Diese Erfahrung können nur solche Menschen machen, die nicht in eine hierarchische Ordnungsstruktur der Gesellschaft hineinwachsen und in sie eingebunden werden. Denn dort werden sie zwangsläufig zu Objekten der jeweils übergeordneten Personen oder Organisationsebenen gemacht. Lösbar wird dieses Problem nur durch einen fortschreitenden Abbau dieser tradierten Hierarchien. Das bedeutet aber, dass dann auch kein Vorgesetzter mehr da sein wird, der seinen Untergebenen vorschreibt, was sie wie und bis wann zu tun haben. Möglich wird das erst dann, wenn wir unter dem, was wir bisher als »Arbeit« bezeichnet haben, künftig etwas anderes verstehen.

Es gibt Menschen, die deshalb »arbeiten«, weil sie gern tätig sind. Die freuen sich über alles, was sie dabei zustande bringen, sei es, weil es sie selbst oder andere weiterbringt. Und es gibt auch solche, die deshalb »arbeiten«, weil sie mit dem, was sie dabei leisten, etwas erreichen oder erlangen wollen. Anerkennung beispielsweise, gern in Form einer entsprechenden Entlohnung. Oder Bedeutsamkeit, die durch das Erreichen höherer Positionen auf der Karriereleiter sichtbar werden soll. Erstere betrachten ihr Tätigsein (in Form der Ideen, die sie hervorbringen, oder der Produkte, die sie herstellen) als erfüllend. Letztere versuchen mit dem, was sie tun, ihr Bedürfnis nach mehr Anerkennung oder nach größerer Bedeutung zu stillen. Damit machen sie sich von den Bewertungen anderer abhängig, sind also nicht frei.

Zwangsläufig ist dann auch das, was Personen mit solch unterschiedlichen Motiven erzeugen, was sie also erarbeiten und wie sie das tun, nicht identisch, auch wenn es auf den ersten Blick ähnlich aussieht. Wer nicht wirklich an dem interessiert ist, was er macht, sondern sich primär an der Wirkung seines Tuns auf andere (an deren Anerkennung, Lob oder Honorierung) orientiert, wird versuchen, seine »Arbeit« möglichst genau so zu verrichten, dass das Ergebnis den Vorgaben, Erwartungen und Maßstäben dieser anderen Personen gerecht wird.

Das ist völlig in Ordnung, aber diese Art von Arbeit hat einen bedenkenswerten Nachteil: Sie ist so exakt definiert, so gut beschreibbar und ausführbar, dass sie nicht nur von jeder anderen Person mit einer ähnlichen Qualifikation verrichtet werden kann, sondern auch von einem Automaten oder Roboter mit einer entsprechenden Programmierung, wie das im Zuge der in der Wirtschaft als Industrie 4.0 genannten digitalen Transformation bereits geschieht und zunehmend der Fall sein wird.

Niemand kann gegenwärtig genau vorhersagen, wie viele Berufsbilder und Arbeitsplätze es in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr geben wird und wie groß die Zahl derjenigen sein wird, deren Arbeit in zwanzig Jahren von Automaten und Robotern erledigt wird. Sicher ist nur, dass von diesen digitalen Maschinen all jene Arbeiten übernommen werden, bei denen es nicht darauf ankommt, wer sie ausführt, sondern nur darauf, dass sie möglichst effizient, zuverlässig und vorschriftsmäßig umgesetzt werden.

Krankenpfleger, Gärtner, sogar Ärzte, Lehrer oder Richter, die einfach nur ihren Job machen und ihre jeweiligen Aufgaben so erledigen, wie es von ihnen verlangt wird, sind also künftig sehr gut durch derartige Automaten ersetzbar. Nicht weil das billiger ist, sondern weil diese Maschinen solche Routinearbeiten effizienter und zuverlässiger ausführen. Sie brauchen weder Schlaf noch Urlaub, kennen keine Ermüdung, machen keine Fehler und sind in jeder Hinsicht produktiver als lebendige »Arbeiter«, die diese Tätigkeiten für Lohn oder andere Gratifikationen übernehmen.

Durch digitale Maschinen, Roboter und Automaten ersetzbar sind künftig also in erster Linie all jene Personen, die nur deshalb arbeiten, weil sie müssen. Gezwungenermaßen, lustlos, nicht wirklich interessiert an dem, was sie machen, sondern vor allem an dem, was sie dafür bekommen. Das sind nicht wenige, und was digital gesteuerte Roboter und Automaten zu leisten imstande sind, ist heute bereits beeindruckend genug. Selbstfahrende Autos und japanische Pflegeroboter sind nur der Anfang einer nicht mehr aufzuhaltenden Entwicklung.

Sicher, mit dieser Digitalisierungswelle entstehen auch viele neue Tätigkeitsfelder und Berufe. Aber eben nur für all jene, die Lust haben, sich auch wirklich einzubringen. Dazu zählen kaum diejenigen, die noch nie in ihrem Leben gern und mit einer inneren Freude am Tätigsein gearbeitet haben. Die werden in dieser schönen neuen Arbeitswelt nicht mehr gebraucht. Weil es so viele sind, können sie nicht ohne Einkommen aus ihren bisherigen Beschäftigungsverhältnissen freigesetzt werden. Die Lösung für dieses Problem ist die Einführung einer Bezahlung, die diese Personen auch dann bekommen, wenn sie nicht arbeiten. Für manche, die in Berufen gelandet sind, die sie nicht gern ausführen, ist das sicher ein Segen, denn die können sich nun noch einmal ohne den Zwang, Geld verdienen zu müssen, nach einer anderen, erfüllenderen Tätigkeit umsehen.

Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass jemand, der noch nie in seinem Leben gern gearbeitet hat, seine Freude am Tätigsein entdeckt, wenn sie oder er nun gar nicht mehr arbeiten muss. Wesentlich näherliegend ist es, dass solche Personen dieses nicht mehr durch lustlos ausgeführte Arbeit verdiente Einkommen zur Verwirklichung all der vielen Träume nutzen, die sich im Rahmen ihrer bisher ausgeführten Lohnarbeit nicht realisieren ließen. Die dafür erforderlichen Geräte und deren Hersteller warten bereits auf ihre Nutzer. Zeit haben die ja dann genug, und ihr ohne Arbeit ausbezahltes Geld wird auch ausreichen, um sich VR-Brillen zu gönnen und sich in virtuelle Welten zu versetzen. Die Programme dafür werden auch immer besser und billiger. Da bleibt in Zukunft kein Wunsch mehr offen. Mit Delfinen im Meer spielen, den Mount Everest erklimmen, günstig einkaufen – alles ist möglich, ohne vom Sofa aufstehen zu müssen. Ein beträchtlicher Anteil der Entwicklungskosten für diese immer realer werdenden VR-Programme wird gegenwärtig von der Pornoindustrie finanziert.

Da diejenigen, die nur für Geld arbeiten, zwangsläufig auch diejenigen sind, die sich für ihr so schwer verdientes Geld dann etwas gönnen und leisten wollen, sind diese Personen genau diejenigen, die unseren Planeten seit einigen Jahrzehnten in bedrohlicher Weise ausplündern, vermüllen und zu ruinieren drohen: mit ihren Konsumbedürfnissen, ihren Ferienreisen mit Billigfliegern, ihrem Schnäppchenjägertum, ihrer Wegwerfmentalität und ihren Plastikmüllabfällen. Oder ganz allgemein: mit der unglaublichen Gedanken-, Würde- und Sinnlosigkeit, die ihr Denken und Handeln bestimmt. Endlich von ihrer Lohnarbeit befreit, sitzen die künftig, unterwegs in virtuellen Welten, zu Hause herum und richten keinen Schaden mehr an. Sie vermehren sich auch nicht mehr, weil der virtuelle Sex mit den Pornoprogrammen ihrer Brillen viel weniger Arbeit macht und jederzeit und nach Belieben besser funktioniert als der mit einem lebendigen Partner.