Ehrenwerte Affen - Michael Köhlmeier - E-Book

Ehrenwerte Affen E-Book

Michael Köhlmeier

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Beschreibung

Von gekrönten Ameisen und verzauberten Schlössern: Ein Märchenbuch für Erwachsene Eine gestohlene Krone wandert von Ameisen getragen durchs Land, eine junge Mutter altert schlagartig um fünfzig Jahre, als sie Schloss Sauerbrunn verlässt ... Wenn Michael Köhlmeier zeitlose Weisheiten klassischer Märchen- und Sagenmotive neu verpackt, entsteht eine hinreißende literarische Märchensammlung. In siebzehn Erzählungen lädt er zum Schmunzeln, Staunen und Nachdenken ein – ein Lesevergnügen für Groß und Klein! - Fesselnd und unterhaltsam: Zeitlose Fabeln mit Moral und Humor von brüllenden Affen und weisen Großmüttern  - Gilgamesch und Co.: Siebzehn Märchen neu erzählt im unverkennbaren Stil von Michael Köhlmeier - Bibliophiler Geschenkband für Fans von Mythen und Sagen - Von Diebstahl bis zum Streben nach Gerechtigkeit: fabelhafte Geschichten über Mensch und Tier  - Eine Märchensammlung zum Immer-wieder-Lesen Gewitzte Märchentiere und ahnungslose Menschen Die Nacherzählungen klassischer und volkstümlicher Märchen aus der Feder von Michael Köhlmeier zeugen von seinem profunden Wissen über Mythologie. In seinem Märchenbuch verwebt er traditionelle Sagen mit eigenen inspirierenden Kurzgeschichten und schlägt neue, unbekannte Seiten der Fabelwelt auf. Egal, ob die Protagonist:innen auf Schatzsuche sind oder nach Gerechtigkeit streben – sie auf ihren Abenteuern zu begleiten, macht die Lektüre dieser Märchensammlung immer wieder zu einem Vergnügen!   

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Seitenzahl: 151

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ehrenwerte Affen

Märchen und Sagen von Mensch und Tier

MICHAEL KÖHLMEIER

Ehrenwerte Affen

Märchen und Sagen von Mensch und Tier

Inhaltsverzeichnis

1 DER WUNDERLICHE RAUB DER KÖNIGSKRONE

2 WIE DIE LÖWEN, WIE DIE FÜCHSE

3 DIE FLÖHE

4 GILGAMESCH

5 MAULAUF

6 SCHLOSS SAUERBRUNN

7 DIE ERFINDUNG VON ETWAS GUTEM

8 DER SCHLÜSSEL

9 WENN ICH, WENN ICH, WENN ICH …

10 DER HEUSCHRECK

11 BÄRENKÖNIG UND SCHILDKRÖTENMANN

12 DER HARTE WINTER

13 DER MILCHIG-LÖFFEL

14 DER WALD

15 SO SIND SIE UND ZUGLEICH ANDERS

16 NACHT MIT ZUHÖRER

17 EHRENWERTE AFFEN

Über den Autor

1 DER WUNDERLICHE RAUB DER KÖNIGSKRONE

Der Gott der Fliegen traf den Gott der Wespen, und sie vereinbarten, dass sie den Gott der Käfer einladen und dazu den Gott der Ameisen und dann auch noch den Gott der Spinnen. Es gab nämlich Dringendes zu besprechen. Es ging darum, wer von ihnen der König der Könige werden und ob man sich rechtzeitig um eine Krone umschauen sollte, denn was wäre ein König wert ohne Krone? All die winzigen Götter waren sich einig, es sei vernünftig, zuerst die Sache mit der Krone zu regeln und danach den König zu wählen, denn angesichts der Krone würden sich die Kandidaten besonders anstrengen, ihre beste Seite zu präsentieren. Die Akademie der winzigen Tiere, in der die Fliegen, die Wespen, die Käfer, die Ameisen und die Spinnen mit ihren Hervorragendsten vertreten waren, hatte ausgerechnet, dass von allen Lebewesen dieser Erde eben sie mit großem Abstand die am häufigsten Vorkommenden seien, weshalb es nicht einzusehen wäre, warum die Krone ihres Königs kleiner sein sollte als die Krone eines Menschenkönigs.

Als dann die Götter beieinander waren, stellte der König der Wespen gleich die erste Frage, nämlich: »Woher sollen wir eine Krone nehmen? Niemand aus meinem Volk kann eine Krone bauen, und soweit ich mich erkundigt habe, gibt es auch niemanden unter euren Völkern, der so etwas zuwege bringt.«

»Eines sollten wir hier und heute festlegen«, meldete sich der Gott der Spinnen zu Wort. »Die Krone muss aus Gold sein! Eine Krone aus einem anderen Material würde ich nie anerkennen, weder auf meinem eigenen Haupt noch auf dem Haupt eines anderen.«

In diesem Punkt Übereinstimmung zu gewinnen, war leicht. Aber die Frage des Wespengottes war damit noch nicht beantwortet. Dazu gab der Gott der Fliegen nun seine Meinung ab, auf seine Initiative hin waren die anderen Götter ja zusammengekommen. »Wir müssen uns eine Krone stehlen«, sagte er. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Das sahen alle ein.

So wurde das Heer der Heere aufgestellt. Es bestand aus zwei Millionen Fliegen, hunderttausend Käfern, ebenso vielen Wespen und Spinnen und sage und schreibe vier Millionen Ameisen. Die Heeresleitung übernahm ein Triumvirat aus Ameisen. Die Ameisen hatten lang und breit und durch Jahrtausende bewiesen, dass sie allen anderen Tieren, was Organisation betraf, überlegen waren. Nur unter der Bedingung, dass sie die Aktion leiten, hatten sich die Ameisen bereit erklärt, an diesem Waffengang teilzunehmen.

Und ein Waffengang würde es werden, nichts anderes war je infrage gekommen. Die Waffen waren Netze, Gift und Masse. Der Plan war klar: Das Heer marschierte in der Nacht in den Palast des Königs ein, überrumpelte zuerst die Wachen – dies war die Aufgabe der Wespen –, marschierte weiter in den Thronsaal, und dort sollte ein Trupp von Spähern – das waren Fliegen – herausfinden, wo der König die Krone aufbewahrte. Dann würden sich die Millionen Ameisen unter die Ränder der Krone begeben und dieselbe auf Befehl hin lupfen und abtransportieren. So war der Plan.

Und nicht anders wurde der Plan durchgeführt, genau so.

Der Bäcker der Stadt sah in aller Herrgottsfrühe, wie sich auf der Straße, die vom Königsschloss herunterführte, in langsamem Tempo die Krone des Königs bewegte. Nur die Krone sah er, die Ameisen, die sie trugen, sah er nicht, sie waren ja von den Rändern der Krone verdeckt, und hätte er sie gesehen, er hätte seinen Augen nicht getraut. Aber noch weniger, als dass Millionen Ameisen die Krone des Königs aus dem Schloss entführten, glaubte er, dass eine Krone aus massivem Gold ganz von allein einen Millimeter über der Straße schweben und sich ganz allein aus dem Staub machen könne. Also glaubte er gar nicht, was er sah.

»Es wird noch ein bisschen etwas von einem Traum sein«, sagte er sich.

Aber dann ging er doch ein paar Schritte auf die Krone zu, die sich da langsam bewegte, beugte sich über sie, ging mit gebeugtem Rücken ein Stück neben ihr her, war in Versuchung, die Hand auszustrecken, um sie zu berühren, tat es aber nicht, sondern sagte wieder:

»Es wird noch ein bisschen etwas von einem Traum sein.« Er wandte sich ab und machte sich kopfschüttelnd auf seinen Weg in die Bäckerei.

Und was war mit dem Zeitungsausträger? Der hat die Krone auch gesehen, wie sie sich, scheinbar aus und mit eigenem Antrieb, einen Millimeter über der Straße schwebend, durch die Stadt bewegte, auf das Stadttor zu, vor dem zwei Wächter standen. Da ging gerade die Sonne auf, und die Brillanten glitzerten grün und rot und blau, und das Gold schimmerte, und die Samtkappe sah aus wie ein purpurnes Firmament. Da wäre der Zeitungsausträger beinahe von seinem Fahrrad gefallen, vor Staunen und weil ihn die Schönheit so sehr blendete. Schnell blätterte er in der frischen Morgenausgabe, ob darin etwas vermerkt wäre, über eine Regierungskrise oder den Rücktritt des Königs oder etwas, was erklärte, was er sah. Aber da standen andere Dinge und nichts dergleichen. Wie der Bäcker glaubte er nicht, was er sah, auch er ging ein Stück neben der Krone her, schob sein Fahrrad und beugte sich nieder, und wie der Bäcker streckte er die Hand aus und wollte die Krone berühren, tat es dann aber doch nicht und sagte sich:

»Es wird noch ein bisschen etwas von einem Traum sein.«

Und wie war es mit den Wachen am Stadttor? Die stellten sich breitbeinig vor die Krone hin, die vor dem Tor innehielt, weil die Ameisen darunter eine Verschnaufpause brauchten, und die Wächter fragten, was sie immer fragten, ob die Papiere vorgewiesen werden können, die notwendig sind, um die Stadt um diese Tageszeit zu verlassen. Dem Plan gemäß kamen nun die Spinnen zum Einsatz. Sie schwangen sich an ihren feinen Fäden in die Gesichter der Wachebeamten und webten die Gesichter schnellstens zu, sodass nicht mehr daraus herausgeschaut werden konnte. Was aber nicht gesehen wurde, war nicht da. Die Wachen sagten sich:

»Es wird noch ein bisschen etwas von einem Traum sein.«

Deshalb stellten sich die Wachen stramm und warteten, bis der Traum vorüber war, und wehrten sich auch nicht, als die Käfer den Schlüssel zum Stadttor vom Gürtel zogen und mit größter Mühe über die steile Wand der Tür zum Schloss hinauf transportierten und einschoben und umdrehten.

Nun folgte der schwerste Teil des Planes: die Öffnung des Tores. Und dieser Teil war großartig und würde gewiss in die Annalen der Kriegsführung eingehen. Nachdem die Spinnen die Köpfe der Wachposten mit ihren feinen Netzen eingewickelt hatten, wickelten sie nun auch noch die ganzen Männer von Kopf bis Fuß ein, sodass sie sich nicht bewegen konnten und wie steife Säulen vor dem Tor standen. Dann zogen sie weitere Tausende und Abertausende Fäden aus sich heraus und übergaben sie den Käfern, den Fliegen, den Wespen und den Ameisen, und die zogen mit aller Kraft, bis die Männer umkippten und mit ihren Köpfen gegen das Tor schlugen. Durch die Wucht des Aufpralls und durch das Gewicht der Männer öffnete sich das Tor nach draußen einen schmalen Spalt. Der aber war genug, um die Krone nach draußen zu tragen.

Nun war schon heller Tag, und als der erste Pferdewagen sich der Stadt näherte – es war ein Tuchhändler mit seinem Gesellen, der ein frühes Geschäft machen wollte –, da konnte sich ein Zeuge des Vorgangs nicht mehr so ohne Weiteres einreden, was er sehe, sei noch ein bisschen etwas von einem Traum, denn der Schlaf lag nun doch schon gute zwei, drei Stunden zurück. Außerdem waren der Händler und sein Geselle zu zweit, also einer konnte bestätigen, was der andere sah. Und was sie sahen, war die Krone des Königs, die einen Millimeter über dem Boden schwebte, und zwar weg von der Stadt.

»Was ist denn das?«, fragte der Händler.

»Das frage ich mich auch«, antwortete der Geselle.

»Sag du zuerst, was es ist!«, befahl der Herr.

»Das möchte ich lieber nicht«, erwiderte der Geselle.

»Warum willst du das nicht?«

»Weil ich denke, du könntest denken, ich sei verrückt.« Der Geselle dachte nämlich tatsächlich, er sei verrückt und der Herr sehe etwas anderes als er, denn was er sah, das konnte nicht sein. Darum sagte der Geselle: »Bitte, Herr, sag du, was du siehst!«

Der Herr aber meinte etwas Ähnliches oder eigentlich das Gleiche, wie sein Geselle meinte, nämlich dass er verrückt sei und der Geselle etwas anderes sehe als er, denn was er sah, war verrückt.

»Ach!«, rief er aus. »Wenn ich es bedenke, sehe ich gar nichts.«

»Und ich«, sagte der Geselle, »ach, ich, wenn ich es bedenke, sehe auch nichts.«

Also klatschte der Herr die Zügel auf die Rücken der Pferde, und sie zogen weiter in die Stadt hinein. Hinter dem Tor sahen sie die Wächter am Boden liegen, und sie sahen, dass sie von Kopf bis Fuß mit Spinnweben eingewickelt waren, aber beide, der Herr und sein Geselle, dachten bei sich: Nein, jetzt fange ich nicht wieder mit dem gleichen Lied von vorne an. Und der Herr klatschte mit dem Zügel auf die Rücken der Pferde, und sie fuhren weiter, bis sie den Marktplatz erreichten, und dort lud der Geselle die Ware ab, und dabei pfiff er vor sich hin.

Draußen vor der Stadt, wo die Felder und die Kuhweiden begannen, sahen die Bauern, die dort ihre Arbeit taten, etwas in der Sonne blinken, etwas, das sich langsam vorwärts bewegte. Aber sie interessierten sich nicht dafür. Noch niemals war irgendetwas, das in der Sonne blinkte, für sie infrage gekommen. Also hatten sich die Bauern im Laufe der Generationen daran gewöhnt, sich für Blinkendes nicht zu interessieren.

Die Fliegen und die Wespen und die Käfer und die Ameisen aber wählten unter ihren Vornehmsten einen König, und weil die Krone viel zu groß war für seinen Kopf, beschlossen sie, die Krone sei von nun an keine Krone, sondern der Palast des Königs.

Die Zacken seien die Zinnen, die Edelsteine seien die Fenster, und die Samtkappe sei das Gewölbe.

Und siehe, die Fliegen, die Wespen, die Käfer, die Ameisen wurden von allen Tieren beneidet, und wer immer am Palast des Königs vorbeikam, der verneigte sich, gleich ob Hund oder Katz', ob Bär oder Fuchs, ob Wolf oder Adler, ob Ziege oder Schaf.

2 WIE DIE LÖWEN, WIE DIE FÜCHSE

Manchmal sagt man über jemanden: »Der ist schlau wie ein Fuchs.« Und über einen anderen: »Der ist stark wie ein Löwe.« Und immer sagt man es mit Bewunderung. Und immer schwingt ein bisschen Bedauern mit. Weil derjenige leider nur schlau wie ein Fuchs ist, aber selbst kein Fuchs, und leider nur stark wie ein Löwe ist, aber selbst keiner. Warum, wenn wir uns bisweilen selbst loben wollen, stellen wir einen Vergleich her zu Tieren? Es wäre doch interessant, das zu wissen. Ich weiß es, und ich will es euch sagen:

Dies ist eine Geschichte, wie sie nicht in der Bibel steht, dort aber stehen könnte, jedoch nicht aufgeschrieben wurde. Woher kennen wir sie dann? Von tausend Mündern an tausend Ohren wurde sie weitergegeben. Erst kreiste sie bei den Israeliten von Zelt zu Zelt, dann gelangte sie in die große Stadt Babylon und von dort hinaus in die weite Welt bis hinauf zu uns, und als sie schließlich uns erreichte, waren tausend Jahre vergangen und noch viel mehr, und schließlich nach noch einmal tausend Jahren und noch viel mehr erreichte die Geschichte mein Ohr, und dann vergingen noch ein paar Jahre, bis sie von meinem Ohr in meine Hand wanderte und von dort aufs Papier. Nun kannst du die Geschichte lesen.

Samson, der Israelit, der Riese, so erzählt die Geschichte, der Mann mit der Riesenkraft in den Armen und in den Beinen, der mit der großen Wut auf die Philister, der hat dann doch eines Tages eine Philisterfrau geheiratet. Weil sie Augen hatte, wie er noch nie Augen sah, und weil sie duftete, wie er bis dahin noch nie einen Duft gerochen hat. Er hat bei ihren Brüdern um ihre Hand angehalten und hat auch ein Hochzeitsgeschenk mitgebracht, nämlich einen Bienenstock. Da lachten ihn die Brüder der Braut aus. »Wo denkst du, wo du bist?«, sagten sie. »Auf dem Land? Wo es nach Schafbock stinkt?

Wo es noch Dumme gibt, die meinen, Honig wäre flüssiges Gold? Wer denkst du, dass du bist? Ein König, bei dem man nicht fragt, was er einem schenkt, wenn er einem etwas schenkt? Du bist hier in der Stadt. Hier kann sich jeder Honig kaufen, so viel er will. Das soll ein Geschenk sein für unsere Schwester? Ein Bienenstock? Wo soll sie den aufstellen? In eurem Schlafzimmer?«

Die Brüder der Braut lachten Samson aus. Sie knufften ihn und zwickten ihn und traten nach ihm. Sie wussten nicht, wie stark er war. Er sah stark aus, das schon, aber es gab viele Männer, die stark aussahen, und gegen starke Männer konnten Vorkehrungen getroffen werden. Die Brüder gingen niemals ohne ihre Waffen aus dem Haus. Vor starken Männern fürchteten sie sich nicht. Sie trugen jeder einen Dolch bei sich, und sie waren geübt im Führen desselben.

»Wo hast du den Bienenstock her?«, lachten sie Samson weiter aus. »Hast du den gestohlen?«

»Ich habe ihn von einem Löwen bekommen«, sagte Samson.

Da dröhnte das Gelächter der Brüder durch Hof und Haus. »Von einem Löwen bekommen? Ja, das glauben wir dir! Der kam auf den Hinterbeinen gelaufen und hielt den Bienenkorb in den Pranken und sagte: ›Darf ich dir diesen Bienenkorb anbieten?‹ So war es doch, oder? Anders kann es doch nicht gewesen sein, gib es zu!«

»Nein«, sagte Samson, »so war es nicht.«

»So war es nicht? Bist du sicher, dass es so nicht war? Wie war es denn?«

»Der Löwe sprang auf den Weg«, erzählte Samson, der gar nicht merkte, dass die Brüder sich über ihn lustig machten, »und wollte mich töten. Und da habe ich meine beiden Hände in seinen Rachen gesteckt und habe ihn in der Mitte auseinandergerissen, und da habe ich den Bienenstock in seinem Magen gefunden.«

Die Brüder rollten am Boden herum vor Lachen, und Samson lachte mit ihnen, denn er meinte, sie lachten aus Höflichkeit und Freundlichkeit, wie er auch gemeint hatte, die Knüffe und das Zwicken und die Tritte seien Höflichkeiten und Freundlichkeiten gewesen, es hatte ihm ja niemand erzählt, wie es in der Stadt der Philister zugeht und was für Sitten dort herrschen.

»Das würden wir gern sehen, wie du einen Löwen in der Mitte auseinanderreißt!«, riefen die Brüder und schrien vor Lachen und wälzten sich.

»Wenn ihr einen Löwen übrig habt«, sagte Samson, »dann will ich es euch gern zeigen.«

Ach, das war ein lustiger Tag für die Brüder! So gelacht hatten sie schon lange nicht mehr! Und tatsächlich hatten sie einen Löwen übrig. Sie waren die Söhne des reichsten Mannes der Stadt, dem gehörten die wunderbarsten Gärten, in denen Bäume und Blumen aus der ganzen Welt wuchsen und wo sich Tiere aus der ganzen Welt tummelten, eben auch Löwen. Die Brüder dachten, das wird ein großes Gelächter am Ende eines so lustigen Tages, wenn der stärkste und gefährlichste Löwe aus dem Garten unseres Vaters diesen Verrückten, der unsere Schwester heiraten möchte, auffrisst.

Sie führten Samson in den Garten, öffneten den Zwinger, in dem der Löwe auf- und abging, hin und her, verzweifelt, weil er eingesperrt war, und voll Zorn auf die Menschen. Sie gaben Samson einen Stoß und schlossen hinter ihm schnell das Tor. Schon brüllte der Löwe, schon setzte er zum Sprung an, schon hoben die Brüder die Hände, um zu klatschen, da tat Samson, was er bereits bei dem anderen Löwen getan hatte: Er fuhr mit beiden Händen tief in den Rachen hinein und riss das ganze Tier entzwei.

Da lachten die Brüder nicht mehr und klatschten auch nicht in die Hände.

Sie stellten Samson ihrer Schwester vor und legten gute Worte für ihn ein, aber nicht, weil sie an die guten Worte glaubten, sondern weil sie sich vor ihm fürchteten.

Der Schwester gefiel Samson. Seine Muskeln gefielen ihr, aber vor allem gefiel ihr seine sanfte Stimme. Sie hatte sich immer einen starken Mann gewünscht, der sie beschützt, der aber zugleich sanft zu ihr ist und sie streichelt, so zart, als wären seine Hände aus Flaum, den der Wind an ihre Haut trägt. Immer hatte man zu ihr gesagt: »Siehst du, so einen gibt es eben nicht! Entweder er ist stark, dass er das Böse in den Boden haut, dann haut er aber auch dich, oder er ist sanft wie eine Flocke, dann wischt ihn dafür das Böse weg, als wäre er tatsächlich eine Flocke. Stark und sanft in einem gibt es nicht, merk dir das!« So war immer gesagt worden. Nun aber sah sie vor sich, dass es so einen doch gibt.

Sie sagte: »Ja, Samson, ich will deine Frau sein. Ich nehme dich zum Mann.«

Das wurmte die Brüder. Sie wussten nicht, woher Samson seine Kraft hatte, nämlich von seinen Haaren. Auf diese Idee wären sie nie gekommen, und das spielt in dieser Geschichte auch keine Rolle, das wird in einer anderen Geschichte abgehandelt. Sie dachten und sagten sich:

»Gut, das mit dem Löwen, das haben wir mit eigenen Augen gesehen, daran ist nicht herumzudeuteln, den hat er auseinandergerissen. Aber es gibt Tricks. Wir haben schon Männer gesehen, die haben Feuer geschluckt, und siehe da, es war ein Trick. Sicher war das mit dem Löwen auch ein Trick.«

Dieser Gedanke beruhigte sie.

Und dieser Gedanke brachte sie gleich auf einen anderen Gedanken, nämlich: Wenn wir alle unsere Freunde zusammentrommeln und ihnen ein ordentliches Geld zahlen und ihnen freie Hand lassen, dann wird diesem dummen Landbewohner gezeigt, wo der Philister den Most holt.

Zuerst aber war Hochzeit.