Eifelwolf - Rudolf Jagusch - E-Book

Eifelwolf E-Book

Rudolf Jagusch

4,0

Beschreibung

Originell, authentisch, liebenswert. Der Mord an einem ehemaligen Bundeswehrsoldaten, der zurückgezogen auf einem abgelegenen Hof in der Eifel lebte, ruft Hotte Fischbach und Jan Welscher von der Polizei Euskirchen auf den Plan. Hängt der Tod des Mannes mit dessen Teilnahme an der ISAF-Mission in Afghanistan zusammen? Oder kam es zu einem Streit unter ehemaligen Kameraden? Als auf dem Grundstück des Toten ein überraschender Fund gemacht wird, dämmert den Kommissaren langsam das ganze Ausmaß einer schrecklichen Tragödie ...

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Rudolf Jagusch, 1967 geboren, arbeitet als freier Schriftsteller in der Nähe von Köln. Mehr über ihn erfährt man hier:www.rudijagusch.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang befinden sich Rezepte.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Laurie Allread/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-908-2

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR.

1

Wenn der Kollege sich gebückt mit einer Hand an einem Baumstamm abstützte und sein Frühstück den Regenwürmern kredenzte, musste es übel aussehen.

Horst Fischbach, den alle nur »Hotte« nannten, hängte seinen Stahlhelm an den Lenker seiner Harley, warf seine Lederjacke über den Sitz und ging zu ihm. »Alles in Ordnung?«

Jan Welscher schaute auf, das Gesicht kreideweiß, die Augen rot gerändert. Die Beine des weißen Overalls, den er über seiner Kleidung trug, zierten Spritzer von Erbrochenem. »Sieht das für dich nach ›in Ordnung‹ aus?«

Fischbach hieb ihm mitfühlend auf den Rücken. »Geht vorüber«, munterte er ihn auf. »Kotz dich in aller Ruhe aus. Ich schau mich währenddessen schon mal um.«

»Du bist so fürsorglich«, grummelte Welscher, ehe ihm erneut die Galle in den Hals schoss.

Fischbach entfernte sich einige Schritte in Richtung des Fachwerkhauses und blieb neben einem Hauklotz stehen, in dem ein Beil steckte. An der Klinge klebte Blut.

»Nicht anrühren!«, forderte eine Frauenstimme aus dem Inneren des Hauses, die Fischbach leider nur zu gut kannte. Sie gehörte der Chefin der Kriminaltechnik, Maila Aalto. Eine Generation trennte sie voneinander, was an sich kein Problem darstellte. Doch die junge Kollegin war nicht auf den Mund gefallen und provozierte gern – und zwar mit Vorliebe Fischbach.

»Schon klar«, rief er und murmelte, während er ungehalten abwinkte, »bin ja kein Frischling mehr.«

»Könnte die Tatwaffe sein«, informierte ihn Maila Aalto.

»Das Beil?«

»Nee, der Hauklotz.«

Fischbach stutzte. »Wirklich?«

Sie lachte. »Mensch, Hotte. Lass dich doch nicht immer veräppeln. Ich meine natürlich das Beil, nicht den Klotz. Komm rein, dann wird dir alles klar.«

Fischbach spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. Warum konnte diese Frau sich nicht auf die für den Fall wesentlichen Informationen beschränken? Weshalb musste sie immer ein freches Mundwerk an den Tag legen? »Gleich«, verkündete er säuerlich. »Will mir erst hier draußen ein Bild machen.«

Die Kriminaltechnikerin hob die Hand und streckte den Daumen nach oben. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld.

Der Bauernhof, auf dem sie im Einsatz waren, wirkte heruntergewirtschaftet. Brennnesseln streckten sich an den Gemäuern in die Höhe. Das Dach der Scheune hätte schon längst neue Schindeln benötigt. Die Fenster des Wohnhauses waren einfachverglast, von den Rahmen blätterte Farbe ab. Die ehemals schwarz lackierten Fachwerkbalken hatten einen ausgelaugten Grauton angenommen, der First hing durch, der Kamin neigte sich bedrohlich zur Seite. Ein Nutzgarten schloss sich rechts an das Haus an. Immerhin, die Pflanzen dort schienen gut versorgt. Trotz der andauernden Sommerhitze, die Fischbach schon vor der Mittagszeit den Schweiß auf die Stirn trieb, wuchsen sie ausgezeichnet. Die Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln und der Rhabarber schossen sichtlich ins Kraut. Hinter dem Garten lag eine Obstbaumwiese, auf der einige Schafe grasten.

Fischbach sah zu Welscher hinüber. Der Kollege stützte sich weiterhin an dem Stamm der riesigen Linde ab, die mit ihrer ausladenden Krone die Einfahrt zum Hof überschattete. Dort parkten die Bullis der Kriminaltechnik, ein Wagen mit einem Anhänger und Welschers Dienstwagen. Vögel zwitscherten, Schwalben flogen auf der Jagd nach Insekten tief über dem Boden. Eine grau melierte Katze schlich durch das Gras und beobachtete ihn argwöhnisch. Es war kaum zu glauben, dass sich hier, an diesem zwar etwas heruntergewirtschafteten, aber trotzdem durchaus idyllischen Fleckchen Erde, ein furchtbares Verbrechen zugetragen hatte.

Welschers Anruf hatte Fischbach vor einer halben Stunde erreicht. Er war gerade dabei gewesen, in Freilingen das Ableben eines Mannes zu untersuchen, der von seiner Schwester tot in seiner Wohnung aufgefunden worden war. Die Sache hatte sich rasch aufgeklärt. Herzversagen. Fischbach hatte nichts entdecken können, was die vom ebenfalls herbeigeeilten Arzt bescheinigte natürliche Todesursache in Frage gestellt hätte. Reine Routine, Schema F für einen Kriminalbeamten. Er wollte die Wohnung des Verstorbenen eben verlassen, da hatte Welscher angerufen und ihn gebeten, nach Schnorrenberg zu kommen. Auf einem Hof unweit der Sendeanlage Eifel-Bärbelkreuz sei ein Mann tot aufgefunden worden.

Jetzt stand er hier, und das blutige Beil sowie der desolate Zustand seines Kollegen deuteten darauf hin, dass in der nächsten Zeit von Schema F keine Rede mehr sein würde.

»So. Geht wieder.« Welscher schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er war unbemerkt an ihn herangetreten.

»Sicher?«

»Ja, ja, kein Problem.« Mit einem Taschentuch wischte er sich den Mund sauber. »Eigentlich bin ich ja gar nicht mehr so empfindlich. Man gewöhnt sich mit der Zeit an einiges. Aber diesmal … Na ja, du wirst es gleich selbst sehen. Komm.«

Welscher schritt tapfer voran, Fischbach folgte ihm auf dem Fuß. Sie betraten das Haus. Augenblicklich war ein übler Geruch wahrzunehmen, eine Mischung aus Fäkalien, Ammoniak, Eisen, Schweiß, Schimmel, Muff und kaltem Rauch. Reflexartig hielt er die Hand über die Nase und stieß ein »Puh« aus.

»Wenn es nur der Gestank wäre«, presste Welscher heraus.

Um sie herum wuselten die Kolleginnen und Kollegen der Kriminaltechnik, klebten Spuren ab und nahmen Fingerabdrücke. Scheinwerfer leuchteten jeden Winkel aus.

Maila Aalto erschien in einem Türrahmen. Sie hielt einen Fotoapparat in der Hand. Spitzbübisch sah sie Welscher an. »Na? Hast du dir dein Frühstück noch mal durch den Kopf gehen lassen?«

Der Wutfunken in Fischbachs Magengrube wurde durch diesen Kommentar erneut angefacht. Wie konnte man darüber nur scherzen? Absolut taktlos. Zu seinem Erstaunen schien es Welscher vollkommen gleichgültig zu sein, denn der antwortete lapidar: »Ein Käsebrötchen, dazu eine Tomate. Sehr zu empfehlen. Kannst du dir nachher ja mal anschauen.«

Maila Aalto grinste und zeigte dabei auf den Stapel Overalls, die auf einem Hocker neben der Haustür lagen. »Zieh dir auch einen an, Hotte. Die Kondome für die Schuhe liegen darunter.«

Fischbach zwängte sich in einen Anzug.

»Zugenommen?«, fragte Welscher.

»Alles Muskeln.«

»Das Einzige, was du trainierst, ist dein Magenmuskel.«

Fischbach ließ das unkommentiert. Sein Kollege hatte ja recht. Zurück im Polizeidienst, war auch sein Appetit zurückgekehrt. Inzwischen trug er sogar wieder lieber Hosenträger, da die Gürtel selbst im letzten Loch zwickten. »Wo ist das Opfer?«

»In der Wohnküche.« Welscher wies ihm mit dem Kinn die Richtung an. »Dort, wo deine Freundin Maila ist.« Er lächelte schelmisch und trat zur Seite. »Nach dir.«

Fischbach betrat den Raum. »Oha!«, stieß er angesichts des Opfers aus.

Maila Aalto sah kurz von ihrem Fotoapparat auf. »Mindestens zwei Hiebe mit einem schweren, scharfen Gegenstand.«

»Das Beil?«, fragte Fischbach.

»Sehr wahrscheinlich. Ein Hieb hat ihm den Kopf fast bis zum Hals gespalten, ein weiterer drang tief in den Brustkorb ein.«

Fischbach schluckte seinen Ekel hinunter und inspizierte das Opfer, das auf einer Eckbank inmitten von Stapeln alter Zeitschriften und Zeitungen saß. Ein Mann, so viel konnte er aufgrund des blutgetränkten Barts erkennen. Hirnmasse hing im grauen, lockigen Haar und hatte sich auf der Wand dahinter und in seinem Gesicht verteilt. Dort, wo die Klinge in die Brust eingedrungen war, klaffte ein senkrechter Riss, weiße Knochensplitter waren zu sehen. Das Muster des karierten Hemdes war aufgrund des vielen Blutes kaum mehr auszumachen. Er schätzte den Mann auf um die fünfzig. Der Tisch, an dem er saß, war vollgestellt mit überfüllten Aschenbechern, umgeworfenen leeren Flaschen, dreckigen Tassen und Tellern mit Essenresten, an denen sich unzählige Fliegen labten. Auch auf dem Fußboden lag Geschirr, teilweise zerbrochen.

»Was wissen wir über ihn?«, fragte Fischbach.

Maila Aalto reichte ihm den Personalausweis des Toten. »Rainer Levkus, geboren 1977 in Aachen. Das Passfoto weicht zwar etwas von seinem derzeitigen Aussehen ab, doch Ähnlichkeiten sind zu erkennen.«

Fischbach nahm das Dokument entgegen. »Das ist nicht lustig.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Die einen sagen so, die anderen so.«

Fischbach grunzte ärgerlich. Nachdem er das Passfoto eingehend geprüft hatte und sicher war, dass es sich bei dem Mann auf der Bank tatsächlich um Rainer Levkus handelte, fragte er: »Hat hier ein Kampf stattgefunden?« Er schob eine Scherbe mit der Fußspitze an. »Was meint ihr?«

»Ich denke eher, der Täter griff ihn über den Tisch hinweg an und hat dabei Gegenstände hinuntergeworfen«, antwortete Welscher. »Für einen Kampf sieht es mir hier zu … hm … aufgeräumt aus.«

»Aufgeräumt ist gut«, rief Maila Aalto mit sarkastischer Miene. »Eine verdammte Messiebude ist das hier. Bis wir da einmal komplett durch sind, wird es dauern. Und dann müssen wir auch noch draußen die Spuren sichern. Eine verfluchte Scheiße ist das. Bei der Hitze wollte ich eigentlich früh Feierabend machen und meinen Hintern ins Freibad schaffen. Übrigens, Jan, du hast noch nichts zum Loch in der Decke gesagt.« Sie schenkte ihnen keine weitere Beachtung, sondern wandte sich dem Küchenherd zu, auf dem dreckige Töpfe standen, und fotografierte weiter.

Fischbach sah nach oben. Rechts neben der Lampe klaffte ein Loch, wenige Millimeter im Durchmesser, drum herum war der Putz abgebröckelt. »Ein Einschussloch?«

»Ja«, bestätigte Welscher. »Das Projektil steckt in einem der Balken. Kann man sehen, wenn man hineinleuchtet. Das Holz ist gesplittert, sieht frisch aus. Interessant ist, dass wir bisher keine Waffe im Haus gefunden haben.«

»Könnte der Täter sie mitgebracht haben?«

»Wenn es so war«, entgegnete Welscher, »frage ich mich, warum er dann das Beil als Mordwaffe gewählt hat. Er hätte Rainer Levkus doch wie in diesem Fall vermutlich geplant einfach erschießen können.«

»Stimmt. Vielleicht besaß Levkus die Waffe, und der Täter hat sie mitgenommen.«

»Wäre dann ein illegaler Besitz gewesen. Auf seinen Namen ist nämlich keine Waffe gemeldet.«

»Hm, okay, zurzeit also eine Sackgasse«, stellte Fischbach fest. »Vertagen wir das, bis wir mehr wissen.« Ihm fielen die vom Zigarettenrauch vergilbten Fotos an der Wand auf. Sie zeigten das Opfer in Camouflagekleidung, einen Stahlhelm auf dem Kopf, in den Händen ein Sturmgewehr. Die Aufnahmen schienen in der Wüste aufgenommen worden zu sein. »Er war Soldat?«

»Schaut so aus«, bestätigte Welscher.

»Dann müssen wir Kontakt mit der Bundeswehr aufnehmen.« Fischbach rieb sich nachdenklich das Kinn. »Oder mit dem Verteidigungsministerium? Verflucht, diese Zuständigkeiten.«

»Mach dir keinen Kopf. Ich kümmere mich darum.«

»Danke. Wer hat ihn eigentlich gefunden?«

Bevor Welscher antworten konnte, erklang hinter Fischbach eine dunkle Frauenstimme. »Hallo? Dürfen wir schon reinkommen?«

Fischbach drehte sich um und entdeckte im Flur die Staatsanwältin Doris Schmitz-Ellinger. Ihre kurzen roten Haare hatten ihr den Spitznamen »Pumuckl« eingebracht. Sie war in Begleitung der Rechtsmedizinerin Frau Dr. Jacobs.

»Overalls liegen neben der Tür auf dem Hocker«, rief Maila Aalto.

»Ich kümmere mich um die beiden«, erklärte Welscher aufgeräumt und ging hinaus.

»Von mir aus gern.« Fischbach sah sich ein wenig unschlüssig in dem Raum um. »Wird langsam etwas eng hier.«

»Da kann ich nur zustimmen«, sagte Maila Aalto trocken. »Wenn das so weitergeht, kommt das einer Personalversammlung gleich.«

»Dann werde ich … also … vielleicht draußen warten?«, bot Fischbach an. Es passte ihm nicht so recht, fühlte er sich dadurch doch ein wenig wie ein fünftes Rad am Wagen. Aber die Notwendigkeit sah er natürlich, und daher folgte er seinem Kollegen in den Flur. »Ich bin dann mal so lange …«

»Warte.« Welscher hielt ihn am Arm zurück. »Du wolltest doch wissen, wer das Opfer gefunden hat.«

»Ja?«

»Nimm den Hinterausgang, den Flur entlang, dann nach rechts und bis zum Ende durch. Er wartet draußen.«

»Wer?«

Welscher bewegte abwehrend den Zeigefinger. »Nee, nee, mein Lieber. Diese Überraschung will ich dir nicht nehmen. Du wirst schon sehen.«

2. Januar 1996

Die Stube glich dem Schlafsaal einer Jugendherberge. Sechs Metallspinde, die Doppelstockbetten aus Metallrohren, die Matratzen dünn wie ein Blatt Papier. Der Tisch und die Stühle hatten ihren Dienst vermutlich schon bei der Wehrmacht versehen. Es roch nach Bohnerwachs und Schweißfüßen. Vom Hof gellten Befehle zu ihnen herauf. Das also würde sein Zuhause für die kommenden Monate sein, eine Kaserne in Dülmen, ein Ort, von dem er vorher noch nie etwas gehört hatte. Grundausbildung Bundeswehr, 2. Feldartilleriebataillon 71. Sein Rang: Rekrut – oder wie man es auch nannte: Schütze Arsch.

Der Ausbilder hatte sie zu ihrer Stube geführt und sich dann mit dem Versprechen verabschiedet, sie in Kürze zum Mittagessen abzuholen. Im Anschluss daran sollten sie ihre Uniformen anziehen, und am Nachmittag stand der erste Drill an.

Jemand rempelte Rainer von hinten an und drängte ihn vorwärts in den Raum.

»Platz da, hier komm ich«, dröhnte der Kerl, ein Hüne mit Oberarmen wie Arnold Schwarzenegger. »Mein Platz ist oben, rechts an der Wand. Verstanden? Hab keinen Bock, von euch Bettnässern was abzubekommen.«

Weder Rainer noch die anderen vier, die wie er unschlüssig herumstanden, widersprachen. Stattdessen verteilten sie sich auf die freien Betten, wobei Rainer darauf achtete, so weit wie möglich von dem Hünen entfernt unterzukommen. Es war offensichtlich, dass mit dem groben Klotz nicht gut Kirschen essen war. Leider gab es solche Alphamännchen überall, ob in der Schule oder beim Fußball. Wie Gorillas trommelten sie mit den Fäusten auf ihre Brust und rissen dabei das Maul weit auf. Am besten war es, ihnen aus dem Weg zu gehen, um Ärger zu vermeiden. Er entschied sich für das Etagenbett an der linken Wand. Da das obere Bett schon von einem pickeligen Blondschopf belegt war, blieb ihm nur die untere Matratze.

Rainer stellte seine Tasche ab, legte sich hin und schloss kurz die Augen. Die Decke fühlte sich kratzig an, das Kopfkissen steinhart. Vermutlich ist es ein Segen, nachts von einem Alarm aus diesen Betten geholt zu werden, dachte er und grinste.

»Was feixt du denn so blöd?«

Erschrocken schnellte Rainer hoch, in der Annahme, der Ausbilder wäre zurückgekehrt und hätte ihn bei irgendetwas Verbotenem erwischt. Dabei stieß er mit der Stirn an den Rost des oberen Bettes. »Scheiße«, zischte er und rieb sich die schmerzende Stelle. Doch nicht der Ausbilder stand vor ihm, sondern der Schwarzenegger-Typ.

»Der träumt sicherlich von seiner Braut«, mutmaßte der kleine Dicke an dessen Seite mit beifallheischendem Blick auf den Grobklotz.

Stumm fluchte Rainer. Hatte der Kerl doch tatsächlich schon einen Lakaien gefunden. Auch die speichelleckenden Goebbels und Görings fand man überall auf dieser Welt.

Schwarzenegger schüttelte den Kopf. »Quatsch. Der und eine Freundin? Niemals. Die Mädels stehen nicht auf Hänflinge.« Er beugte sich zu Rainer hinunter. »Habe ich nicht recht? Du spielst doch noch fünf gegen eins, oder?«

Rainer setzte sich auf. »Einen«, murmelte er und hätte sich im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Nach allem, was man so hörte, würde die Grundausbildung anstrengend werden. Da wollte er sich nicht bereits am ersten Tag Feinde machen. Er hoffte, der Hüne hätte ihn nicht verstanden, doch da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

»Wie? Einen?«

Bevor Rainer darauf antworten konnte, ertönte von oben die Stimme des Blondschopfs: »Es heißt fünf gegen einen, du Grammatikheld.«

Die beiden Kameraden im mittleren Doppelbett lachten.

Der Hüne lief rot an, seine Augen verengten sich. »Willst du mich verarschen, Pizzagesicht?«

Jetzt kicherte der kleine Dicke. »Pizzagesicht, hehe.« Er erklärte an die beiden Kameraden in dem mittleren Doppelstockbett gerichtet: »Wegen der Pickel. Im Gesicht. Sieht aus wie eine Pizza.«

Die beiden verdrehten genervt die Augen. Der Blonde sprang vom Bett und baute sich furchtlos vor Schwarzenegger auf. Nichts deutete darauf hin, dass er in irgendeiner Form eingeschüchtert wäre.

»Weißt du was?«, fragte er den Grobklotz.

Der verkürzte die Entfernung, indem er einen Schritt vortrat, wodurch sie fast Nasenspitze an Nasenspitze standen. Was jetzt folgte, war wie ein Tennismatch. Aufschlag hatte Schwarzenegger.

»Was?«

»Pickel sind temporär.«

»Häh?«

»Temporär?«

»Ich weiß, was das heißt.«

»Sicher?«

»Vorübergehend, Pizzafresse.«

»Sehr gut. War dein Sonderschulabschluss doch nicht vergebens. Aber weißt du auch, was der große Unterschied zwischen dir und mir ist?«

»Die Antwort hau ich dir gleich aus deiner Scheißfresse.«

»Hm, Fresse scheint dein Lieblingswort zu sein. Aber egal, du musst nicht handgreiflich werden. Ich sag es dir auch so.«

»Da bin ich ja mal gespannt, du Kackfr… Flachwichser.«

»Das Onanieren scheint dich auch zu beschäftigen. Interessant. Aber darüber können wir ein anderes Mal parlieren. Klären wir zunächst, was uns voneinander segregiert.«

»Was?«

»Egal. Also pass auf: Pickel verschwinden mit der Zeit, aber deine Betise wird für immer bleiben.«

»Häh?«

»Siehst du. Das meine ich.«

Verdattert runzelte Schwarzenegger die Stirn. »Hast du mich gerade beleidigt?«

»Ich weiß nicht, habe ich das? Was meinst du?«

Für einen Moment war es totenstill in der Stube. Selbst auf dem Kasernenhof schienen alle stumm darauf zu warten, was jetzt geschehen würde. Dann hatte der Grobklotz eine Antwort auf die Frage gefunden. Er packte den Blondschopf am Kragen und schob ihn vor sich her bis zur Wand. »Ich mache dich fertig!«

In dem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und der Ausbilder erschien. Mit einem einzigen Blick erfasste er die angespannte Situation. »Gibt es ein Problem?«

Schwarzenegger ließ von dem Blonden ab, fuhr herum und vollführte einen zackigen Militärgruß. »Alles in bester Ordnung, Herr Unteroffizier. Wir lernen uns kennen.«

Der Ausbilder ließ den Blick ausdruckslos von einem zum anderen schweifen, dann sagte er: »Macht mir keinen Ärger. Denn passiert hier was, muss ich darüber einen Bericht schreiben. Und ich hasse Schreibkram. Ist einfach nicht mein Ding. Daher werde ich in solchen Fällen ziemlich ungemütlich. Wäre nicht gut für euch. Verstanden?« Seine Stimme war immer lauter geworden.

»Jawohl!«, riefen alle wie aus einer Kehle.

Der Ausbilder nickte. »So, und jetzt gibt es was zum Beißen. Los Leute, auf, auf, voran, der Küchenbulle wird sauer, wenn er seinen Fraß nicht rechtzeitig loswird.«

Sie stürmten hinter ihm auf den Flur, Rainer und sein Bettnachbar als Letzte. »Ich weiß auch nicht, was das heißen soll«, raunte Rainer ihm zu.

»Was meinst du?«

»Na, dieses Beti… Dings.«

»Betise?«

»Genau.«

»Dummheit, Einfältigkeit.«

»Ach so. Du kannst gut quatschen. Äh … dafür gibt es bestimmt auch ein treffenderes Wort.«

»Eloquenz.«

Rainer grinste. »Ich werde dich ›Duden‹ nennen.«

»Wie geistsprühend. Aber wenigstens schmeichelhafter als Pizzagesicht.« Er seufzte. »Wenn der Nonsens hier vorbei ist, werde ich Germanistik studieren.«

»Könnte mir vorstellen, dass das Studium ein Spaziergang für dich wird. Danke wollte ich übrigens auch noch sagen.«

»Für was?«

»Dass du mich aus der Schusslinie genommen hast.«

Der Blondschopf wies mit dem Kinn auf Schwarzenegger, der gleich hinter dem Ausbilder den Gang entlangschritt, neben ihm der kleine Lakai. »Diesen Typen musst du Kontra geben. Ansonsten bist du für alle Zeit ihr Opfer.«

»Sprichst du aus Erfahrung?«

Er verzog das Gesicht. »Erinnere mich nicht daran. Nachdem ich vor einiger Zeit zum zweiten Mal mit Prellungen am ganzen Körper im Krankenhaus aufgewacht bin, habe ich mir geschworen, nie wieder vor irgendwem zu kuschen. Denn weißt du was?«

»Nein.«

»Egal, wie unterwürfig du dich verhältst, es wird dir nicht helfen. Haben diese Typen es erst auf dich abgesehen, hauen sie dir so oder so eine rein, egal was du machst.«

»Dann ist dein Motto … hm … Kopf hoch und mit wehenden Fahnen untergehen?«

Er schmunzelte. »So kann man es ausdrücken. Damit kann ich den Körper zwar nicht schützen, aber immerhin meinen Geist.«

Rainer dachte kurz darüber nach. War diese Einstellung ungemein tapfer oder absolut bescheuert? Zu einem Ergebnis kam er so auf die Schnelle nicht. Er hielt ihm die Hand hin. »Ich heiße Rainer.«

Der Blondschopf schlug ein. »Daniel. Und?«

»Und was?«

»Hast du nun eine Freundin oder spielst du tatsächlich noch fünf gegen einen?« Er grinste.

»Arsch«, antwortete Rainer amüsiert und ließ die Frage im Raum stehen. Auch weil sie alles andere als leicht zu beantworten war.

2

Fischbach trat aus dem Hinterausgang in die grelle Sonne. Er blinzelte und schirmte die Augen mit der Hand ab. Befreit atmete er durch. Nach dem Gestank im Inneren des Hauses war die frische Luft eine wahre Wohltat.

Doch wo war die Person, von der Welscher gesprochen hatte? Unter einem Kirschbaum stand eine Bank, aber niemand saß darauf. Auf der Obstwiese dahinter rannten die Schafe auseinander. Etwas schien sie aufgeschreckt zu haben.

Fischbach folgte dem ausgetretenen Pfad am Baum vorbei bis zu einem hüfthohen Maschendrahtzaun. Weiter vorne hockte jemand mit dem Rücken zu ihm inmitten der Wiese, ein Lamm in den Armen, und hantierte an einem Huf herum. Er trug eine Baseballkappe und einen grünen Overall, die Ärmel hochgekrempelt.

»He, Sie da«, rief Fischbach, um auf sich aufmerksam zu machen.

Der Mann stand auf und ließ das Lamm los, das mit weiten Sprüngen davonstob. Dann drehte er sich zu Fischbach um und grinste ihn schief an.

Der Kommissar riss erstaunt die Augen auf. »Du?«

»Da biste baff, was?« Der Kollege Thomas Gilles, mit dem Fischbach schon einige bizarre Situationen erlebt hatte, schlenderte auf ihn zu.

»Ein wenig, zugegeben. Zwar ist es einerseits nicht ungewöhnlich, dass ihr Streifenhörnchen als Erste am Tatort seid, allerdings … was machst du da mit den Schafen?«

»Das Lamm hatte sich einen Dorn eingetreten. Konnte mir das Leid nicht länger anschauen. Die Polizei, dein Freund und Helfer, nicht wahr?«

»Wo wir gerade davon sprechen. Solltest du nicht eigentlich … also … Mensch, wie läufst du rum? Was hast du mit deiner Uniform gemacht?«

»Mach mal halblang. Ich bin privat hier.« Gilles stieg über den Zaun. »Komm mit zur Bank.«

Sie setzten sich in den Schatten. Die Vögel im Kirschbaum zwitscherten aufgebracht, sie fühlten sich wohl durch ihre Anwesenheit gestört.

»Was soll das heißen, du bist nicht im Dienst? Bist du etwa zufällig des Weges gekommen und dabei über das Mordopfer gestolpert?«

»Ob du es glaubst oder nicht, so war es, in der Tat.«

»Auf die Story bin ich gespannt.«

»Jetzt quatsch nicht rum, sondern hör zu. Der Tote heißt Rainer, Rainer Levkus, und …«

»Wissen wir doch schon. Erzähl mal was Neues.«

»Okay, stimmt. Dann erspare ich uns das. Somit direkt dazu, warum ich hier bin. Der Rainer war zwar im wahrsten Sinne des Wortes ein Stinktier, wie du bestimmt schon gerochen hast, aber immerhin ein großzügiges. Von ihm hat mein Onkel für lau Heu abgegriffen.«

Gilles half in seiner Freizeit auf dem Gnadenhof seines Onkels aus. Da sein Onkel finanziell nicht auf Rosen gebettet war, musste er alles mitnehmen, was er geschenkt bekam. Nur so konnte er den Tieren ein würdevolles Leben ermöglichen. »Verstehe. Dann gehört dir der Wagen mit dem Hänger?«

»Eigentlich meinem Onkel.« Gilles verzog bedauernd das Gesicht und deutete mit dem Daumen auf das Wohnhaus. »Was für ein Gemetzel, oder?«

»Schrecklich, ja. Kanntest du den Rainer Levkus näher? Wart ihr befreundet?«

»Eher nicht. Was ich weiß, ist, dass Rainer zurückgezogen lebte. Deswegen nennen ihn hier in der Gegend alle den ›einsamen Wolf‹. Wir haben bei jedem Besuch ein paar Worte gewechselt, aber bloß Small Talk, nichts Tiefgründiges. Ich weiß, dass er unverheiratet ist, dass sein Vater noch lebt und dass es eine Schwester gibt. Von dem alten Herrn hat Rainer den Hof, die Schwester wohnt nicht mehr hier. Ich habe sie einmal angetroffen, als sie Rainer besucht hat. Nettes Persönchen, für meinen Geschmack ein wenig zu esoterisch angehaucht, aber ja, trotzdem angenehm.«

»Was muss ich unter esoterisch angehaucht verstehen?«

»Schamanin, Öko, Kräuterhexe, such dir etwas aus. Passt irgendwie alles. Nicht meine Welt, damit kann ich nichts anfangen. Ansonsten hätte ich sie sicher mal zum Abendessen eingeladen.«

»Weißt du, wie ich sie erreichen kann?«

»Leider nein. Den Vater findest du im Seniorenzentrum Maternus in Hillesheim.«

»Hm, gut, dann werde ich gleich bei ihm vorbeifahren und die traurige Nachricht überbringen.« Fischbach spürte angesichts der unangenehmen Aufgabe ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. »Weißt du sonst noch etwas, das uns weiterhelfen könnte?«

Gilles überlegte einen Moment. »Der Levkus war früher Berufssoldat. In der Küche hängen Fotos von ihm in Uniform.«

»Habe ich gesehen. Sonst noch was?«

Er schüttelte den Kopf. »Leider nein. Wie gesagt, so gut kannten wir uns nicht.«

»Also keine Idee, wer ihm das angetan haben könnte?« Fischbach kam bei dieser Frage ein irrwitziger Gedanke. Er musterte den Kollegen verstohlen. Da waren dunkle Flecken auf der Kleidung. Blutflecken? Die wären sicherlich ohne einen Mord erklärbar. Schließlich bluteten Tiere hin und wieder, und Gilles hatte engen Kontakt zu ihnen. Vermutlich waren es aber eher Jauchespritzer oder Ölflecken. »Hatte er Streit mit … jemandem?«

»Was schaust ’n plötzlich so?« Gilles stand abrupt auf. »Echt jetzt, Hotte? Du verdächtigst mich? Was sollte ich denn für ein Motiv haben?« Er winkte ärgerlich ab. »Weißt du was? Sag lieber nichts dazu. Mir ist das zu blöd. Ich werde mich jetzt wieder um die Schafe kümmern. Die Hühner habe ich schon eingesammelt und nehme sie nachher mit. Irgendwer muss sich ja jetzt um sie kümmern.«

»Thomas, hör zu, es tut mir …«

»Schon klar«, fuhr der Kollege dazwischen und wandte sich ab. »Die Tiere brauchen Wasser.« Mit weit ausholenden Schritten stapfte er davon.

3

Welscher rieb sich die Stirn. Zu seiner Übelkeit gesellten sich jetzt zu allem Überfluss auch noch Kopfschmerzen. Der Gestank hier am Tatort war kaum auszuhalten. Wäre eine Wäscheklammer in der Nähe, er hätte sie sich glatt auf die Nase gesetzt. Er bewunderte die Kolleginnen und Kollegen der Kriminaltechnik. Sie wirkten alle unbeeindruckt von der Luftqualität und dem Zustand des Umfeldes. Maila Aalto kaute zwischen ihren Fotoaufnahmen sogar auf einer BiFi herum.

»Ich muss jetzt ins Gericht. Sie halten mich auf dem Laufenden«, sagte die Staatsanwältin zu Welscher und verabschiedete sich.

Er schaute ihr sehnsüchtig nach. Am liebsten wäre er ihr gefolgt, um dem Saustall hier zu entrinnen.

Fischbach kam zurück.

»Und?«, fragte Welscher. »Überrascht?«

»Kann man wohl sagen. Dass ausgerechnet Thomas … na ja, egal. Solche Zufälle passieren hin und wieder. Darüber sollten wir nicht weiter nachdenken. Eigentlich war es auch kein Zufall. Thomas hatte einen triftigen Grund, hier zu sein.«

Welscher horchte auf. »Ist zwar alles richtig. Trotzdem wirkst du auf mich, als müsstest du dich selbst davon überzeugen.«

»Wovon?«

»Dass Thomas nichts mit der Sache zu tun hat.«

Fischbachs Hals färbte sich rot. »Ich meine doch nur … wir sollten halt nicht … voreilig was denken.«

Maila Aalto summte eine Melodie, in der Welscher das deutsche Volkslied »Die Gedanken sind frei« erkannte.

Fischbach ging es wohl ebenso, denn er warf ihr einen entrüsteten Blick zu und fragte dann die Rechtsmedizinerin: »Können Sie uns schon was sagen?«

»Einen Moment noch«, antwortete Dr. Jutta Jacobs und nahm aus ihrer Arzttasche ein Blatt Papier, auf dem Diagramme und Kurven zu erkennen waren. Sie blickte darauf und tippte dann auf ihrem Handy herum.

Fischbach wandte sich an Welscher. »Ich fahre gleich zum Vater des Opfers und sehe, was ich herausbekomme.«

»Weißt du denn, wo er wohnt?«

»In der Seniorenresidenz in Hillesheim. Thomas hat mir das gesteckt.«

Maila Aalto biss von ihrer BiFi ab und sagte lässig kauend: »Günstige Gelegenheit. Frag doch direkt mal die Heimleitung.«

Fischbach runzelte verständnislos die Stirn. »Was genau soll ich fragen?«

»Ob die nicht ein Plätzchen für einen betagten Kriminalbeamten haben, der den harten Rocker mimt.«

Fischbach lief vollends rot an. »Das ist ja …«

»… eine ausgezeichnete Idee, ich weiß«, unterbrach ihn Maila Aalto. »Ich bin dann mal im Wohnzimmer.« Unschuldig pfeifend verließ sie die Küche und schlenderte in den angrenzenden Raum.

»Ruhig, Brauner«, sagte Welscher. Er wusste, wie sehr seinem Kollegen die Spitzen der Kriminaltechnikerin zusetzten.

»Irgendwann …«, begann Fischbach, brach dann aber ab, ohne seine Drohung zu konkretisieren. »Das verspreche ich!«, ergänzte er stattdessen, und seine Mundwinkel hoben sich bei diesen Worten tatsächlich etwas an.

»Endlich lernst du es. Genau so musst du sie nehmen«, sagte Welscher und klopfte Fischbach auf die Schulter. »Ich bin stolz auf dich.«

»So, fertig«, verkündete Dr. Jutta Jacobs. Sie steckte das Papier zurück in ihre Tasche. »Was ich jetzt sage, ist alles mit heißer Nadel gestrickt. Aber das können Sie sich ja denken. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Obduktion keine Überraschungen zutage fördern wird. Fangen wir mit der Todesursache an.« Sie nahm eine Pinzette und hob damit den blutverschmierten Stoff des Hemdes ein wenig an. »Das Opfer lebte noch, als die Gewalteinwirkung stattfand. Ansonsten wäre nicht solch eine Menge Blut ausgetreten.«

Welscher nickte. Das hatte er angenommen. »War die Tatwaffe tatsächlich ein Beil?«

»Sehr wahrscheinlich. Die Länge der Wunden, die Eindringtiefe, die Spaltung des Brustkorbs beziehungsweise des Schädels, die Energie, die nötig ist … Dafür benötigt man eine Hebelwirkung. Also einen schweren Gegenstand mit Stiel und ordentlich Schwung. Ja, ein Beil wäre eine passende Tatwaffe. Leider kann ich nicht sagen, welcher Schlag zuerst ausgeübt wurde. Das ist meines Erachtens aber auch nicht wichtig. Denn jeder Hieb für sich allein betrachtet hätte unweigerlich das Ableben des Opfers herbeigeführt.«

Fischbach deutete zum Fenster hinaus, auf den Hauklotz, in dem das blutbeschmierte Beil steckte. »Angenommen, das dort draußen ist die Tatwaffe. Dann nahm der Täter das Beil vermutlich direkt bei seiner Ankunft mit rein, er hatte also die Absicht, Rainer Levkus zu ermorden.«

Welscher nickte. »Dem stimme ich zu. Auch wenn das Beil theoretisch in der Küche herumgelegen haben könnte.«

»Gut, ja. Aber selbst bei dem Chaos hier denke ich, es hat wie jetzt auch im Hauklotz gesteckt. Da gehört es hin, dort findet man es sofort, dort wird es gebraucht«, sagte Fischbach.

»Es ist praktischer so, willst du sagen.« Nachdenklich sah Welscher zum Fenster hinaus. »Nach der Tat hat der Täter das Beil dann wieder mit rausgenommen und in den Klotz gehauen. Schon bemerkenswert, oder? Diese … Sorgfalt.«

Fischbach wiegte den Kopf. »Ich würde da nicht zu viel hineininterpretieren. Ist vermutlich unterbewusst passiert, im Vorbeigehen quasi.« Er wandte sich an die Rechtsmedizinerin. »Können Sie uns was zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Kann ich.« Sie zeigte ihm ihr Handydisplay, auf dem die Zahl »16« zu sehen war. »Anhand von Körpertemperatur, Außentemperatur, Leichenstarre, Hypostase und so weiter … jetzt quassle ich schon wie in einem Tatort-Krimi. Verzeihen Sie mir, Sie sind vom Fach, Sie wissen, wie wir so etwas bestimmen. Also, meinen Berechnungen und Beobachtungen zufolge ist dieser Mann seit mindestens sechzehn Stunden tot, jedoch nicht länger als drei Tage. Und um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen«, sie hob abwehrend die Hände und lachte, »genauer geht es leider nicht.« Das Smartphone wanderte in ihre Hose, sie schloss ihre Tasche und nahm sie hoch. »Zum jetzigen Zeitpunkt weitere Fragen, meine Herren?«

Welscher schüttelte genau wie Fischbach den Kopf.

»Dann habe ich noch eine. Wird jemand von Ihnen bei der Obduktion zugegen sein?«

»Also eigentlich … ich meine …« Welscher, dem bei dem Gedanken daran sogleich wieder übel wurde, suchte nach geeigneten Ausflüchten.

Fischbach schien es ähnlich zu gehen, denn er räusperte sich und sagte: »Wir wissen ja jetzt, äh … das, was wir wissen müssen.«

Lachfältchen erschienen rund um Frau Dr. Jacobs Augen. »Verstehe. Sie teilen meine Leidenschaft für die Rechtsmedizin nicht.«

»So würde ich es jetzt nicht unbedingt ausdrücken wollen«, relativierte Welscher lahm, doch die Ärztin winkte ab.

»Geschenkt.« Sie musterte den Toten noch ein letztes Mal. »Ich empfehle mich jetzt und erwarte den neuen Gast dann in Kürze in Bonn. Meinen Abschlussbericht werde ich Ihnen natürlich schnellstmöglich zukommen lassen.«

Welscher machte ihr Platz, damit sie an ihm vorbei in den Flur huschen konnte. »Danke, dass Sie es einrichten konnten«, rief er ihr nach.

»Dafür nicht. Sie haben mir eine schöne Dienstreise aus dem stickig heißen Bonn in die sonnige Eifel verschafft. Ich habe zu danken.« Sie zog ihren Overall aus und verließ das Haus.

»Ts … eine schöne Dienstreise?«, brummte Fischbach. »Sind denn heutzutage alle verroht?« Sein Blick wanderte in Richtung des Wohnzimmers, in dem Maila Aalto emsig Fotos knipste. »Wie auch immer«, ergänzte er, »ich werde jetzt mal zum Vater fahren.«

Welscher wäre fast herausgerutscht, dass er wohl ja damit ebenfalls eine schöne Dienstreise in die tiefste Eifel antrat. Doch er verkniff sich die Bemerkung. Er wusste, dass Fischbach eine ungeliebte Aufgabe bevorstand. Kein Polizeibeamter überbrachte gern eine so schreckliche Nachricht.

»Mach das«, sagte er daher mitfühlend. »Ich halte derweil die Stellung.« Er hob die Hand, um seine Worte zu unterstreichen, rümpfte die Nase und wischte sich hektisch eine Fliegenlarve vom Arm.

Kaum war das Motordröhnen von Fischbachs Harley in der Ferne verklungen, kam Maila Aalto zurück in die Küche.

»Bock auf frische Luft?«, fragte sie.

»Nichts lieber als das.«

Sie setzten sich auf die Bank unter dem Kirschbaum und öffneten die Reißverschlüsse ihrer Overalls. In einiger Entfernung auf der Schafwiese hantierte Gilles mit einem Zinkeimer am Wasserfass. Die Herde stand im Halbkreis um ihn herum. Ein Lamm schien ihn besonders ins Herz geschlossen zu haben. Es sprang aufgeregt durch das Gras und schmiegte sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an seine Beine.

Maila Aalto fummelte eine weitere BiFi unter ihrem Overall hervor und bot sie Welscher an.

»Beim besten Willen nicht«, lehnte er ab. »Es wird noch einen Moment dauern, bis ich wieder etwas essen kann.«

Sie zuckte mit den Schultern, riss das Päckchen auf und biss von der Minisalami ab. »Wohnst du eigentlich immer noch bei Hotte?«

Welscher nickte. Es war erst wenige Wochen her, dass er den kurz vor der Vollendung stehenden Plan aufgegeben hatte, mit seinem Freund Lars in die USA auszuwandern. Lars, der sich gern als Frau kleidete und mit seiner Malerei unter dem Künstlernamen Larissa einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Kunstszene erlangt hatte, war von einem Geldgeber angeboten worden, eine eigene Kunstgalerie in New York zu eröffnen. Eine einmalige Gelegenheit, die Welscher ihm nicht verbauen wollte. Gemeinsam hatten sie das Abenteuer in Angriff nehmen wollen. Überraschenderweise hatte sich dann auch noch Welschers Mutter Hannelore der Unternehmung angeschlossen. Alles war bereits in die Wege geleitet gewesen, angefangen mit den Anträgen zur Aufenthaltsgenehmigung über die Beauftragung eines international agierenden Umzugsunternehmens bis hin zum Verkauf der Immobilien und von Welschers Porsche, als er in allerletzter Sekunde kalte Füße bekommen hatte. Statt in den Flieger zu steigen, hatte Welscher sein One-Way-Ticket nach Amerika storniert und war in der Eifel geblieben.

Wenn er nachts wach lag, zweifelte er gelegentlich an seiner Entscheidung. Hatte er wirklich freiwillig ein Leben in der funkelnden Weltmetropole an der Mündung des Hudson Rivers gegen eins in der verschlafenen Eifel eingetauscht? Was war mit ihm los? Noch vor wenigen Jahren wäre er in den Atlantik gesprungen und selbst nach New York geschwommen, um schnellstmöglich von hier verschwinden zu können. Und bot sich ihm endlich eine erstklassige Gelegenheit, zog er den Schwanz ein. Unfassbar! Immerhin: Zurzeit beruhigte ihn der Gedanke, eine eventuelle Fehlentscheidung korrigieren zu können. Zwar hatte Lars ihm wegen des unerwarteten Rückziehers Vorwürfe gemacht, am Ende aber verständnisvoll eingelenkt: »Also gut, nimm dir die Zeit, die du für deinen Abschied benötigst. Es ging ja auch alles sehr schnell. Ich warte auf dich.« Der Weg nach Übersee stand Welscher somit noch offen.

Eigentlich hatte er beabsichtigt, sich bis auf Weiteres hier in der Eifel in einem Hotel einzumieten. Doch die Fischbachs hatten das vehement abgelehnt und ihm ihr Gästezimmer angeboten. So wohnte er zurzeit bei Hotte und Sigrid und führte mit Lars eine Fernbeziehung.

»Ganz schön bizarr, wenn du mich fragst«, sagte Maila Aalto.

»Was ist denn daran so seltsam? Sie haben mir ihre Unterstützung angeboten, als ich sie benötigte. Ist doch liebenswert selbstlos.«

»Das meine ich nicht.«

»Was denn dann?«

»Solltest du inzwischen nicht auf eigenen Beinen stehen?«

Welscher fühlte sich ertappt, und er lächelte verlegen. »Nun ja, zugegeben, da ist was dran.«

»Aber?«

»Sigrid hat ein gutes Herz. Sie wäscht, bügelt und kocht für mich.«

»Du nutzt sie aus?«

»Also so würde ich es nicht … es ist … äh … ja, zugegeben, vielleicht ein wenig. Es ist bequem. Ich sollte das wohl angehen und ändern.«

Gilles schleppte den vollen Eimer Wasser zum Trog und goss ihn aus. Die Schafe stürmten herbei und genossen das kühle Nass. Zufrieden schaute er ihnen dabei zu.

»Hast du heute Abend Zeit?«, fragte Maila. Sie stopfte sich das letzte Stück ihrer Minisalami in den Mund.

Welscher stutzte. Kurz dachte er, sie wolle ihn um ein Date bitten. Dabei war es kein Geheimnis, dass er homosexuell war, und spätestens seit seinen Auswanderungsplänen wusste jeder in der Dienststelle auch von der Beziehung mit Lars. Es gab Frauen, die machten sich dennoch Hoffnungen. Manch ein Hinterwäldler glaubte, einen Schwulen könne man schon »bekehren«, es müsse nur die richtige Frau daherkommen. Maila schätzte er jedoch keinesfalls so ein. »Wieso?«, fragte er trotzdem argwöhnisch.

»Hast du oder hast du nicht? Wir können auch an einem anderen Tag, solltest du …«

»Ich hätte schon Zeit. Aber neugierig darf ich wohl sein, oder?«

Sie stand von der Bank auf, zog den Reißverschluss hoch und nickte ihm zu. »Sagen wir neunzehn Uhr im Mühlenpark in Kommern. Passt das?«

»Ja.« Dorthin konnte Welscher von Hottes Haus sogar zu Fuß gehen. »Aber du lässt mich jetzt nicht hier stehen, ohne mir zu sagen …«

»Heute Abend. Ist was Privates, das will ich nicht hier besprechen.« Sie grinste frech. »Und ich spanne die Männer gern mal auf die Folter.« Mit einem Augenzwinkern drehte sie sich um und ging zurück ins Haus.

4

Solange er es logistisch und wettertechnisch halbwegs vertreten konnte, nutzte Fischbach jede Gelegenheit, um während des Dienstes mit der Harley durch die Eifel zu cruisen. Dabei hielt er sich streng an die Geschwindigkeitsbegrenzungen und reduzierte das Tempo sogar noch zusätzlich, sobald er durch eine Ortschaft fuhr. Die Anwohner litten, insbesondere an sonnigen Wochenenden, ohnehin schon genug unter dem Lärm von Motorrädern. Die einzige Ordnungswidrigkeit, die er bei jeder Fahrt bewusst beging, war das Aufsetzen des alten Stahlhelms, den er bei einer Entrümpelungsaktion in seinem Elternhaus gefunden hatte. Idiotisch, das wusste er selbst, denn ein Integralhelm würde seinen Kopf deutlich besser schützen. Doch gleichzeitig war es irgendwie … cool. Zumindest empfand er es so. Für ihn stand der Helm für einen Hauch von Easy-Rider-Feeling, Freiheit und Revoluzzertum.

Seine neue Harley, eine Spezialanfertigung von Sohn-Motorcycles aus Speyer, in Schwarz lackiert, hatte er inzwischen eingefahren. Der kräftige Milwaukee-Eight-Motor mit hundertfünfundsechzig Pferdestärken und zweihundertzweiundvierzig Newton Drehmoment blubberte gemütlich vor sich hin, als Fischbach das Ortsschild von Hillesheim passierte.

Er beabsichtigte, Rainer Levkus’ Vater zunächst die traurige Botschaft zu überbringen. Anschließend wollte er im »Café Sherlock« eine Latte macchiato »Columbo« und ein »Mafiatoast« genießen.

Fischbach setzte den Blinker und lenkte die Harley nach rechts auf den fast verlassenen Parkplatz des Wohnheims. Um diese Uhrzeit schienen kaum Besucher da zu sein. Er stoppte nahe dem Eingang, schaltete die Zündung aus, lehnte das Motorrad auf den Ständer und meldete sich am Empfang an.

»Guten Tag. Ich möchte zu Herrn Levkus.«

Die junge Frau hinter dem Glas, die mit ihrem Handy beschäftigt war, sah auf. Fischbach schätzte sie auf Anfang zwanzig. Sie trug typische Kleidung für den Pflegeberuf, ein Namensschild an ihrer Brust wies sie als »Julia Riedel« aus.

»Bert Levkus? Sind Sie sicher?«, fragte sie.

Fischbach runzelte irritiert die Stirn. Was war das denn für eine seltsame Entgegnung? »Ja. Warum?«

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Na gut, ich habe Sie gewarnt. Sind Sie ein Angehöriger?« Sie zog die Tastatur des Computers zu sich heran und tippte etwas ein.

Das wurde ja immer mysteriöser. War der Vater von Rainer Levkus gewalttätig? Oder ein Ekelpaket? Trotz des Anlasses für seinen Besuch spürte Fischbach eine wachsende Neugier, dem Mann zu begegnen. »Nein«, gab er zu.

Die Frau richtete sich auf, schob die Tastatur wieder weg und lächelte übertrieben verbindlich. »Wenn das so ist … dann muss ich Sie bitten zu gehen.«

»Gehen? Warum denn? Ich muss Herrn Levkus dringend sprechen.«

»Sind Sie Gerichtsvollzieher oder so was?«

»Nein, ich bin von der …«

»Verstehe. Versicherungsvertreter also. Tut mir leid. Bitte verlassen Sie unser Haus.«

»Wieso das denn?«, platzte Fischbach empört heraus, was er sofort bereute. Er hörte sich selbst in seinen Ohren an wie ein quengelndes Kind. Fahrig kramte er in seinen Taschen nach seiner Marke.

»Wieso? Ja haben Sie denn den Aushang nicht gelesen?« Sie deutete auf ein postergroßes Papier, das an der Eingangstür hing, und schüttelte tadelnd den Kopf. »Also ehrlich, wie groß müssen wir das noch schreiben, damit es endlich jedem auffällt? Wie kann man einfach daran vorbeilaufen?«

Fischbach gedachte nicht, noch mal hinauszulaufen, um den Aushang zu lesen. »Was steht denn auf dem Blatt?«

»Noro!«, sagte die junge Frau eindringlich.

»Noro? Wer ist das? Nora kenne ich. Die hatte damals mal was mit einem bekannten Sänger. Aber Noro?«

»Virus!«

Fischbach wurde es zu bunt. Endlich fand er seine Marke, zog sie aus der Tasche und klatschte sie mit flacher Hand gegen die Scheibe des Empfangs. »Geht es auch in ganzen Sätzen?«

Die Frau starrte auf die Marke. Doch anstatt eingeschüchtert zu sein, kicherte sie. »Hey, super! So ein Teil habe ich meinem Freund zum Geburtstag geschenkt. Der will nämlich Polizist werden. Habe Sie die auch auf eBay geschossen?« Sie sah ihn an und zog mit dem Zeigefinger ein Augenlid herunter. »Sie sollten aber besser nicht so tun, als wären Sie tatsächlich ein Bulle. Ist nämlich nicht erlaubt.«

Kurz verspürte Fischbach den Wunsch, der jungen Frau Handschellen anzulegen und sie für einen Tag einzubuchten. Andererseits … In letzter Zeit kam es häufiger vor, dass die Menschen die alte Kriminalmarke nicht anerkannten. So langsam musste er sich wohl davon verabschieden und den Dienstausweis benutzen – und das, obwohl sie so praktisch am Schlüsselring hing. Er fummelte die Karte umständlich aus der Innentasche der Lederjacke und hielt sie mit der anderen Hand so an die Glasscheibe, dass die Frau die Angaben darauf lesen konnte.

Die Empfangsmitarbeiterin warf einen Blick darauf, sah Fischbach an und lachte dann erneut.

»Was ist denn jetzt schon wieder so lustig?«, zischte er.

»Sie stehen da, als würden Sie sich ergeben wollen.« Mit Zeigefinger und Daumen formte sie eine Pistole. »Hände hoch!«

Fischbach konnte darüber nicht lachen. Er verstaute Marke und Dienstausweis wieder in den Taschen. »So, jetzt will ich aber wissen, was hier los ist.«

Die Frau widmete sich unbeeindruckt ihrem Computer und erklärte dabei: »Dass Sie tatsächlich Polizist sind, hätte ich nicht gedacht. Sie sehen so … hm … unsportlich aus. Mein Freund trainiert derzeit hart für die Eignungsprüfung.« Sie musterte Fischbach abschätzig. »Aber gut. Sobald man dabei ist, kann man sich wohl gehen lassen.«

»Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr«, murmelte Fischbach, der sich beherrschen musste.

»Bitte?«

»Nichts. Was ist jetzt?«

»Bei uns grassiert das Norovirus. Daher haben wir Besuchsbeschränkungen. Nur Angehörige dürfen zurzeit hier rein.« Sie schaute auf. »Und selbstverständlich die Polizei, sofern sie sich korrekt ausweist.«

»Wie entgegenkommend«, brummte Fischbach.

»Oh!«

»Was nun?«

»Moment«, sagte sie, griff zum Hörer und wählte eine Nummer. »Frau Grießhagen? Hier ist jemand von der Polizei. Er möchte Herrn Levkus sprechen, und im Computer steht … Ah, okay, das wusste ich nicht. Also gut, ich werde es ausrichten.« Sie legte auf und wandte sich wieder an Fischbach. »Frau Grießhagen wird Sie gleich in Empfang nehmen.«

»Eigentlich wollte ich aber Herrn Levkus sprechen.«

Sie nickte und deutete zur Sitzgruppe im Empfangsbereich. »Frau Grießhagen ist die Leiterin hier. Nehmen Sie doch noch einen Moment Platz.«

Fischbach wollte alles andere, doch blieb ihm nichts übrig, als sich in Geduld zu üben. Es war wohl der einfachere Weg. Die junge Frau, die bereits wieder auf ihr Handydisplay starrte, würde ihm nichts mehr verraten. Widerwillig setzte er sich, gespannt darauf, was ihn gleich erwartete.

17. Februar 1996

Der erste Wochenendurlaub nach sechs Wochen Grundausbildung. Und nun das.

Rainer schloss die Augen und lehnte den Hinterkopf an die Kopfstütze des Mercedes. Ein älteres Modell, das seit Jahren kaum bewegt wurde. Seine Mutter fuhr nicht gern, und sein Vater … nun ja, er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt.

Was hätte Rainer heute nicht alles unternehmen können! Mit ein paar Kumpels abhängen, ins Kino gehen oder ein wenig … kuscheln. Der Gedanke an Letzteres wärmte ihm das Herz und tröstete ihn zugleich. Später. Das war nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.

Der Regen trommelte auf das Fahrzeugdach. Köln-Ossendorf erschien ihm trist, viele Hochhäuser, die Stadtautobahn, ein großes Gewerbegebiet. Das Wetter unterstrich diesen Eindruck. Oder lag es an den grauen Mauern des Gefängnisses, die vor ihm aufragten? An den Ecken reckten sich Aussichtstürme empor.

Rainer erschauerte bei der Vorstellung, sieben Jahre dort eingesperrt zu sein. Wertvolle Lebensjahre, die einem niemand zurückgab. In den letzten sieben Jahren war so vieles geschehen: Die Mauer war gefallen, der Kalte Krieg hatte geendet, der Golfkrieg begonnen, das vereinte Deutschland war Fußballweltmeister geworden – und aus den Kindern Erwachsene.

Das alles fernab von allem und gefiltert hinter Gittern zu erleben, nur weil man seinen Jähzorn nicht im Griff gehabt hatte – für ihn unvorstellbar. Seine Freiheit aufzugeben, nur damit man es dem anderen »gezeigt hatte«.

Er sah auf die Uhr. Mittag. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Nervös trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkradkranz. Daheim in der Eifel bereiteten seine Mutter und seine Schwester gerade alles für den Empfang vor. Sie hatten Kuchen gebacken, den Hauseingang mit einem Herzlich-willkommen-Schild und Girlanden geschmückt, Luftschlangen zierten Tisch und Decken.

Rainer hielt nicht viel davon. In seinen Augen verklärten sie zu Hause Vaters Ankunft. Denn der kehrte nicht von einer langen Reise zurück und erst recht nicht als strahlender Held. Hätte er Pharaonengräber entdeckt oder wäre etwa zum Mond geflogen, ja, dafür wäre es vertretbar gewesen, seine Heimkehr zu feiern. Aber so war es nun mal nicht. Hier und heute erhielt ein Verbrecher, ein Totschläger, seine Freiheit zurück. Das war die ganze traurige Wahrheit. Für seine paar Sekunden der Genugtuung hatte er seine Familie allein zurückgelassen.

In Rainer wallte wieder die Wut auf seinen Vater auf. Tränen schossen ihm in die Augen, die er mit dem Jackenärmel hastig fortwischte. Hätte er sich damals nicht zusammenreißen, Worte anstatt Fäuste fliegen lassen können? Es wäre ihnen vieles erspart geblieben. Die Sticheleien und Ausgrenzungen in der Schule. »Mörderbalg«, so hatten sie ihn und Carola genannt. Dabei war es noch nicht einmal ein Mord gewesen, sondern Totschlag. Doch niemand interessierte sich für den feinen Unterschied. Zum Spielen und bald darauf zu Feten wurden sie nie mehr eingeladen. Wer wusste schon, ob in den Levkus-Kindern nicht irgendwann die Gene des Vaters Oberhand gewannen und das zu weiteren Toten führte? Vollkommen absurd, diese Theorie. Doch erklär das mal denen, die davon überzeugt waren. Hätte er nicht seinen besten und einzigen Kumpel Frank Halbach gehabt, Rainer wäre an der gesellschaftlichen Ächtung und Isolation zerbrochen.

Trotz seiner Wut musste Rainer lachen. Er schniefte und kramte ein Papiertaschentuch hervor. Er hatte sich Frank gerade als Tarzan vorgestellt, der ihn aus einem Kochtopf vor Kannibalen rettete.

Die Tür am Haupteingang des Gefängnisses schwang auf. Ein Mann trat heraus, eine Tasche in der rechten Hand, Jeans, weißes T-Shirt und Lederjacke. James-Dean-Stil.

Rainers Herz schlug schneller. Er öffnete die Wagentür und stellte sich in den Regen.

Der Mann winkte, zeigte ein Lächeln.

Rainer hob nicht die Hand. Stoisch stand er da, ans Wagendach gelehnt. Er verspürte nicht das Bedürfnis, seinem Vater entgegenzugehen. Der Regen rann ihm kalt in den Nacken, milderte aber nicht die Wut, die in ihm loderte.

Der Mann kam näher. Seine Haare waren schütterer, als Rainer in Erinnerung hatte. Dafür der Körper muskulöser, durchtrainierter.

Vor der Motorhaube blieb er stehen und tätschelte den Mercedesstern. »Fährt mein altes Schätzchen also noch.«

»Warum auch nicht?«, stieß Rainer unwirsch aus. »Die Karre hatte ja keine Gelegenheit, Kilometer abzureißen.«

Sein Vater sah auf, übergangslos wirkte er verletzt und traurig. »Rainer, ich …«

»Lass es!«, forderte Rainer. Er wollte keine Entschuldigung hören, keine Beteuerungen, sich zu bessern, oder haltlose Versprechen.

Die Schultern seines Vaters sackten nach unten, er wirkte jetzt nicht mehr wie James Dean. »Du bist wütend. Ich verstehe das.« Er schlurfte um den Wagen herum, warf die Tasche auf die Rückbank und setzte sich auf den Beifahrersitz.

Rainer stieg ebenfalls ein. Die Feuchtigkeit ihrer vom Regen durchnässten Kleidung ließ die Scheiben von innen beschlagen. Er startete den Wagen, der Zündschlüssel zitterte zwischen seinen Fingern.

»Soll ich fahren?«, fragte sein Vater.

Abrupt ließ Rainer die Kupplung kommen, der Wagen bockte vorwärts. Er stellte die Lüftung auf höchste Stufe. »Nicht nötig«, entgegnete er knapp und ergänzte: »… Bert.« Nie mehr würde er ihn Papa oder Vater nennen. Nein! Bert! Die Distanz, die er damit schuf, tat gut, sie war Balsam für Rainers geschundene Seele.

Es ergötzte ihn zu sehen, wie sich sein Vater auf dem Sitz krümmte, als hätte er ihm ein Messer zwischen die Rippen gerammt.

5

Eine geschlagene Viertelstunde musste Fischbach warten. Dann, endlich, trat eine Frau in einem grauen Kostüm und weißer Bluse aus dem Aufzug und sah sich suchend um.

Fischbach schätzte sie auf sein Alter. Ihre ganze Erscheinung wirkte kultiviert. Auf der Nase thronte ein goldenes Brillengestell, die Gläser in der Größe zweier Untertassen, die grau melierten Haare trug sie schulterlang, die Fingernägel waren einwandfrei manikürt.

»Das ist der Mann von der Polizei, Frau Grießhagen«, rief die junge Frau vom Empfang und zeigte auf Fischbach. Ihr Handy war wie von Geisterhand verschwunden, auf einmal wirkte sie aufmerksam und geschäftig.

»Fischbach«, ergänzte er und stand auf, »Kripo Euskirchen.«

»Franziska Grießhagen.« Sie gab ihm die Hand. »Ich leite dieses Haus. Ich schlage vor, wir gehen in mein Büro.«

Fischbach folgte ihr in den Aufzug. Auf der dritten Etage betraten sie einen Raum mit stylisher Ausstattung. Hochwertiges Nussholz, harmonisch kombiniert mit schwarzem Metall. Die Stühle vermittelten einen stabilen, vertrauensvollen Eindruck. Auf dem Schreibtisch stand ein Rechner, die Rückseite des Monitors zierte leuchtend ein angebissener Apfel. Obwohl Fischbach eher auf rustikales Mobiliar stand, gefiel ihm, was er sah. »Sehr schick«, sagte er daher.

»Danke. Aber bitte glauben Sie nicht, ich veruntreue hier Pflegegelder für mein Wohlgefühl. Alles, was Sie hier sehen, ist mein Privateigentum. Setzen Sie sich doch.« Sie wies auf eine kleine Sitzgruppe vor dem Fenster und bot Getränke an.

Fischbach entschied sich für ein Mineralwasser. Das Leder, in das er sank, fühlte sich entgegen seiner Erwartung weich und warm an. »Darf ich fragen, warum Sie Ihr eigenes Geld hier hineinstecken?«

Franziska Grießhagen setzte sich ihm gegenüber und schmunzelte. »Das beantworte ich gern. Wissen Sie, ich verbringe so viel Zeit in diesen vier Wänden, dass ich es schlicht und einfach gemütlich haben möchte.« Sie beugte sich ein wenig vor, als würde sie Fischbach ein Geheimnis anvertrauen wollen. »Bei mir zu Hause sieht es aber ganz anders aus. Sie wären erstaunt.« Wieder lächelte sie. »Kommen Sie mich doch mal besuchen.« Ihre warme Stimme hatte einen sanft brummenden Ton angenommen.

Wie eine schnurrende Katze, dachte Fischbach und räusperte sich. Diese Art Aufmerksamkeit war ihm unangenehm, und er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. »Ich komme wegen Bert Levkus«, lenkte er rasch ab. »Meinen Informationen zufolge wohnt er hier im Haus.«

Franziska Grießhagen lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Das ist richtig. Sie sind von der Kriminalpolizei, habe ich das eben richtig mitbekommen? Ich hoffe doch, es ist nichts Bedauerliches geschehen?«

»Leider doch. Aber ehrlich gesagt hatte ich befürchtet, Sie würden mir etwas Beklagenswertes zu Bert Levkus offenbaren.«

Franziska Grießhagen hob erstaunt beide Augenbrauen. »Ich? Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?«