Eigentlich bin ich nicht so - Marie Aubert - E-Book

Eigentlich bin ich nicht so E-Book

Marie Aubert

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Beschreibung

Familie ist Wahnsinn und Liebe zugleich. Es ist das Konfirmationswochenende von Linnea. Die Tischkarten liegen bereit, die Familie ist geladen, aber die Zusammenkunft verheißt nichts Gutes. Hanne, Linneas Tante, plant die Rückkehr in ihr Heimatdorf als großen Triumph. Sie ist nicht mehr zu Hause gewesen, seit sie damals «die Dicke» war. Inzwischen lebt sie in der Großstadt und führt eine glückliche Beziehung mit einer Frau. Zu Hause angekommen wird sie mit voller Wucht von der Vergangenheit eingeholt. Linneas Vater Bård ist der erfolgreiche Mann, der immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Als plötzlich alles anders läuft als geplant, gerät sein Leben aus den Fugen. Und Opa Nils will einfach nur gut sein. Doch was passiert, wenn gut nicht gut genug ist? Eigentlich bin ich nicht so ist ein so scharfsinniger wie unterhaltsamer Familienroman über die Angst vor den Blicken anderer, aber auch über die Sehnsucht, gesehen und geliebt zu werden. Und über das Risiko, andere Menschen in das eigene Leben zu lassen.

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Seitenzahl: 232

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Marie Aubert

Eigentlich bin ich nicht so

Roman

 

 

Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat

 

Über dieses Buch

Es ist das Konfirmationswochenende von Linnea. Die Tischkarten liegen bereit, die Familie ist geladen, aber die Zusammenkunft verheißt nichts Gutes.

Hanne, Linneas Tante, plant die Rückkehr in ihr Heimatdorf als großen Triumph. Sie ist nicht mehr zu Hause gewesen, seit sie damals «die Dicke» war. Inzwischen lebt sie in der Großstadt und führt eine glückliche Beziehung mit einer Frau. Zu Hause angekommen, wird sie mit voller Wucht von der Vergangenheit eingeholt. 

Linneas Vater Bård ist der erfolgreiche Mann, der immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Als plötzlich alles anders läuft als geplant, gerät sein Leben aus den Fugen.

Und Opa Nils will einfach nur gut sein. Doch was passiert, wenn gut nicht gut genug ist?

Eigentlich bin ich nicht so ist ein so scharfsinniger wie unterhaltsamer Familienroman über die Angst vor den Blicken anderer, aber auch über die Sehnsucht, gesehen und geliebt zu werden. Und über das Risiko, andere Menschen in das eigene Leben zu lassen.

Vita

Marie Aubert, geboren 1979 in Oslo, debütierte 2016 mit dem Erzählband Kann ich mit zu dir?, der in Norwegen von der Presse gefeiert wurde. Ihr erster Roman, Erwachsene Menschen, war in Norwegen, Schweden und Polen ein Bestseller. Marie Aubert lebt als Autorin und Literaturkritikerin in Oslo.

 

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Kjersti Skomsvold und Christina Hesselholdt. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis und 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW, 2019 den Jane Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

 

Stefan Pluschkat, geboren 1982 in Essen, studierte Komparatistik und Philosophie in Bochum und Göteborg. Er übersetzt Romane, Kinder- und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen und erhielt 2018 den Hamburger Förderpreis für Übersetzung.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Jeg er egentlig ikke sånn» bei Forlaget Oktober, Oslo.

Die Publikation der Übersetzung wurde von NORLA, Norwegian Literature Abroad, gefördert.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Jeg er egentlig ikke sånn» Copyright © 2022 by Marie Aubert

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung «Vertical Picnic» von Signe & Genna Grushovenko

ISBN 978-3-644-01285-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Hinweise des Verlags

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www.rowohlt.de

Freitag

BÅRD

Noch zwei Tage, dann liegen die Karten offen. Vielleicht auch drei.

Nach der Arbeit fahre ich bei meinem Vater vorbei, um mir für Sonntag einen Klapptisch zu borgen. Ich muss ihn selbst in der Garage suchen, während mein Vater von draußen zuguckt, nicht mal abgewischt hat er den Tisch.

«Schönes Wetter», sagt er und nickt.

Ich schiebe Fia zur Seite, die hechelnd um meine Beine schwänzelt. Die Kinder liegen mir schon seit Jahren in den Ohren, dass sie einen Hund wollen, aber ich sage Nein, Ende der Diskussion.

«Streng genommen ist es ziemlich kalt», sage ich. «Für Mai.»

«Streng genommen», erwidert mein Vater grinsend.

«Ja, sonst ist es wärmer um die Zeit.»

Wir verstauen den Tisch im Kofferraum, ich muss die Rückbank umklappen. Ich sammle Eispapier von den Kindern ein, entdecke eine Basecap, die Sivert, glaube ich, schon gesucht hat, und ein dickes buntes Haargummi, bestimmt von Linnea.

«Na schön», sagt mein Vater. «Hattet ihr denn vor, Sonntag draußen zu feiern?»

«Nee», antworte ich. «So optimistisch sind wir nicht.»

Ich trete von einem Bein aufs andere, will endlich los.

«Musst bestimmt noch viel erledigen», sagt mein Vater mit diesem schiefen Halblächeln, bei dem mir die Kopfhaut juckt, klar muss ich das, klar muss man viel erledigen, bevor man die Bude voll hat. Er selbst hat Zeit ohne Ende und macht sich hier oben einen lauen Lenz, allein mit seinem dicken Labrador.

«Ja, ja», sagt er wieder, als ich nicht antworte. «Die Kinder werden groß.»

«Allerdings», erwidere ich.

«Schade, dass Sissel das nicht mehr erlebt», sagt er.

Ich drehe mich um und steige in den Wagen.

«Wann sollen wir heute Abend da sein?», fragt er.

«So um halb acht», antworte ich.

Er nickt und erklärt dann, er habe das Souterrain aufgeräumt, damit sie dort schlafen können.

«Schöne Grüße», sagt er, während ich mich anschnalle. «Wobei, wir sehen uns ja sowieso später.»

 

Mit dem Klapptisch im Kofferraum fahre ich nach Hause, vorbei an Feldern mit Blick auf den gesamten Ort. Heute ist die Luft so klar, dass ich bis zu den Neubauten am Kai sehen kann. Ich biege in die Siedlung ein und parke das Auto in der Garage. Unser Haus ist das schönste. Um den Garten hat sich früher Mama gekümmert, auch nachdem sie hier aus- und wir eingezogen waren. Sie kam vorbei, ganz zufällig mit alten Gartenhandschuhen in der Handtasche, und jätete die Beete und pflückte Äpfel von den beiden Apfelbäumen, wie sie es seit meiner Kindheit getan hatte. Sie kannte die Namen sämtlicher Rosen und verhätschelte sie geradezu, wusste genau, wann man sie zurückschneiden und zum Überwintern mit Stroh abdecken muss. Anfangs hatte Ellen protestiert, bestimmt aus verletztem Stolz, weil Mama sich weiterhin so verhielt, als gehörte der Garten ihr, dabei hat Ellen überhaupt keinen Sinn für Gartenarbeit, und ich war auch nie der große Gärtner, sodass es uns eigentlich gut in den Kram passte, wir hatten einen schönen Garten und mussten keinen Finger dafür rühren. Es fühlte sich fast wie Luxus an, an den üppigen Rosen vorbeizugehen, faustdicke Blüten in Rosa, Gelb und Rot, die Blätter dunkelgrün glänzend. Jetzt ist der Garten verwahrlost, um den Rasen kümmert sich der Mähroboter, damit er halbwegs passabel aussieht, aber in den Beeten wuchern Löwenzahn und Unkraut, die Rosensträucher sind halb verkümmert. All das sehe ich, während ich den Klapptisch aus dem Kofferraum hole, und spüre ein Ziehen im Magen, ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Aber an sowas kann ich jetzt nicht denken, bald wird alles anders.

 

«Hallo», rufe ich, während ich mich seitlich mit dem Tisch durch die Haustür zwänge.

«Hallo», antwortet Ellen aus dem Wohnzimmer.

Sie liegt ausgestreckt auf dem Sofa, ein Bein über dem anderen, auf dem Couchtisch steht ein Glas Weißwein. Sie winkt mit dem Fuß, wie sie es immer tut, tastet nach ihrem Telefon und blickt kaum auf, als ich mich mit dem Tisch abmühe.

«Geschafft», sage ich schließlich, schweißnass vom Tragen, und lehne den Tisch gegen die Wand.

«Prima», sagt sie.

Verdammt, sie hat nicht mal aufgeräumt. Seit mindestens zwei Stunden ist sie jetzt zu Hause, und trotzdem sieht alles noch genauso aus wie heute Morgen, das Wohnzimmer quillt über vom Kram der Kinder, überall Lego und Bücher, benutzte Gläser, alte Zeitungen auf dem Tisch, Staubmäuse entlang der Fußleisten. Ich quetsche mich zu Ellens Füßen aufs Sofa, trommle ein bisschen mit den Fingern auf meinen Knien. Früher fand ich es schön, wenn sie so dalag, den Kopf auf einem Arm und tiefenentspannt, fast ein bisschen sexy, dass sie sich nicht davon aus der Ruhe bringen ließ, wenn die Kinder und ich etwas von ihr wollten. In der oberen Etage poltern hastige Schritte über den Boden, Eirik oder Sivert, wahrscheinlich Eirik, er ist der Schnellere.

«Dir ist aber schon bewusst, dass wir Besuch bekommen?», frage ich.

«Bewusst?», erwidert Ellen und blickt auf. «Ja?»

Ich mache eine Geste über das Durcheinander, worauf sich ihre Miene verfinstert, sie setzt sich auf.

«Man wird ja wohl noch ein bisschen entspannen dürfen», sagt sie. «Es ist Freitag.»

«Wär halt schön, wenn’s hier nicht aussähe wie nach einem Bombeneinschlag», sage ich.

«Ich kümmere mich darum», sagt sie, den Blick aufs Telefon gerichtet.

«Aha», sage ich. «Und wann?»

«Entspann dich mal», sagt sie und sieht mich an.

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, etwas Wütendes, reiße mich aber zusammen und sitze still da, ich habe es schon so oft gesagt, dass ich es selbst nicht mehr hören kann, außerdem nützt es ohnehin nichts.

«Ist Linnea da?», frage ich schließlich.

«Fräulein Fröhlich ist zu Hause, ja», sagt Ellen und nickt in Richtung von Linneas Zimmer.

«So schlimm?», frage ich.

«Unerträglich», sagt Ellen kopfschüttelnd.

«Schön, dass wir eine Party für sie schmeißen.»

«Ja, wird ein Mordsspaß», sagt Ellen, und da lächeln wir beide.

Ich höre mich normal an, rede, wie ich immer rede, und während wir gemeinsam lächeln, kommt es mir kurz so vor, als wäre alles wie früher. Sie merkt mir nichts an, hat keinen Verdacht geschöpft. Das erkenne ich an ihrem Lächeln, sie fühlt sich so sicher, mein Hals schnürt sich zusammen. Unbeholfen tätschle ich ihre Knie und stehe auf, gehe in die Küche und sehe die Geschirrberge, Krümel auf dem Boden, eine klebrige Pfütze auf der Arbeitsfläche, ich bleibe kurz stehen und atme tief durch die Nase aus, ehe ich die Spülmaschine ausräume. Gläser klirren gegen Gläser, Tassen gegen Tassen. Wir besitzen an die fünfzig Mumintassen in Gelb, Rot, Blau, Rosa und allen erdenklichen anderen Farben. Die einzigen Figuren, deren Namen ich kenne, sind Klein Mü und der Schnupferich, und dann ist da die schwarze Tasse, die ich bekomme, wenn Ellen ausnahmsweise mal am Wochenende den Frühstückstisch deckt, die mit Muminpapa mit Zylinder. Als ich spüle, was nicht in den Geschirrspüler darf, fällt mir ein, dass ich noch den Pizzateig fürs Abendessen machen muss, ich hätte mich auch kurz ausruhen sollen, doch ich bin zu aufgewühlt, hab Ameisen im Hintern, wie mein Vater zu sagen pflegt, besser, ich erledige alles sofort.

Ohne mich werden sie nach zwei, höchstens drei Tagen im Chaos versinken. Eirik und Sivert werden sich Käsebrote machen, und Butter und Käse nicht in den Kühlschrank zurückstellen, Krümel und Flecken auf der Arbeitsfläche, verschüttete Cola Zero auf dem Boden. Linnea wird ihre Klamotten in Bad und Wohnzimmer verteilen, Bremsspuren in der Kloschüssel, ein Berg aus Tausenden Schuhen und Stiefeln im Flur. Und Ellen, Ellen wird nicht mehr die ganze Zeit nur auf dem Sofa rumliegen können, aufs Telefon starrend, obwohl sie ein Buch in der Hand hält, ständig jammert sie, sie komme beim Lesen so langsam voran, kein Wunder, antworte ich. Sie wird nicht begreifen, wo das Chaos herkommt, warum sich urplötzlich überall schmutzige Wäsche und Teller mit Essensresten türmen. Himmel, was ist denn hier passiert?

Wie sollen sie klarkommen, falls ich abhaue? Wenn ich abhaue.

Das Haus gehört größtenteils mir, meine Eltern haben es gebaut, fünfundsechzig Prozent sind mein Eigentum, dafür gehört Ellen das Ferienhaus, so gesehen sollte nicht ich ausziehen müssen. Doch vor meinem inneren Auge erscheint das Haus genau so, ohne mich, die anderen rund um den Tisch, mein Stuhl leer, die Schränke ohne meine Schuhe und Klamotten, meine Bettseite ohne Decke und Kissen.

Mit dem kleinsten Topf habe ich am meisten zu kämpfen, weil Haferflocken darin kleben. Morgens kocht Ellen immer Porridge für Eirik und Sivert, mit Blaubeeren und etwas Honig, sie mampfen alles auf, und wer macht später den Topf sauber, wer? Die eingetrockneten Porridgereste sind so hart und scharfkantig, dass man sich dran schneiden kann. Ich nehme einen Stahlschwamm und rubble herum, doch schon bald bin ich leid, wie viel Zeit es kostet, wie langsam es geht. Ich lasse den Topf ins Spülwasser sinken und balle die Hände zu Fäusten, dann fische ich den Topf wieder heraus, trockne ihn halbherzig ab und stelle ihn in den Schrank, knalle die Schranktür zu und lausche in die darauffolgende Stille.

Zwei Tage noch, denke ich und blicke in die Spüle hinab. Lasse einen Finger im Wasser kreisen, sehe den Schmutz, der sich am Boden abgesetzt hat, bewege den Finger noch schneller, kleine Wellen platschen in alle Richtungen. Vielleicht auch drei. Nicht am Sonntag. Aber Montag oder Dienstag. Dann. Wenn der Gottesdienst, das Essen und die Reden überstanden sind, wenn alles erledigt ist, was erledigt werden muss, die Liste ist so lang, angefangen mit Pizzabacken und Aufräumen, damit mein Vater und Hanne herkommen können, die neue Hanne mit ihrer neuen Flamme, dass wir in dem ganzen Trubel auch noch Besuch zum Abendessen bekommen müssen, aber es wäre seltsam gewesen, sie nicht zu uns einzuladen. Drei Tage noch, dann werde ich es Ellen sagen.

 

Mein Telefon vibriert. Ich bin wie ein Hund, der Trockenfutter in den Napf prasseln hört, schnell trockne ich die Hände am Geschirrtuch ab und angle das Telefon aus der Hosentasche, inzwischen lege ich es nicht mehr von mir. Ich halte die Luft an und sehe mich um, an der Geräuschkulisse hat sich nichts verändert, der Lärm der Kinder im oberen Stock, Ellens Stille im Wohnzimmer. Die Nachricht ist von ihr, von Kaia. Ich muss lächeln, als ich das Bild sehe, das sie mir als Snap geschickt hat. Sie sitzt mit einem Glas Wein auf dem Balkon, blickt in die Kamera und macht einen Schmollmund, Linnea nennt das pouting. Ärmelloses Top, Brüste und Arme hell und weich in der Sonne, obwohl es aussieht, als wäre es eiskalt dort draußen. Schön warm auf dem Balkon, schreibt sie. Schade, da wäre ich jetzt gerne, schreibe ich zurück und lächle beim Tippen. Oh ja, antwortet sie und schickt mir ein Herz, und ich schicke ihr eins zurück. Sieht aus, als wär dir ein bisschen kalt, antworte ich und schicke ein Auberginen-Emoji hinterher. Komm, wärm mich, antwortet sie mit einem Pfirsich, und mein Mund wird trocken, ich bin ganz kribbelig, spüre ein Pochen im Körper. Ich würd ja gern, aber es geht nicht, schreibe ich, das müsste sie doch eigentlich wissen. Kommst du morgen kurz vorbei?, fragt sie, und ich antworte, ich hätte vor der Konfirmation so viel zu tun, wolle es aber versuchen. Irgendwie muss ich es hinkriegen, morgen, ich weiß nicht, wie, aber es muss klappen. Danach kommen keine Nachrichten mehr.

Das Telefon noch in der Hand, gehe ich ins Bad und schließe die Tür ab, dann sitze ich eine Weile auf dem Klo, bis mein Puls sich beruhigt. Heute Abend muss ich mich zusammenreißen, ich darf nicht abgelenkt sein oder gereizt. Hanne muss das Gefühl haben, ich würde mich dafür interessieren, was sie treibt, sonst ist sie verletzt und heult sich bei unserem Vater aus, und er macht eine seiner Bemerkungen, bei mir würde sich immer alles nur um meine eigene Bilderbuchfamilie drehen.

Ich öffne noch mal das Snap von Kaia, ihr Lächeln, die Brüste, die Arme, das Weinglas, kann sie eigentlich sehen, dass ich mir das Bild schon wieder anschaue?

Ich kriege das einfach nicht hin, das habe ich im Lauf des letzten Jahres immer wieder gedacht, so zu tun, als ob nichts wäre. Ich kann nicht schlafen, bin schweißgebadet, und wenn ich Ellen und die Kinder sehe, könnte ich heulen. Ich bin doch gar nicht so. Erstens bin ich mit meinem Vater aufgewachsen, und zweitens haben sich über die Jahre so viele unserer Bekannten fatale Fehler erlaubt, Männer, aber auch Frauen, denn Frauen sind keinen Deut besser, falls das irgendwer denkt. Ich habe große Reden geschwungen, wenn wieder mal jemand seine Familie aufs Spiel gesetzt hatte, um mit sonst wem in die Kiste zu steigen, wenn jemand für eine Laune alles riskiert hatte, scheiß auf die Kinder, scheiß auf die Frau, scheiß auf den Mann, scheiß aufs Haus, die Schwiegereltern, die gemeinsamen Freunde, scheiß auf Weihnachten, aufs Zusammen-alt-Werden, auf alles. Alles futsch, nur weil du rumvögeln, dich jung und stark fühlen willst, weil deine Frau untenrum ausgeleiert ist, nachdem sie deine drei Kinder auf die Welt gebracht hat, weil der Typ im Büro dir das Gefühl gibt, du wärst sexy in deinem neuen Kleid, es ist immer das Gleiche. Die Leute müssen sich zusammenreißen, habe ich gesagt, zu Ellen, zu meinen Kumpels, zu allen. Die Leute geben zu schnell auf. Wo ist bloß die Moral geblieben, der Wille, ein anständiger Mensch zu sein, habe ich gesagt. Sein Wort zu halten. Habe ich gesagt.

Vor ein paar Jahren, als Mama krank wurde, war diese Sache mit Peter, einem Typen im Dunstkreis meiner Kumpel aus der Schule, ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden, der Typ war nur am Meckern, und schuld waren immer die anderen. Jetzt hat schon lange keiner mehr Kontakt zu ihm, es war einfach zu mies, was passierte, er ließ seine Freundin mit zwei Kindern sitzen. Das ältere war schwerer Autist, der Junge war kaum ansprechbar und gab seltsame Laute von sich. Nicht, dass wir überrascht gewesen wären, als Peter sich aus dem Staub machte, denn in der Zeit vor der Trennung wollte er sich ständig im Jeppe’s treffen, auf ein paar Bier, viel öfter, als wir anderen Zeit hatten, viel öfter, als er selbst Zeit hätte haben sollen. Ich brauche eine Auszeit, sagte Peter. Ich brauche dringend eine kleine Auszeit. Immer diese Laute, sagte er, ich dreh noch durch. Dann äffte er seinen Sohn nach, gab lautes Geheul von sich, bis die Leute an den Nachbartischen sich zu uns umdrehten. Keiner von uns lachte, wir wechselten nur Blicke. Klar muss man hin und wieder Dampf ablassen, kein Thema, so eine Situation ist für niemanden leicht, aber was er tat, war eiskalt, und ich erzählte Ellen davon, sowas kann er doch nicht bringen, sagte ich. Nein, sagte Ellen.

Nachdem Peter zu Hause ausgezogen war, erzählte er Simen, Jon und mir im Pokalen davon, wir hatten uns gerade ein Spiel angeguckt. Er sah schlecht aus, dünn, nervös, zerknirscht. Ich fragte, wie sie es mit den Kindern machen würden, ob es nicht schwer werde für Johanne und ihn, die Kinder im Wechselmodell zu haben. Bei mir werden sie höchstens jedes zweite Wochenende sein, entgegnete Peter und schaukelte vor und zurück, die Hände um sein Bierglas. Alles andere würde mir zu viel, ich kann mein Leben nicht so verplempern.

Selbst wenn ich zu viel getrunken habe, weiß ich mich im Gegensatz zu manch anderen Kumpels immer noch halbwegs zu benehmen, aber in dem Moment schlug ich mit der Faust auf den Tisch und brüllte, was soll der Scheiß, das sind deine Kinder, du kannst doch nicht die ganze Verantwortung auf Johanne abwälzen. Peter stand auf, seine Augen waren gerötet, und ich erhob mich ebenfalls, mit so viel Wut im Bauch, dass ich ihn am liebsten k.o. geschlagen hätte, ich spürte, wie sich die Sehnen an meinem Hals spannten, mein Kiefer zitterte, und dann kam der Barmann angerannt und raunzte uns an, ihr seid jetzt mal SCHÖN STILL! Kein Problem, sagte Peter, er könne gern verschwinden, nahm seine Jacke und kippte im Gehen ein Bierglas um, das Jon in den Schritt fiel.

«So ein Pisser», sagte ich zu Ellen, als ich später nach Hause kam.

Ich saß in Boxershorts auf der Bettkante, während sie mit einem Buch im Bett lag, ich war angetrunken, und als ich ihr davon erzählte, schoss mir prompt das Adrenalin hoch, mein Atem ging schnell.

«Shit», sagte sie. «Was ist nur los mit den Leuten?»

«Da ist auch eine andere im Spiel», sagte ich. «Eine jüngere, die vögeln seit zwei Jahren, was für ein Klischee, ich kapier nicht, wie man sich so verhalten kann.»

«Wie peinlich», sagte Ellen.

Ich merkte ihr an, dass sie zufrieden war, sie freute sich, dass sie einen Mann mit den richtigen Werten hatte, aus dem richtigen Holz geschnitzt, einen Mann, der sowas nie machen würde, nie im Leben.

«Ich kapier das nicht», wiederholte ich. «Einfach so die Familie verlassen.»

Ich kroch unter die Decke, langsam wich der Alkohol aus meinem Körper, mir war kalt. Dann lag ich da und starrte an die Decke.

«Was ist denn los?», fragte Ellen, jetzt ängstlich. «Hmm?»

Sie schmiegte sich an mich, legte ein Bein über meine Oberschenkel, drückte die Nase an meinen Hals.

«Du darfst das nicht so sehr an dich ranlassen», sagte sie.

Ich weinte, lautlos, die Arme schlaff am Körper.

Peter ist mit der Neuen zusammengezogen, angeblich ist sie schwanger, die beiden wohnen in einem Haus auf der anderen Fjordseite. Ich grüße ihn nicht mehr, im Supermarkt bin ich mal wortlos an ihm vorbeigelaufen. Keine Ahnung, wie ich mich verhalten würde, wenn ich ihm heute begegne.

 

Ich stehe vom Klo auf und strecke mich. Auf dem Telefon ploppt ein Herz auf, von Kaia, ich lächle und schicke ihr ein Herz zurück, dann noch eins.

HANNE

Bisher hat mich niemand erkannt. Wir sitzen auf der Bank vor dem kleinen Flughafengebäude, während ich ein Taxi rufe und erfahre, dass es in zwanzig Minuten kommt. Unsere Mitpassagiere sind längst verschwunden. Ein paar bekannte Gesichter waren dabei, ich hatte schon zum Grüßen angesetzt und Herzklopfen bekommen, doch die anderen sahen weg, realisierten nicht, dass ich es war.

«Ich bin davon ausgegangen, dass es einen Flughafenbus gibt», sagt Julia.

«Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen», sage ich, ein Klassiker, den wir gern zitieren, Julia grinst.

«Wie exotisch», sagt sie.

«Bildest du dir jetzt auch schon was darauf ein, dass du aus Oslo kommst?», frage ich.

«Ach ja?», sagt sie lachend. «Und du bist plötzlich Lokalpatriotin?»

Wir waren direkt von der Arbeit losgefahren. Mein Kopf ist müde vom Flughafen Gardermoen, den Sicherheitskontrollen und Turbulenzen, aber jetzt lehne ich mich auf der Bank zurück und spüre die Sonne im Gesicht, die Berge auf der anderen Seite des Fjords sind blank gescheuert und blau. Seit meinem letzten Besuch hat der Flughafen einen neuen Anbau und einen größeren Parkplatz bekommen. Julia hier zu sehen, inmitten dieser Landschaft, ist so schön, dass ich kichern muss, Julia und dieser Ort sind zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, und jetzt existieren sie gleichzeitig und verbinden sich. Sie blickt sich um und sieht aus wie immer, so hübsch mit ihrer anorakähnlichen Jacke und dem zerzausten Haar, eigentlich passt sie gut hierher, besser als ich, ich trage meinen langen Mantel, der im Grunde zu warm ist für Mai, und zu schick.

Julia reist mit einer kleinen Tasche, ich mit einem großen Koffer. Gestern Abend war sie zu mir nach Hause gekommen, ich hatte uns in meiner winzigen Küche eine Suppe gekocht, und wir schauten eine Doku über Dolly Parton, auf die ich mich gefreut hatte, und anschließend saß Julia auf dem Bett und sah mir beim Packen zu und fragte, warum ich so viel mitnehmen wolle. Wir sind immerhin ein ganzes Wochenende weg, sagte ich achselzuckend. Vorher hatte ich Klamotten anprobiert, und alles war mir zu eng und komisch und verkehrt vorgekommen. Ich musste ins Bad rennen, um mich zu wiegen, ich hatte vierhundert Gramm zugenommen. Ich sollte mich selbst daran erinnern, dass es wohl natürliche Schwankungen sind und kein Grund zur Panik, doch beim Anblick der Zahl brach mir der kalte Schweiß aus. Ich stand da und drehte mich immer wieder vor dem Spiegel hin und her. Mein Bauch sieht nicht so aus, wie ich es mir vorher erhofft hatte, er ist immer noch groß und dellig und seltsam, ab und zu erscheint mir die unterste Narbe auch schief, obwohl es hieß, das Ergebnis sei schön geworden, und ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob eine neue Speckschwarte über den Rand der Unterhose quoll, irgendetwas war auch mit den Oberarmen, ich starrte und starrte und versuchte zu erkennen, ob die Haut dort schlaffer geworden war. Ich packte viele Ersatzoutfits in den Koffer, die meisten davon schwarz, obwohl ich nicht weiß, ob das wirklich zu einer Konfirmation passt, sicherheitshalber auch eine Hose mit elastischem Bund, denn was, wenn ich später dastehe und nichts mehr passt, bevor wir in die Kirche müssen, wenn ich plötzlich aus meinen Klamotten herausgewachsen bin.

«Was guckst du denn so?», fragt Julia mit ihrem schönen schmalen Lächeln.

Sie sieht listig aus, wenn sie lächelt, mit zusammengekniffenen Augen. Während des Fluges war sie knatschig, sagte, sie habe Kopfweh, direkt neben uns brüllte ein Baby. Irgendwann beugte sie sich vor und rieb sich mit kreisförmigen Bewegungen die Schläfen. Ich strich ihr über den Rücken, während ich über das Headset Musik hörte und mich umsah, ob jemand aus der Heimat Julias Verhalten unhöflich fand. Inzwischen hat sie Wasser getrunken und ein Nikotinkaugummi gekaut und sagt, alles sei wieder im Lot.

«Du bist toll», sage ich, sie sieht zufrieden aus.

So herzukommen, sie dabeizuhaben, heute Abend zusammen zu Bård und Ellen zu fahren – mir ist speiübel vor Aufregung, das ist einfach zu viel.

 

Der Taxifahrer ist ein stiller junger Typ, den ich nicht kenne, natürlich nicht, er ist bestimmt fünfundzwanzig Jahre jünger als ich. Julia und ich sitzen auf der Rückbank, das Auto fährt am Fjord entlang und über die Brücke.

«Shit, ist das schön hier», sagt Julia und verrenkt sich fast den Hals, um hinauszusehen.

Es ist ein guter Tag, um herzukommen, Mai, Juni und September sind die besten Monate. Die Felder sind grün, der Fjord ist glatt und tief und klar, fast zu schön, um wahr zu sein. Ich zeige ihr Sachen: das Rathaus, die Gärtnerei, den Supermarkt. Ich muss aufpassen, was ich sage, denn was, wenn der Taxifahrer beispielsweise der Sohn von Linn Beate aus meiner alten Klasse ist und später nach Hause kommt und ihr erzählt, dass er mich gefahren hat; ich traue mich auch nicht, Julias Hand zu halten. Dann fällt mir ein, dass er ja gar nicht wissen kann, wer ich bin, jetzt, wo ich aussehe wie alle anderen und mit meiner Freundin zu Besuch komme, und das ist die Kirche, und das da der Friedhof, erkläre ich Julia.

«Liegt deine Mutter dort?»

«Ja.»

Im Zentrum steht jetzt eine Ampel, wo früher ein Kreisel war. Während wir auf Grün warten, sehe ich, dass der Coop zu einer Art Einkaufszentrum umgebaut wurde. Jetzt gibt es auch ein Vinmonopol, ich erinnere mich, dass mein Vater davon erzählt hat, und an den vielen Autos erkenne ich, dass sich alle am Freitag schnell noch mit Alkohol eindecken wollen, ich sehe Familien mit Kindern, zwei Frauen in meinem Alter schieben Einkaufswagen voller Weinkartons zu den Autos und unterhalten sich, vielleicht feiern sie dieses Wochenende auch eine Konfirmation, ich könnte sie kennen.

«Und was ist das da?», fragt Julia.

«Die Schule.»

«Auf der du warst?»

«Ja.»

«Bård auch?»

«Ja», sage ich wieder und krame in meiner Tasche. «Und da drüben ist der Reifenhändler.» Ich zeige mit dem Finger darauf.

«Du kannst mit mir darüber sprechen», sagt Julia. «Falls es ein schwieriges Thema ist.»

«Ich weiß.»

Menschen wie Julia können leicht sagen, ich solle mehr über Sachen sprechen. Sowas macht mich ganz kribbelig, und manchmal würde ich am liebsten entgegnen, dass es schön wäre, wenn sie ein bisschen weniger über Sachen sprechen würde.

 

Wir biegen in die Straße ein, wo mein Vater wohnt, und halten ganz am Ende. Mein Vater kommt auf die Vortreppe und winkt, hinter ihm taucht Fia auf, kläffend und völlig aus dem Häuschen. Sie schwänzelt um uns herum, während mein Vater uns mit dem Gepäck hilft, Julia tätschelt ihr den Kopf und fragt, ob sie ein braver Hund sei.

«Das ist Julia», sage ich, als das Taxi weg ist, ich stehe da und schüttle mein rechtes Bein aus, meine Stimme klingt sonderbar.

«Ich habe schon viel von dir gehört», sagt mein Vater, während sie sich begrüßen, Julia zeigt auf Fia und sagt, sie habe auch einen Hund, ach was, sagt mein Vater und sieht gutmütig aus.