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Die kleinen und die großen Lügen, geheime Sehnsüchte und verborgene Gefühle, Grenzüberschreitungen und Tabubrüche: Marie Aubert erzählt davon mit Lässigkeit und Ernst. Da ist zum Beispiel der erschöpfte Vater, der in völliger Überforderung seine kleine Tochter ohrfeigt – und ihr dann voller Scham einbläut, diesen Übergriff ja zu verheimlichen. Da ist die Teenagerin, die nachts mit ihren Freunden ins Haus der Nachbarn eindringt und sich dort einnistet. Da ist der Mann, der mit seiner Frau nach Südamerika fährt, um einen kleinen Jungen zu adoptieren, und hin- und hergerissen zwischen Wunsch und Zweifel einen ganz und gar düsteren Pfad betritt. – Sie sind Menschen, die sich in ihren Erwartungen an das Leben verlieren, die ihre eigenen Wünsche nicht kennen und die der anderen nicht zu sehen vermögen. Sie tun Dinge, für die sie sich schämen, und handeln doch nur aus Sehnsucht nach Liebe, Verständnis und Anerkennung – genauso wie wir alle.
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Seitenzahl: 115
Veröffentlichungsjahr: 2022
Marie Aubert
Storys
Die kleinen und die großen Lügen, geheime Sehnsüchte und verborgene Gefühle, Grenzüberschreitungen und Tabubrüche: Marie Aubert erzählt davon mit Lässigkeit und Ernst.
Da ist zum Beispiel der erschöpfte Vater, der in völliger Überforderung seine kleine Tochter ohrfeigt – und ihr dann voller Scham einbläut, diesen Übergriff ja zu verheimlichen. Da ist die Teenagerin, die nachts mit ihren Freunden ins Haus der Nachbarn eindringt und sich dort einnistet. Da ist der Mann, der mit seiner Frau nach Südamerika fährt, um einen kleinen Jungen zu adoptieren, und hin- und hergerissen zwischen Wunsch und Zweifel einen ganz und gar düsteren Pfad betritt. – Sie sind Menschen, die sich in ihren Erwartungen an das Leben verlieren, die ihre eigenen Wünsche nicht kennen und die der anderen nicht zu sehen vermögen. Sie tun Dinge, für die sie sich schämen, und handeln doch nur aus Sehnsucht nach Liebe, Verständnis und Anerkennung – genauso wie wir alle.
Marie Aubert, geboren 1979 in Oslo, debütierte 2016 mit dem Erzählband «Kann ich mit zu dir?», der in Norwegen zum Bestseller avancierte und von der Presse gefeiert wurde, ebenso wie «Erwachsene Menschen», ihr erster Roman.
Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Kjersti Skomsvold und Christina Hesselholdt. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis und 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW, 2019 den Jane Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.
Stefan Pluschkat, geboren 1982 in Essen, studierte Komparatistik und Philosophie in Bochum und Göteborg. Er übersetzt Romane, Kinder- und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen und erhielt 2018 den Hamburger Förderpreis für Übersetzung.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «Kan jeg bli med deg hjem» bei Forlaget Oktober AS, Oslo.
Die Publikation der Übersetzung wurde von NORLA, Norwegian Literature Abroad, gefördert.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Kan jeg bli med deg hjem» Copyright © 2016 by Marie Aubert
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München,
nach der Originalausgabe von Forlaget Oktober AS
Coverabbildung Illustration: Lalappo.Art (Remixed by Exil design)
Cover: Exil design | Exil.no
ISBN 978-3-644-01286-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
«Wir könnten doch Sexbuddies sein», sagte ich hinterher.
Ich ließ meine Stimme unbeschwert und fröhlich durch die Dunkelheit klingen.
Er lachte.
«Spielst du jetzt die Coole?», fragte er.
Wir waren Bier trinken gewesen, ich hatte gezahlt. Ich war betrunkener als er, und obwohl er meinte, er sei nicht an etwas Festem interessiert, umarmte ich ihn vorm Teddy’s und machte mit ihm rum, bis er schließlich aufgab und mich mit zu sich nahm.
Am nächsten Morgen küssten wir uns kurz und sagten: «Mach’s gut.» Ich hatte immer noch frei und setzte mich, ohne geduscht zu haben, mit einer Zeitung in ein Straßencafé. Den gesamten Urlaub über war ich nicht ein Mal so früh aufgestanden. Ringsum auf den taunassen Plastikstühlen saßen nur ein paar Bauarbeiter. Mir war schwindlig, ich hatte einen dicken Kopf und kicherte. Es war mein erster freier Sommer seit Langem, da ich im Vorjahr eine Festanstellung bekommen hatte und mir diesmal keinen Ferienjob suchen musste. Ich verschüttete Kaffee, ließ die Zeitung ein paarmal fallen und überlegte, ob er wohl an mich dachte.
Ich meldete mich nicht bei ihm. Drei Wochen später schickte er eine Nachricht und fragte, ob ich feiern sei.
«Damit hab ich nicht gerechnet», rief ich Karin zu, als wir an der Theke standen und versuchten, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erhaschen.
«Nein?», rief sie zurück. «Ich war mir sicher, er ruft dich an.»
Am nächsten Tag und auch nach unseren nächsten Treffen entdeckte ich blaue Flecken an meinem Körper. Ich konnte nicht sagen, ob mir das gefiel. Er zog mich an den Haaren, wenn ich ihm einen blies, grub seine Finger in meine Taille, wenn ich auf ihm saß, ich kniff ihm in die Oberschenkel, bis er erregt wimmerte, solche Sachen eben. Wie ein raues Spiel zwischen Welpen. Meist waren wir beide zu betrunken, um zu kommen.
Ich wohnte noch in einer WG. Nicht mehr, weil es gemütlich war, sondern nur so lange, bis ich etwas Eigenes gefunden hätte, mit meinen Mitbewohnerinnen redete ich kaum. Krankenschwestern oder Schwesternschülerinnen, so genau erinnere ich mich nicht. Einmal hörte ich, wie eine von ihnen von ihrer Schicht nach Hause kam, als er mir gerade vier Finger reinsteckte. Sie musste mich auch gehört haben, sprach mich jedoch nie darauf an, über so was redeten wir nicht.
«Gefällt mir, dass du’s auch mal härter magst», sagte er und gab mir einen Klaps auf den Po.
Das alles war anders, als ich es gewohnt war. Es gefiel mir, das auszuhalten, eine zu sein, die nichts Festes oder immer nur kuscheln wollte.
Ich dachte darüber nach, meinen Job zu kündigen. Ende September kaufte ich mir neue Klamotten und Stiefeletten mit zu hohen Absätzen fürs Büro. Ich trug sie, als ich mit Karin und einer Freundin von ihr durch St. Hanshaugen zog. Wir kickten gegen Kastanien und wirbelten Laub auf, die Sonne war schön grell, wir konnten bis zum Fjord sehen. Neue Bars und Restaurants schossen wie Pilze aus dem Boden, und wir gingen fast jedes Wochenende aus. Es war wie damals mit Anfang zwanzig, als ich mein Studium begonnen hatte, diese Lust, schneller zu gehen, lauter zu reden. Sie fragten mich nach ihm, und ich sagte, wir würden uns ab und zu treffen, ich würde die Dinge auf mich zukommen lassen, nur kein Stress. «Klingt nach Spaß», sagten sie, und dass es mir gar nicht ähnlich sähe, so entspannt zu bleiben. Normalerweise war ich nicht der Typ für so etwas Zwangloses, ich war eine, die weinte und enttäuscht war, die Dinge romantisierte und der Vergangenheit nachhing.
«Aber irgendwie muss er dich doch gernhaben», meinte Karins Freundin.
Ich sagte, ich überlegte, für eine Weile nach New York zu gehen, nach Weihnachten vielleicht ein halbes Jahr dort zu leben, mir einen Job zu suchen, Englisch zu lernen, viel zu lesen.
«Einfach machen», sagte Karin. «Das ist nicht verboten, man muss einfach kündigen und abhauen.»
Ich sah breite Bürgersteige vor mir und hochgewachsene grüne Bäume, Wohnungen mit großen Fenstern und knarrendem Fischgrätparkett, Bücherstapel, illegale Bars, in denen man rauchen durfte, lange Gespräche mit sarkastischen jüdischen Jungs mit Locken, Frauen, die Lena Dunham ähnelten.
Im Oktober rief er mich an einem Mittwochabend um halb zehn an. Er hatte noch nie unter der Woche angerufen und fragte, ob ich Lust hätte, draußen zu schlafen, wir könnten den Bus nach Maridalen nehmen und ein Zelt aufschlagen. Er bringe Bier mit, er klang aufgekratzt.
«Willst du nicht lieber zu mir kommen?», fragte ich. «Ich muss morgen arbeiten.»
«Ich packe das Zelt ein, vielleicht überlegst du’s dir noch», sagte er.
Ich holte meinen Schlafsack, einen Wollpulli, eine Packung Kekse und dachte, einfach machen, ich wollte eine sein, die abenteuerlustig war und spontan zum Zelten mitfuhr. Dabei blieb es dann aber auch, denn ich war müde und fror, die Temperatur war unter null gefallen, und ich hatte seit mindestens sechs Jahren in keinem Zelt mehr geschlafen.
«Du hast wohl keine Lust», sagte er.
«Schlimm?», fragte ich.
«Nein», antwortete er. «Niemand mag alles.»
Wir lagen kichernd unter der Decke und tranken Bier. Ich kreischte, als er mich auf den Rücken warf und meinen Slip runterzog. Hinterher schauten wir den ersten der alten Stars Wars-Filme. Ich fand ihn langweilig und schlief zwischendurch ein.
«Du kannst doch nicht einschlafen, wenn du Star Wars zum ersten Mal siehst», sagte er und küsste meinen Hals mit einem lang gezogenen Schmatzlaut.
«Niemand mag alles», sagte ich und äffte seinen Tonfall nach.
«Jetzt spielst du aber echt die Coole», sagte er.
«Er muss dich doch irgendwie gernhaben», sagte Karin.
«So was ist das nicht zwischen uns», sagte ich.
«Trotzdem», sagte sie, und ich lächelte, konnte es mir einfach nicht verkneifen.
Wir schrieben uns manchmal, aber er fragte nie, ob wir uns treffen könnten. An einem Freitag, ich saß in meinem Zimmer, fasste ich mir ein Herz und fragte, ob er vorbeikommen wolle. Nach einer ganzen Weile schrieb er zurück, okay, aber erst später, er wolle vorher noch zu einer Party. Als es klingelte, hatte ich schon mehrere Stunden geschlafen und erwachte warm und schwer und benommen. Ich hatte Lust, ihn draußen stehen zu lassen. Er roch wie ein Absacker auf zwei Beinen und torkelte in den Flur. «Oh mein Gott», sagte ich und lachte.
Er drang viel zu schnell in mich ein. Ich war müde und wollte schlafen, aber wir versuchten es noch eine Weile.
«Nein, das tut weh», sagte ich schließlich.
«Ach nö», sagte er mit Kinderstimme und hörte nicht auf.
«Doch, ich muss jetzt schlafen.»
Ich musste es wiederholen, lächelte nicht mehr und versuchte, ihn wegzuschieben.
«Mein Gott, dann tut’s eben ein bisschen weh», sagte er, als redete er im Schlaf. Er bewegte sich weiter in mir, vor und zurück, drückte meine Hände tiefer in die Matratze. Ich musste den Kopf zur Seite drehen, um Luft zu bekommen. Er war so schwer.
Am nächsten Morgen umarmte ich ihn zum Abschied im Flur. Er lachte mit schmalen Augen und umarmte mich ebenfalls.
«Hab ich einen Kater», sagte er.
«Glaub ich gern.»
Ich wollte nicht loslassen, klammerte mich an ihn, nackt, und hatte keine Ahnung, worum ich ihn gerade bat. Er lachte und tätschelte mir den Rücken.
«Man sieht sich», sagte er.
Ich duschte und zog mich an, wie immer. Dann ging ich mit ein paar Freundinnen Kaffee trinken und anschließend shoppen, ich kaufte einen grünen Pulli, konnte den Gesprächen und dem Gelächter nicht folgen, alles schnürte sich in mir zusammen, und ich fühlte mich leer.
Seitdem haben wir nie wieder miteinander gesprochen. Ein paarmal bin ich aufgewacht und hatte einen entgangenen Anruf von ihm, aber ich rief nicht zurück.
Eine neue Jobmöglichkeit ergab sich, ich bewarb mich und bekam die Stelle. Dann würde ich eben Urlaub in New York machen, vielleicht etwas länger. Ich kaufte meine erste Wohnung, traf einen Mann, mit dem ich nach ein paar Monaten zusammenkam, und verkaufte die Wohnung nach nicht mal einem Jahr.
Es dauerte sechs Jahre, bis ich in der Sache nicht mehr nur die letzte schlechte Beziehung sah, den letzten Typen, mit dem ich mich selbst betrogen hatte. Ich schob den Kinderwagen durch St. Hanshaugen, ich war zum zweiten Mal in Elternzeit. Wir hatten gerade ein Reihenhaus in Oppsal gekauft, im November wollten wir einziehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Mann noch liebte, war aber immer noch überwältigt von dem neuen Leben, das so alltäglich und erhaben zugleich war, mit den Stimmen der Kinder und Umarmungen und Gerüchen und kleinen Pullovern, mit meinem Mann hinter mir im Bett und dem neuen Haus mit klitzekleinem Garten.
Ich stand oben in St. Hanshaugen und blickte über die Stadt, während meine Tochter im Kinderwagen schlief. Der Herbst war feucht und mild, der Regen nieselte mir schräg ins Gesicht. Ich konnte nicht ganz bis zum Fjord sehen. Und da erinnerte ich mich, erinnerte mich so deutlich, dass ich den Kinderwagen losließ und mich auf eine Bank setzen musste. Nicht an das Ende, sondern an den Anfang, mit den Absätzen und blauen Flecken und Reiseplänen.
Gut möglich, dass ich übertreibe. So bin ich eben, ich romantisiere die Dinge, sehe alles durch eine rosarote Brille, beschönige und hänge der Vergangenheit nach. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich in dem Moment alles dafür gegeben hätte, das Haus, die Kinder, meinen Mann und das alles, wenn ich im Gegenzug den Glauben daran wiedergefunden hätte, dass ich meine Haut abstreifen und eine andere werden könnte, dass es so einfach wäre, wie in neue Stiefeletten zu schlüpfen.
Er hieß Angelo, aber so würden sie ihn nicht nennen. Johan hatte Jens vorgeschlagen. Den Namen hatte er schon immer gemocht, und es wäre doch schön für ein Adoptivkind, nach dem Ministerpräsidenten benannt zu sein, dachte er. Für diesen Gedanken schämte er sich ein bisschen, weshalb er ihn Maria gegenüber nie erwähnte. Doch mit jedem Tag, den sie im Kinderheim verbrachten, fiel es ihnen schwerer, Jens zu sagen. Angelo wirkte verwirrt, wenn sie mit ihm spielten und versuchten, ihn an den neuen Namen zu gewöhnen. Es musste sich absurd anfühlen, dachte Johan, zwei große, weiße Menschen, die ihn anstarrten, angestrengt lächelten und Jens sagten. Jens? Nach einer Woche, als sie sich im Hotel die Zähne putzten, schlug Maria vor, sie könnten es mit Jens Angelo probieren, aber sie schien selbst nicht überzeugt.
«Jens Angelo klingt doch bescheuert», sagte Johan.
«Ja, wahrscheinlich schon», stimmte Maria zu, und sie lachten.
Johan cremte sich die Nase ein, seine Haut tat weh. Er hatte sich einen Sonnenbrand geholt, als er im