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«Erwachsene Menschen» ist ein Sommer- und ein Familienroman, eine Geschichte über die Rivalität zwischen Schwestern, Torschlusspanik und unerfülltem Kinderwunsch. Es erzählt von jenen, die wir am meisten lieben – und dem, was wir ihnen antun, wenn wir nicht kriegen, was wir wollen. Ida ist Architektin, kinderlos und in der Blüte ihrer Jahre, aber «die Uhr tickt». Sie hat schon begonnen, die Möglichkeit «etwas einzufrieren» in Betracht zu ziehen. Für später. Wirklich, nur zur Sicherheit. Falls sie doch noch den Richtigen trifft und der auch Kinder will. Aber jetzt ist erstmal Sommer. Ida und ihre Familie – ihre Mutter, deren Lebensgefährte, Idas Schwester Marthe mit Mann und Stieftochter – treffen sich in ihrem Sommerhaus vor der Küste, um Mutters Geburtstag zu feiern und ein paar schöne, gemeinsame Tage zu haben. In dieses Idyll platzt Marthe mit einer phantastischen Nachricht: Sie ist schwanger, nach Jahren erfolgloser Versuche, und so glücklich. Wenig später eröffnet die Klinik in Göteborg Ida telefonisch, sie sei für eine Eizellenentnahme leider «zu spät» dran. Ausgerechnet in dem Moment, in dem Marthe Ida ihr Familienglück unter die Nase reibt, zerplatzt deren Traum. Enttäuscht und verletzt fängt Ida an, Marthes Idyll zu untergraben...
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Marie Aubert
Erwachsene Menschen
Roman
Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein
«Es könnte ziemlich schön sein, einfach so dazusitzen, es könnte mir gefallen. Wenn alles anders wäre, könnte ich damit völlig zufrieden sein; die milde Brise an einem Sommerabend im Garten des Ferienhauses, eingehüllt in eine Decke, Abendessen und Wein mit meiner Schwester und ihrem Freund, mit Mama, die morgen kommen wird. Ich möchte das nicht. Mein Hals schnürt sich zu, ich möchte nicht über so wenig glücklich sein, es ist nicht gerecht, dass ich mich mit damit zufriedengeben muss.»
Ida ist Architektin, kinderlos und in der Blüte ihrer Jahre, aber die Uhr tickt. Sie hat schon darüber nachgedacht, «etwas einzufrieren». Falls sie doch noch den Richtigen trifft. Aber jetzt ist erstmal Sommer. Ida und ihre Familie – ihre Mutter, deren Lebensgefährte, Schwester Marthe mit Mann und Stieftochter – treffen sich in ihrem Sommerhaus vor der Küste, um Mutters Geburtstag zu feiern. In das Idyll platzt Marthe mit einer Nachricht: Sie ist schwanger, und so glücklich. Wenig später ruft die Klinik bei Ida an: Für eine Eizellenentnahme ist sie leider zu spät dran. Enttäuscht und verletzt weiß Ida nicht mehr, was sie tut …
Marie Aubert erzählt von jenen, die wir lieben – und dem, was wir ihnen antun, wenn wir nicht kriegen, was wir wollen.
Marie Aubert, geboren 1979 in Oslo, debütierte 2016 mit dem Erzählband «Kann ich noch mit hochkommen?» der sich auf dem kleinen, norwegischen Markt fabelhafte 12000-mal verkauft hat und von der Presse gefeiert worden ist. «Erwachsene Menschen» ist ihr Romandebüt.
Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Kjersti Skomsvold und Christina Hesselholdt. 2011 erhielt sie den Hamburger Förderpreis und 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW, 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.
Erwachsene Menschen
Anderer Leute Kinder, immerzu, überall. Am schlimmsten ist es im Bus, wenn ich nicht entkommen kann. Ich habe einen schweißnassen Rücken und schlechte Laune. Die Sonne knallt direkt durch die dreckigen Scheiben, der Bus ist seit Drammen überfüllt, und in Kopstad und Tønsberg und Fokserød steigen noch mehr Passagiere ein, sie müssen im Mittelgang stehen und sich schwankend festklammern, trotz angeblicher Sitzplatzgarantie. Direkt hinter mir sitzt ein Vater mit seinem Kind, ein etwa dreijähriger Junge, der auf einem iPad bei voller Lautstärke Die Tiere aus dem Hakkebakkewald guckt. Der Ton klingt blechern und durchdringend, halbherzig versucht der Vater, ihn leiser zu stellen, doch dann brüllt das Kind wütend los und stellt wieder laut.
Mir ist ein bisschen schlecht vom Lesen, und der Handy-Akku ist fast leer, sodass ich auch keinen Podcast hören kann, ich höre nichts als pling und plong und die metallischen Klettermausgesänge, Schau nur, wie der Brummelmann seinen Besen schwingen kann. Als wir uns dem Telemarksporten nähern, halte ich es nicht länger aus und drehe mich zum Vater um, einem jungen Hipster mit Vollbart und einem dämlichem kleinen Man Bun, ich setze ein breites Lächeln auf und frage, ob sie vielleicht so freundlich sein könnten, den Ton ein bisschen zu dämpfen. Ich höre selbst, wie spitz meine Stimme klingt, und er durchschaut, dass es mir klammheimlich Freude macht, mich zu beschweren, aber sie können nicht ernsthaft alle beschallen, in einem überfüllten Expressbus, im Juli, das geht gar nicht.
«Tja», sagt der Hipstervater mit Stavangerdialekt und kratzt sich im Nacken. «Stört es denn sehr?»
«Ein bisschen laut ist es schon», antworte ich, weiterhin lächelnd.
Der Vater ist eingeschnappt und reißt das iPad aus der Hand des Kindes, das sofort wie am Spieß schreit, überrumpelt und außer sich, und das alte Ehepaar in der Reihe vor mir dreht sich um und wirft mir vorwurfsvolle Blicke zu. Nicht dem Kind oder dem Vater, sondern mir.
«Das kommt davon, wenn du den Ton nicht leiser machen willst», sagt der Vater. «Das stört die Frau, jetzt darfst du gar nicht weitergucken.»
Der Bus biegt zu einer Tankstelle ab, wo Zeit für eine Pinkel- und Kaffeepause ist. Während das Kind heulend quer über dem Sitz liegt, greife ich meine Tasche und haste durch den Mittelgang, das Gegreine im Rücken.
Kristoffer und Olea erwarten mich in Vinterkjær. Marthe ist nicht mitgekommen. Kristoffer ist so groß, Olea so klein. Diesen Herbst wird sie eingeschult, ich finde, sie wirkt noch viel zu klein dafür, dünn und schmächtig.
«Schön, dich zu sehen», sagt Kristoffer. Er breitet die Arme um mich, drückt mich lange an sich.
«Finde ich auch», antworte ich. «Wie lang deine Haare geworden sind, Olea!» Ich zupfe an ihrem Pferdeschwanz.
«Olea hat gestern schwimmen gelernt», sagt Kristoffer.
Olea grinst, oben fehlen ihr vier Zähne.
«Ich bin geschwommen, ohne dass Papa mich festgehalten hat», erklärt sie.
«Ui», sage ich. «Echt? Dann bist du ja richtig gut!»
«Marthe hat Fotos davon gemacht», sagt Olea. «Du kannst sie sehen, wenn wir angekommen sind.»
Marthe hat doch bestimmt die ganze Zeit nur faul am Ufer gelegen, denke ich, sage es dann auch und stelle meine Reisetasche in den Kofferraum.
«Ja», ruft Olea begeistert vom Rücksitz. «Sie war wirklich ganz faul!»
«So spricht man nicht über andere Menschen, Olea», mahnt Kristoffer und lässt den Motor an. «Das weißt du doch.»
Ich drehe mich zwinkernd zu Olea um und flüstere laut: «Marthe ist halt auch ein bisschen faul.»
Kristoffer räuspert sich.
«Ich darf das doch wohl sagen», sage ich. «Ich habe das Recht, solche Witze zu machen.»
Es ist einfach zu verlockend, Marthe könnte tatsächlich hin und wieder einen kleinen Arschtritt vertragen, und außerdem macht es Spaß, Olea zuzuzwinkern und zu sehen, wie sie kichert und begeistert die Augen aufreißt, weil ich so lustig bin. Wir fahren die Küstenstraße entlang, und ich erzähle Kristoffer vom Hipstervater und dem Kind, das auf voller Lautstärke den Hakkebakkewald-Film angesehen hat.
«Und dann haben sich die Leute über mich aufgeregt», sage ich. «Dabei habe doch nicht ich den Lärm veranstaltet. Und dieser Vater war echt sauer.»
Kristoffer duftet nach etwas, das ich wiedererkenne, Ferienhaus, Farbe, Meerwasser, Körper.
«Es ist nicht immer so leicht, sie ruhigzuhalten, weißt du», sagt er.
«Aber du hättest Olea doch wohl auch in dem Alter nicht erlaubt, in einem überfüllten Bus das iPad voll aufzudrehen?»
«Nein, das nicht», antwortet Kristoffer. «Aber die Leute sind so schnell genervt von Kindern, sie verstehen nicht, wie das ist. Ein Kind muss auch Kind sein dürfen.»
Solche Sätze sagt Kristoffer, ein Kind muss auch Kind sein dürfen. Oder dass es wichtig ist, auf den eigenen Körper zu hören.
«Aber es macht doch einen Unterschied, ob man lacht oder den Ton voll aufdreht», erwidere ich.
Ich merke, dass ich zu sehr darauf beharre, und damit gebe ich preis, dass ich wirklich nicht begreife, wie das ist, Kristoffer zuckt die Achseln und lächelt kurz.
«In einem überfüllten Bus den Ton voll aufdrehen», sage ich noch einmal.
«Du musst tief atmen, Ida», sagt er und klopft mir kurz mit der Hand auf den Oberschenkel.
Ich will den Mund öffnen und noch mehr sagen, halte mich dann aber doch zurück, er wird es sowieso nicht verstehen. Marthe könnte ich es erzählen, meistens sind wir in solchen Dingen einer Meinung, sie ist auch genervt, wenn Olea zu viel Krach macht. Außerdem will ich ihr noch etwas anderes erzählen, nicht gleich nach unserer Ankunft, aber heute Abend, wenn wir ein paar Gläser Wein getrunken haben und Kristoffer gerade nicht da ist, weil er Olea ins Bett bringt; dann werde ich es erzählen.
Vor zwei Wochen war ich in Göteborg, ich bin allein mit dem Zug hingefahren, habe im Hotel übernachtet und mich am nächsten Morgen zu einer nahe gelegenen Kinderwunschklinik begeben. Sie sah aus wie alle anderen Arztpraxen auch, nur ein bisschen eleganter und heller, mit Yuccapalmen in großen Töpfen und subtilen Bildern von Müttern und Babys oder Vögeln und Eiern. Der Arzt hieß Ljungstedt und hatte ein Sprechzimmer mit Blick auf das gegenüberliegende Fitnessstudio, ich konnte direkt zu den Leuten hinübersehen, die auf einem Laufband liefen oder Gewichte stemmten. Er sprach meinen Namen schwedisch aus, nicht wie Ida, sondern mehr wie Eida, Yjda, mit einem langen I weit hinten im Hals, während er etwas in seinen PC tippte, ohne mich anzusehen. Er schilderte mir kurz das Procedere, zu welchem Zeitpunkt meines Zyklus ich mit der Hormonkur anfangen sollte, wie sie die Eizellen entnähmen, heute würde er aber erst einmal nur eine gynäkologische Untersuchung durchführen und Blut abnehmen.
«Ja, es ist wahnsinnig populär geworden, Eizellen einzufrieren», sagte er, als müsse er mir irgendetwas verkaufen, dabei war ich doch längst hier.
«Ja, ich weiß», erwiderte ich und lachte.
Alles fühlte sich so frei an, bald waren Sommerferien, in Göteborg war es warm und schön, und ich hatte irgendwo einen Tisch reserviert, wo ich etwas zu Mittag essen und teuren Weißwein trinken wollte, mein Glas darauf heben, dass ich mein Erspartes dazu nutzen würde, mir Eizellen entnehmen zu lassen und sie gewinnbringend anzulegen, auf einem Eizellenkonto.
«Das ist wirklich eine supertolle Möglichkeit», fuhr er fort, «wenn man noch keine Partner gefunden hat oder erst später Kinder haben will.»
«Ja, oder?», sagte ich. «Ich würde es gern gleich nach den Ferien machen.»
«Dann kommen Sie vielleicht in ein paar Jahren mit dem nächsten Partner her, und dann können Sie die einfach einsetzen lassen, wenn Sie zweiundvierzig oder dreiundvierzig sind», sagte er und klapperte auf seiner Tastatur. «Ja, das wird ja supersupergut.»
Ich versuchte, einen solchen Partner vor mir zu sehen, stellte mir einen großen Mann mit Bart vor, dort in der Praxis, zusammen mit mir, in ein paar Jahren, seine Gesichtszüge blieben verschwommen, aber ich sah, wie er im Aufzug auf dem Weg nach unten die Arme um mich legte und sagte jetzt werden wir Eltern, Ida. Irgendwann einmal, dachte ich, während ich in dem gynäkologischen Stuhl hing, irgendwann einmal muss es etwas werden, nach all den verheirateten oder liierten oder uninteressierten oder uninteressanten Männern muss es irgendwann einmal etwas werden, allein die Tatsache, dort zu liegen, reichte schon aus, um daran zu glauben, dass aus beidem etwas werden würde, Mann und Kind, allein die Tatsache, dort zu sein und das vorzuhaben, war ein Versprechen auf mehr, irgendwann einmal.
Der Arzt und ich betrachteten meine Gebärmutter im Ultraschall, er fragte, was ich beruflich mache, und ich antwortete, ich sei Architektin.
«Dann entwerfen Sie bestimmt feine Häuser», sagte er.
«Tja, na ja», antworte ich. «Es ist eine ziemlich große Firma, vor allem öffentliche Gebäude und so was, Stadtplanung.» Ich bremste mich selbst, hätte mich fast in einer langen Ausführung darüber ergangen, wer was entwarf, aber irgendwie schien es mir dann doch sinnlos, während ich dort mit gespreizten Beinen und irgendeinem Instrument tief in der Scheide dalag. Als ich das Untersuchungszimmer verließ, um zur Blutabnahme zu gehen, mein Unterleib war noch glitschig und kalt vom Ultraschallgel, sagte er, dann würden wir uns in zwei Wochen wieder sprechen, wenn die Ergebnisse vorlägen, und einen Plan aufstellen, wann wir anfangen würden, wann alles anfangen sollte.
Ich werfe einen Blick aufs Handy, keine verpassten Anrufe mit der Ländervorwahl 0046. Kristoffer nimmt die Kurven zu schnell, mir ist schlecht, und ich versuche, die halbvolle Fantaflasche und die leere Chipstüte auf dem Boden neben meinen Füßen zu ignorieren. Er ist dicker geworden, hat vollere Wangen, ich überlege, ob Olea und er heimlich naschen und Limonade trinken, wenn Marthe nicht dabei ist; seine Arme sind gebräunt. Marthe schrieb mir, dass sie anfangs gutes Wetter gehabt hätten, sie wären mehrmals zum Baden zu den Inseln rausgefahren, aber jetzt sei es eher wechselhaft, deshalb habe ich sowohl meinen Bikini als auch einen Wollpulli eingepackt.
«Wann kommen Mama und Stein?», frage ich.
«Morgen», antwortet er. «Eigentlich nicht schlecht, dass wir heute Abend noch unter uns bleiben. Marthe ist nicht so ganz fit.»
«Na, großartig», sage ich.
«Du weißt doch, wie das ist», sagt Kristoffer und kratzt sich den Bart. «Die Hormone.»
Er sagt das, als wäre es ganz naheliegend, du weißt, wie das ist, obwohl er doch weiß, dass ich gar nichts weiß, und trotzdem sage ich puh, ja.
«Arme Marthe», sage ich, verschränke die Arme so, dass meine Finger die nassen Achselhöhlen streifen, versuche, unauffällig herauszufinden, ob ich nach Schweiß rieche.
Sie haben es drei Jahre lang immer wieder versucht, schon seit sie sich kennen. Marthe hatte zwei Fehlgeburten. Sie schafft es einfach nicht, den Mund zu halten, ich war stets ebenso gut informiert wie sie, wusste, wann sie ihre Tage hatte, wann der Eisprung kam. Immer wenn wir uns sehen, reden wir darüber, immer wenn wir Mama sehen, redet Marthe darüber und weint, erzählt, dass sie es nicht mehr aushalte, dass sie nicht länger nur Stiefmutter sein will, aber Marthe, kein Mensch benutzt heute noch das Wort Stiefmutter, sagt Mama dann und streichelt ihr den Rücken, das heißt Bonusmama, Bonus, erwidert Marthe, es ist doch verdammt noch mal kein Bonus, dass er ein Kind hat und ich nicht, aber das wird schon noch werden, sage ich, und streichle ihr ebenfalls den Rücken, sowohl Mama als auch ich sagen, das werde schon noch werden, jedes Mal, aber wann ist dieses schon noch denn endlich, schreit Marthe. Manchmal erzähle ich meinen Kollegen beim Mittagessen von meiner kleinen Schwester, die sich so einen Stress damit mache, Kinder zu bekommen, ich sage, dass ich nicht verstehen würde, wo sie die Energie hernehme, es müsse doch noch andere Dinge im Leben geben, als es die ganze Zeit zu probieren.
Als wir an das Ferienhaus kommen, richte ich mich im Sitz auf.
«Habt ihr gestrichen?», frage ich.
«Ja», antwortet Kristoffer. «Na ja, um ehrlich zu sein, vor allem ich. Ist es nicht schön geworden?»
«Doch», sage ich. «Total schön.»
Sie haben das Haus weiß gestrichen. Es ist immer gelb gewesen, das gelbe Haus, so habe ich es den Leuten immer gesagt, das gelbe Haus gehört uns. Jetzt sieht es aus wie alle anderen Häuser hier, gewöhnlich.
Kristoffer nimmt meine Reisetasche. Ich sage, ich würde das auch allein schaffen, ich bin ja nicht wie Marthe, die will, dass Kristoffer ihr bei allem hilft, aber Kristoffer sagt ist schon okay und trägt sie weiter. Olea springt vor uns her, über den Kies und den gepflasterten Gartenweg an der Hecke entlang. Sie rennt immerzu, als würde hinter der nächsten Ecke etwas Lustiges auf sie warten. Als ich klein war, bestand die Hecke noch aus dichter, dunkler Thuja, aber Mama hat sie vor ein paar Jahren durch einen Pfeifenstrauch ersetzt, sie sagte, sie wolle etwas Leichteres haben.
Marthe tritt auf die Treppe hinaus, sie sieht müde aus und reibt sich das Gesicht. Ich bin plötzlich ganz aufgekratzt.
«Na, habt ihr Tante Ida abgeholt», fragt sie und wuschelt Olea durchs Haar. Olea duckt sich weg, schüttelt die Hand ab und rennt weiter. Marthe weiß, dass ich nicht gern Tante Ida genannt werde, sagt es aber trotzdem. Ich sehe die alten Elsa-Beskow-Zeichnungen vor mir, Tante Grün, Tante Braun und Tante Lila, ein bisschen vertrocknet und knarzend.
Wir umarmen uns.
«Hallo», sagt Marthe.
«Hallo, meine Liebe», sage ich. «Schön, dich zu sehen.»
Marthe riecht gut, vertraut, es könnte fast mein eigener Geruch sein. Ihr Haar ist heller geworden, der Ton wirkt nicht ganz natürlich, und der Schnitt war vor ein paar Jahren modern, wenn ich mich richtig erinnere.
«Echt schick», sage ich und hebe es an.
«Findest du?», fragt Marthe. «Ich finde, es ist ein bisschen zu hell geworden.»
«Nein, steht dir», antworte ich.
Die Leute finden mich hübscher als Marthe, so war es schon immer, und Marthe hat Komplexe wegen ihrer Nase und ihrer Brüste, deshalb freut sie sich immer, wenn ich ihr sage, sie wäre hübsch. Es ist so leicht, Marthe glücklich zu machen, man muss ihr einfach nur ein paar solcher Sachen sagen.
Kristoffer folgt Olea hinter das Ferienhaus, Marthe und ich gehen hinein. Die Tür knirscht ein bisschen, drinnen riecht es nach Hütte, vergangenen Sommern, verblichenem Holz.
«Bist du bereit für den großen Tag?», fragt sie, während ich meine Reisetasche in das kleine Schlafzimmer bugsiere, wo ich immer schlafe.
«Geht so», antworte ich. «Ich bin jedenfalls sehr bereit, Wein zu trinken.»
«Meinst du, man erwartet von uns, dass wir etwas sagen?», fragt Marthe und setzt sich auf mein Bett. «Oder gar eine Rede halten?»
«Glaube ich nicht», sage ich. «Aber ich habe vorsichtshalber was vorbereitet.»
«Die Vorzeigetochter», kommentiert Marthe und lächelt mit leicht herunterhängenden Mundwinkeln. «Und ich konnte mich wieder nicht aufraffen.»
Ich ziehe meine Schuhe aus, habe Schweißfüße. Es versetzt mir einen Stich, wenn sie mich Vorzeigetochter nennt, es sollte mich nicht kümmern, sie ist doch nur neidisch.
«Aber ich weiß nicht, ob ich sie und Stein ansprechen soll.»
«Liebe Mama und lieber Gallenstein», sagt Marthe und hebt die Hand, als würde sie mir mit einem Glas zuprosten.
Ich lache. «Stein ist doch so ein Netter, Marthe.»
«Liebe Mama und lieber Steinzeitmann», sagt Marthe.
«Liebe Mama und lieber Stein Schere Papier», sage ich.
Morgen Abend werden wir Mamas fünfundsechzigsten Geburtstag feiern. Marthe, Kristoffer, Olea, ich und Mama und Stein, wir wollen Krabben essen und Wein trinken. Mama meinte, wir könnten doch auch noch meinen vierzigsten Geburtstag mitfeiern, aber ich habe gesagt, das bräuchten wir nicht, drei Monate danach. Ich hatte den Tag auch nicht groß gefeiert, war nur mit ein paar Freundinnen im Restaurant, wir aßen drei Gänge und tranken ein paar Gläser Wein und das war’s, die meisten mussten zeitig wieder zu ihren Kindern zurück. Als Mama in den neunziger Jahren vierzig wurde, bekam sie eine Karte mit dem Aufdruck: «Life begins at forty!» Ich erinnere mich noch an die Karte, mit ganz viel Feuerwerk und Wunderkerzen drauf. Sie fand das Motto lustig und lebensbejahend und eignete es sich an, life begins at forty!, sagte sie das ganze Jahr über, und ihre Freundinnen stießen auf sie an. Ich habe sie als sehr erwachsene Damen in Erinnerung, sie hatten eingetrockneten Lippenstift und schulpflichtige Kinder, und wenn sie zusammen ausgingen, nannten sie es Frauenabend. Als ich vierzig wurde, war ich wie immer und hatte auf keinen Fall das Gefühl, jetzt finge das Leben an. An meinem Geburtstag sagte eine Freundin, wohl um mich zu trösten, ich würde toll aussehen, und kurz darauf sagte sie, es sei doch schön, allein zu sein, weil man sich selbst viel besser kennenlerne, und ich dachte, es wäre auch nett gewesen, noch jemand anders kennenzulernen.
Stein und Mama sind seit sechs Jahren ein Paar. Wenn er irgendwohin mitkommt, wünsche ich mir nach wie vor jedes Mal, er wäre zu Hause geblieben, und wir unter uns. Er hat keine Kinder, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er je welche wollte, und irgendwie scheint er noch nicht ganz begriffen zu haben, wie alt Marthe und ich sind, er redet mit uns, als wären wir Teenies. Mama sagt, Stein und sie seien late bloomers. Marthe und mich schüttelt es immer, wenn sie diesen Ausdruck benutzt. Im Übrigen stimmt es auch nicht, sie war zwanzig, als sie meinen Vater heiratete, und man sieht ja, was schon alles daraus geworden ist. Ich habe oft Lust, sie zu fragen, ob es ihr lieber gewesen wäre, so zu enden wie ich, enden, denke ich, ich darf nicht enden denken, als wäre alles vorbei, nichts ist vorbei, man muss sich selbst sagen, dass das Beste noch vor einem liegt, aber zwischendurch glaube ich, sie und Stein und Marthe und Kristoffer denken genau das über mich. Sie haben keine Ahnung, denke ich, ich habe einen Plan, ich habe ein Geheimnis. Ich beschließe, es Marthe schon jetzt zu sagen und nicht bis heute Abend zu warten, ich kann es auch gleich sagen, dass ich in Schweden Eizellen einfrieren lassen werde, sie wird große Augen machen und wow rufen.
«Du», sagt Marthe. «Willst du eine große Neuigkeit hören?»
In ihrem Gesicht ist etwas Neues aufgetaucht, etwas Ernstes unter dem Lächeln, etwas leicht Zitterndes. Ich sehe sie ein paar Sekunden an, begreife erst nichts, und dann begreife ich doch.
«Ist das wahr?», frage ich.