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Marilyn Monroe, das Sexsymbol einer Generation, das Kind, das keiner wollte, die unterschätzte Schauspielerin, die ihre Regisseure in den Wahnsinn trieb – zwei Monate vor ihrem Tod feiert Marilyn ihren 36. Geburtstag in einem New Yorker Restaurant. Alle sind gekommen: Billy Wilder, ihr Lieblingsregisseur, Laurence Olivier, mit dem sie die schlimmsten beruflichen Erfahrungen machte, Lauren Bacall, ihre Ex-Ehemänner, ihre schizophrene Mutter und als Ehrengast hat sich sogar JFK angekündigt. Nur Marilyn ist wie immer zu spät. Während Drinks und Pastrami-Sandwiches serviert werden, lässt diese illustre Runde das tragische und unerklärliche Leben der Norma Jeane Baker alias Marilyn Monroe vor uns erstehen. Es führt aus dem Waisenhaus, über eine erzwungene Ehe bis hinauf zu den Sternen am Himmel Hollywoods. Marilyn ist der berühmteste und vielleicht unglücklichste Hollywood-Star aller Zeiten. Der letzte Geburtstag ihres Lebens wird zu einer unvergesslichen Nacht.
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2022
Maxine Wildner
Ein Abend mit Marilyn
Roman
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4946.
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln
Umschlagabbildung: Marilyn Monroe, Illustration: Justin Maas, Salmon Arm, BC
eISBN 978-3-458-77506-5
www.suhrkamp.de
Ein Abend mit Marilyn
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
New York City, 31. Mai 1962, 21.04 Uhr
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London, Herbst 1957
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New York City, 31. Mai 1962, 22.08 Uhr
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Los Angeles, 1. Juni 1926, 09.30 Uhr
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New York City, 31. Mai 1962, 23.12 Uhr
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Informationen zum Buch
Sie war allein.
Das musste man doch einsehen, dass sie auch mal allein sein wollte. Aber ständig klingelte das Telefon. Marilyn ließ es klingeln, acht, zehn, fünfzehn Mal. Die Jungs gaben nicht auf, weil sie wussten, dass Marilyn zu Hause war. Sie hob ab und warf den Hörer auf die Gabel. Jetzt hatte sie ein paar Minuten Ruhe. So dreist war keiner, es gleich wieder zu versuchen. Zeit verging.
Die Zeit verging nicht, der Mensch verging. Hatte sie das gelesen oder war es ihr gerade eingefallen?
Marilyn trug ihr Pyjamaoberteil. In der weichen, samtigen Jacke lief sie gern zu Hause rum. Hätte sie jetzt jemand gesehen, wäre das Vorurteil wieder mal bestätigt gewesen: die Zurschaustellung! Alle glaubten, die Zurschaustellung sei ihr wahres Wesen. Vielleicht stimmte das sogar. Sie musste lachen: Ein blinder Freund wäre die ideale Lösung. Sie würde mit ihm reden und lachen, und das Marilyn-Ding bliebe draußen vor der Tür. Das Marilyn-Ding, der Fluch, ein Lustobjekt zu sein. Könnte man dem Fluch entgehen, ohne den Segen des Geliebtwerdens zu verlieren, das wäre eine perfekte Welt.
Das Telefon klingelte. Diesmal ging sie dran. »Ich habe dir gesagt: Ich bin in fünf Minuten fertig, also ruf mich nicht alle halbe Stunde an«, fauchte sie.
Ein Lachen am anderen Ende. Es hörte sich eher an wie das Quaken einer Ente. Nur ein Mensch auf Erden quakte beim Lachen wie eine Ente.
»Den Satz solltest du dir aufschreiben«, krächzte Billy Wilder ins Telefon. »Der wird mal berühmt.«
»Wie geht es dir, Billy?«, fragte sie ihren Lieblingsregisseur, der sie seinerseits seinen Alptraum nannte, manchmal auch die grässlichste Schauspielerin, mit der er je gearbeitet habe. Das war Billys Art, ihr seine Liebe zu zeigen.
»Mir geht es gut«, antwortete er. »Uns allen hier geht's gut, bis auf den Umstand, dass du nicht da bist.«
»Ich bin praktisch unterwegs.«
»Mit anderen Worten: Wir dürfen in etwa drei Stunden mit dir rechnen.«
»Das ist gemein, so etwas zu sagen.«
»Es ist die Wahrheit. Dein Rekord liegt bei fünf Stunden sechzehn Minuten.«
»Welcher Rekord?«
»So lange hast du mich mal warten lassen, bevor du zum Dreh erschienen bist.«
»Du übertreibst«, sagte sie und wusste, dass er recht hatte.
»Mir wäre es egal, aber Joe wird langsam sauer. Und wenn Mr DiMaggio sauer ist, fängt er an, andere Leute zu verprügeln. Ich möchte nicht in die Reichweite seiner Fäuste geraten.«
»Er hat mich auch verprügelt, wusstest du das?«
»Es war damals kaum zu übersehen.«
»Ehrlich? Ich hatte eine Sonnenbrille auf.«
»Eine dunkle Brille ist das deutlichste Zeichen, dass jemand verprügelt wurde. Als du an dem Morgen zum Dreh kamst, ist die Maskenbildnerin erschrocken. Dein Hals, deine Schultern, alles war gelb und grün.«
»Wenn Joe ein bisschen was getrunken hat, kann er sich so schlecht beherrschen.«
»Erzähl mir etwas Neues!«, lachte Billy. »Joe hat jede Nacht seit Erschaffung der Welt bisschen was getrunken.«
Sie hauchte einen Kuss ins Telefon. »Ich beeil' mich.« Und legte auf.
Sie setzte sich aufs Bett und überlegte, warum sie sich noch nicht anziehen wollte. Weil die Nacht, von der Billy gesprochen hatte, eine verdammt beschissene Nacht gewesen und eine beschissene Erinnerung geblieben war. Sollten Erinnerungen nicht Dinge nachzeichnen, die Vergangenheit waren? Warum gehorchten Erinnerungen diesem Prinzip nicht? Sie durchbrachen Raum und Zeit und breiteten sich in der Gegenwart aus. Damit wurden sie ewig, quälten einen für immer und immer war eine sehr lange Zeit.
Die Sache mit der Zeit beschäftigte Marilyn. Sie streckte sich auf dem Bett aus. Solange die Zeit ihr solche Rätsel aufgab, konnte sie sich unmöglich anziehen.
Mitten in der Nacht flog eine Uhr durch die Luft. Die Taschenuhr ihrer Mutter. Mama hatte ihr nie viel Zeit geschenkt, stattdessen diese billige Taschenuhr. Die Uhr verschwand. Die Nacht blieb. Die heiße New Yorker Sommernacht, in der Billy seinen Film gedreht hatte. Sommer in Manhattan.
Ein Ehemann saß allein in seiner Upper-Westside-Wohnung, während seine Frau mit dem Sohn in die Ferien fuhr. Der Mann blieb im stickigen, feuchten Manhattan zurück, um zu arbeiten. Seine Wohnung hatte eine Klimaanlage, die Wohnung darüber aber nicht. Das war der ganze Konflikt: Eine junge Frau im ersten Stock beneidete den einsamen Ehemann für seine klimatisierte Wohnung. Die einfachen Storys waren die erfolgreichsten. Und Billy war der erfolgreichste Regisseur von allen.
Solange sie den Film im Studio drehten, lief alles wie am Schnürchen. Marilyn riss sich zusammen und kam nur manchmal zu spät. Aber dann brach die Nacht an, als die Crew auf die Straße musste, in die Wildnis Manhattans, wo die Wölfe heulten. Die Wölfe lauerten immer auf Marilyn, aber selten so schlimm wie in dieser Nacht.
Im Sommer 1954 flammten die Jupiter-Scheinwerfer auf. Billy hatte zusätzlich Strom legen lassen, um das zu ermöglichen. Die Straße vor dem Kino war heller erleuchtet als der Times Square. Es war heiß. Die Jungs liefen in Unterhemden herum, manche in kurzen Hosen. Überall Männer, wohin man sah, nichts als Männer. Polizisten sperrten die gegenüberliegende Straßenseite ab, wo die Fans herüberguckten. Der Kameramann ließ den Dolly ausprobieren. Die Schienen mussten besser justiert werden.
Der Regieassistent winkte Mr Ewell zu, es könne gleich losgehen. Mr Ewell winkte gutmütig zurück, er hatte keine Eile. Ewell war Marilyns Filmpartner, netter Mann, ein guter Komiker, sonst nicht besonders aufregend. Er sollte auch nicht aufregend sein, denn er spielte den Durchschnittsehemann. Ewell saß auf dem Stuhl, der seinen Namen trug. Er konnte seelenruhig dasitzen, keiner kümmerte sich um ihn. Auf dem Stuhl daneben stand ein einziges Wort: Actress. Hätte man Marilyns Namen draufgeschrieben, wäre der Stuhl geklaut worden. Ihr Stuhl war leer. Sie konnte sich unmöglich dort hinsetzen, weil sonst der Irrsinn losgebrochen wäre, wie er immer losbrach, wenn sie sich öffentlich zeigte.
Marilyn wartete in einer schwarzen Limousine mit getönten Scheiben. Billy gab ihr keinen Wohnwagen, weil die Wölfe sonst gewittert hätten, wo sie sich umzog, auszog. Billy ließ sie in Kostüm und Maske in eine Limousine setzen, bis es so weit war. Der Maskenbildner tupfte an Marilyn herum.
Am Set wischte sich der Produzent des Films mit dem Taschentuch über die Stirn. Er vertrug die Hitze nicht, wollte bei dem Außendreh aber unbedingt dabei sein. Hinter ihm rollte der Kameraassistent das Maßband aus und stellte die Distanz von der Linse zum U-Bahn-Schacht fest. Der Kameramann justierte die Optik. Eine Frau am Straßenrand kaute Kaugummi. Eine einzige Frau unter all den Wölfen.
Der U-Bahn-Schacht war nicht echt. Er war mal echt gewesen, heute fuhr dort keine Subway mehr. Unter dem Gitter befand sich ein Hohlraum, gerade sechzig Inches hoch. Zwei Techniker buckelten da unten rum, damit es später so aussehen sollte, als ob die Subway durchbrauste.
»Siehst du sie?«, fragte der Mann am Ventilator.
Der Elektriker schielte nach oben. »Ich sehe nur die Sterne.« Er prüfte die Kontakte.
»Ich will wissen, ob sie schon da ist.«
»Irgendwo da oben muss sie sein«, schwärmte der Elektriker.
Plötzlich wurde es über ihnen strahlend hell. Alle Jupiter-Scheinwerfer wurden gleichzeitig gezündet.
»Jetzt muss sie da sein«, rief der Elektriker.
»Ich kann nichts sehen.« Der am Ventilator versuchte, ihn beiseitezuschieben.
Nicht nur die Scheinwerfer leuchteten, dachte Marilyn, während sie durch die getönte Scheibe nach draußen sah, auch die Männergesichter. Jedes Mal passierte das, wenn sie irgendwohin kam. Die Männergesichter begannen zu strahlen, wie Kinder, die den Weihnachtsbaum sahen. Ihre Augen wurden zu leuchtenden Christbaumkerzen.
Als sie ausstieg, kam Bewegung in die Wölfe. Die Männer winkten, schrien. Die meisten riefen nur Hey!, als wären sie Steinzeitmenschen. Sie wollten, dass Marilyn auf sie aufmerksam wurde, auf sie ganz speziell. All diese männlichen Planeten, und Marilyn war die Sonne, die sie bescheinen sollte.
Der Aufnahmeleiter beugte sich über das Gitter der falschen Subway. »Seid ihr so weit?«
Auch der Elektriker bekam die Christbaumaugen. »Ich war die ganze Zeit schon so weit.«
Marilyn verließ die Limousine. Die Wölfe heulten.
»Hey, Mädchen!«, schrie einer. »Du bist die Größte! Hey!«
»Treten Sie zurück, meine Herrschaften!«, rief der Aufnahmeleiter. »Bleiben Sie ruhig stehen, solange gedreht wird.«
Der erste Fotoblitz. Dutzende folgten.
»Keine Fotos mehr!«, befahl der Aufnahmeleiter.
In ihren weißen High Heels trat Marilyn auf das Gitter. Die Stöckel durften nicht zu breit, aber auch nicht zu schmal sein, damit sie nicht zwischen das Gitter rutschten. Marilyn stellte sich breitbeinig in Position.
Der Elektriker starrte hoch.
»Ich hoffe, du wirst nicht blind«, knurrte der am Ventilator.
»Wir drehen«, sagte der Aufnahmeleiter.
Marilyn konnte Billy nirgends entdecken, die Scheinwerfer waren zu hell. Aber irgendwo saß er, versteckt hinter dem Rampenlicht.
Der am Ventilator machte den Strom an. Langsam begann sich der Propeller zu drehen, ganz langsam. Auf der Straße wurde es mucksmäuschenstill. Marilyn hatte angenommen, es würde laut, vulgär, obszön werden, aber das Gegenteil trat ein, gespenstische Stille. Die Männer mit den Weihnachtsbaumgesichtern und den Kinderaugen verstummten vor dem Mysterium. Was denn, Marilyns Hinterteil sollte ein Mysterium sein? Sie lachte still in sich hinein, beugte die Knie, hielt den Rock zwischen ihren Beinen fest und ließ ihn wieder hochwehen. Sie lachte, lachte in alle Richtungen. Ihr Schlüpfer saß ein bisschen knapp, der Plisseerock bauschte sich wunderbar. Alles geschah genau, wie Billy es geplant hatte. Er setzte auf Marilyns Geduld und ließ sie lange posieren, eine Stunde und mehr, immer wieder.
Zwischendurch, während er das Licht änderte, kehrte sie in die Limousine zurück. Da die Wölfe nun wussten, wo sie war, musste die Limousine so lange um den Block fahren, bis Marilyn wieder gerufen wurde. Der Ventilator kreiste, der Rock flog hoch, sie lachte, sie posierte.
Nach Drehschluss wurde sie in ihre Wohnung gebracht. Damals war sie noch mit Joe verheiratet gewesen. Er hatte bei den Dreharbeiten heimlich zugesehen. Ein guter Freund hatte ihm den Tipp gegeben, dass es da etwas zu sehen geben würde. Joe war genauso berühmt wie Marilyn, deshalb durfte ihn am Set niemand erkennen. Stundenlang sah er versteckt mit an, wie seine Frau ihren Rock hochfliegen ließ, wie ihr Schlüpfer immer wieder aufblitzte.
Als sie nach Hause kam, war er ziemlich betrunken. In dieser Nacht prügelte er sie grün und blau. Zwei Wochen später reichte sie die Scheidung ein. Nach nur zweihundertsiebenundvierzig Tagen Ehe.
* * *
Billy legte auf, schob das Telefon zum Barkeeper zurück und rückte seine Brille gerade, die ständig von der Nasenspitze zu rutschen drohte. Er machte sich auf den Weg zu dem großen Tisch in der hintersten Nische. Sonst, wenn sich Billy mit Studiobossen oder Freunden traf, wählte er lieber einen kleinen Tisch. Mit Schauspielern oder Schauspielerinnen traf er sich grundsätzlich nie. Schauspieler waren für ihn ein Gezücht, dem man sich nur auf dem Filmset näherte, wo man sie anschnauzen konnte. Sie waren wehleidige, selbstverliebte, sich selbst überschätzende Kreaturen. Billy wollte lieber eine Woche ohne Zigarren leben, als eine einzige Stunde mit Schauspielern zu verplempern.
Heute Nacht hätte die kleine Nische nicht gereicht. Neben Billy waren erst zwei Gäste erschienen, Paula und Joe, Marilyns Schauspiellehrerin und Marilyns Ex-Mann. Paula schwebte in den hehren Gefilden der Schauspielkunst, Joe war schon zu Lebzeiten eine Legende. Obwohl er seine Karriere vor Jahren beendet hatte, war er so berühmt, dass die Yankees bereits 1952, nach seinem Ausscheiden aus dem Profi-Baseball, entschieden hatten, dass nie wieder ein Spieler das Trikot mit der Rückennummer 5 tragen dürfe.
Das Michael's war ein beliebtes, dabei nicht überfülltes Deli in Midtown Manhattan, Ecke 37th Street und Broadway. Die Kellner trugen blassblaue Jacken mit schwarzem Revers. Alle Kellner hatten Brillen auf, und alle waren zu dick. Damit gaben sie den Gästen das angenehme Gefühl, dass auch sie am liebsten bei Michael's aßen. Ihn selbst sah man selten. Wenn Michael mal in seinem Reich auftauchte, sang er für die Gäste. Nicht weil er es konnte, sondern weil er annahm, ein italienischstämmiger Lokalbesitzer müsse singen. Er hatte eine unangenehme, schrille Stimme und durchschaute nicht, dass die Leute ihn beklatschten, damit er endlich aufhörte.
Die Broadwaytheater lagen gleich um die Ecke, an den Wänden hingen Fotografien von Broadwaygrößen. Pfeffer, Salz, Ketchup, Senf und Milch standen auf jedem Tisch bereit.
»Sie kommt«, gab Billy bekannt, als er den Tisch erreichte, und erntete einen genervten Blick von Joe.
»Das heißt also, sie ist noch nicht mal angezogen?«, seufzte er.
»Sie ist zumindest guten Willens.« Da keiner das witzig fand, kicherte Billy seinen Worten selbst hinterher.
»Was hat sie gesagt?« Joe saß vor einer Flasche Malzbier, an der er seit einer halben Stunde nuckelte. Er hatte angekündigt, keinen Tropfen Alkohol zu trinken, bevor Marilyn erschien. Billy hatte mit Joe gewettet, dass er das nicht durchhalten würde.
»Sie sagt, dass du sie verprügelt hast.«
Aus seelenvollen Augen sah Joe ihn an. »Dass sie das nicht vergessen kann. Immer wieder fängt sie davon an. Ich hab's nicht so gemeint, und das weiß sie. Was hast du darauf geantwortet?«
»Dass du sauer wirst, wenn sie nicht bald kommt.«
»Ich bin nicht sauer«, verteidigte sich Joe.
»Sobald du was getrunken hast, wirst du bestimmt sauer.« Billy biss die Spitze seiner Zigarre ab. »Das erinnert mich an den Mann, der über die Hotelpreise in New York sauer wurde. ›Haben Sie nichts Billigeres?‹, fragt der Mann an der Rezeption. – ›Wir haben ein Zimmer für zehn Dollar die Nacht, aber da müssen Sie Ihr Bett selbst machen.‹ – ›Das nehm ich‹, sagt der Mann. Da kriegt er einen Hammer, ein paar Bretter und Nägel in die Hand.« Billy musterte Joe und Paula. »Den findet ihr nicht lustig? Der kommt sonst immer an.«
»Fabelhaft«, antwortete Paula mit Leichenbittermiene.
»Wieso schaust du mich dann an wie ein geschlossenes Betonwerk?«
Paula trug Schwarz, sie trug immer Schwarz. Billy fand das ewige Schwarz an ihr affig. Einerseits strich sie damit heraus, eine ernsthafte Künstlerin zu sein, andererseits wurde sie ständig fetter und glaubte, in den schwarzen Klamotten merkte das keiner. »Joe hat auch nicht gelacht«, antwortete Paula.
»Weil Joe den Witz nicht versteht«, kicherte Billy.
»Lasst mich in Ruhe«, seufzte die Sportlegende. »Soll ich sie vielleicht noch mal anrufen?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Das würde ich lassen. Du holst dir nur eine Abfuhr.« Billy spuckte die Zigarrenspitze zu Boden. Nicht gerade die feine Art, aber der Abend sollte nicht wegen seiner feinen Art in die Geschichte eingehen.
Diesmal klingelte es an der Tür. Am Klingelschild von Marilyns Apartment stand Baker, der Name, unter dem sie bei ihrer Geburt kirchlich registriert worden war. Sie schlich näher, um durch den Spion zu schauen, drehte sich aber noch einmal um. Die Nembutal-Tabletten und das Chloralhydrat standen im Wohnzimmer auf dem Couchtisch. Falls sie öffnete, sollte niemand die kleinen bunten Püppchen entdecken, mit denen sie sich den Tag angenehmer machte. Die Pillendosen landeten in der Schublade unter dem Fernsehapparat.
Auf Zehenspitzen erreichte Marilyn die Tür. Als sie ihr Auge vor den Spion presste, klopfte es so vehement, dass sie vor Schreck einen Schrei ausstieß.
»Schätzchen?«, sagte eine blecherne Stimme. »Ich weiß, dass du da bist.«
Sie rührte sich nicht.
»Mach auf. Ich kann nicht ewig auf dem Flur stehen.« Er schien zu lauschen. »Baby, mach jetzt bitte auf.«
Von den Brüdern hatte Bobby die unangenehmere Stimme. Er klang wie eine Trickfilmfigur aus den Looney Tunes. Dagegen war Jacks Stimme einschmeichelnd, er hatte einen samtigen Ton. Warum nahm Bobby keinen Sprechunterricht? Wenn man so häufig in der Öffentlichkeit reden musste, wären ein paar Stunden mit einem Lehrer nützlich.
Plötzlich wurde draußen gesungen. »Happy birthday to you, happy birthday to you –«
Marilyn riss die Tür auf. »Mein Geburtstag beginnt erst in drei Stunden!«
Mit einem einzigen Schritt betrat Bobby Kennedy, der Justizminister der USA, die Wohnung.
»Bist du extra für meinen Geburtstag nach New York gekommen?« Sie lachte.
»Natürlich, was denkst du denn?« Er schlug die Tür hinter ihnen zu.
Marilyn ließ sich nicht für dumm verkaufen. »Erzähl keinen Quatsch. Sag mir lieber, warum du wirklich da bist.«
Schmal und schlaksig stand er in der Tür. »Wir müssen reden, Marilyn.«
»Worüber?«
»Willst du mir nicht erst mal einen Drink anbieten?«
Als er die Hand an ihren Hals legte, fiel Marilyns Blick auf seine Armbanduhr. »Schon so spät? Ich muss los.«
»Wohin?«
»Zu meiner Party bei Michael's.«
»Musst du da wirklich hin?«
»Ich will meine Freunde nicht versetzen.«
Das brachte ihn zum Lachen. »Das ist der Witz des Jahres: Marilyn Monroe nimmt sich vor, jemanden nicht zu versetzen. Im Who's Who Amerikas gibt es kaum jemanden, bei dem du das nicht schon getan hast.«
Sie setzte das Lächeln auf, das zu ihrem Marilyn-Ding gehörte. »Ich war zwar schon auf vielen Kalendern, bin aber trotzdem nie pünktlich. Und jetzt ziehe ich mich an.« Erhobenen Hauptes lief sie ins Ankleidezimmer.
Er wandte sich zur Hausbar. »Dann mache ich mir meinen Drink eben selbst. Willst du auch etwas?«
»Danke, mir geht's gut!«, rief sie von drüben.
»Das habe ich nicht gefragt. Ich möchte wissen, ob du einen Bourbon möchtest?«
Sie steckte den Kopf durch die Tür. »Mir geht's gut, weil ich heute noch keinen Bourbon hatte.« Die Pyjamajacke stand offen.
»Wow. Findest du das nicht riskant, so vor mir herumzulaufen?«
»Angeber.«
Er hatte die Karaffe in der Hand. »Wieso?«
»Es ist nach neun. Du bist nicht der Mann, der um neun Uhr abends Liebe macht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Du bist ein Tages-Lover, Bobby. Wenn es Abend wird, schlüpfst du lieber bei Ethel unter die warme Decke.«
Er trank sein Glas in einem Zug leer. »Ich könnte heute eine Ausnahme machen.«
»Ich muss los.« Sie huschte nach drüben.
* * *
»Kennt ihr das Gefühl, wenn ein Apfel so süß ist, dass man jeden Bissen mit Ehrfurcht genießt?« Joe war nicht berühmt dafür, philosophisch zu werden. Berühmt hatten ihn die 361 Home Runs für die Yankees gemacht und seine 56 Hits in 56 aufeinanderfolgenden Spielen. Es galt als die größte Leistung, die jemals beim Baseball erzielt wurde. Versonnen saß er bei seinem zweiten Malzbier.
»Mit dem süßen Apfel meinst du Marilyn und mit dem Apfelesser dich?« Billy wusste, dass Joe an diesem Abend in Gefahr war, das heulende Elend zu kriegen.
»Jeder redet nur davon, wie sexy Marilyn ist. Klar, ihr Sex ist groß und mächtig und überwältigend, aber darüber hinaus besitzt sie diese Süße. Man fühlt sich in ihrer Nähe einfach erfrischt.«
»Oder genervt.« Billy zwinkerte durch die Brille.
»Genau wegen ihrer Süße wird Marilyn geliebt. Ob Truckfahrer, Supermarktverkäufer oder Zahnarzt, alle verlieben sich in dieses Mädchen, weil sie so süß ist.«
»Baseballspieler machen da keine Ausnahme.« Billy lächelte warmherzig. »Du vergisst nur eines: Als ihr euch kennengelernt habt, stand sie am Anfang ihrer Karriere, aber jeder wusste längst, wer du bist. Die meisten glaubten, Marilyn wäre nur eine weitere Feder an deinem Hut.«
»O Gott, nein. Wir zwei waren …«
»Ihr wart Mr und Mrs America 1952! Die Presse hat sich in diese perfekte Verbindung verliebt. Und auch du warst in die Perfektion eurer Beziehung verknallt.« Billy merkte, dass seine Zigarre ausgegangen war.
»Was willst du damit sagen?«
»Dass euer Glück nur so lange dauerte, bis du Marilyn besser kennengelernt hast. Plötzlich war sie nicht mehr die Sexgöttin, das Idol von Millionen, sondern das Nervenbündel, das wir alle kennen, die Neurotikerin, die ohne Medikamente nicht leben kann.«
Joe hielt Billy die Bierflasche wie eine Pistole unter die Nase. »Ich will nicht, dass du so über sie sprichst. Alle sagen so dumme Sachen: dass ich auf eine Göttin reingefallen und später draufgekommen sei, dass sie ein Dämon war.«
Billy ließ sich vom Kellner Streichhölzer geben. »Denk an euer erstes Date. Marilyn hat ihre Presseagentin gebeten, ein Blind Dinner mit dir zu verabreden. Und du bist sehenden Auges in die Falle getappt.«
Joe nickte versonnen. »Ich war überwältigt. Habe wie ein Pennäler dagesessen und kein Wort herausgebracht.«
»Gerade in deiner Schweigsamkeit hat die ewig unsichere Marilyn ein Zeichen von Stärke gesehen. Du hast sie schwer beeindruckt.«
»Hinterher hat sie mich heimgefahren. Im Auto hat sie mich gefragt, ob sie noch zu mir hochkommen darf. Das war mir aber doch zu viel. Das konnte ich nicht – nicht am ersten Abend.«
»Wirklich?« Billy schob die Brille hoch und musterte Joe wie einen Käfer unter der Lupe. »Da habe ich etwas anderes gehört. Es heißt, dass du in dieser Nacht gar nicht nach Hause gekommen bist.«
Joe setzte sein unschuldiges Dackelgesicht auf. »Na ja, zu mir fahren wollte ich nicht, mich von ihr trennen wollte ich aber auch nicht. Also sind wir zu ihr gefahren.«
»Und dort konntest du?« Billy quäkte das Entenlachen.
»Du kennst Marilyn. Keiner kann ihr widerstehen.« Joe winkte nach dem Kellner. »Scotch«, sagte er. »Einen Doppelten.«
Paffend sah Billy der Rauchwolke hinterher. »Ihr wart das perfekte Paar: Das war euer Verhängnis.«
»Warum?«
»Weil Marilyn Perfektion nie für längere Zeit erträgt.«
Lächelnd präsentierte Joe die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen. »Wisst ihr, was sie zu mir gesagt hat? Von all deinen Unvollkommenheiten mag ich deine Zahnlücke am liebsten.«
Der Kellner brachte ihm den Drink.
Insgeheim freute sich Billy, weil er die Wette gewonnen hatte. »Ja, auf so etwas steht sie.«
»Auf Zahnlücken?«
»Auf Unvollkommenheit. Die ganze Welt ist verrückt nach Marilyn. Selbst in den entlegensten Gegenden, wo ihre Filme nicht gezeigt werden, kennt man ihren Namen und ihr Bild. Das Haar, das Lächeln, die verhangenen Augen, die Figur, alles an ihr ist perfekt. Trotzdem glaubt sie von sich selbst, dass sie das unvollkommenste Wesen sei.«
Paula Strasberg hatte bisher kaum etwas gesagt. Jetzt mischte sie sich ein. »Unvollkommenheit ist Schönheit. Perfektion ist Stillstand.«
»Was soll das heißen?«
»Eine Statue von Michelangelo ist perfekt, aber sie wird sich nie weiterentwickeln. Marilyn will keine Statue sein. Sie entwickelt sich ununterbrochen weiter.«
Billy zog an der Zigarre. »Muss sie sich deshalb dauernd selbst fertig machen, bei jeder Rolle, jedem Film?«
»Das nennt man Arbeit am Charakter«, dozierte Paula. »Nichts, was einfach ist, kann gut sein. Die Qualität liegt im Komplizierten.«
»Bullshit«, knurrte Billy. »Die einfachsten Schauspieler sind die besten, weil sie keine Schnörkel und Arabesken brauchen. Alles andere ist gequirlter Mist.«
»Willst du behaupten, Marlon Brando spielt gequirlten Mist?«
»Marlon war schon fantastisch, bevor er in euer Actors Studio kam. Ihr habt ihn mit eurem Method Acting nicht kaputt gemacht. Bei Marilyn ist das anders. Sie ist derart zerfressen von Selbstzweifeln, dass eure Methode ihre Zweifel nur verstärkt.«
Paula hob gebieterisch die Hand. »Ich gebe Marilyn Kraft, indem ich ihr die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Rolle aufzeige.«
»Du gibst ihr nur die Möglichkeit, ihre Neurosen schamlos auszuleben, weil du ihrer Hysterie den Anstrich von Künstlertum verleihst. Sie nützt dich aus, meine Liebe. Der Scharlatan bist nicht du, es ist Marilyn.«
»Es ist unerhört, so etwas zu sagen«, empörte sich Paula.
»Heute ist genau der richtige Abend, um so etwas zu sagen. Wir feiern Marilyns sechsunddreißigsten Geburtstag. Das ist von Bedeutung: Sechsunddreißig ist ein heikles Alter für eine Frau in Hollywood.«
»Nicht, wenn man eine große Schauspielerin ist wie sie.«
»Marilyn ist gut, sie ist sogar ausgezeichnet. Trotzdem bin ich gespannt, wie sie damit umgeht, wenn die Jüngeren nachrücken. Denn das tun sie bereits. Zum Beispiel Ann-Margret, Audrey Hepburn und die Tochter von Henry Fonda, wie heißt sie noch?«
Paula machte eine wegwerfende Geste. »Du kannst diese Filmsternchen doch nicht mit Marilyn vergleichen.«
Für Paula war es ungewohnt, ihre Argumente verteidigen zu müssen. Billy war ihr zu vulgär und zu schlagfertig. Paula mochte Menschen, die ihr andächtig zuhörten. Sie sprach gern über die großen, letzten Dinge: Trauer, Schmerz, Tod, Einsamkeit und Kindheitsprobleme. Meistens war sie umringt von gläubigen Anhängern der Lehre ihres Mannes Lee Strasberg und brachte sein Evangelium unters Volk.
Die älteren, traditionellen Schauspieler belächelten das Method Acting. Mittlerweile wuchs aber eine Generation junger Künstler und Künstlerinnen heran, die begierig auf Strasbergs Lehre waren. Aus einigen seiner Schüler waren Stars geworden. Seit Marlon Brando und Montgomery Clift die Schule besucht und einen kometenhaften Aufstieg gemacht hatten, galt Paulas Mann als Zauberer.
Lee Strasberg nahm 120 Dollar pro Unterrichtsstunde, eine ungeheure Summe für die armen Teufel, die als Kellner in Los Angeles ihren Lebensunterhalt bestritten. Bei Paula war es mit 80 Dollar etwas billiger. Sie unterrichtete vorwiegend junge Frauen. Als Marilyn allmählich zu Marilyn wurde, als sie Lauren Bacall, Jane Russell und Betty Hutton als Sexsymbol ablöste, war sie zu den Strasbergs gekommen. Sie durchschaute, mit welchen Rollen die Studios sie besetzten und immer weiter besetzen würden. In All about Eve, ihrem ersten größeren Film an der Seite von Bette Davis, hatte sie das süße Blondchen mit den Kulleraugen und den verführerischen Kurven gespielt. Daran änderte sich auch nichts, als ihre Rollen größer wurden. Selbst Billy Wilder, der die Komikerin in ihr entdeckte, besetzte sie mit klischeehaften Frauenfiguren.
Alles, was Marilyn in der Öffentlichkeit tat und sagte, wurde von Männern bestimmt. Studiobosse, Produzenten, Regisseure formten das Bild der Schauspielerin. Dem wollte sie einen Riegel vorschieben, indem sie bewies, dass sie eine ernst zu nehmende Schauspielerin sein konnte, und dafür brauchte sie die Strasbergs.
Paula berechnete ihr nicht 80, sondern 500 Dollar die Stunde, stand ihr dafür aber auch Tag und Nacht zur Verfügung. Jedes Mal, wenn Marilyn bei der Vorbereitung einer Rolle Hilfe brauchte, selbst noch während der Dreharbeiten ließ sie Paula rufen.
Wenn bei den Strasbergs das Telefon um vier Uhr morgens klingelte, drehte sich Lee auf die andere Seite und knurrte: »Es ist für dich.« Man konnte sicher sein, es war Marilyn. Schließlich zog Paula während eines Filmdrehs einfach ganz zu ihrem Schützling. Sie schlief im Nebenzimmer und ging mit Marilyn Tag und Nacht die Rolle durch, die Gedanken, die dem Text nach Paulas Meinung zugrunde lagen. Sie nannte das die Meta-Ebene. Marilyn wurde süchtig nach dieser Meta-Ebene und wollte selbst in simple Sätze eine tiefere Bedeutung hineindeuten.
»Ich treffe ihn um Viertel vor neun«, las sie Paula aus dem Skript vor. »Was will ich damit sagen?«
Jede normale Schauspiellehrerin, die nicht 500 Dollar die Stunde verlangte, hätte darauf geantwortet: »Das bedeutet, dass du ihn um Viertel vor neun triffst.«
Doch Paula setzte in diesem Fall ihre Künstlerkapuze auf und machte ein problematisches Gesicht, was auf eine bedeutungsvolle Antwort schließen ließ. »Denk an deine Mutter«, erwiderte sie. »Was hätte deine Mutter dazu gesagt, wenn du diesen Mann um Viertel vor neun triffst?«
»Verstehe, was du meinst.« Marilyn legte die Stirn in Falten.
»Und warum ausgerechnet um Viertel vor neun?«, setzte Paula nach. »Hast du darüber mal nachgedacht?«
Marilyn hatte nicht darüber nachgedacht.
»Dieser Mann will dich um Viertel vor treffen, weil er weiß, dass neun Uhr keine seriöse Zeit mehr wäre, um sich mit einem hübschen jungen Mädchen zu verabreden. Er verschleiert seine wahren Absichten, indem er Viertel vor vorschlägt. Dieser Mann hat etwas zu verbergen, und du solltest herausfinden, was das sein könnte.«
»Er ist ein alter Polizist«, entgegnete Marilyn verwirrt. »Er will mir Fragen zu dem Mordfall stellen.«
»Umso schlimmer«, fuhr Paula sie an. »Warum will ein alter Mann dich so spät treffen? Nur um dir Fragen zu stellen?«
Dann kam Marilyn ins Grübeln. Sie liebte es, zu grübeln. Die Regisseure liebten das weniger, es machte sie wahnsinnig. Marilyn brachte sie an den Rand ihrer Geduld: Es kostete viel Geld, wenn Marilyn in der Garderobe blieb, weil sie nicht wusste, wie sie den Satz Ich treffe ihn um Viertel vor neun spielen sollte. Wenn schließlich der Regieassistent bei ihr klopfte, später der Regisseur oder der Produzent, schob Marilyn Paula als Schutzschild vor. Dann trat Paula vor die Tür und sagte: »Sie ist noch nicht so weit.«
* * *
Billy kam von der Bar zurück. Er hatte Zahnstocher und Drinks für sich und Joe geholt.
»Du und Marilyn, ihr wurdet von der amerikanischen Medienmaschine zu überlebensgroßen Figuren stilisiert.« Er stellte den Scotch vor Joe ab. »Im Inneren der Kultfiguren, die man aus euch gemacht hat, sind aber zwei kleine, einsame Menschen, die Angst davor haben, durchschaut zu werden. In eurer Einsamkeit seid ihr so etwas wie Brüderlein und Schwesterlein gewesen. Bedauerlicherweise hast du darauf bestanden, dass ihr auch noch Mann und Frau sein sollt, Joe. Als ihr geheiratet habt, erzählte Marilyn einem Reporter, dass sie die perfekte Ehefrau sein werde.«
Joe seufzte. »Sie wollte meine Hemden bügeln und das Abendessen kochen. Sie hat sogar schon begonnen, das Kinderzimmer für unseren Sohn, Joe junior, einzurichten. Sie wollte sechs Kinder mit mir haben.«
»Und im selben Jahr hat sie mit mir Das verflixte 7. Jahr gedreht und noch zwei weitere Filme.« Billy stieß mit Joe an. »Sie hätte das Filmgeschäft für eure Ehe nie aufgegeben.«
Inzwischen musste es zehn Uhr sein. Bobby lag neben Marilyn und hatte ein Glas Bourbon auf seiner Brust stehen. »Es ist nicht einfach, das zu besprechen.« Er strich die Linie ihres Rückens entlang.
»Versuch's doch einfach.«
»Wir sollten über die dummen Sachen reden, die du neulich am Telefon gesagt hast.«
»Wir haben in letzter Zeit nicht miteinander telefoniert.«
»Nicht, was du zu mir gesagt hast, Schätzchen, sondern zu Mr Slatzer, deinem Verflossenen.«
»Woher willst du wissen, dass ich mit Robert telefoniert habe?«
»Ich weiß es, und das muss genügen. Du hast gesagt: Wenn du nicht bald ein Lebenszeichen von mir oder Jack kriegst, gibst du eine Pressekonferenz und lüftest das Geheimnis über die verdammten Kennedy-Boys.«
»Das habe ich nie gesagt.« Sie schob seine Hand beiseite. »Ich habe bestimmt nicht verdammte Kennedy-Boys gesagt.«
»Ich habe eine sehr deutliche Tonbandaufzeichnung davon, Marilyn.«
»Du lässt mein Telefon abhören?« Erschrocken zog sie sich auf die andere Bettseite zurück.
»Ich bin der Generalstaatsanwalt der USA. Was glaubst du, was ich den ganzen Tag mache?« Als sie über den Scherz nicht lachte, strubbelte er sein Haar. »Aber wie du siehst, bin ich heute hier. Du hast also ein Lebenszeichen von den Kennedy-Boys bekommen. Und Jack bittet mich, dir klarzumachen, dass es so nicht weitergeht, Marilyn.«
»Was geht nicht weiter?«
»Er steht mitten im Wahlkampf. Was er im Augenblick am wenigsten brauchen kann, ist ein Schuss von Marilyn Monroe unter die Gürtellinie.«
»Bei Jack passiert alles unter der Gürtellinie«, gab sie zurück.
Bobby zog ein zweites Kissen unter seinen Kopf. »Jack ist kein Heiliger und ich ebenfalls nicht, das wissen wir. Aber Spaß ist Spaß und Politik ist Politik.«
»Ausgerechnet du redest von Spaß?« Sie fischte nach ihrem Laken. »Du sollst doch der Typ sein, der nicht trinkt, nicht raucht und seine Frau nicht betrügt.«
»Hör auf, Schätzchen.«
»Wenn ich mir dein leeres Glas ansehe, kann das mit der Abstinenz nicht stimmen. Und wenn ich an die letzten Minuten denke, hört sich das mit der Treue zu deiner Frau, die dir acht Kinder geschenkt hat, auch nicht glaubwürdig an.«
Er rutschte zu ihr hinüber und ließ seinen Kopf auf ihre Brüste sinken. »Schuldig, in allen Anklagepunkten schuldig, Euer Ehren«, flüsterte er. »Aber rauchen tue ich wirklich nicht.«
Sie streichelte seine Wange. »Als ich dich kennengelernt und erfahren habe, was du für ein Mustergatte bist, dachte ich: Der Junge kann unmöglich Jacks Bruder sein.«
»Ich bin genauso wenig ein typischer Generalstaatsanwalt, wie du eine typische Schauspielerin bist.«
»Ich bin eine ganze Menge.« Sie krallte sich in seinem Haar fest. »Nur typisch bin ich ganz bestimmt nicht.«
»Als ich dich nach der Party bei Lawfords heimgebracht habe –«, er küsste ihre Brüste, ihre Schulter, den Hals, »da sagtest du, ich solle dir helfen, ein Feuer im Kamin zu machen. Ein schönes großes Feuer, damit du all deine Klamotten ausziehen kannst.«
Ihr Griff wurde fester. »Du wolltest deinen Fahrer nicht wegschicken, weil der US-Justizminister unmöglich ein Taxi hätte nehmen können.«
Seine Zunge liebkoste ihr Ohr. »Und du hast gesagt: Für mich wird der Justizminister ein Taxi nehmen müssen.«
»Du hast aber kein Taxi genommen.« Sie berührte sein Glied.
»Nein.«
»Du hast dem Fahrer gesagt, er soll einen Block entfernt parken und warten.«
»So ist es gewesen.« Er stöhnte.
»Der arme Kerl.« Sie rutschte tiefer. »Er hat die ganze Nacht auf dich gewartet.«
»Bitte lass das.« Bobby zog sich zurück. »Du hast meinen Bruder letzte Woche fünfzehn Mal angerufen.«
»So oft bestimmt nicht.« Irritiert zog Marilyn das Laken über ihren Körper.
»Fünfzehn Mal. Und jedes Mal hast du größeren Unsinn geredet, sagt Jack.«
»Ich hatte ein bisschen was getrunken.« Sie zog das Tuch hoch bis zum Hals.
»Weißt du nicht, dass die Gespräche im Weißen Haus registriert werden? Weißt du nicht, dass die First Lady sich im selben Gebäude aufhält wie Jack?«