18,99 €
Das Leben der »Queen of Romance«
Steventon, ein idyllischer Ort in Hampshire – hier wächst Jane Austen in einem Pfarrhaus zusammen mit sieben Geschwistern auf. Sie hat freien Zugang zur Bibliothek ihres Vaters und erhält eine für die damalige Zeit ungewöhnlich umfassende Bildung.
Schon früh entwickelt sich Jane zu einer bemerkenswerten jungen Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist. Sie beansprucht für sich das Recht, ihren Partner frei zu wählen, und ihr Leben ist geprägt von Romantik und Leidenschaft. Drei Männer gibt es in ihrem kurzen Leben: ihre große Liebe Tom Lefroy – ihr Mr Darcy, den sie aber nicht heiraten darf –, der reiche Mr Witherton, dessen Antrag sie ablehnt, weil sie keine Zuneigung empfindet, und der intrigante Philipp Trevelyan, der Jane begehrt, aber verrät.
Jane Austens lebenslange Leidenschaft aber gehört dem Schreiben. Sie schuf unvergessliche Romane über die Verstrickungen der Liebe, die bis heute weltweit ein Millionenpublikum begeistern.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 305
Veröffentlichungsjahr: 2025
Maxine Wildner
Jane Austen
Stolz und Leidenschaft
Roman
Insel
Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.
Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.
Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.
eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025.
Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025
Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagillustration: Midjourney KI
eISBN 978-3-458-78303-9
www.insel-verlag.de
Für Jürgen Haug
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
1 Steventon, Hampshire, 1796
2 Oakley Hall
3 Ein Monat zuvor, London, ein Haus von zweifelhaftem Ruf
4 Steventon, Sonntagmorgen
5 Am Dorfweiher
6 Basingstoke
7 Unter einem bleichen Mond
8 Vor Tagesanbruch
9 MrTrevelyan
10 An Tagen wie diesen
11 London
12 The Royal Courts of Justice
13 Steventon im Winter
14 Das Fest bei Pommeroys
15 Lange nach Mitternacht
16 Der Eindringling
17 Tage, die zu Stunden schmelzen
18 Welt am Wasser
19 Steventon, sinnlose Tage
20 Verrat
21 Dorfgespräche
22 Die Krähe lernt das Fliegen
23 The City of Bath, März 1803
24 Nachtmusik
25 Die Entscheidung
26 Abschied
27 Kent im Frühling
28 Godmersham Park
29 In derselben Nacht
30 Späte Zeit
31 Chawton, Hampshire, drei Jahre später
32 Windsor
33 Ein Glas Sherry
34 Acht Jahre später, Chawton House, 1816
35 Larraby Hall
Informationen zum Buch
Jane Austen
1
An diesem Morgen des Jahres 1896 kämpfte sich die Aprilsonne langsam durch Dunst und Wolken. Die Tropfen des letzten Schauers hingen noch auf den Eichenblättern. Die Vögel sangen, doch ohne Begeisterung.
Jane Austen ließ die Schreibfeder zwischen Ring- und Mittelfinger hin- und hergleiten. Ihr gedankenverlorener Blick richtete sich auf den Ginster, sie betrachtete die Pferde ihres Vaters, die die Weidekuppe so kahl fraßen, dass nur Wurzelwerk übrigblieb.
Die Pendeluhr zeigte Viertel nach sechs. Jane tauchte die Feder ein. Auf der Fensterbank saß ihre zerfledderte Puppe und sah genauso verfroren aus wie sie selbst. Sie hätte Feuer machen können, doch dann wäre der ›Engel des ersten Gedankens‹ fortgeflogen. Der Engel kam meistens, während Jane noch im Bett lag. Nicht immer war es ein Gedanke, manchmal ein Bild, eine Stimmung oder ein Wort. Dann musste sie das behagliche Bett sofort verlassen, sich an den kalten Schreibtisch setzen und dieses Wort niederschreiben. Hätte sie es nicht getan, wäre der Engel fortgeflogen und so verloren gewesen wie das Paradies.
Jane wusste nicht mehr, was ihr heutiger erster Gedanke gewesen war, denn es lag bereits eine vollgeschriebene Seite vor ihr. Ihr Blick schweifte zum Wilden Wein, der die Mauer emporkletterte. Überrascht beugte sie sich vor: Über Nacht waren dem braunen, winterlichen Gehölz erste Triebe entsprossen. Es würde nun nicht mehr lange dauern, bis das Pfarrhaus von Steventon vom Boden bis zum Dach ergrünte.
Elizabeth Bennet lief im strömenden Regen über eine steinerne Brücke und erreichte den Schutz des kleinen Tempels auf dem Hügel. Zwischen den Säulen trat MrDarcy hervor. Elizabeth erschrak über seine düstere Erscheinung: Sein schwarzes Haar, sonst gelockt, hing ihm strähnig in die Stirn, sein schwarzer Gehrock troff von Wasser. Bleich war er wie ein alter Mann, doch aus seinen Augen sprühte die Jugend.
Jane überlegte eine Weile, bevor sie MrDarcy sprechen ließ.
»Miss Elizabeth«, sagte er. »Die letzten Monate waren eine Qual. Gegen meine Vernunft, gegen die Erwartungen meiner Familie, auch im Wissen meines gesellschaftlichen Abstiegs komme ich heute zu Ihnen. Doch ich bin gewillt, all das außer Acht zu lassen, und bitte Sie, meiner Qual ein Ende zu setzen.«
Jane vollendete MrDarcys Rede mit einem Schnörkel und einem Punkt. Gerade wollte sie sich zurücklehnen und über Elizabeth’ Antwort nachdenken, doch sie beugte sich kurzentschlossen wieder nach vorn und tauchte die Feder ein. MrDarcy hatte seinen Worten noch etwas hinzuzusetzen:
»Ich liebe Sie.«
Den Satz aller Sätze sagte er ohne jeden romantischen Unterton, denn so war er nun einmal, der zurückhaltende, in sich verschlossene MrDarcy. Da Elizabeth Bennet ihn fassungslos anstarrte, setzte er hinzu: »Ich liebe Sie auf das Glühendste. Bitte erweisen Sie mir die Ehre und werden Sie meine Frau.« Der Regen ergoss sich schwer auf den Tempel, die grüne Welt verschwand hinter einer Wasserwand.
Jane Austen schrieb, was sie vor sich sah. Sie schrieb, was in dem wunderbaren Königreich ihres Kopfes geschah. Oder war es ihr Herz, worin alles seine erste Form fand? Führten Kopf und Verstand es nur auf den richtigen Weg, damit die Hand es aufschreiben konnte? Jane wollte das im Augenblick nicht entscheiden, da sich das Geschehen zwischen Miss Bennet und MrDarcy so wundervoll entwickelte.
Elizabeth antwortete beherrscht, doch ihre Augen widerlegten diese Ruhe. »Ich weiß Ihr Ringen zu würdigen, Sir. Falls Sie durch mich Gram und Schmerzen erlitten haben, tut es mir leid.«
Während Jane es niederschrieb, war sie überzeugt, dass nicht sie die Sätze erfand, es waren vielmehr Elizabeth’ ureigenste Worte.
Jane trank einen Schluck Holunderwein und ließ ihren Figuren freien Lauf. Die Feder flog nur so über das Papier.
»Sie weisen mich zurück?«, fragte MrDarcy. »Wollen Sie mich zum Narren halten?«
»Ich bin sicher, dass Ihnen die Beweggründe Ihres langen Ringens dabei helfen werden, über meine Absage hinwegzukommen, Sir.«
Jane lachte über Lizzys gewitzte Antwort.
MrDarcy wirkte täppisch und verwirrt. »Darf ich fragen, warum ich auf so unhöfliche Weise zurückgewiesen werde?«
»Ebenso gut könnte ich fragen, weshalb Sie mir auf diese beleidigende Art gestanden haben, dass Sie mich wider Ihre Vernunft lieben.«
Jane unterstrich diese Stelle und nahm sich vor, sie abends beim Vorlesen stimmlich hervorzuheben.
»Für meine angebliche Unhöflichkeit ist dies meine Entschuldigung«, fuhr Elizabeth fort. »Aber ich habe noch andere Gründe. Niemals könnte ich einen Mann zum Gemahl nehmen, durch den das Glück meiner Schwester für immer zerstört wurde. Können Sie leugnen, Sir, dass Sie ein junges liebendes Paar auseinandertrieben, indem Sie meine Schwester zum Gespött gemacht haben?«
»Das leugne ich nicht.«
»Sie leugnen es … nicht?!«
»Ich habe es aus der Überzeugung heraus getan, dass mein Freund MrBingley Ihrer Schwester gleichgültig war. Seine Zuneigung für sie war weit tiefer als die ihre zu ihm.«
Fassungslos entgegnete Elizabeth: »Meine Schwester ist von Natur aus schüchtern!«
An diesem Punkt hielt Jane inne.
Nun würde sie auf die komplizierte Vorgeschichte eingehen müssen, weshalb MrDarcy seinem Freund von einer Verbindung zu Elizabeth’ Schwester abgeraten hatte. Für die Schilderung dieses Gefühlsgeflechts war ein neuer Anlauf nötig, den sie erst nach dem Frühstück unternehmen wollte.
Ihre rechte Hand schmerzte, sie hatte wie im Fieber geschrieben. Fünf Seiten, du lieber Himmel, das war wirklich beachtlich. Sie dachte an Tage zurück, wenn sie vor einem leeren Blatt Papier gesessen, es angestarrt hatte, doch nicht die Spur einer Idee wollte sich einstellen, bis ihr Blick zum Fenster abgeschweift war, durch das man einen freundlichen Blick auf den Entenweiher hatte.
Das Grün da draußen kannte nichts Grelles, ein graues Grün im Dunst der Jahreszeit. Im Februar hatte es geregnet, im März gestürmt, nun im April ließ der Regen nach, doch die Sonne zog ihre Bahn weiterhin fast unsichtbar. Vieles war in Dunst gehüllt, der verriet, dass das Land sich zum Meer hin senkte. Inmitten der welligen Landschaft spürte man schon den Ozean. Die Grafschaft Hampshire war Farmland, Weideland und Hafenland; Southampton bestimmte den Handel mit der Welt. In Basingstoke wurde Bier gebraut, Winchester, die stolze Festung, war im 11. Jahrhundert Englands Hauptstadt gewesen.
Die Uhr zeigte kurz nach sieben, unten erwachte das Haus. Jane wollte ihrer Mutter beim Frühstück helfen. Obwohl kein Feiertag war, würde sie heute den herrlichen Schweineschinken auftischen. Im ganzen Haus roch es außerdem schon nach frisch gebackenem Brot. Das heiße Weißbrot und der saftige Schinken ließen Jane das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Ich brauche die Kutsche selbst«, sagte George Austen, ordinierter Pfarrer von Steventon, am Frühstückstisch.
Der Aufruhr unter seinen Kindern war groß. Janes Brüder hatten Verabredungen getroffen, zu denen sie mit der Familienkutsche fahren wollten, gaben sich aber zufrieden, als ihr Vater sagte, es sei chevaleresker, bei einer Dame hoch zu Ross vorzusprechen. Cassandra, Janes ältere Schwester, hielt ihren Protest aufrecht. In ihrem neuen Kleid könne sie unmöglich reiten.
»Was ist denn so Besonderes an dem neuen Kleid?«, fragte George Austen gewitzt. Er hatte graues Haar, das er schulterlang trug, was nicht verbarg, dass sein Haupthaar zurückwich und die Denkerstirn jedes Jahr höher wurde. Da er die Koteletten bis ans Kinn wachsen ließ, hätte er genauso gut einen Bart tragen können, doch Reverend Austen fand, für einen Priester geziemte sich kein Bart.
»Das Kleid … Nun ja, es knittert leicht«, antwortete Cassandra ausweichend.
»Sollte dieses Kleid möglicherweise auf dem Frühlingsball in Oakley Hall seine feierliche Premiere erleben?«, setzte der Vater seine Nadelstiche fort.
»Papà …? Du wusstest, dass ich auf den Ball gehe?«
»Wenn ich in meinem Haus seit Tagen Seide rascheln höre und Spitzenbänder auf der Wäscheleine sehe, liegt der Schluss nahe, dass meine Töchter am Wochenende etwas vorhaben.« Er ließ sich die Butter reichen. »Trotzdem brauche ich die Kutsche selbst. In meinem Alter ist der Weg nach Andover zu Pferd zu anstrengend.« Cassandra wollte erneut widersprechen, er hob die Hand. »Falls ich rechtzeitig zurückkomme, könnte ich dich und deine Schwester abholen und bei den Oakleys absetzen.«
Die Idee zauberte ein Lächeln auf Cassandras Gesicht, das sich jedoch gleich wieder verdüsterte. »Jane will nicht mitfahren«, murrte sie.
Der Vater wandte sich an seine jüngste Tochter. »Wie kommt das? Unsere Grafschaft ist mit Unterhaltungen weltlicher Natur nicht gerade gesegnet.«
»Ich finde ausreichend Unterhaltung in deiner Bibliothek, Papà.« Jane richtete sich einen Teller mit einer dicken Scheibe Schinken und Weißbrot an.
»Der Oakley-Ball bietet eine treffliche Gelegenheit für junge Damen, junge Herren kennenzulernen«, erwiderte der Reverend.
»Was bei den Oakleys in Oakley Hall stattfindet, ist der reinste Heiratsmarkt. Ich mag mich nicht begutachten lassen wie eine Kuh.«
Der Vater schmunzelte. »Die Bullen der Grafschaft müssen sich ja auch begutachten lassen.«
»MrAusten, Ihre Sprache«, wies ihn seine Frau Cassandra zurecht. Die Mutter von acht Kindern hatte zu ihrer Zeit als Schönheit gegolten und Aussicht auf prächtige Heiratspartien gehabt. Als ihre Wahl auf den armen Theologiestudenten fiel, war sie einigem Unverständnis begegnet. Über die Jahre waren die Menschen in Steventon überzeugt worden, nie eine glücklichere Ehe erlebt zu haben. Gerade so sollte die Liebe aussehen wie bei Cassandra und George Austen. Wenn der Reverend nach dem Frühstück in die Kirche ging, nahm er das Glück seiner Liebe dorthin mit und dankte Gott dafür. Jedermann wusste, dass es zeitloses Glück nicht gab, doch die Austens schienen an dieses Ideal nahe heranzureichen.
Jane kam nach ihrem Vater. Sie besaß seine Hingabe für Sprache und Literatur, auch seinen stillen, manchmal boshaften Humor. Mehr als alles aber hatte Jane sein hohes Liebesideal geerbt. Sollte es ihr nicht gelingen, einen Mann zu finden, mit dem die Ehe ein ähnlicher Weg ins Glück zu werden versprach wie für ihre Eltern, wollte sie lieber allein bleiben. Gefördert und unterrichtet durch den Vater, hatte sie schon im Kindesalter erkannt, dass die Welt der Fantasie oft die schönste Wirklichkeit übertraf.
»Falls du es dir noch überlegst, kann ich dir Spitzen an das himmelblaue Kleid nähen«, sagte die Mutter. »Du solltest hinfahren, Jane. Ich habe MrWitherton sagen hören, er würde gern die Quadrille mit dir tanzen.«
»MrWitherton wird bei der Quadrille über seine großen Füße stolpern«, antwortete Jane.
»Große Füße hat er«, gab die Mutter zu. »Riesige Füße sogar. Der Schuster dürfte bei ihm doppelt so viel Leder gebraucht haben.«
»Leider sind seine Füße das einzig Außergewöhnliche an MrWitherton«, seufzte Jane. »Er ist wahrscheinlich der langweiligste Mann in Hampshire.«
»In ganz England«, korrigierte Vater George.
»Indien und die Kolonien mit eingerechnet«, stimmte Schwester Cassandra zu.
»MrWitherton ist unverzichtbarer Bestandteil der Zufriedenheit seiner Tante, der reichen Lady Pommeroy«, ging die Mutter dazwischen. »Ihr Vermögen ist Legende, und MrWitherton wird es eines Tages erben. Daher ist er in meinen Augen ein hervorragender Gentleman, und es trifft sich ausgezeichnet, dass er die Quadrille mit dir tanzen will – große Füße oder nicht.«
Jane warf das angebissene Brot auf den Teller. »Ich lasse mich für Mr Witherton nicht vorführen wie eine Zuchtstute.«
»Vorhin warst du eine Kuh, jetzt bist du eine Zuchtstute?«, lachte der Vater. »Mir scheint, wir bekommen Vollmond, da meine Tochter sich zu so tierischen Vergleichen herablässt.«
»Ich habe die Quadrille MrFowles versprochen«, rief Schwester Cassandra in die Runde, da sie fand, die Aufmerksamkeit richte sich zu sehr auf Jane.
»Das versteht sich von selbst.« Der Vater schnitt mehrere Scheiben Schinken auf. »Weil er dich heiraten wird.« Er spießte ein prächtiges Stück für sich auf.
»Papà! Wie kommst du dazu …? Es ist noch gar nicht sicher …!«
»Zu meiner Zeit waren junge Männer in Liebesangelegenheiten unternehmungslustiger«, seufzte George. »Wie lange holt dich MrFowler inzwischen schon zu Spaziergängen ab? Wie viele Sonntage hat er an unserem Familientisch verbracht? Wie viele Vergissmeinnicht will er noch zwischen die Seiten seiner Briefe pressen, bevor er sich entschließt, das entscheidende Wort an mich und schließlich an dich zu richten?«
»Papà …« Cassandra wurde puterrot. »MrThomas Fowles ist ein vornehmer, edler Charakter, der in seinem Werben um mich nichts übereilen will!«
»Etwas weniger Edelmut und mehr Courage würde unser aller Nerven nicht auf eine derartige Zerreißprobe stellen.«
»Welche Zerreißprobe?«, mischte Jane sich ein.
»Ich habe sechs Söhne und zwei erwachsene Töchter. Aber keine von ihnen schickt sich an, das Haus zu verlassen. Zum Glück hat euer Bruder Henry inzwischen bei der Armee angeheuert, die von nun an für seine Verköstigung aufkommt. Ihr Mädchen würdet das Leben eines armen Gottesdieners erleichtern, wenn ihr dafür sorgtet, dass sich andere Gentlemen um euch kümmern als ich.«
»Das klingt, als wolltest du uns aus dem Haus haben«, rief Cassandra.
»Das klingt nicht nur so.« George Austen breitete die Arme aus. »Es ist der erklärte Wunsch eurer Mutter und mir! Ich schätze MrFowles«, fuhr er versöhnlicher fort. »Er war mein Schüler und wird bald einen genauso armen, aber trefflichen Priester abgeben wie ich. In nächster Zeit wird die Pfarre in Andover frei. Morgen fahre ich dorthin, um mich für ihn einzusetzen, und dafür brauche ich die Kutsche.«
Der Vater griff zum Wochenblatt, das er erst zur Hälfte gelesen hatte. »Wenn du nicht auf den Ball gehen willst, Jane, werde ich dich nicht dazu zwingen.«
Mutter Cassandra ließ das Thema noch nicht los. »Nur wenn unsere Mädchen heiraten, bevor du stirbst, MrAusten, was übrigens jederzeit geschehen kann, wären sie der Gefahr enthoben, alte Jungfern zu werden.«
Jane ließ sich gegen die Lehne sinken. »Mamà, es ist erst neun Uhr morgens. Kannst du uns nicht wenigstens beim Frühstück mit deinen Heiratsfantasien verschonen?«
»Du kennst unsere finanzielle Lage, Jane. MrWitherton ist Lady Pommeroys Lieblingsneffe, eines Tages wird ihm halb Basingstoke gehören.«
Bruder Henry saß in Uniform am Frühstückstisch, roter Filz, gelbe Aufschläge, die Schulterstücke eines Fähnrichs. Gelassen zog er einen Brief hervor. »Der kam übrigens gestern«, murmelte er zwischen halb geschlossenen Lippen.
»Was steht drin?«, fragte Jane.
Statt einer Antwort schob er ihr das gefaltete Papier über den Tisch.
Jane las. »Er ist von Cousine Eliza!«
»Die Baronesse schreibt uns?«, rief die Mutter.
»Mir. Sie schreibt mir«, korrigierte Henry.
»Sie kommt! Sie kommt für den Ball nach Oakley!« Jane lachte.
»Ist sie denn nicht in Trauer?«, staunte die Mutter. »Ihr Gatte wurde erst kürzlich hingerichtet.«
»Der Comte de Feuillide hatte seine Verabredung mit der Guillotine bereits vor einem Jahr«, stellte der Vater richtig.
Henry nickte. »Somit ist das Trauerjahr vorbei.«
»Cousine Eliza wird morgen bei den Oakleys sein!« Jane gab den Brief zurück. »Mamà, könntest du mir bitte die Spitze an das himmelblaue Kleid nähen?«
2
In langer Reihe hielten die Kutschen vor dem Hauptportal. Lakaien halfen den Damen mit ihren komplizierten Rocksäumen beim Aussteigen, während die Gentlemen vorausgingen. Um die Umständlichkeiten der Ladys hatte sich die Dienerschaft zu kümmern. Die Farben der Herren waren Dunkelblau und Schwarz, leuchtend unterbrochen durch die roten Waffenröcke der Offiziere Seiner Majestät, George III., dessen fünfunddreißigstes Thronjubiläum man in diesem Jahr beging. Die Krawatten waren weiß, die Westen übertrumpften einander in gewagten Farben. Die Besucher näherten sich dem Gebäude vorbei an zwei Springbrunnen. Den Mitteltrakt flankierten zwei runde Erkertürme, über denen der Union Jack und die Fahne der Oakleys wehten, ältestes englisches Blut, urkundlich erstmals 1299 erwähnt.
Es dauerte eine Weile, bis die Gäste sich durch das Nadelöhr des Empfangs hindurchgezwängt hatten und in die Säle ergossen. Auf Dutzenden Lüstern waren Tausende Kerzen angesteckt worden. Zwei Flöten, drei Geigen und ein Basso continuo spielten zum Empfang.
Jane Austen und Cassandra gehörten nicht zu den Frauen der gehobenen Kreise, um deren Gunst an diesem Abend gebuhlt werden würde; sie besaßen nichts und würden nichts erben. Aber sie waren jung und leidlich hübsch, was ihrer beider Aufmachung in Cremefarben und Himmelblau ansprechend zur Geltung brachte.
Lady Isabella Pommeroy kam das Privileg des alleinigen Sitzplatzes auf der Chaiselongue zu, die gut und gern vier weiteren Damen Platz geboten hätte. Die Countess erschien altersgemäß in Schwarz, trug keine Perücke, sondern ihr aschgraues Haar im Nacken zum Dutt gebündelt. Hinter ihr stand ihr Neffe, MrPercival Witherton. Als er die Austen-Schwestern auf seine Tante zukommen sah, straffte sich seine Haltung.
Janes Blick huschte reflexhaft zu Boden. Selbst in den hohen Stiefeln wirkten MrWithertons Füße riesig. Mit einem Knicks bezeugte sie Lady Pommeroy ihren Respekt. »Guten Abend, Mylady.«
Die Countess hob lediglich das Kinn.
MrWitherton verbeugte sich vor den jungen Damen. »Sie sehen mich froh, Sie heute auf dem Ball …« Er stockte. »Ich meine, dass … der Ball durch Sie … dass mich auf diesem Ball …« Der Satzbau überforderte ihn, er hatte sich verhaspelt und presste resignierend die Lippen aufeinander. Lady Pommeroy seufzte.
»Ich weiß, was Sie meinen, Sir«, half Jane ihm weiter. »Dieser Ball ist ein unverzichtbarer Segen für die Jugend der Gegend, auf dem in angeregter Atmosphäre vielerlei Unterhaltung möglich ist, gepaart natürlich mit größtmöglichem Anstand«, schloss sie mit Blick zu Lady Pommeroy.
»Genau das wollte ich sagen.« Witherton lächelte erleichtert.
Jane strebte mit ihrer Schwester weiter in den Saal. Die Lakaien hielten Tabletts mit Schaumwein und Burgunder bereit. Die Austens stießen an und tranken den ersten befreienden Schluck. Janes Augen suchten Bruder Henry, da sie an seiner Seite Eliza de Feuillide zu entdecken hoffte.
Die entfernte Cousine war Janes Vorbild. Sie hatte sich nicht nur ebenfalls der Leidenschaft des Romanschreibens ergeben, sondern sogar eine Veröffentlichung ihres Werkes erwogen. Eine Frau als Verfasserin eines Romans – gab es eine kühnere und utopischere Vision? Jane hielt ihre eigenen Fantasieprodukte in einem Reisekoffer unter dem Bett verschlossen, der von den vielen dicht beschriebenen Seiten bereits überquoll.
Vor sechs Jahren war Eliza aus Liebe nach Frankreich übersiedelt und hatte den reichen Armee-Capitaine Capot de Feuillide geheiratet und damit den Titel einer Baronesse erlangt. Mit Fortschreiten der Französischen Revolution hatte der Capitaine sie beschworen, zu ihrer Sicherheit nach England zurückzukehren, gerade noch rechtzeitig, bevor er selbst, der standhafte Monarchist, seine Verabredung mit Madame de Guillotine antrat.
Janes Suche nach Eliza wurde unterbrochen, als der Zeremonienmeister mit seinem Stab dreimal auf den Boden klopfte. »Meine Lords, Ladys und Gentlemen, ›The Grand Visius Flight‹!«
Dies war der Name eines neuen Tanzes, von dem die ältere Generation sich fernhielt, da es bei den verschlungenen Figuren mitunter zu Verletzungen kam. Während sich die Paare fanden, entdeckte Jane den roten Waffenrock ihres Bruders, der auf eine Dame in Lindgrün zuging, die niemand anders als die Baronesse war! Als Jane sich durch das Menschenknäuel drängte, stieß sie ohne Vorwarnung mit einem Herrn zusammen, der in die Gegenrichtung strebte. Die Wucht des Zusammenpralls hätte sie zu Sturz gebracht, wäre die Hand des Gentleman nicht schneller gewesen. Kräftig wie ein Artist packte er sie und zog sie ohne Mühe mit nur einem Arm auf die Füße zurück.
»Uihh!«, entfuhr es Jane, ein kindlicher Ausruf, der ihr sofort peinlich war. »Danke, Sir, es war meine Schuld.«
»Ich war zu ungestüm. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung entgegen.« Er ließ sie los und verbeugte sich.
»Ich hatte meine Augen woanders. Die Entschuldigung muss daher meinerseits erfolgen.« Sie knickste.
»Ich hätte Sie verletzen können. Meine Bitte um Verzeihung bleibt bestehen.« Verbeugung.
»Ihr Benehmen war ritterlich.« Ein weiterer Knicks. Jane begann zu grinsen. »Sie wissen, dass wir nicht miteinander sprechen dürfen, ohne einander vorgestellt worden zu sein.«
»Und doch tun wir es. Welch ein Dilemma.«
»Dem ich nun entfliehe.« Sie verbeugte sich abschließend und suchte ihren Bruder.
Der ›Grand Visius Flight‹ begann. Dutzende Paare nahmen die Herausforderung an. Am Rand des Geschehens beobachtete Jane bewundernd, wie geschmeidig ihr Bruder und die Baronesse sich in den Figuren wiegten. Es war ein verzücktes Hüpfen, dem ein Gehen im Kreis folgte, Verschlingungen der Arme, ein Seitwärtsspringen, Gegenüberstellung, das Tauschen der Partner in einer Achterbewegung und immerfort diese Sprünge. Im Geist machte Jane die Abfolge mit, falls sie später Gelegenheit zum Tanzen bekommen sollte.
Ein Schatten schob sich zwischen sie und die Tanzenden. Riesenhafte Füße in schweren Stiefeln. Jane hatte eine schlimme Befürchtung.
»Ach, MrWitherton?«
»Miss Austen, erweisen Sie mir die Ehre für diesen Tanz?«
»Ich war der Annahme, wir würden uns für die Quadrille aufsparen.«
»Ich habe die Schritte des ›Grand Visius‹ besonders gewissenhaft geübt.«
Da ihr keine weitere Ausrede einfiel, willigte sie ein. MrWitherton führte Jane auf die Tanzfläche, wo Eliza de Feuillide ihrer Cousine übermütig zuwinkte.
Nach einigen Stellungswechseln befanden sich die vier in der Position, den ›Grand Visius‹ als Quartett zu tanzen. MrWitherton trat auf die Baronesse zu, sie drehten sich im Kreis, was Jane und ihrem Bruder die Gelegenheit gab, das Gleiche zu tun. Zwei lange Reihen entstanden, die Frauen tauschten mit den Männern die Plätze, bis das Gehüpfe von neuem losging. Jane hüpfte fröhlich, Henry tat es markig, Eliza leichtfüßig. MrWitherton hüpfte nicht, er sprang. Seine riesigen Füße erhoben sich in die Lüfte, verharrten dort einen Augenblick, bevor der rechte ungebremst auf dem zarten blauen Ballschuh von Jane landete. Sie schrie und krümmte sich vor Schmerz.
»Oh«, sagte MrWitherton. »Oh. Ich bin …«
»Was sind Sie denn?!«, fuhr sie ihn schmerzerfüllt an. »Beschämt? Untröstlich? Verdammungswürdig? Tölpelhaft?«
Überfordert nickte MrWitherton einfach nur. Das Ende des ›Grand Visius Flight‹ beendete die Pein für Jane und ihn. Er verbeugte sich. »Es tut mir so leid, Miss Austen. Ich habe geübt und geübt, aber es bleibt einfach nichts hängen.«
Während er sich zurückzog, eilte die Baronesse Jane zu Hilfe. Auf ihre Cousine gestützt, hinkte Jane zur nächsten Bank. Gerade wollten sich die Frauen in ihre erste Unterhaltung seit Monaten stürzen, als Jane den fröhlichen Ruf ihres Bruders hörte:
»Hallo, Tom!« Henry marschierte auf einen anderen jungen Mann zu, sie lagen einander lachend in den Armen.
In demjenigen, den ihr Bruder begrüßte, erkannte Jane den Ballgast wieder, der ihren Sturz vorhin abgefangen hatte. Er trug Bordeauxrot, dunkel wie Blut, was darauf hinwies, dass er nicht vom Land kam, sondern sich an der Londoner Mode orientierte. Kein Zweifel, Henry und dieser Tom waren gute Freunde.
3
Das Lady Parrot, Londons größtes Etablissement dieser Art, beherbergte nicht nur Salons für freudvolle Stunden. Im zweiten Untergeschoss wurden Hundekämpfe ausgetragen; an Wochentagen ließ man Ratten aufeinander los. Im ›Gentlemen’s Room‹ trafen sich Herren von Stand für freundschaftliche Ring- und Boxkämpfe, die blutig werden konnten.
Thomas Langlois-Lefroy war ein ehrgeiziger und gefürchteter Boxer, weshalb kaum einer gegen ihn antreten wollte. In früher Jugend bereits von ungewöhnlicher Stärke, hatte er als Äquilibrist im Zirkus den Untermann gemacht, auf dessen Schultern sechs andere standen. Sein reicher Großonkel Benjamin Langlois-Lefroy verbot Tom jedoch Sportarten, die mit öffentlicher Zurschaustellung verbunden waren.
Tom Lefroy war in Irland aufgewachsen und hatte auf Einladung seines Großonkels, des Richters an den Royal Courts of Justice, das Studium der Rechtswissenschaften begonnen. Ohne Wissen seines Gönners beteiligte er sich nachts an Faustkämpfen im Lady Parrot und suchte die Bekanntschaft der dortigen Frauen. Dort lernte er auch Fähnrich Henry Austen kennen, der ähnliche Entspannung suchte. Das war durchaus üblich, denn eine andere Möglichkeit, Liebesvergnügen außerhalb der Ehe zu finden, gab es nicht.
»Ein Glas Wein, Sir?«, rief Camilla, die Hetäre.
Tom trat aus dem Gentlemen’s Room, wo er von einem Landedelmann mächtig Prügel bezogen hatte. Tom war von der Taille aufwärts nackt und trug seine Kleidung über dem Arm.
»Wein nur von Ihren Lippen, Madam.« Er brachte Camilla dazu, einen Schluck Wein zu nehmen und in seinen Mund rinnen zu lassen. Als Austen zu ihnen trat, fragte Tom: »Hast du dein Schwert heute schon eingetaucht, Henry?«
»Da ich morgen früh beim Regiment antreten muss, kasteie ich mich.«
»Kasteie dich doch lieber beim Regiment, mein Bester. Camilla hat mich auf ein italienisches Liebesfest eingeladen, das in diesem Moment nur wenige Straßen entfernt im Gange ist.«
Henry war leicht umzustimmen. Gemeinsam mit Camilla besuchten sie das Fest und verließen es erst am hellen Morgen. Henry nahm einen Wagen zu seiner Kompanie, Tom küsste Camilla, stülpte seine weiße Perücke über und eilte auf den Campus, wo er sich während einer Vorlesung über den Schutz des Privateigentums verborgen hinter Büchern ausschlief. Wie groß war sein Schrecken, als ihn am Ende der Stunde eine düstere Gestalt unter der Gewölbedecke der Wandelhalle erwartete. Tom musste erst den Schlaf aus seinen Gliedern schütteln, um Richter Benjamin Langlois-Lefroy angemessen zu begrüßen.
»Wozu dient Ihr Aufenthalt in London, Sir?«, begann der Richter ohne Vorrede. Da er zwischen zwei Verhandlungen war, trug er die rote Robe und seine lange weiße Perücke.
Der Unterton des Onkels ließ Tom die Richtung des Gesprächs erahnen. »Ich erfreue mich Eurer Protektion, Sir, um hier den Dienst am Recht zu erlernen.«
»An der Rechtsprechung«, korrigierte Benjamin Langlois-Lefroy. »Und die Rechtsprechung richtet sich gegen wen?«
»Gegen den Pöbel, Sir.«
»So ist es. Wir sprechen Recht, um Ordnung und Ruhe im Königreich aufrechtzuerhalten. Wie halten wir diese Ordnung aufrecht, Sir?«
»Mit Hilfe unserer Gerichte und unserer Armee«, gab Tom die Leitsätze aus dem Lehrbuch wieder.
»Nein. Wir tun es mit Anstand, Ehre und unseren vererbten Manieren. Kennen Sie diesen Ausdruck überhaupt – Manieren?«
»Er ist mir vertraut, Onkel.«
»Warum machen Sie dann keinen Gebrauch davon?« Der Richter wurde von vorbeieilenden Juristen gegrüßt und nickte zurück. »Ich selbst wurde reich geboren, besaß aber die Fähigkeit, reich zu bleiben. Ich tat es mit Hilfe einer außergewöhnlichen Tugend; ihr Name ist Zurückhaltung. Meiner Schwester, Ihrer Mutter, fehlte diese Tugend, Sir. Weil sie den falschen, einen flatterhaften Mann geheiratet hat, ist sie folgerichtig verarmt.«
»Meine Mutter hat meinen Vater geliebt«, gab Tom zurück.
»Das mag sein«, antwortete der Richter mit bösem Spott. »Deswegen haben Sie wohl auch so viele Brüder und Schwestern zu Hause in Limerick.« Benjamin winkte ihn näher. »Falls Sie hoffen sollten, Ihre Familie nach meinem Tod unterstützen zu können, indem Sie Erbe meines Besitzes werden, müssen Sie sich um einiges würdiger erweisen. Meine Nachforschungen haben bei Ihnen keine Würde gefunden, sondern nur Ausschweifung, Verfehlung, Großspurigkeit, Verschwendung und Glücksspiel. Was für eine Art von Rechtsanwalt soll eines Tages aus Ihnen werden, Sir?«
»Ein typischer.« Tom bereute die Antwort augenblicklich, denn nun wurde sein Großonkel deutlicher.
»Höre ich da Ironie? Sie sind dafür berüchtigt, Sir. Nun, Sie werden einiges an Ironie brauchen, um sich mit dem abzufinden, was Sie nun hören sollen. Ich sende Sie mit dem heutigen Tag zu Ihren anderen Verwandten, den Lefroys in Hampshire, um dort Wohnung zu nehmen.«
»Den … anderen Lefroys, Onkel?« Bei dem Gedanken wurde Tom heiß und kalt. »Bitte bedenken Sie, diese leben in einer Gegend, wo es nur Wiesen gibt, Äcker und Forste. Sie leben praktisch im Wald!«
»Ja, im hintersten Hinterwald.« Der Onkel grinste gehässig. »Dort wird Euch nichts mehr von Euren Studien ablenken.«
So kam es, dass Tom Lefroy London verlassen musste und in die Idylle Hampshires verbannt wurde, wo er glücklicherweise seinen guten Freund Henry Austen wiedertraf, den er auf dem Ball der Oakleys in Oakley Hall herzlich umarmte.
Während sich Jane Austen ihren Fuß von der Baronesse de Feuillide massieren ließ, ruhte ihr Blick auf dem Freundespaar. »Kennst du den jungen Mann, mit dem Henry sich so angeregt unterhält?«
»Das muss Tom sein«, antwortete Eliza. »Henry schrieb mir, er und Tom hätten in London manch angeregte Konversation geführt.«
»Tom – und wie weiter?«
»So viel Interesse an einem Unbekannten, Cousine?«, stichelte Eliza.
Der Zeremonienmeister kündigte die Quadrille an. In Begleitung seines Freundes näherte sich Henry Austen den Damen.
»Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Freund, den angehenden Juristen MrThomas Lefroy vorzustellen, Baronesse? Und das ist meine Schwester Jane Austen – MrLefroy.«
»MrLefroy –« Jane neigte den Kopf.
»Ich würde es als Zeichen besonderen Wohlwollens erachten, wenn Sie mir die Ehre des nächsten Tanzes erweisen würden, Miss Austen.« Lefroy machte eine vorbildliche Verbeugung.
»Mit Vergnügen, werter Sir.«
»Aber Jane, dein Fuß«, wandte Eliza ein. »Gerade war er noch violett.«
»Selbst mit einem violetten Fuß möchte ich die Quadrille nicht verpassen.«
Zu viert begaben sie sich auf die Tanzfläche.
MrLefroy erfüllte nicht nur die Erfordernisse der korrekten Figurenfolge, sondern auch ein Kriterium, das viele Männer überforderte: neben der Bewegung noch geistreiche Konversation zu betreiben.
»Da Sie mir als allererste Partnerin gegenüberstehen, Miss Austen, bedanke ich mich stellvertretend bei Ihnen für die Gastfreundschaft, die mir in Hampshire entgegengebracht wird.«
Während eines dreifachen Positionswechsels erwiderte sie: »Da die Quadrille, anders als in London, als ländlicher Tanz betrachtet wird, schließe ich daraus, dass Sie dem Landleben zur Zeit den Vorzug geben?«
»Ist Ihnen bekannt, dass unser englischer Ausdruck country dance vom Französischen contre danse abgeleitet wird, was aber nichts Ländliches meint, sondern eine Gegenüberstellung von Mann und Frau ausdrückt?«
Sie standen einander tatsächlich gegenüber. »Die Missverständnisse zweier verbrüderter Sprachen«, lächelte Jane. »Während der Engländer an Landschaft denkt, meint der Franzose die Rivalität der Geschlechter.«
»Schließen Sie sich dieser Meinung an, Miss Austen?«
»Welcher Meinung, MrLefroy?«
»Dass Mann und Frau auf die Erde gesetzt wurden, um einen Kampf auszufechten?«
»Ich bin die Tochter eines Pfarrers, Sir, der mir von Kindheit an die Liebe gepredigt hat. Aber wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen –«
»Unbedingt.«
»Der Schöpfer hat seinen göttlichen Geist in die Frauen gesenkt, damit sie imstande sein mögen, die Macht des Teufels in den Männern zu besiegen.«
Mit einem strahlenden Akkord endete der Contre Danse. Jane und Tom Lefroy vollführten eine chevalereske Verbeugung voreinander.
4
Jane schüttelte ihre schmerzende Hand. Seit fünf Uhr früh schrieb sie ohne Unterlass. Sie hatte das Wortgeplänkel mit MrLefroy so lebhaft in Erinnerung, dass sie den Dialog Elizabeth Bennet und MrDarcy in den Mund legte. Das Szenario dafür war der Speisesaal von Lady de Bourgh, die in Janes Geschichte stellvertretend für die Countess Pommeroy auftrat. Anders als Lady Pommeroy trug die fiktive Lady eine kunstvoll frisierte Perücke und ein Kleid aus violettem Damast. Auch sie hatte einen Neffen, der auf ihr Vermögen hoffte, MrDarcy. Er saß zu ihrer Rechten und löffelte Bärlauchsuppe. Ihm gegenüber Elizabeth, die von Lady de Bourgh über ihre Familienverhältnisse ausgefragt wurde. Jane gab dem Kapitel eine neue Wendung, indem sie Lady de Bourgh sagen ließ: »Miss Bennet, spielen Sie doch etwas für uns auf dem Klavier.«
Lizzys Künste auf dem Pianoforte mochten zu Hause angehen, nicht aber im Salon der Adeligen, die regelmäßig Liederabende und Konzerte veranstaltete.
»Die Musik ist mein höchster Genuss«, fügte Lady de Bourgh hinzu. »Hätte ich je ein Instrument erlernt, wäre aus mir eine Virtuosin geworden.«
Schreibend nickte Jane: Ja, so war sie, die gute Lady de Bourgh; jeder Gedanke, jeder Satz spiegelte nur ihr eigenes Selbst.
»Ich bitte Euer Gnaden, es mir zu erlassen«, erwiderte Elizabeth.
Doch die eiskalten Augen der Lady, das Schweigen der Abendgesellschaft ließen ihr keinen anderen Ausweg, als sich an das Hammerklavier zu setzen und sich tapfer durch eine kleine Melodie zu kämpfen. Währenddessen trat MrDarcy zu ihr an das Instrument.
»Wollen Sie mich mit Ihrer Präsenz beunruhigen, Mr Darcy?«
»Ich kenne Sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass meine Anwesenheit …«
Mitten im Satz brach Jane ab.
Nicht weil es ihr an Einfällen fehlte, sondern weil die Glocke sie daran erinnerte, dass Sonntag war und sie zum Gottesdienst gerufen wurde. Jane warf die Feder hin, Tinte spritzte auf ihr weißes Nachthemd. Dem Bett entstiegen, hatte sie sofort zu schreiben begonnen und nur frierend eine Decke übergeworfen. Sie sollte sich anziehen, musste aber in wenigen Sekunden auf ihrem Platz im Kirchengestühl sitzen, da ihr Vater in diesem Moment die Kanzel bestieg. Jane sprang auf. Als Notmaßnahme zog sie ihr Sonntagskleid über das Nachthemd.
»Der Charakter des weiblichen Wesens kommt am umfassendsten in ihrem Leben als Tochter, Schwester, als Hausfrau und Mutter zum Ausdruck«, hörte sie George Austen predigen, während sie Sekunden später mit gesenktem Kopf zu ihrer Familie auf die Bank schlüpfte.
»Das Weibliche ist gekennzeichnet durch sanfte Anziehungskraft, tugendhafte Liebe und …« Hier wandte sich George zu Jane. »Und Schaffenskraft in den frühen Morgenstunden.«
Sie dankte seinem Verständnis für ihr Zuspätkommen mit einem liebenden Blick.
»Wenn eine junge Frau vom Schöpfer die Gnade eines überlegenen Geistes erhalten hat, sollte sie das im täglichen Leben besser für sich behalten. Denn die Welt empfindet Verstand bei Frauen als Bedrohung. Verstand ist daher die trügerischste aller Begabungen«, schloss der Reverend.
Jane war sicher, außer ihr verstand niemand in der Kirche die wahre Bedeutung seiner Worte. Sie fühlte sich durch die direkte Anrede geehrt, zugleich aber ernüchtert von ihres Vaters Aussage. Sie hatte ja sonst nichts – nichts als ihren Geist und ihre Fantasie. Auf allen anderen Gebieten musste sie sich jeder Frau in der Grafschaft geschlagen geben.
In den liebevollen Worten ihres Vaters lag die Kehrseite der Medaille dessen, was Janes Mutter ihr ständig eintrichterte: Sofern sie nicht bald heiratete, würde sie bald am Ende sein. Für Janes weiteres Auskommen war kein Geld da. Das Wenige, was die Familie zur Seite legte, stand ihren Brüdern zu. Unverheiratet durfte Jane vom Leben so gut wie nichts erwarten. Wie oft hatte die Mutter ihr schon das Schreckgespenst einer alten Jungfer vor Augen geführt, einer lächerlichen Figur, von jedermann verspottet, die Zielscheibe der Dorflümmel, die ungestraft einen Stein nach ihr werfen konnten. In Flammenschrift stand Mutters Wahlspruch über Janes weiterem Schicksal: Eigenständigkeit und Wahrhaftigkeit einer Frau waren wünschenswert, Geld dagegen war unentbehrlich!
Nach dem Kirchgang wurde in Steventon traditionell Cricket gespielt, und der Morgen präsentierte sich perfekt dafür. Die Gemeinde traf sich auf dem Plateau über dem Dorf, wo das Frühlingsgras noch kurz genug war, um die Linien festzulegen und die Wickets aufzustellen. Die Wurflinien markierten die Enden des Pitches, während die Schlaglinie eine imaginäre unendliche Gerade darstellte. Auf Ehre und Gewissen befragt, hätte keiner auf dem Feld die wahren Regeln des Crickets erklären können; man spielte es eher im Ungefähren.
Zu Janes Überraschung fand sich auch Tom Lefroy ein. Er trug eine enganliegende Hose, geputzte Stiefel und eine buntgemusterte Weste. Zum Tragen einer Krawatte hatte er sich nicht entschlossen.
Das erste Inning wurde zwischen Lefroy und Henry Austen ausgelost. Den Ball in der Hand betrat Tom den Pitch. »Bereit, MrAusten?«
»Bereit, MrLefroy!« Neben dem Wicket fasste Henry den Schläger mit beiden Händen.
Die Leute aus Steventon hatten ihre Wickets selbst angefertigt: Drei Stangen ragten 28 Zoll aus dem Boden, auf ihnen waren zwei Stöckchen, die Bails, aufgelegt. Tom nahm Anlauf und schleuderte den Ball kraftvoll gegen den Schlagmann. Kaum jemand wäre der Wucht seines Wurfes gewachsen gewesen, doch Henry, der gedrillte Soldat, holte aus, traf den heranrasenden Ball und rannte los.
Jane saß neben ihrer Cousine Eliza, die trotz des bedeckten Himmels ihren Teint durch einen Sonnenschirm schützte. Hinter sich spürte Jane die stille Präsenz MrWithertons, der den weiten Weg vom Herrenhaus der Pommeroys nicht gescheut hatte, um sie wiederzusehen. Wie üblich sprach er kaum ein Wort, stand nur mit verhangenem Blick da, Wind in seinem aschblonden Haar, und betrachtete Jane.
Er war nicht der Einzige, der ein Auge auf sie hatte. MrPhilipp Trevelyan aus Cornwall wirkte in seinem schwarzen Samtrock wie eine überdimensionale Krähe. Tollpatschiges Auftreten vermochte Jane normalerweise zu rühren, doch bei MrTrevelyan paarte sich Ungeschick mit Überheblichkeit.