Ein Chinese in Rom - Ulrich Holbein - E-Book

Ein Chinese in Rom E-Book

Ulrich Holbein

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Beschreibung

Ulrich Holbein (1953 in Erfurt) lebt im nordhessischen Knüllgebirge. Bekannt wurde er u.a. durch seine Kolumnen und Artikel in der ZEIT, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung. Er ist Autor von 950 Publikationen, davon 24 in Buchform. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Kasseler Literaturpreis. Im Haffmans Verlag erschien 2007 sein Buch Weltverschönerung.

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ULRICH HOLBEIN

EIN CHINESE IN ROM

Jean Paul und Goethe:Ein untendenziöses Doppelporträt

Mit zahlreichen Abbildungen

HAFFMANS & TOLKEMITT

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage, Februar 2013.

Copyright © 2013 Verlage Haffmans & Tolkemitt, Inselstraße 12, D-10179 Berlinwww.haffmans-tolkemitt.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Herstellung von Urs Jakob, Werkstatt im Grünen Winkel, CH-8400 Winterthur.

Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten.

E-Book Konvertierung: Exemplarr Worldwide Ltd.,Chennai, India.

ISBN 978-3-942989-27-5

ISBN 978-3-942989-47-3

Inhalt

SZENEN EINER BEINAHE-FREUNDSCHAFT – IM ZEITRAFFER

PEGASUS UND MUSENKUSS

Goethes GeburtJean Pauls FötusidealeMorgenlandsehnsucht in KinderschuhenNatur – mit allen treibt sie ein freundliches SpielJugend ist Trunkenheit ohne Wein

WELT UND WURM VOR SONNENAUFGANG

Was taten W. Goethe, 31, und J.P.F. Richter, 17, im Jahr 1780? StichprobeWeltseele und Erdgeist im FlugsimulatorWonniger Pantheismus mit Wurm und WürmchenWar Jean Paul Oberfranke oder Inder?

WORTSCHWALL UND TIEFSINN

Dichter lieben nicht zu schweigen – ingeniöse WortjongleureBlauer Himmel – oder angeblicher Himmel?Sturm und Drang und Druck und Klang und Schall und Qualm und Quark und Dreck und Licht

VORAHNUNGEN IN STARTLOCH UND WARTEZIMMER

Was taten Goethe, 41, und Jean Paul, 27, im Jahr 1790? StichprobeSie sind berühmt – es hat sich nur noch nicht herumgesprochenDrei Newcomer in Vorzimmer und WarteschleifeKußgenie schickt Zweitbuch und will Goethe küssenSchwere Stunde – Nahkampf mit BockshirschSofortiges Dioskuren-GeklüngelBarockroman versus edelbleiche KunstweltAntipoden mit Gemeinsamkeiten sind eigentlich DioskurenJugendidol versus Symphaticus – einige Unterschiede

EIN CHINESE IN ROM – JEAN PAUL IN WEIMAR

Sommer 1796 – Abendstern landet im MusenhofJean Paul, pochenden Busens, als Claqueur herrlicher GoethelyrikDas meistgelesene deutsche Buch – ›Werther‹ oder ›Hesperus‹?Cherub Schiller und das MondkalbKein Türke vor Wien – ein Quasi-Chinese im thüringischen Rom und BethlehemKauft nicht bei Chinesen! Ausländer raus!Kurz-Exkurs: Ein Römer in Kambaluk, ein Chinese in Mulastahanapura und ein Bayer in IndienDrei Chinesen in RomChinesische Argumente gegen »Gräcomania«Wenn dichtende Staatsbeamte satirisch sein wollenGoethes absurde Initialzündung – ausgelöst von Jean PaulZwischenbilanz Nr. 1: Geschlossene Gesellschaft mendelte Blödelbarden ausZwischenbilanz Nr. 2: Heimlicher Dichterfürst mischte Beam-tenstaat auf

SPOTTLUST UND IRRLICHT UND HIRNKRAMPF

Idealer Ausgleichssport: GoetheüberbietungSeitenhiebe und Retourkutschen 1797: Kunstrat Fraischdörfer versus SumpflichtDer edle Freund Jean Paul siedelt um – nach WeimarBrechreiz im Nebenzimmer, schlimmer als bei SauerkrautSchlagabtausch 1799: Jean Pauls kecke Zudringlichkeit – und Goethes umgedrehter SpießVier Turmspitzen der Literatur, nachträglich zurückversetzt ins Rokoko

GÖTTER SIND AUCH NUR MENSCHEN

Höhenflug und Bauchlandung im FettnapfWie aber sahen sie eigentlich aus? Idealisierung und ÄhnlichkeitDann verschwanden die Augen im Fett der BackenÜberdeutlich unterlegen – schwache Minuten und Stunden

BUSENFEINDE IM KLEINKRIEG

Was taten Goethe, 51, und Jean Paul, 37, im Jahr 1800 f.? StichprobeDie äußerst kleine Sünde des Johann Adam KochGoethe stolpert über Jean Pauls stöhnende ScheinleichenOb sie wollten oder nicht – schon wieder friedlich vereint!Was taten Goethe, 61, und Jean Paul, 47, im Jahr 1810? StichprobeAnimositäten auf UmwegenWerkentfaltung – Meilensteine – Doppelgipfel Goethe lobt alle – Jean Paul tadelt GoetheSittenrichter schwingt Moralkeule gegen RomancierUnbefolgtes Geheimrezept

WEINEN UND LACHEN UND SEXUS

Wer nie Jean Paul mit Tränen lasDichterpriester versus Hordenclown, zwischen Lachkultur und WelthumorErhebt er sich zu allen seinen Prachten! Wer war prüder – im Chorus geiler Brüder?

STARKER TOBAK – HALBES LOB

Literaturkritiker Garlieb Merkel contra Goethe und Jean PaulWas taten Goethe, 71, und Jean Paul, 57, im Jahr 1820?Was in Goethes Antwortbrief gestanden hätte»Ohne die mindeste Ausartung« – endlich ein Silberstreif am Horizont?Plötzlich könnte man sie verwechselnÜber uns und mich – Wir-Gefühl und Ich-AussagenWeltberühmtes Dreigestirn in Amerika – und es hat sich sogar herumgesprochen

HOCHKARÄTIGE AUSWEICHMANÖVER

Wie Jean Paul alle Kirchenheiligen überschwebt und untergräbtWie zwei Metaphilosophen alle Philosophen überschweben und untergrabenZwei Symphoniker als die besseren DioskurenE. T. A. Hoffmann müßte ihm eigentlich ähneln

MORGENLANDFAHRT NACH FERNOST

Divandichter pro Obermufti – Goethe klopft seinem alten »Freund« gewaltig die SchulterHatem und Hafis und andererseits – Jean Paul und Maulana RumiJean Pauls frühere Reinkarnationen in China und PersienIslamischer Köterhaß – indische HundeliebeGoethe – selber ein Chinese

ERNSTE SCHERZE, TOD UND VERKLÄRUNG

Warte nur balde – November 1825Nach dreiunddreißig Jahren immer noch krankWas tat Goethe, 81, im Jahr 1830? StichprobeLetzter Goethe, komisch befruchtet vom toten Jean PaulDämmrung quoll hervor von unten – Goethe übte sich in üblem LeumundMehr Licht und Sternenfreundschaft im Elysium

URGESTEIN UND URPFLANZE – MARMORSARG UND DSCHUNGELWILDWUCHS

Sehschlitz und Facettenauge – Fachidiot und UniversalgenieKlassizismus fing in der Steinzeit anIm Kühlfach deutschen Geistes: Endstation UnsterblichkeitWo Weimar-Klassizismus dann bald landeteZuspätromantik – blaue Blümchen in wachsender BetonwüsteO holde Kunst – in wieviel neutralgrauen Stunden

NACHWELTGERANGEL

Bewundert viel und viel gescholten – Bauchpinsler und Lästerzungen über zwei DichterfürstenUnaufhaltsamer Ruhm – sinkende NachfrageZweierlei MeßlatteEndlich weltberühmt – falls es sich inzwischen herumsprachVilla Wahnfried und Rollwenzelei – Platzhirsche in BayreuthKann sein schleichend Volk das Stehaufmännchen überholen?Wie Jean Paul zentnerweise Scheinriesen kleinmachtHätte Gott anders gewürfelt – Chemo-Keule und HochkulturGoethefans contra Jean-Paul-Enthusiasten und vice versaJean Paul sucht Rüdiger Safranski

IN TAUSEND FORMEN MAGST DU DICH VERSTECKEN

Wo und wer ist Goethe heute?Wie Goethe simultan in Hauptmann und Mann zu inkarnieren versuchteHiermit sei’s prophezeit: Jean Paul wird wiederkommen – in irgendwemÄhnlichkeitswettbewerb – wie Jean Paul in allerlei Vergleichsfiguren zu überwintern versuchteZwei Zukunftspropheten sahen alles vorausSchöne Langzeitperspektiven, haltbar bis 2749 n. Chr.

Goethe und Jean Paul zwischen Musenhain und Altstadtentlastungstangente, falls sie je in natura so im Freien beieinanderstanden.

SZENEN EINER BEINAHE-FREUNDSCHAFT – IM ZEITRAFFER

Goethe und Schiller – zueinandergebogene Kontrahenten!

Goethe und Jean Paul – verhinderte Dioskuren?

Jean Paul wurde vierzehn Jahre später als Goethe geboren. Goethe lebte sieben Jahre länger als Jean Paul.

Jean Paul, der mit fünfzehn Jahren am Wertherfieber erkrankte und später alle Werke seines Jugendidols Goethe las, schrieb dann den dicken Roman ›Hesperus‹, der so erfolgreich einschlug wie einundzwanzig Jahre vorher Goethes dünner Briefroman ›Die Leiden des jungen Werther‹. Goethe las in den ›Hesperus‹ hinein und kam nicht weit – und las überhaupt von Jean Paul möglichst wenig.

Goethe versuchte anfangs, trotz Unbehagen und Miß-gunst, den lästigen Newcomer als Freund zu betrachten.  Jean Paul kam zutraulich und aufgeregt an den Musenhof von Weimar, wo plusminus fünf bis sieben persönliche, stundenlange, champagnergestützte Begegnungen mit Herder, Wieland, Goethe und Schiller erfolgten, in geschlossenen Räumen geselliger Insider-Zirkel.

Goethe übte sich in Schulterklopfen mit Kloß im Hals, fand dann den ›Hesperus‹-Verfasser zunehmend fremdartig, exotisch, ausgeartet, nannte ihn »halbgebildet «, »Chinesen in Rom«, »Sternschnuppe«, »das personifizierte Alpdrücken der Zeit«.  Jean Paul diagnostizierte bei den »ästhetischen Gauklern von Weimar« »eingeäscherte Herzen«, fand Goethe-Schiller im Umgang trocken, gefühllos, verkrustet, schalt Schiller »Gletscher« und Goethe »Eispalast« sowie »Genie ohne Tugend«. Die einen »kalt« – der andere »krank«.

Goethe hatte Werthers und Urfausts enthusiastischpantheistischen Gefühlsüberschwang derzeit längst runtergefahren, überließ ihn allerlei Romantikern, die er viel zu bunt fand, und widmete sich stattdessen jetzt ganz der stillen Größe und edlen Einfalt alter Griechen. Jean Paul durchschaute sowohl die Antikesehnsucht der Weimarer Klassizisten wie die Mittelaltersehnsucht der Romantiker als Chimäre.

Goethe und Jean Paul tauschten null Briefe – neunundzwanzig Jahre lang, und kamen als Zeitschriftenbeiträger einander immer wieder quer.

Jean Paul, mit Gattin, las Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ gierig an einem Tag durch.  Goethe rühmte sich, Grenzwachen aufgestellt zu haben, um von späteren Werken seines allzu fleißigen Rivalen verschont zu bleiben.

Jean Paul sah Goethes Gedichte und Romane kritisch; aber dem ›Faust‹ und dem ›Märchen‹ billigte er eine gewisse Unsterblichkeit zu.  Goethe ließ sich in späteren Jahren zweimal herab, »unseren Freund« schriftlich als »Talent von Wert« zu loben, aber privat zog er weiter über Jean Paul her.

Goethe verfaßte und diktierte in 83 Lebensjahren bzw. 67 Schaffensjahren rund 7000 Druckseiten Hauptwerke, so viel wie Thomas Mann in genauso vielen Schaffensjahren.  Jean Paul verfaßte in 62 Lebensjahren bzw. 46 Schaffensjahren weit über 12 000 Seiten Hauptwerke, also so viel wie Goethe und Thomas Mann zusammengerechnet, obwohl diese zweimal zwanzig Jahre mehr Jahre zur Verfügung hatten. In summa: Goethe stieg zum Dichterfürst auf; Jean Paul wurde der produktivste Prosaist deutscher Sprache.

Insider in Weimar beisammen, 1796, von links: Johann Gottlieb Fichte, Jean Paul, Muse, Homer, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland u. a.

Ausschnitt aus einem Gemälde von Otto Knille, 1884

Goethe ließ Goethezweifler, Goethespötter, Wadenpisser und Goethehasser von sich abprallen, erhob sich – postum im Verdrängungswettbewerb – als geschleiftes Bronzedenkmal, als Stehaufmann, Mammut-Phoenix und Zitatspender, immer neu aus Gipsstaub und Asche zu allen seinen Prachten, immer abgehärteter, noch unsterblicher, latent omnipotent, nachzuckende Lebensfunken in blinden Augenhöhlen, kurz: er ward gepusht, abgesägt, rehabilitiert, nachgerüstet, demontiert, aktualisiert, aufgepowert. Jean Paul – vergessen, ausgegraben, verdrängt, neu entdeckt, übertönt, reanimiert, hervorgezerrt, entsorgt, recycelt, suspendiert – wurde von einsamen Enthusiasten »der Einzige« genannt, in x Himmel gehoben, als Fundgrube und unauslotbare Flaschenpost, als Alternative und Gegenfigur zu Goethe, als einziger Goetheüberbieter – Lebensfülle contra Gipsfigur, andererseits: Kein ebenso umfassender Geist kann, seit zweihundert Jahren, Goethe gefährlich werden, vor allem nicht so ein Spielratz wie Jean Paul, so ein untergebutterter Übermensch, so ein Verhängnis im Schlafrock, mit Nabelschnur um Denkerstirn und Doppelkinn.

Goethe ward ausgerufen als Faustdichter, Universal-genie, Titan, Geistesmonarch, menschenförmiger Nervenpunkt und Zentralgestirn des ganzen Säkulums. Deutschland hatte seit 1870 seinen Superstar gefunden und bekam ihn nicht über, beim Umtrunk mit Burschenschaft am Bismarckturm. Erst Nationalheros, dann Menschheitsrepräsentant.  Jean Paul, ein Oberfranke im Krähwinkel des Fichtelgebirges, ward (zum Ausgleich?) eingedampft zum Idylliker, Heimatdichter, Trunkenbold und Biedermeiermann, zum Kauz vom Lande, der in einer Gartenlaube zentnerweise bildungstriefende Heiterkeit raushängen ließ, breitärschig und trinkfreudig, nippifiziert zu einer Vignette der Goethezeit. In summa: Goethe wurde zum größten Deutschen vergrößert – Jean Paul zum größten Bayern verkleinert.

So hat sich’s eingependelt. Eine einzelne Stimme wird da kaum dran rütteln können, es sei denn, man könnte doch noch dran zupfen und eine Umbeleuchtung hinkriegen. Ruft keiner nach neuen Forschungsergebnissen?

Johann Wolfgang von Goethe liegt in deutschsprachigen Endausscheidungen nicht nur Wange an Wange mit Doktor Luther, Johann Sebastian Bach, Karl Marx und Konrad Adenauer: In Internationalen Charts thront er unverrückbar, Haupt an Haupt, neben Homer, Dante und Shakespeare.  Jean Paul hat unrühmlich hinter Rabelais, Voltaire, Jonathan Swift, Laurence Sterne, Henry Fielding, Lord Byron, Victor Hugo in der Warteschleife zu stehn und durfte nicht mal zu einem Autor europäischen Rangs aufrücken wie Milan Kundera, Cees Nooteboom oder auch die ins Chinesische übersetzte Hera Lind.

Das Google-Trio Jean Paul, Jean-Paul Sartre und Jean-Paul Belmondo

Goethe wurde – dank Goethe-Lobby und Goethe-Mafia – fast so weltberühmt wie Jesus, The Beatles, Osama, Obama oder Lady Gaga.  Jean Paul muß im Google aus Jean-Paul-Belmondo-Gewimmel hervorgefizzelt werden und hat zu erdulden, daß Hochkulturträgerinnen, denen man dringend was über Jean Paul erzählen möchte, irritiert zurückfragen: »Sartre?«

Als Trostpflaster für den Betroffenen kann ergänzt werden, daß der größte deutsche Humorist – wohlmeinender Germanistik zufolge – immerhin Jean Paul heiße, obwohl eigentlich – wohlmeinenden Massenmedien zufolge – Loriot diesen Platz einnimmt, knapp und keuchend gefolgt von Heinz Erhardt – ja, wer isses denn nu?

Zwischen Welthumor und Lachkultur: die drei größten deutschen Humoristen

So oder so: Goethe war vor 250 Jahren vierzehn Jahre alt.  Jean Paul wurde vor 250 Jahren geboren.

PEGASUS UND MUSENKUSS

Goethes Geburt

Um Christi Geburt wohnten auf Erden 200 Mill. Menschen – weniger als die Hälfte heutiger Harry-Potter-Käufer (450 Mill.). Von dazumal schriftstellerisch tätigen Köpfen haben sich bloß abzählbare Namen erhalten: Ovidius, Livius, Plinius, Wang Tschung, Horaz, Phädrus, Seneca, Strabo, Dioskurides, Nikolaus von Damaskus, Celsus.

1500 Jahre später boomte so einiges gewaltig vor sich hin: Hans Sachs verfaßte 208 Schauspiele, 1558 Schwänke und Fabeln sowie 4275 Meistergesänge für rund 11 Mill. potenzielle Leser – mehr Deutsche gab’s nicht, und 1648 n. Chr. hatten sie sich dann auf 4 Mill. reduziert. 1766 schrieben und wirkten in deutschen Landen, in denen inzwischen 20 Mill. Deutsche wohnten, 2900 aufzählbare Autoren. 1776 hatte die schriftstellernde Zunft sich auf 4300 registrierte Seelen und Köpfe erhöht, 1788 auf 6200, 1795 auf 8000. Goethe hierzu: »Die Menge der Dichter ist es, die die Dichtung herunterbringt in Ansehen und Wirkung.«

1806 schrieben und wirkten für 21 Millionen potenzielle Leser 11 000 Schriftsteller in Deutschland, unter sehr vielen anderen A. F. E. Langbein, Garlieb Merkel, Karl Spazier (Jean Pauls Schwager), Amandus Gottfried Adolf Müllner, Schiller, Goethe und Jean Paul.

Zweiundachtzig Jahre bevor Goethe, jeder Zoll ein Dichterfürst, sitzend zur Rechten und Linken Vergils und Ariostos, in herrlicher Reihe Cervantes und Hafiz (dem größten Dichter aus Persien) und Rumi (dem gleichfalls größten persischen Dichterfürst) und Rembrandt und Mozart und Kant, dann doch noch hienieden von hinnen und von uns ging, uns allein und nur mäßig getröstet zurückließ im ungenügenden Dasein und Diesseits, bevor die Stunde sogar ihm schlug und sein hoher Geist entfloh, des Höchsten Ruf und Posaune folgte, ausgerechnet scheinbar der christlichen, bevor kalt, starr und strahlenleer sein Auge in die irdische Fürstengruft einwanderte, nachdem er schnell noch »Mehr Licht!« gefordert hatte, ward ein Kind uns geboren, ein kleiner Wolfgang, unter unsagbar günstigem Planetenstand: Sonne, Jupiter und Venus bildeten eine freundliche Einheit, bei neutralem Merkur, Saturn und Mars – und Luna als Hemmschuh der bedeutsamen Geburt, meilenfern von Ochs und Esel. Doch es waren Engel in derselben Gegend, Schutzgeister, gnädige Götter und alle neun lorbeerbekränzte Musen, die dieses erlauchte Milchkind schon vor der Geburt gar so sehr liebten – anstelle von Mutterbusen und Nuckelflasche nahte dem Gottesgeschenk alsogleich Schreibertafel, Füllhorn, Erntedankäpfel und Federkiel, die Gabe des Liedsangs, vom Himmel geträufelt, Melpomene, die Muse des Trauerspiels, und Thalia, die Muse des Schauspiels und Lustspiels, noch lang nicht zu verwechseln mit heutiger Bücherhauskette, hielten die lachende Maske, die weinende Larve; Euterpe, Terpsikore mit siebensaitiger, Erato, die Muse zärtlicher Gesangskunst zu neunsaitiger Lyra, in summa: Mummenschanz, hochgünstig, hufscharrender Pegasus mit Prachtfittich, allerlei Amorettengeflügel mit Stummelschwingen, die zu artigem Flugversuch kaum wohl taugen, Sylphen, Heroinen, quasi bereits Brünhilden, Isis multimammia mit Hirschbock und Einhorn, dezent beiseite Minerva, Pallas Athene, die Staatenbeschirmerin, umsichtig gewaffnet, edles Damwild im Background, talentvoll lasiert. Phöbus, der pythische Siegertypus, löste die Augen ihm, dem Glückskind, Hermes die Rosenlippen, und Zeus höchstselber preßte das Siegel der Vollmacht ihm auf die gewölbteste Stirn, auf des Knaben lockige Unschuld, falls das Grünzeug neidischen Vorschußlorbeers Raum für den göttlichen Stempel ließ. Keine gemeine Stirn tat des Ruhmes heil’ge Siegerkränze entweihen, lang bevor noch das Kampfspiel überhaupt anhub. Nirgendwo glitzerten kritische Fäden der Parzen – nirgends ein Binsenkörblein unsich’rer Zukunft – keinerlei rivalisierender Pollux kroch aus gelblichem Nachbar-Dotter befruchteter Leda. Nirgendwo im hermetischen Sphäroid ikonographischen Auflaufs ein chinesischer Grinsbart.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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