Ein Dandy in Aspik - Derek Marlowe - E-Book

Ein Dandy in Aspik E-Book

Derek Marlowe

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Beschreibung

Berlin und London Mitte der 1960er Jahre, zur Zeit des Kalten Krieges und der Pop-Revolution: Alexander Eberlin, Oxford-Absolvent, ist ein Mann mit Stil?– Mitte dreißig, elegant und exzentrisch. Ein einsamer Wolf, aber auch ein wahrer Dandy und Mann von W

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Ähnliche


Derek Marlowe

Ein Dandy in Aspik

Ein Klassiker des Spionageromans

Herausgegeben vonMartin Compart

Mit Nachworten vonMartin CompartundRolf Giesen

INHALT

Ein Dandy in Aspik

ERDFERNE

1Amontillado Caroline

280 E 944776

3Gatiss

4Selvers

5Liebesbrief

6Pavel

7Metamorphose

ERDNÄHE

1Friedrichstraße Nein

2Winterhilfe – Hure

3Melpomene Awol

4Breysach

5Das mitteilsame Aktfoto

6Au Suivant

7Hai-Wai Filter

8Formel Eins (Null G)

9Die Verantwortung wird abgeschoben

Martin Compart: Nachwort

Rolf Giesen: Laurence Harvey in Aspik oder: Warum sich’s in Berlin doch nicht vernünftig spionieren lässt

Als sie zu der Edamer Katze zurückkam, fand sie zu ihrer Überraschung eine recht beträchtliche Menge um sie versammelt. Der König, die Königin und der Scharfrichter stritten sich miteinander und sprachen alle zugleich, während die Übrigen still und beklommen dabeistanden.

Der Beweis des Scharfrichters war, dass sich ein Kopf nur köpfen ließe, wenn auch ein Leib da sei, von dem man ihn abhacken könnte; dass so etwas noch nie jemand von ihm verlangt habe und dass er nicht im Traum daran denke, in seinen Jahren mit dergleichen noch anzufangen.

Der Beweis des Königs war, dass man alles köpfen kann, was einen Kopf hat, und er solle gefälligst kein dummes Zeug reden.

Der Beweis der Königin war, dass sie, wenn hier nicht schleunigst etwas geschehe, alle, wie sie dastünden, köpfen ließe. (Und diese letzte Bemerkung war es gewesen, die die allgemeine Stille und Beklemmung ausgelöst hatte.)

Da begann der Kopf der Edamer Katze langsam zu verschwimmen, und bald war nichts mehr davon da. Der König rannte mit dem Scharfrichter wild durch die Gegend, um sie zu suchen, während die übrige Versammlung sich zum Spiel zurückbegab.

Lewis Carroll

Alice im Wunderland

ERDFERNE

1

AMONTILLADO CAROLINE

Im Land der Blinden tritt der Einäugigevermutlich im Zirkus auf.

Alexander Eberlin

Der sicherste Weg, morgen aus der Mode zu sein,ist, heute in ihrem Vorfeld zu stehen.

Alexander Eberlin

Eberlin aß wie gewöhnlich allein. Gegen sechs Uhr war er in seine Wohnung zurückgekehrt, hatte geduscht, sich umgezogen und zu dem Essen Platz genommen, das ein alter, jedoch nicht geschwätziger Diener ihm bereitet hatte, der jeden Tag um vier Uhr nachmittags kam und jeden Abend um acht Uhr wieder ging. Kein Wort wurde zwischen Herr und Diener gewechselt, außer «Guten Abend» und «Gute Nacht»; nur einmal hatte sich der Diener eines Abends mit grenzenloser Diskretion für den Wein entschuldigt. Es war eine glückliche Verbindung, und Eberlin hätte sie nicht anders gewollt. Er war von Natur aus ein ruhiger Mensch, und das in solchem Ausmaß, dass ein ehrenwertes Mitglied von Brook’s, ein jovialer Bursche und folglich von allen gemieden, im Bekanntenkreis äußerte, Eberlin sei so wortkarg, weil er mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden sei. Es war eine unrichtige Behauptung, aber der Scherz wurde trotzdem von allen Witzbolden der Stadt aufgegriffen und trug Eberlin den geheimnisvollen Ruf eines Außenseiters ein, eines Mannes, den zu kennen unumgänglich wurde. Ein Schwarm geschwätziger Kriecher von den richtigen Schulen des Landes hofierte ihn, feierte ihn und trank auf sein Wohl, und in kürzester Zeit war Eberlin Ehrengast der besten Partys und Gesellschaften von London, eine Situation, die nichts an seinem Leben änderte, da er keine der Einladungen annahm.

Stattdessen verbrachte er seine freien Stunden in seiner Wohnung auf der South Street 24, blickte aus dem Fenster zum Hof, las gelegentlich ein Buch – zur Zeit war er gerade mit Pelham halb fertig – oder ging gemächlich durch den Hydepark bis zur Serpentine und zurück spazieren. Einmal in der Woche, bisweilen an einem schönen Sonntagmorgen, unterquerte er die Park Lane und kam auf der Insel wieder hoch, auf der Byron, ganz aus Bronze und taubendreckverschmiert, saß, las alle Zeitungen, kehrte dann zur South Street zurück, warf unterwegs die Zeitungen in den Abfallkorb vor der Dorchester Bar und aß, wie gewöhnlich, wie auch heute, allein zu Abend.

Der Wein war abscheulich. Der Diener hatte ihn billig in einem Supermarkt erstanden; er wusste aus Erfahrung, dass sein Herr die anerzogene Blindgläubigkeit an Jahrgang und Bukett nicht besaß. Der Wein floss wie Abwasser aus der Flasche. Eberlin trank ihn gleichgültig, während er die Briefe auf dem Tisch durchsah.

Es waren zehn Umschläge, zumeist unversiegelte Einladungen aus London SW 1, die gewöhnlich ungeöffnet in den Papierkorb wanderten. Aber an diesem Abend öffnete Eberlin sie alle, besah sie sich kurz und hielt bei einer kleinen weißen Karte inne, auf der stand:

CAROLINE SUE HETHERINGTON

erbittet IhrenBesuch

am Ruston Gate 14, London SW 3

zu einem Glas Amontillado-Sherry

12. August, 19 Uhr R.S.V.P.

Eberlin steckte die Karte in seine Brieftasche und stand vom Tisch auf. Er ging langsam ins Schlafzimmer und studierte auf dem Bett einen großen Stadtplan von London. Dann faltete er den Plan zusammen und legte ihn in die Nachttischschublade.

In der Diele wartete der Diener mit einem dunkelblauen, seidengefütterten Überzieher. Eberlin zog ihn an, fühlte in den Taschen nach den Schlüsseln und dem Geld, ging zurück ins Esszimmer, schloss die Tür, schaltete das Licht aus und blickte aus dem Fenster. Die Straße war leer. Eine Weile blieb er mit den Händen in den Taschen stehen. Im Raum nebenan spülte der Diener leise das Geschirr. Eberlin war durchschnittlich groß, schlank und, sehr zu seinem Missvergnügen, sechsunddreißig Jahre alt. Er hielt das für ein Alter, mit dem nichts anzufangen war: Es fehlte ihm die Finesse der früheren Jahre und die Autorität des gesetzten Alters. Da er seinem Leben nie große Bedeutung beimaß, hatte er die Jahre seiner Jugend mit der leichtsinnigen Selbstvergessenheit eines Mönchs verbracht und sich im Lauf der Zeit mehr und mehr von seinen Mitmenschen zurückgezogen. Durch eine seit langem schon verwünschte Laune des Schicksals dazu verpflichtet, seine Rolle zu spielen, lief er blindlings weiter durch die mittleren Jahre, ein Dandy, der sich mit Fetischen umgab – seiner Garderobe, die er mit beneidenswertem Geschick auswählte, seinen Büchern, seinen drei doppelläufigen Schrotflinten von Manton und seiner Sammlung alten Sèvre-Porzellans, die in einem Tresor im Viktoria-und-Albert-Museum lagerte –, darüber hinaus fehlte es ihm völlig an Neid auf seine Mitmenschen. Er besaß die edle Selbstlosigkeit eines Mannes, der sich um niemanden außer sich selber kümmert. Brummell (ein Mann, den er ohne Scham bewunderte) besaß diese Eigenschaft ebenfalls.

Im Raum nebenan fiel ein Teller vom Rand des Spülbeckens und zersplitterte auf dem Boden. Eberlin achtete nicht darauf, sondern wandte sich plötzlich vom Fenster ab, ging durch das Esszimmer, trat in die Diele, gerade als der Diener kleinlaut aus der Küche kam, und verließ die Wohnung. Es war ein kühler Sommerabend, angenehm in diesem Teil Londons mit dem Park und den königlichen Stallungen und den kleinen Plätzen. Eberlin überlegte, ob er zu Fuß gehen sollte, nicht wegen des Wetters, sondern wegen seines Wagens, eines Maserati Mistrale, der zurzeit ausgeweidet in Cuchets Garage, zwanzig Kilometer vor Lyon, zwei Meter hoch in der Luft hing. Ein Taxi stand in zehn Meter Entfernung, ein älterer Mann und seine Frau zahlten gerade zögernd den Fahrpreis. Dann leuchtete das Schild auf dem Dach wieder auf, eben als Eberlin sich entschlossen hatte, zu Fuß zu gehen.

«Zum Ruston Gate», sagte er gelassen zu dem Fahrer. Dann schloss er die Tür und lehnte sich in die Polster zurück.

«Finden Sie nicht, dass die Hinterteile die größten gemeinsamen Nenner sind, die Männer und Frauen verbinden?» fragte sie mit einer Keckheit, die ihre Jungfräulichkeit unterstrich.

Es war ein großes Zimmer im Erdgeschoss, der Mode gemäß mit Art-Nouveau-Bildern und Raritäten aus abgelegenen Boutiquen dekoriert. Kaum ein Fleck der sorgfältig ausgesuchten Tapete war hinter dem Durcheinander von gesammelten Musikinstrumenten, Reproduktionen, Bücherbrettern und viktorianischem Küchengeschirr zu sehen. Lady Hetherington nannte es ihr Konversationszimmer, und es hieß, sie habe eben in diesem Zimmer die Montagus von Beaulieu dadurch ergötzt, dass sie das Porträt Prinz Ruperts mit Scheinwerfern alter Automodelle umgab.

Die Musik war laut, aber niemand tanzte. Die elf Gäste standen stattdessen linkisch im Zimmer herum, hielten warme, leere Gläser in den Händen und machten höfliche Bemerkungen über Abwesende und das Königshaus. In einer Ecke saßen drei arbeitslose Schauspieler und sprachen von sich selber. Ein kleiner dicker Mann in einem dreiteiligen Anzug stand mit auf dem Rücken gefalteten Händen vor dem Bücherregal an der einen Wand und las gelegentlich mit gespielter Überraschung laut einen Titel vor. Neben ihm stand ein unglaublich fettes Mädchen mit dicken Beinen, das Caroline, ihrerseits mit der zarten und durchscheinenden Schönheit eines Engels gesegnet, zu ihrer besten Freundin erwählt hatte. Caroline kauerte auf einem Hocker zu Füßen zweier männlicher Gäste. Sie trug einen einfachen ärmellosen violetten Pullover und eine schmale tiefviolette Hose. Ihre schlanken Arme umspannten die Beine, ihr Kopf ruhte auf den Knien, und ihr Blick war starr auf den Terrier gerichtet, der vor ihr auf dem Boden lag und schlief.

«Blödsinn!» sagte sie plötzlich und blickte zu Nigel (einem Freund aus ihrer Kindheit) auf, der ihren Rücken streichelte. «Weshalb heiratet John Mummy nicht und erledigt die Sache damit. Ich meine, es ist doch nicht so, als wäre sie unattraktiv oder so was. Er will nichts weiter als mit ihr schlafen und sonntags mit ihr zu Brinkley’s gehen und all diese entsetzlich langweiligen Sachen. Ich versuche manchmal, mit ihr darüber zu reden, aber sie hört nicht zu. Findest du das nicht auch unfair?»

Nigels Fingerspitzen hatten Carolines untere Lendenwirbel erreicht und verhielten jetzt auf dem dünnen Hosenstoff. Er sagte: «Doch, das finde ich auch», fuhr mit dem Daumen unter den Gürtel und berührte ihre warme Haut. Caroline schnitt eine Grimasse, rutschte zur Seite und weckte den Terrier auf, als Eberlin das Zimmer betrat.

Er stand in der Tür und betrachtete die übrigen Gäste.

«Zum Whisky kommen Sie zu spät, und der Sherry ist abscheulich, aber wenn Sie etwas Geduld haben, James kommt gleich mit Nachschub», sagte ein kleiner junger Mann mit rosigem Gesicht, der einen honigfarbenen Kordanzug trug. «Caroline hat nie genug im Haus. Stimmt’s?»

Eberlin beachtete ihn nicht und ging durch das Zimmer zum Kamin. Caroline sprang mit einem Lächeln auf und zupfte ihn am Ärmel seines Überziehers.

«Ich bin schrecklich froh, dass Sie kommen konnten. Der Sherry ist wirklich nicht sehr gut, tut mir leid.»

Eberlin nickte, nahm eine Zigarette aus einem hellen Lederetui und zündete sie an.

«Möchten Sie vorgestellt werden, oder ziehen Sie es vor, unbekannt zu bleiben und die anderen zu ignorieren? Ich empfehle Ihnen Letzteres, denn die Leute hier sind alle sehr stumpfsinnig und langweilig. Außer Mark, und der ist in Kanada.»

Barfuß war sie ein ziemlich kleines Mädchen, vielleicht einsfünfzig oder -fünfundfünfzig, aber frühreif und attraktiv. In den vier Jahren, die sie aus der Schule war, hatte sie Affären mit rund einem Dutzend älterer Männer gehabt. Alle hatten ihr Heiratsanträge gemacht, und alle waren auf die netteste Weise abgewiesen worden. Alle waren nun ihre glühenden Feinde, die sie in der Öffentlichkeit als Hure verdammten, insgeheim aber in den frühen Morgenstunden von den Bars ihrer Klubs hoffnungsvoll anriefen. Sie trug ihr blondes Haar glatt, nur in Höhe des breiten, blassgeschminkten Mundes war es leicht gewellt. Sie stand, den kleinen Bauch vorgestreckt, und blickte aus violetten Augen zu den Männern auf, die sich alle wünschten, auf der Stelle mit ihr ins Bett zu gehen. Alle außer Eberlin. Er sah sie kaum an, blickte sich im Zimmer um und betrachtete, ohne die Miene zu verziehen, jeden Gast und jede Einzelheit der absurden Einrichtung. Der dicke Mann in der Ecke sah ihn an und wartete darauf, seinem Blick zu begegnen. Er öffnete den Mund, um Eberlin zu grüßen, als dieser ihn schließlich ansah, und vergaß, ihn wieder zu schließen, als Eberlins Blick zu dem gerahmten Druck einer Jeanne von Modigliani über dem Kopf des Mannes und weiter zu einer Oboe aus dem neunzehnten Jahrhundert wanderte, die auseinandergenommen an der Wand hing.

Caroline sagte zu dem Terrier laut: «Hör auf!» und warf einen Blick zu Eberlin, der aber nicht auf sie achtete und nach einem Aschenbecher suchte, wobei er in dem großen goldgerahmten Spiegel über dem Kamin das Spiegelbild des dicken Mannes erblickte, der ihn immer noch scheu beobachtete und mit einer Hand einen Gipshund streichelte. Er warf die Zigarette ins Feuer.

«Wollen Sie Ihren Mantel nicht ablegen?» fragte Nigel und gab Caroline einen leichten Klaps auf die Wange. «Es ist entsetzlich heiß hier.»

Eberlin zog den Mantel aus und reichte ihn Nigel, der zögerte, ihn schließlich auf das Sofa warf und laut rief: «Michael!» Eberlin nahm den Mantel wieder auf und trug ihn in die Diele. Dann kehrte er durch eine andere Tür ins Zimmer zurück, nahm ein Buch von einem Tisch, öffnete es und las den ersten Abschnitt.

Zwei weitere Gäste kamen. Der eine trug einen riesigen metallenen Krug mit Bier und war vermutlich James. Der andere war ein grobknochiges Mädchen mit schwarzem lockigem Haar, das sich im neuesten Jargon entzückt über die Zimmereinrichtung ausließ und nach zehn Minuten mit einer blauen Apothekerflasche verschwand, die Lady Hetherington von Tunbridge Wells mitgebracht hatte. Ein dreister Eiferer hatte Purcells O Come Ye Sons Of Art auf den Plattenteller gelegt und mahnte die Umstehenden jedesmal zur Ruhe, wenn der erste Tenor aufregend hoch sang. Caroline beeindruckte die Phantasievolleren unter den Gästen mit der Demonstration ihrer eindrucksvollen Fähigkeit, die Zehenspitzen zu berühren, ohne die Knie zu beugen, während ihre beste Freundin einsam und verzagt neben dem Regal mit den gesammelten Werken von Dickens stand. Der dicke Mann bot Eberlin eine Zigarre an. Eberlin lehnte barsch ab und ging zu einem unbesetzten Schaukelstuhl neben dem Fenster. Es war jetzt eine Minute nach neun. Eberlin setzte sich, und der Mann, der ihm gegenüber saß, nickte ihm zu und sagte: «Ein exzellenter Anzug.» Die Musik brach abrupt ab, und man hörte «Schande» und «Gott», und dann ertönten die Klänge eines zeitgemäßeren Hits. Eberlin erwog, die ganze traurige Veranstaltung zu verlassen und nach Hause zu gehen, als ein weicher weißer Arm mit persischem Schmuck am Handgelenk ein volles Glas Chivas in das Regal über seiner Schulter stellte und Caroline ihm ins Ohr flüsterte: «Ich habe das extra für Sie aufgehoben in der Hoffnung, dass Sie kommen werden. Es wirkt vielleicht komisch, wenn ich mich jetzt noch vorstelle, aber ich bin Caroline.»

«Guten Abend», sagte er, nahm das Glas und trank langsam. Sie blieb hinter ihm stehen, legte den Arm auf seine Schulter und flüsterte wieder: «Der dicke Mann in der Ecke hat mich gefragt, ob ich Sie kenne. Er schien schrecklich interessiert, als ich ihm sagte, Sie kämen vielleicht. Kennen Sie ihn?»

«Nein.»

Sie beugte sich vor und lächelte ihn an. Sie roch stark nach Amontillado und Numero Cinq, und ihr Haar kitzelte seine Wange. Eberlin stand auf, durchquerte das Zimmer und bewunderte Prinz Rupert.

«Der Herzog von Marlborough», sagte eine männliche Stimme hinter ihm, und eine andere sagte: «Nein, das ist Prinz Rupert», und ein hübsches Mädchen in einem Hosenanzug wiederholte: «Prinz Rupert», und dann sagte der dicke Mann: «Mein Name ist Copperfield.»

Eberlin drehte sich um und blickte in das strahlende runde Gesicht und die schielenden Augen hinter der Brille. Das Haar des Mannes war gelichtet, und auf seinen fetten Wangen stand Schweiß. «Guten Abend», sagte er und streckte eine schwammige Hand aus.

«Guten Abend», entgegnete Eberlin kurz und wandte sich wieder dem Bild zu.

«Sie sind Eberlin, nicht wahr?» sagte Copperfield gelassen. «Ich habe viel von Ihnen gehört …»

«Entschuldigen Sie mich», sagte Eberlin und kehrte zu dem Schaukelstuhl zurück, wo er sich setzte und sein Glas nahm. Es war jetzt zwölf Minuten nach neun. Caroline stand mit einigen Männern neben dem Klavier und hörte keinem zu. Sie blickte lächelnd über die Schulter zu Eberlin und kam schließlich zu ihm.

«Ich hoffe, Sie langweilen sich nicht.»

«Doch, ein wenig.»

«Möchten Sie vielleicht das Haus sehen? Es ist nicht groß, aber es wird Ihnen gefallen. Ich werde es Ihnen zeigen.»

Copperfield drückte seine Zigarre aus und sah zu den beiden hinüber. Michael, ein ehemaliger Liebhaber von Caroline, flüsterte ihm etwas ins Ohr, er lächelte, und dann tauschten sie Blicke aus, und ein anderer Mann lachte. Dann trat Copperfield hinter sie, legte seine gespreizte Hand auf ihr Hinterteil, und die beiden Männer kicherten, während Copperfield Eberlin über ihre Schulter hinweg zuzwinkerte. Eberlin sagte zu Caroline: «Einverstanden», trat Copperfield auf den schwarzen, sorgfältig polierten Schuh und verließ das Zimmer.

Außer dem Bad und der Küche gab es in diesem Haus nur noch drei weitere Zimmer. Das eine war eine Art Studio, in dem der verstorbene Lord Hetherington alljährlich seine Biografie von Edward dem Bekenner begonnen, seine Schmetterlingssammlung betrachtet und drei Tage vor der Hochzeit zweimal mit seiner Frau geschlafen hatte. Jetzt wurde es nicht mehr benutzt und diente lediglich als Abstellkammer für Carolines alte Puppen und die Ausgaben von Elle und Vogue ihrer Mutter. Die beiden anderen Räume waren Schlafzimmer in kitschigem Gelb mit ausgeschnittenen papiernen Traubendolden an der Decke, dem Einfall eines längst vergessenen, mit Lady Hetherington befreundeten Innenarchitekten. Die sexuellen Erlebnisse der Lady Hetherington waren sowohl in ihrem Kreis als auch auf einer kleinen griechischen Insel in der Adria wohlbekannt.

Eberlin stand auf dem weißen Teppich in Carolines Schlafzimmer und blickte auf die Uhr.

«So, das ist alles», sagte sie, «außer dem WC. Das ist in einem scheußlichen Braun gestrichen. Ein Einfall von Mummy, nachdem sie ein Wochenende bei den Chestertons war. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Ich fühle mich sehr geehrt.»

Sie saß auf der Bettkante. «Ich nehme an, Sie haben es allmählich schon satt, das von mir zu hören, nicht wahr?»

«Keineswegs.»

Sie lachte kurz und zupfte an ihrem Haar.

«Ich habe eigentlich noch keine Lust, wieder hinunterzugehen. Ich weiß, es ist meine Party, aber es ist entsetzlich langweilig. Das ist jedesmal so. Ach, Gott!»

Sie legte das linke Bein im rechten Winkel über das andere und spielte mit den Zehen. Sie war außerordentlich verführerisch mit ihrem kleinen, aber nicht flachen Busen, dem großen Mund und der angenehmen Gleichgültigkeit allen wichtigen Dingen gegenüber. Eberlin trat einen Schritt näher. Sie blickte mit einem Lächeln zu ihm auf, wandte sich dann aber wieder ihrem Fuß zu.

Eberlin hatte in seinem Leben viele attraktive Frauen gekannt und sich trotzdem ein jungenhaftes Staunen über die unendliche Vielfalt von Schönheit auf diesem begrenzten Gebiet bewahrt. Anfang zwanzig hatte er ein paar bedeutungslose Affären mit verschiedenen hübschen, aber törichten Mädchen gehabt, mit fünfundzwanzig schließlich eine Affäre zu einer engeren Verbindung erweitert, die seinem Zynismus gegenüber Frauen das Rückgrat brach und ihn, nachdem der letzte Paukenschlag des Finales verklungen war, mit tiefem Respekt vor dem anderen Geschlecht, Enttäuschung über sich selbst und einem dunkelhaarigen Sohn namens Jesse zurückließ. In den letzten Wochen hatte er vergeblich versucht, den schrecklichen Streitereien ein Ende zu machen, aber hauptsächlich durch seine Schuld brach alles um ihn zusammen.

In der ersten Zeit nach ihrer Trennung besuchte er sie und seinen Sohn mit einigem Unbehagen und brachte kleine Geschenke mit, etwa bunte Bauklötze oder Kinderlätzchen. Später fühlte er sich immer mehr beiseitegeschoben von ihr und ihren neuen Freunden. Seine Besuche wurden seltener, und schließlich zog er sich verbittert und voller Selbstmitleid zurück. Nach fünf Jahren sah er sie überhaupt nicht mehr. Irgendwo las er (oder jemand erzählte es ihm), dass sie einen Gutsbesitzer geheiratet hatte und in großem Stil in der Nähe von Bath lebte.

Einmal hatte er einen alten Brief von ihr in einem Buch gefunden und ihn, ohne ihn zu lesen, eine Viertelstunde lang angestarrt. Er brachte es nicht über sich, ihn zu vernichten; doch hatte er Angst davor, ihn eines Tages wiederzufinden. Und so versuchte er, ihn zu verlieren. Er ließ ihn herumliegen, versteckte ihn unter alten Sachen, und schließlich verschwand er wirklich. Eines Nachts suchte er drei Stunden lang im Schlafanzug fieberhaft nach ihm, aber er tauchte nie mehr auf. Zwei Monate lang wagte er nicht, in seinen Sachen zu kramen, und dann rutschte der Brief in sein Unterbewusstsein, und er beruhigte sich wieder.

Eberlin bedauerte immer noch vor allem eins – dass er nicht sicher war, ob er sie hätte heiraten sollen. Seine Abneigung war aus Angst entstanden, hatte sich aber im Laufe der Zeit in etwas Unerklärlicheres verwandelt, das er selber nie begriff. Jedenfalls heiratete er sie nicht und empfand seither ein bitteres Gefühl gegenüber allen Ehepaaren – meistens mit Grund. Seine verheirateten Bekannten nahmen alle alsbald jene beschränkte Selbstgefälligkeit an, die für ihren Stand bezeichnend zu sein schien, und er zog sich von ihnen zurück und lebte allein und ging nur unverbindliche Beziehungen zu Frauen ein, am liebsten aber gar keine. Jeden Monat schickte seine Bank einen Scheck an seinen zehnjährigen Sohn, den er nicht wiedererkennen würde, und jedes Jahr wurde er attraktiver für Frauen im Allgemeinen und uninteressanter für eine im Besonderen. Eberlin hatte das alles satt. Er stand da und betrachtete das Haar dieses Mädchens, dieses Kindes, das vor ihm saß, dieses kleinen Geschöpfes, dessen Leben kaum begonnen hatte. Er fühlte sich alt.

«Sind Zehen nicht etwas Seltsames, wenn man darüber nachdenkt, was ich nie tue», sagte sie plötzlich, blickte auf und bemerkte seinen Gesichtsausdruck. «An was denken Sie? Scheußliche Frage.»

Eberlin lächelte und wandte sich zum Fenster. Es war jetzt zwanzig vor zehn.

«Ich glaube, Sie erinnern sich nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind», sagte sie, «aber ich habe Sie gesehen, als ich mit Mummy in Nordafrika war im letzten Monat. Sie sahen ganz braun aus und vornehm und sehr englisch, aber auf angenehme Weise, und sehr super; und ich fragte jemanden, wer Sie sind, und man sagte mir, Ihr Name sei Eberlin und Sie seien in irgendeinem Ministerium tätig. Alles sehr geheimnisvoll. Mummy war ganz hin und weg von Ihnen.»

«In welchem Teil Afrikas war das?» fragte er ruhig.

«Oh, in Tripolis. Mummy interessiert sich neuerdings für Dido – diese komische alte Königin von Karthago, wissen Sie. Also war es in Tripolis, nicht wahr?»

«Ja.»

«Hm.»

Ein Seufzer und ein Schmollmund.

«Was machen Sie eigentlich?»

«Nichts Aufregendes. Nur langweilige Schreibtischarbeit.»

«Oh, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich wette, es ist alles sehr geheimnisvoll», gluckste sie und betrachtete mit gerunzelter Stirn Eberlins Rücken. Er musste jetzt noch mindestens elf Minuten bleiben. Es war etwas unangenehm, aber wenn er es entschlossen versuchte, schaffte er es vielleicht. Sie war wirklich ein hübsches Mädchen, aber entsetzlich jung; und wahrscheinlich würde sie im nächsten Augenblick etwas Ähnliches wie «Finden Sie mich attraktiv?» sagen. Er zündete sich eine Zigarette an. Du rauchst zu viel, Eberlin.

«Finden Sie mich attraktiv – ich meine, sexuell attraktiv?» fragte sie plötzlich, stand auf und schob den Unterkiefer vor, als wäre das die wichtigste Sache von der Welt. Was es für sie auch war. «Mummy ist unglaublich sexy und hat zahllose Liebhaber. Aber ich bin überhaupt nicht verführerisch.» Und dann: «Oder doch?»

Eberlin wandte leicht den Kopf zur Seite und sah sie an. «Etwas schon. Aber es stört mich nicht.»

«Oh!»

Sie blickte an sich hinunter, streckte den Bauch vor, warf Eberlin forschende Blicke zu und betrachtete sich dann im Spiegel an der Wand. Irgendjemand schrie von unten: «Caroline!»

«Ich glaube, Sie haben recht», sagte sie schließlich. «Ich bin nicht gerade das, was man üppig nennt. Oder?»

Eberlin lachte und sagte liebenswürdig: «Ich würde Ihrem Spiegelbild nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Ich war schon immer der Meinung, dass es in unserem Jahrhundert des Fortschritts an der Zeit ist, dass jemand den vollkommenen Spiegel erfindet. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen gefunden, der mein Bild richtig wiedergegeben hätte.»

«Caroline! Caro-line!» Das musste Nigel sein. «Der Hund hat Michaels ganzen Mantel versaut, und er ist wütend.»

Es entstand eine lange Pause, dann zuckte Caroline die Schultern und ging langsam zur Tür.

«Ich geh’ besser hinunter. Kommen Sie mit?»

«Noch nicht.»

Sie nickte nachdenklich, lächelte plötzlich und ging eilig hinaus. Er hörte sie die Treppe hinunterlaufen und jemanden sagen: «Wo warst du?» und die Antwort: «Ach, sei still – ich war auf dem Klo, wenn du es genau wissen willst.»

Eberlin verließ das Zimmer, blieb auf dem Flur stehen und trat schließlich in das muffige dunkle Studio des verstorbenen Lord Hetherington. Er schloss die Tür hinter sich, betrachtete die Gegenstände auf dem Schreibtisch und sah aus dem Fenster. Er konnte die dunklen Umrisse eines Kuppelbaus sehen – das war doch nicht St. Paul, oder? Eher die Brompton-Kapelle und die erleuchteten Fenster der Häuser aus der Zeit Georgs V. auf der anderen Seite. Die Straße war menschenleer. Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, als hinter ihm eine Stimme sagte: «Ah, hier sind Sie also.»

Copperfield trat ein und schloss geräuschlos die Tür. «Ich dachte, Sie wären gegangen.»

Er hatte eine erkaltete Zigarre im Mund und blickte mit fettem Lächeln zu Eberlin auf. Eberlin zog die schweren Vorhänge zu, zog einen Stuhl unter dem Schreibtisch hervor, setzte sich, schlug die Beine übereinander und wartete. Copperfield ging im Zimmer herum und nahm wahllos ein paar Gegenstände in die Hand. Er bewegte sich schwerfällig, atmete laut, als habe er Asthma, und summte gelegentlich ein paar Töne vor sich hin. Drei ganze Minuten lang wurde kein Wort gewechselt. Eberlin lauschte den Musikfetzen und dem Lärm, der von unten herauf drang, und dachte an überhaupt nichts. Ein dumpfer Laut war zu hören, als Copperfield das unvollendete erste Kapitel von Edward der Bekenner: Ein Porträt auf einen kleinen Tisch zurücklegte. Er nahm die Zigarre aus dem Mund, beugte sich zu dem Druck der Magna Charta, der an der Wand hing, und bemerkte beiläufig:

«Schade um Nightingale.»

Eberlin zog unmerklich die Hosenfalten über den Knien zurecht und erwiderte nichts.

«Haben Sie ihn je kennengelernt?»

«Nein.»

«Komischer Kerl», sagte Copperfield.

Eberlin stand auf.

«Es tut mir leid, aber ich muss gehen.»

Copperfield betrachtete ihn eingehend, ging dann wie zufällig zur Tür, lehnte sich davor und sah Eberlin mit einem unschuldigen Lächeln an, das äußerste Selbstzufriedenheit ausstrahlte.

«Ich habe sehr viel von Ihnen gehört, ohne je das Vergnügen gehabt zu haben, Sie kennenzulernen. Frazer hält sehr viel von Ihnen.»

Eberlin stand in der Mitte des Zimmers und blickte mit ausdrucksloser Miene auf einen Punkt über Copperfields mangelhaft behaarter Kopfhaut. In seiner Haltung lagen weder Ungeduld noch Anmaßung; er war einfach jemand, der die Zeit damit zubrachte, stillzustehen. Der dicke Mann zupfte an seiner Weste.

«Ich hatte immer das Gefühl, dass es eine Verschwendung ist, Sie an den Schreibtisch zu fesseln. Mir gefällt das, ich bin ziemlich bequem und reise nicht gern herum. Aber Sie … Es hat mich immer überrascht, dass Sie es dort aushalten. Sie sind nicht gebunden. Oder?» Er blickte Eberlin durch seine komische kleine Brille an.

«Nein.»

«Nein. Das dachte ich mir. Ich selber bin verheiratet. Nun, man sieht es mir an, nicht wahr? Verheiratet. Das werden Sie daran gemerkt haben, wie ich mit der attraktiven kleinen Gastgeberin geliebäugelt habe. Ein so aufmerksamer Mann wie Sie kann das nicht übersehen haben. Aber ich kann es nicht ändern. Ich gehe heimlich in Strip-Klubs. Ich bin eben so. Ich habe zu Hause sogar eine Sammlung pornografischer Bücher, natürlich versteckt. Nacktfotos – man kann alles sehen. Nun, Sie sehen mir sicher an, dass ich der Typ bin, der so was macht. Die Bücher bekomme ich von einem Freund. Er ist kein ausgesprochener … Sie sprechen Russisch, nicht wahr?»

«Ja.»

«Nun?»

«Ja.»

«Sagen Sie etwas auf … nein, das ist dumm. Ich spreche auch Russisch, aber nicht sehr gut. Französisch ja – aber mein Russisch ist leider nicht sehr gut.»

Er blickte auf und musterte Eberlin mit einem kleinen Lächeln.

Eberlin erwiderte den Blick gelassen und sagte dann: «Haben Sie etwas dagegen, die Tür freizugeben? Ich will gehen.»

Copperfield hatte etwas dagegen und überhörte die Frage.

«Sie waren neulich in Nordafrika, nicht wahr?»

Keine Antwort.

«In Tanger, oder?»

«In Tripolis.»

«Ach ja, Tripolis! Natürlich! Ich weiß nicht, weshalb ich Tanger sagte. Wegen Nightingale, nehme ich an. Sprechen Sie auch Arabisch?»

«Nein.»

«Nein. Wer kann das heutzutage schon.»

Copperfield wurde plötzlich mit einem Schubs mitten ins Zimmer befördert, als die Tür von außen geöffnet wurde und Caroline erschien, die die beiden Männer mit vorgeschobener Unterlippe betrachtete.

«Oh, das tut mir leid. Ich wusste nicht …»

Sie drehte sich um und wollte wieder gehen, als Eberlin lächelnd vortrat.

«Schon gut. Ich wollte gerade gehen.»

Sie bemerkte den plötzlichen Ärger auf Copperfields Gesicht, der eilig zur Tür zurückkkehrte.

«Müssen Sie schon gehen?» fragte sie Eberlin.

«Leider ja. Ich habe noch zu arbeiten.»

Er eilte an ihr vorbei zur Treppe. Copperfield schrie hinter ihm her: «Kann ich Sie irgendwo hinbringen? Ich hörte, Sie hatten in Frankreich einen Unfall mit Ihrem Wagen.»

«Nein, vielen Dank.»

Gefolgt von der atemlosen Caroline ging er vorsichtig die Treppe hinunter, holte aus der Garderobe seinen Mantel, trat zur Haustür und auf die Straße hinaus. Er zog den Mantel an und blickte sich um. Caroline kam barfuß hinter ihm hergelaufen.

«Es tut mir leid, dass Sie gehen müssen. Sie kommen doch einmal wieder, oder?»

Aber er gab keine Antwort. Er ließ sie stehen und ging eilig die Straße hinunter. Einmal blickte er zurück und sah, wie Copperfield hastig den Kopf aus dem Studiofenster zurückzog. Dann entdeckte er ein Taxi. Es war fünf Minuten vor zehn, und er musste sich beeilen.

Er saß im Taxi und dachte über Copperfield nach. Es war unfassbar, dass er der Grund gewesen sein sollte, weshalb man ihn zu dieser Party eingeladen hatte.

Aber was sonst? Wer sonst? Kaum die komische kleine Caroline und die Geister von Mummys Liebhabern. Keine sehr klug eingefädelte Begegnung, wie immer man es auch betrachtete – aber wann gab es das schon. Eine geheimnisvolle Mitteilung mit den Worten Amontillado Caroline, und schon wird erwartet, dass man die ganze infantile Absurdität der Affäre mitmacht. Eberlin hätte die ganze Sache am liebsten morgen aufgegeben, aber so einfach war das nicht. Er beugte sich vor und befahl dem Fahrer, die Richtung zu ändern und über Hyde Park Corner zur Rückseite des Victoria-Kinos zu fahren.

Alles hatte angefangen, als er zum ersten Mal nach England gekommen war, um das Oriel College in Oxford zu besuchen. Sein öffentliches Leben – obwohl das kaum der richtige Ausdruck war, es war privater als sein Privatleben – war damals vorherbestimmt worden. Zuerst das glanzvolle Examen und anschließend ausgerechnet ein Kurs in mittelalterlicher Kriegführung und dann, nach dem üblichen Hin und Her und den endlosen Dinners, führte der Weg direkt ins Ministerium. Vier Jahre hatte er in Afrika verbracht, in Entebbe, und getan hatte er nichts. Die britische Regierung hatte sich dem Fehlen jeglicher Aufgaben gegenüber bewundernswert tolerant gezeigt. Für sie war bereits das Leben und Überleben fern von England und auf längere Zeit eine Kunst. Eberlin schickte Berichte über die Bananenernte und den Bestand an Giraffen ins Mutterland. Einmal hatte er in höchster Depression einen ganzen Brief Wort für Wort aus einem Buch von Evelyn Waugh über den armen Kerl, der als Korrespondent nach Afrika geschickt worden war, abgeschrieben. Eberlin hatte das Buch bei einer Truppenbetreuungsstelle gefunden und es mit bitterer Genugtuung gelesen. Zwei Tage nach Absenden des Briefes erhielt er ein Telegramm:

BOTSCHAFT ERHALTEN. GUTE ARBEIT. B.

Dann folgten sechs Monate in Berlin und vier einsame Monate in Abadan. Jetzt war er wieder in London und, wie es schien, dazu bestimmt, hier hängenzubleiben. Ein Jahr zuvor hatte er Ex Libris auf das Vorsatzblatt seines Passes geschrieben und seinen Koffer verbrannt.

Das Taxi hielt vor dem Kino und blockierte die enge Straße. Eberlin zahlte, ging eilig durch den schmalen Gang zur Victoria Station, stieg die Treppen hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf, verließ den U-Bahnhof, nahm ein neues Taxi und fuhr nach Süden.

Zwanzig Minuten später saß er auf einer Bank am Südufer der Themse und blickte über den Fluss zum Charing-Cross-Ufer. Es war fünf Minuten nach halb elf, und er war fünf Minuten zu spät gekommen. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen blickte er sich um, aber auf der gepflasterten Terrasse war niemand zu sehen außer einem Liebespaar, das auf der benachbarten Bank im Schein einer Laterne saß. Eberlin betrachtete ohne Interesse das Gesicht des Mannes, der über die Schulter des Mädchens blickte. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelegt und die Beine übereinandergeschlagen, während der Mann neben ihr mit der linken Hand zwischen ihren Beinen kraulte und sich, als Eberlin hinübersah, mit der Rechten am Ohr kratzte.

Eberlin betrachtete gleichgültig die Geschmacklosigkeit des Ganzen, übersah den wütenden Blick des Mannes und überlegte, ob die Leute, die er treffen sollte, bereits gekommen und wieder gegangen waren. Er stand auf, trat an den Rand des Dammes und starrte in den Fluss. Vielleicht sollte er jetzt gehen. Er warf die Zigarette in die Themse und drehte sich um.

Vor ihm lag die Hungerford-Brücke. Im Vorübergehen spähte er angestrengt zu den dunklen Umrissen der Blumenbeete und der dahinterliegenden Häuser und Bäume hinüber. Er kam zu der großen steilen Treppe, die zur Festival Hall hinaufführte, hielt sich an dem Eisengeländer in der Mauer fest und stieg die Stufen hinauf. Es war jetzt dunkel und still. Als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, sah er sie. Sie standen in einer kleinen Nische auf halber Höhe der Treppe und blickten auf ihn herunter. Ihre Gesichter waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Eberlin zögerte. Die beiden Russen begannen, die Stufen herabzusteigen und waren in dreizehn Sekunden bei ihm. Sie lehnten sich gegen die hohe Mauer, atmeten schwer und boten ihm Zigaretten an. Einer von ihnen bemerkte, dass er gerade die Plakate vor der Festival Hall gelesen habe und dass Ravels Klavierkonzert in G-Dur am Dienstag auf dem Programm stand. Sein Kamerad sagte, dass er dieses Konzert sehr liebe, besonders die Klaviersequenz im zweiten Satz. Eberlin schwieg und blickte niedergeschlagen die steile Treppe hinunter auf den Damm mit den Bänken und Blumentöpfen. Das Liebespaar war noch da und beschäftigte sich noch immer mit seinem Finger-Pas-de-deux im gelben Laternenlicht. Ein Schiff hupte auf der Themse, und einer der Männer sagte: «Sie haben sich verspätet.»

Eberlin ließ sich Feuer für seine Zigarette geben und nickte.

«Als Sie um halb elf nicht da waren, haben wir hier auf Sie gewartet. Sie haben die beiden auf der Bank beobachtet.»

Eberlin fühlte sich ein wenig unwohl und sagte:

«Haben Sie was dagegen, wenn wir die Treppe hinaufgehen?»

«Keineswegs.»

Sie begannen schweigend die Treppe hinaufzusteigen. Eberlin ging zwischen den beiden Männern. Als sie oben angekommen waren und etwa zwanzig Meter von der Brücke entfernt stehen blieben, sagte einer der beiden Männer:

«Krasnevin?»

«Ja?» erwiderte Eberlin.

«Weshalb wollten Sie uns sprechen?»

«Euch nicht.»

«Pavel weigert sich, weiter darüber zu reden.»

«Ich würde immer noch gern mit ihm darüber sprechen.»

«Das ist ausgeschlossen.»

Und der zweite Mann sagte:

«Vollkommen.»

Eberlin seufzte. Er ging ein wenig hinter den beiden Männern, als sie sich den ersten Holzstufen zur Hungerford-Brücke näherten. Ein Zug ratterte über die Brücke über ihren Köpfen. Eberlin holte die beiden Männer ein und sagte:

«Ich will ihn nur für zehn Minuten sprechen. Das kann er mir nicht abschlagen.»

Die Männer antworteten nicht. Einer von ihnen begann, die Stufen zur Brücke hinaufzusteigen, aber der andere hielt ihn zurück und schüttelte den Kopf. Sie traten unter die Treppe in den Schatten.

«Was hielten Sie von der Party?»

«Copperfield?» fragte Eberlin.

«Bis zu einem gewissen Grad.»

«Er arbeitet für Brogue.»

«Den Schwarzen?»

«Ja.»

«Wichtig?»

«Bis zu einem gewissen Grad.»

«Natürlich.»

«Es ist dringend notwendig, dass ich Pavel spreche.»

«Weshalb?»

Weshalb? Die Frage war berechtigt. Big Ben schlug zehn Uhr fünfundvierzig, und sie hörten, wie über ihnen jemand die hölzernen Stufen herunterlief und dann ein anderes Geräusch, als ein Mann auf dem Zementboden erschien und, ohne sie zu sehen, davonlief und hinter einem Gebäude verschwand. Eberlin trat seine Zigarette aus.

«Man sollte meinen, ich hätte etwas Besseres verdient als euch zwei Tölpel.»

Eberlin fühlte sich elend. Er fluchte laut, trat aus dem Dunkel heraus und ging auf die Brücke zu. Sie ließen ihn die erste Stufe erreichen, dann kam einer von ihnen, ein koboldartiger kleiner Mann, der bei Stalingrad gekämpft hatte, hinter ihm hergelaufen und sagte leise:

«Genosse Krasnevin.»

Eberlin blieb stehen und sah ihn an.

«Pavel wartet im Wagen auf Sie.»

Der Mann strahlte vor Vergnügen, und Eberlin unterdrückte einen weiteren Fluch.

«Wo?» fragte er.

«Wo denn wohl?» war die Antwort.

Die beiden Männer eilten die Stufen hinauf und ließen Eberlin wieder allein. Er blieb mit angehaltenem Atem stehen, bis er sie nicht mehr hören konnte. Dann schlug er hastig die entgegengesetzte Richtung ein.

«Wer bist du – Eberlin oder Krasnevin?»

«Ist mir egal.»

«Nun, sollen wir englisch sprechen oder russisch?»

«Wie du willst.»

«Ich dachte, es sei wichtig.»

«Ist es auch.»

«Also dann.»

Eberlin seufzte tief, beugte sich auf dem Sitz des Wagens nach vorn und starrte durch das Fenster in die Nacht. Der kleine Volkswagen parkte in einer dunklen Gasse fünfzehn Kilometer nördlich von London. Die Hauptstraße nach Oxford und Richtung Norden verlief hinter und unter ihnen, und sie konnten das ferne Rumpeln der schweren Lastwagen hören, die durch die Nacht ratterten. Pavel saß neben Eberlin auf dem Fahrersitz. Sie sprachen lange Zeit nichts, bis Pavel die Hand nach dem Radio ausstreckte und beiläufig fragte:

«Willst du etwas Musik?»

Eberlin schüttelte den Kopf.

«Es könnte die Atmosphäre reinigen.»

«Nein», erwiderte Eberlin. Es herrschte Schweigen. Pavel trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad und vermied, Eberlin anzusehen. Schließlich drehte er das Fenster auf seiner Seite herunter, stützte den Ellbogen auf und sagte ruhig:

«Du darfst nicht denken, ich sei gegen dich. Das bin ich nicht. Ich verstehe dich besser, als du glaubst, aber …»

«Ich will kein Verständnis. Ich will nicht, dass man mich behandelt wie ein krankes Kind oder wie irgendeinen naiven Idioten, der aufgeheitert werden muss.»

«Ich will dich nicht aufheitern.»

«Was sonst?»

«Ich habe dir gesagt – ich bin …»

«Du wirfst mit Redensarten um dich.»

«Was soll ich denn sonst sagen? Du weißt, ich kann nicht …»

«Macht nichts.»

«Doch, es macht etwas.»

«Nein, es macht nichts. Und schließ bitte das Fenster, bevor wir Zuhörer bekommen.»

Pavel schloss das Fenster. Er sah Eberlin an.

«Entschuldige.»

«Schon gut», erwiderte Eberlin. «Es ist meine Schuld.»

«Nein, meine.»

«Nein, wirklich, es war …» Eberlin hielt inne und lächelte. Pavel beugte sich vor und holte eine Zigarre aus dem Handschuhfach. Er steckte sie in den Mund, und Eberlin zündete sie ihm mit einem silbernen Feuerzeug an.

«Ein schönes Feuerzeug», bemerkte Pavel.

«Aus Deutschland.»

«Wirklich? Das überrascht mich. Ich wusste gar nicht, dass die Deutschen solche …»

«Aus Westdeutschland.»

«Ach so!»

Pavel war ein kleiner, zierlicher Mann. Er war zehn Jahre älter als Eberlin und kannte ihn schon ein Leben lang. Sie mochten sich sehr gern und bedauerten es tief, dass sie es nie riskieren konnten, sich in der Öffentlichkeit zu einem Drink oder einer Plauderei zu treffen. Pavel war einmal verheiratet gewesen, mit einer Ungarin, die er während des Krieges kennengelernt hatte. Sie hatten zuerst in Budapest gelebt und waren dann nach dem Krieg nach Leningrad gezogen, das sie beide sehr liebten. Als Pavel jedoch zum sowjetischen militärischen Nachrichtendienst berufen und in Moskau stationiert worden war, hatte er seine Frau oft monatelang nicht gesehen. Es war unvermeidlich, dass die Ehe zu kriseln begann, und als er eines Tages nach Hause kam, fand er nur noch seine eigenen Sachen vor. Keinen Brief, nichts von ihr. Er suchte weder nach ihr noch reichte er die Scheidung ein, er bat lediglich um seine Versetzung. Man schickte ihn nach Berlin, wo er Eberlin wiedertraf, und anschließend nach London. Seine Frau sah er nie wieder.

«Weshalb willst du eigentlich wirklich nach Russland zurückkehren?» fragte er plötzlich.

«Ich habe es dir gesagt.»

«Nein, das ist es nicht. Ich kenne dich zu gut. Es ist mehr als nur die Liebe zur alten Heimat und all das.»