Ein denkendes Herz - Susanna Tamaro - E-Book

Ein denkendes Herz E-Book

Susanna Tamaro

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Beschreibung

»Ein denkendes Herz« ist die Geschichte eines besonderen Mädchens, das die Einsamkeit liebt und nicht aufhört, Fragen zu stellen. Eindringlich, intensiv, klug erzählt Susanna Tamaro von der eigenen Kindheit – ihrer Liebe zur Stille, ihrer Empfindsamkeit und dem Schmerz, der ihr oft daraus entstanden ist. Sie sucht ihre ganz persönlichen Antworten auf die Fragen nach dem Glück, dem Wesen des Menschen, dem Ursprung der Dinge, und beschreitet dabei neue Wege, die sich allzu häufig nicht mit den Erwartungen und Vorschriften der anderen vereinbaren lassen. Entstanden ist ein inspirierendes Tagebuch der Seele, das uns Tamaros ebenso verletzliche wie starke Persönlichkeit erklärt und uns die Augen öffnet für die versteckte Schönheit der Welt, die uns umgibt.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de/literaturDie italienische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Un cuore pensante« bei Bompiani, Mailand.Übersetzung aus dem Italienischen von Barbara KleinerISBN 978-3-492-97775-3August 2017Deutsche Erstausgabe© Susanna Tamaro, 2015www.susannatamaro.it© Piper Verlag GmbH, München, 2017Covergestaltung: Cornelia NiereCoverabbildung: plainpicture/NTB scanpix/Jens SølvbergDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Lass mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein.

Etty Hillesum

Wenn du Gott suchst, ist Gott der Blick deiner Augen.

Jalal al-Din Rumi

IFLUGVERSUCHE

Ein Mädchen!

Ich habe ziemlich früh gelernt zu schweigen.

Da ich, sobald ich den Mund aufmachte, Verwirrung stiftete, war es besser, still zu sein oder mich zu bemühen, Dinge zu sagen, die alle von mir hören wollten. Ich versuchte, mich anzupassen, ahmte die Bestrebungen der anderen nach, versuchte, den Tiger in mir in ein Plüschtier zu verwandeln. Aber ich war linkisch, ungeschickt, und meine Heuchelei aufzudecken wäre ein Leichtes gewesen.

Das Anderssein war für mich kein Vorzug, sondern eine Last, von der ich mich sehr gern befreit hätte.

Die wenigen Male, die es mir gelang, die Menschen um mich herum von meiner Normalität zu überzeugen, war ich glücklich. Gern wiegte ich mich ein paar Sekunden lang in der Illusion: mich freuen über das, worüber alle sich freuten, über etwas weinen, worüber zu weinen normal war. Den Rollenerwartungen entsprechen, den Erwachsenen erlauben, erwachsen zu sein, während ich ein Kind war. Genauer: ein Mädchen.

Ein Mädchen!

Hätte etwas weiter von der Wirklichkeit meines tieferen Seins entfernt sein können?

Ein Mädchen musste die Farbe Rosa und Spitzen lieben, musste sich um seine Puppen kümmern und gerne die erwachsenen Frauen nachahmen, musste heimlich nach den Schminktöpfen der Mama greifen, ihre Schuhe anprobieren und auf den Absätzen schwankend dahinstöckeln, musste seichtes Geplauder mögen, die exhibitionistische Rivalität mit den Gleichaltrigen.

Ein Mädchen musste damals hübsch und hilfsbereit sein, »die kleine Frau im Haus«, wie meine Großmutter voller Stolz sagte, wenn sie uns besuchen kam.

Ist es möglich, fragte ich mich, dass niemand meinen langen, weichen Schwanz sah, wie er sich mit bedrohlicher Langsamkeit bewegte? Dass niemand, wenn er meinen Blick auffing, die Glut bemerkte, die auf seinem Grund loderte?

Ein Tiger, gezwungen, eine Puppe zu sein!

Eine Antenne mit bloß liegenden Drähten

Bis zum Eintritt in die Grundschule habe ich für mich selbst anstelle meines Namens stets einen Männernamen verwendet. In der Schule musste ich mich dann der prosaischen Eindeutigkeit des Klassenbuchs fügen. Mit enormer Scham – eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte dabei ein Streichkäse, der damals sehr in Mode war – begann ich unter dem Joch der Entfremdung zu leben.

Hätte ich selbst wählen können, ich hätte mich Elektra genannt, weil seit jeher Unmengen an Elektrizität durch meinen Körper und meinen Geist flossen und aus mir eine Antenne mit bloß liegenden Drähten machten.

Welch großes Geheimnis, der Augenblick, da die Eltern den Namen des Wesens wählen, dessen Gesicht sie noch nicht kennen! Ich bin überzeugt, dass es da einen Engel gibt, der mit dieser Aufgabe betraut ist. Er ist es, der sich irgendwann zum Ohr der Mutter hinabbeugt und ihr die bis dahin unbekannte Folge von Buchstaben einflüstert.

Im Grunde geht jeder Geburt eine kleine Verkündigung voraus. Der Engel schlägt den Namen vor, und dieser Name ist die Tür, die man durchschreiten muss, um ins eigene Schicksal einzutreten.

Erst im Lauf der Jahre habe ich begriffen, dass ich von dem Zeitpunkt an, da die Keimzelle zu wachsen begann, wirklich Susanna war und dass dieser Name das Kreuz und die Gnade meines Weges sein würde.

Im Hebräischen bedeutet Susanna nämlich »weiße Lilie«, die Blume, die in der christlichen Ikonografie Reinheit symbolisiert.

Die biblische Geschichte der Susanna im Buch Daniel ist eine Erzählung von verratener Unschuld. Und noch deutlicher findet man diese verratene Unschuld im Reich der Natur wieder, hat sie doch einen hübschen Käfer mit roter Livree hervorgebracht (Lilioceris lilii), der ausschließlich auf Lilien lebt – nicht, um sich an ihrem Duft oder ihrer Schönheit zu berauschen, sondern ausschließlich, um sie mit seinem Kot zu beschmutzen. Ohne Schädlingsbekämpfungsmittel zum Einsatz zu bringen ist es wirklich schwer, eine Lilie zu finden, die nicht von üblen braunen Verkrustungen befleckt ist.

Da ist also in der Welt eine Energie am Werk, die immer und überall das zu beschmutzen, zu verunreinigen strebt, was von selbst nicht schmutzig und unrein ist. Den sirenenhaften Verlockungen der Psychologie folgend, neigen wir dazu, diese allgegenwärtige Kraft zu vergessen, ihr beständiges Streben, das Schöne zu vernichten, das Wahre zu verdunkeln.

Der Name einer Pistole

Auch wenn seit dem Tod meiner Großmutter mehr als zwanzig Jahre vergangen sind – und sie die letzten sechs Jahre umnachtet von der Demenz zugebracht hat –, spüre ich, dass bis heute eine sehr starke Verbindung zwischen uns besteht.

Sie war der Leuchtturm meiner Kindheit und Jugend. Dieses Licht, das sich in Intervallen auf meine Tage legte, war es, was mich mehrmals vor dem Schiffbruch im Sturm bewahrt hat.

Meine Großmutter hatte Freud gelesen, als in Italien noch niemand wusste, wer das ist, und war vertrauter mit den Münzen des I Ging, dem taoistischen Buch der Wandlungen, das ihr Onkel, Bruno Veneziani, übersetzt hatte, als mit der Bibel, die aber doch ihr Lieblingsbuch blieb. Sie war eine sehr schöne, charaktervolle Frau, sie liebte die Literatur, und noch mit achtzig bekam sie von ihren Verehrern Blumensträuße geschickt; sie war gebildet und ruhelos und bedauerte es, aus ihrer großen Intelligenz nichts gemacht zu haben, ein Umstand, der der damaligen Zeit und ihrer Herkunft geschuldet war. Obwohl sie eine miserable Mutter gewesen war, gab sie als Großmutter ihr Bestes.

Ihrem psychologischen Spürsinn war es zu verdanken, wenn ich einmal an Weihnachten genau die gleiche Cowboyausrüstung unter dem Christbaum fand wie mein Bruder.

Ich erinnere mich noch an die Erregung beim Umschnallen des breiten Gürtels und beim Befestigen des blechernen Sheriffsterns am Pullover. Ich wollte ihn gar nicht mehr abnehmen, auch nicht zum Schlafen. Als ich dann entdeckte, dass der auf der Pistole eingravierte Name der meine war – Susanna –, kam großer Frieden über mein Herz.

Den Namen einer Pistole zu haben war doch etwas ganz anderes, als den eines Streichkäses zu tragen.

Ein paar Jahre später war es wieder meine Großmutter, die mir zum Karneval ein Carabiniere-Kostüm besorgte. Dieser Karneval hat für mich ein ganzes Jahr gedauert, sobald ich konnte, zog ich das Kostüm an. Ich legte es erst ab, als es an den Knien buchstäblich durchgewetzt war.

Welches Glück, eine Uniform zu tragen!

Im Lauf der Jahre habe ich mich oft über diese kriegerische Neigung gewundert, da ich doch nie etwas für Machtpositionen oder Gewalt übrighatte. Eine Uniform zu tragen bedeutete, einer Ordnung anzugehören und bereit zu sein, für diese Ordnung zu kämpfen.

Aber hatte ich das nicht von Anfang an gewusst?

Dass mein Leben im Grunde ein einziger, unausgesetzter Kampf sein würde?

Die Fragen

Ich bin in der Stadt aufgewachsen, enorme Schmerzen haben meine Haltung von Anfang an gebeugt.

Kein unbeschwertes Herumtollen, keinerlei kindliche Leichtigkeit.

Beim Gehen schaute ich zu Boden, betrachtete die staubigen Grasbüschel in den Mauerritzen, das Unkraut in den Rissen des Asphalts, die Steinchen, Glasscherben, Zigarettenkippen und Kronkorken.

Ich dachte an die Erde und versuchte zu verstehen, wie sie beschaffen war. Wie kam es, dass wir an ihr haften blieben, während die Vögel flogen? Und wenn sie es müde werden sollte, uns festzuhalten, würden wir uns dann im Raum verlieren?

Manchmal rannte ich und schlug wie verrückt mit den Armen in dem Versuch zu fliegen.

»Na und?«, fragte ich dann meinen Bruder.

»Ja, ein bisschen hast du vom Boden abgehoben.«

Aber ich wusste, dass es eine fromme Lüge war.

Die Erde verlangte nach meiner Präsenz und verlangte danach, dieser Präsenz einen Sinn zu geben.

Lichtschein in der Nacht

Die erste Sammlung, die ich anlegte, war eine Sammlung von Steinen.

Vom Strand brachte ich Kiesel und wunderbar glatt geschliffene Glasscherben mit nach Hause. Während der Ausflüge auf den Karst oder in die Berge sammelte ich Steine, die in ihrem Inneren Lichtfunken einzuschließen schienen, und andere, die durchsichtig waren wie Eis.

Es gab also nur eine Erde unter unseren Füßen, aber diese eine war imstande, sich in vielfältigen Formen zu manifestieren. »Woher kommt diese Vielfalt?«, fragte ich mich.

In Ermangelung von Fernsehen und Internet blieben mir die Fragen tagelang unbeantwortet im Kopf, monatelang. Sie tauchten nachts auf wie ein Lichtschein, im Morgengrauen wurden sie schwächer, um dann am Nachmittag erneut aufzuleuchten.

Das Floß, auf dem ich fuhr, war ein Rettungsboot.

Und dann eines Tages die Offenbarung. Die Erde war letztlich nicht viel anders als eine Kirschpraline. Außen eine harte Schale aus Schokolade und innen eine weiche Frucht voller Likör.

Auch unser Planet hatte eine Kruste und darunter einen Mantel, wie Räuber und Feen. Und unter diesem Mantel gefangen ein glühendes Herz aus Feuer.

Das Herz der Erde war also weich, aber von einer beunruhigenden Weichheit. Feuer erhellt und wärmt, es kann aber auch zerstören und verschlingen.

Diese unverwirklichte Möglichkeit da drinnen, welchen Sinn hatte sie?

Würde dieses Potenzial eines Tages explodieren und uns alle in die Luft jagen?

Oder würde es zusammengeduckt dort liegen bleiben wie die verzweifelten Tiger, die ich im Zirkus gesehen hatte?

Der Tiger und der Akrobat

Der Zirkus brachte mich zum Weinen.

Noch heute zieht sich mir das Herz zusammen, wenn ich die Plakate sehe. Die feierliche Majestät der Tiere, herabgewürdigt durch die lächerliche Dummheit der Menschen. Diese auf den Schemeln hockenden Tiger, dieses Brüllen und diese vom Peitschenknall in Schach gehaltenen Pranken. All diese Macht, diese Schönheit, nur um durch einen Feuerring zu springen.

Und was soll man von den Elefanten sagen?

Ihre alte und ehrwürdige Weisheit darauf reduziert, mit einem Federbusch auf dem Kopf im Kreis zu gehen, dem Dompteur einen Fuß auf die Schulter zu legen, ohne ihn zu erdrücken.

Ich hätte in die Manege laufen und sie umarmen wollen, ihre faltige Haut mit meinen Tränen benetzen und flehen: Verzeiht uns, Brüder Elefanten.

Auch die Clowns brachten mich zum Weinen.

Alles lachte, und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte, ich gab mir schreckliche Mühe, nicht in Schluchzen auszubrechen.

Der Schmerz der Tiere und die Traurigkeit der Menschen, die andere zum Lachen bringen mussten, brachen über mich herein wie ein Tsunami.

Erleichterung brachten die Akrobaten, die Jongleure und Seiltänzer. Nahezu atemlos verfolgte ich die durch die Luft fliegenden Teller, das Balancieren auf dem Seil, das Schwingen der Körper zwischen den Trapezen. Welches Wunder liegt in der Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen, durch Arbeit und Anstrengung scheinbar unerreichbare Dimensionen zu erreichen!

Zu Hause schwankte ich in den folgenden Tagen zwischen zwei entgegengesetzten Gefühlen.

Ich wusste, dass mich alles, was ich gesehen hatte, persönlich betraf. Ich spürte, dass in mir ein Tiger kauerte, der sich nur vorübergehend von der Peitsche einschüchtern ließ. Aber außer diesem Tiger war da auch der Akrobat mit seiner Willenskraft und dem Wunsch, von der Erde abzuheben und schwere- und mühelos durch die Luft zu gleiten, einen schwebenden Moment der Gnade lang.

Tränen

Tränen waren die treuen Gefährten meiner Kindheit.

Keine Tränen, um etwas durchzusetzen – die waren nicht vorgesehen –, auch keine, wenn ich hingefallen war oder wegen einer Schürfwunde – auch die waren streng verboten.

Es waren eher Tränen des Bestürztseins.

Ich weinte über Dinge, die andere Kinder und auch die Erwachsenen völlig gleichgültig ließen.

Nach einigen bescheidenen Versuchen der Verständigung – die schon im Kindergarten fehlschlugen – war mir bald klar, dass sich ein Großteil meines Lebens in der Einsamkeit abspielen würde.

Die Wirklichkeit bestand aus munteren Schwimmern, während ich an der Oberfläche überhaupt kein Vergnügen fand.

Es war meine eigenste Natur, die mir das verwehrte.

Das feurige Herz der Erde – diese instabile Masse unter unser aller Füße – lud mich ständig ein hinabzusteigen.

Ein Taucher im Asbestanzug.

In die Dunkelheit eintauchen, die Finsternis durchqueren, um zu entdecken, ob dort unten wirklich die vernichtende Macht des Lichts gefangen war.

Mein Geist brachte unaufhörlich Fragen hervor, dasselbe tat mein Herz. Ich stellte mir Fragen über die Materie, und ich stellte mir Fragen über das, was nicht Materie ist.

Das waren nicht die Fragen eines aufgeweckten Kindes. Die seltenen Male, die ich versuchte, sie zu formulieren, riefen sie weder Bewunderung noch stolze Blicke hervor, sondern betretenes Schweigen, gefolgt von dem Vorwurf: »Aber auf was für Ideen kommst du denn da? Denk lieber an Dinge, die deinem Alter gemäß sind.«