Ein ehrenhafter Abgang - Éric Vuillard - E-Book

Ein ehrenhafter Abgang E-Book

Éric Vuillard

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Beschreibung

Vietnam war Schauplatz zweier Kriege, die zu den längsten und opferreichsten der Geschichte zählen. Éric Vuillard, der die Leser immer wieder mit seinen brillanten Rhapsodien über blitzlichtartig beleuchtete Episoden der Weltgeschichte fesselt, gelingt es auch in dieser neuerlichen Inszenierung, Geschichte unmittelbar fassbar zu machen. Mit wütender Präzision schildert er, wie zwei der größten Mächte der Welt in einer kolossalen Umkehrung der Geschichte gegen ein kleines Volk in ungeheuer verlustreichen Kriegen verlieren. Er erzählt von dem siegreichen Kampf des Unterlegenen und dem Aufstand eines von Kolonialmächten ausgebeuteten und geschundenen Volks. Er lässt das gewaltige Geflecht aus wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen sichtbar werden und erweckt eine ganze Galerie schillernder Figuren zum Leben: Kautschukpflanzer, französische Generäle, ihre Ehefrauen, Politiker, Bankiers. Ein ehrenhafter Abgang ist eine zutiefst beunruhigende menschliche Komödie, die ständig aufs Neue aufgeführt zu werden scheint.

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Éric Vuillard

Ein ehrenhafter Abgang

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Für Stéphane Tiné †

Inhalt

Hochvertrauliche Anlage zum Bericht der Gewerbeaufsicht

Dupont der Logen

Zwischenakt

Die Große Koalition

Ein Abgeordneter

Wie sich unsere glorreichen Schlachten in Aktiengesellschaften verwandeln

Der Kaid aus der Eure-et-Loire

Meet the Press

Ein ehrenhafter Abgang

Ein Besuch in Matignon

Der Plan von Navarre

Die Installierung

Christian Marie Ferdinand de la Croix de Castries

Einkreisung

Beatrice! Beatrice!

Navarre genauer betrachtet

Die Diplomaten

Telegramme

Die Partisanen

Ein Verwaltungsrat

Das Auge des Zyklons

Der Fall von Saigon

Hochvertrauliche Anlage zum Bericht der Gewerbeaufsicht

»Man muss reisen«, schrieb Montaigne. »Das macht bescheiden«, setzte Flaubert hinzu. »Man reist nicht, um den Ort, sondern um die Ideen zu wechseln«, übertrumpfte ihn Hippolyte Taine. Und wenn genau das Gegenteil der Fall wäre? In einem Reiseführer über Indochina von 1923 stößt man nach einer Reklameseite für die Firma Ridet & Cie., Waffenhändler in der Innenstadt von Hanoi, Lieferant von »Kriegs- und Jagdwaffen sowie Munition, diversem Zubehör für Jäger und Touristen, Selbstladepistolen oder Karabinern«, noch bevor »der malerischste Teil von Ober-Tonkin mit seinen zahlreichen Naturschönheiten« erwähnt wird, auf ein kurzes Glossar, einen Gesprächsleitfaden für Urlauber, von dem im Folgenden eine kleine Kostprobe zu lesen ist: »Hol mir eine Rikscha, mach schnell, mach langsam, bieg rechts ab, bieg links ab, fahr zurück, klapp das Verdeck hoch, klapp das Verdeck runter, wart hier kurz auf mich, fahr mich zur Bank, zum Juwelier, ins Café, aufs Kommissariat, zur Konzession.« So lautete der Grundwortschatz des französischen Touristen in Indochina.

Am 25. Juni 1928 brachen drei starre Silhouetten aus Saigon zu einer Reise auf. Ein leichter Nebel schwebte über den Gebäuden. Der Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit. Trotz des hochgeklappten Verdecks war es frisch, und der vorn sitzende Reisende hüllte sich rasch in ein Plaid. Doch in Wirklichkeit waren Tholance, Delamarre und ihr Sekretär keine ganz gewöhnlichen Reisenden, sie bildeten die Keimzelle einer neuen Kolonialverwaltung, sie waren die allerersten in Französisch-Indochina ernannten Gewerbeaufseher. Nachdem mutmaßliche Misshandlungen auf einer Michelin-Plantage für viel Aufsehen gesorgt hatten, waren sie infolge eines Arbeiteraufstands mit der Aufgabe betraut worden, zu kontrollieren, ob die dürftigen Verordnungen, die als Arbeitsrecht fungierten und die vietnamesischen Kulis schützen sollten, auch wirklich eingehalten wurden. Schon bald ließ der Wagen die Vororte hinter sich und fuhr durch eine Aneinanderreihung von Strohhütten. Wie schön die Landschaft doch war, von einem fast aggressiven Grün, der Fluss trat über sein Bett, und hinter einem schmalen Streifen Land ahnte man eine Vielzahl spiegelnder kleiner Wasserflächen.

Schließlich drang der Weg in den Wald ein, und die Reisenden verspürten gleichzeitig mit einer gewissen Verzauberung eine unaussprechliche Angst. Beiderseits der Straße eine reglose, sich unerbittlich wiederholende Prozession. Man drang in einen riesigen Wald ein. Doch es war kein Wald wie ein anderer, weder ein tropischer, struppiger oder wilder Wald noch der dichte Wald der Träume, der finstre Wald, in dem sich Kinder verirren; er war noch unheimlicher, noch wilder vielleicht, noch finsterer. Beim Hineinfahren schaudert es den Reisenden. Offenbar wachsen in diesem Wald wie durch einen merkwürdigen Zauber alle Bäume im gleichen Abstand voneinander. Ein Baum, dann noch einer, immer der gleiche, und ein weiterer, und noch einer, als bestünde der Wald nur aus einem einzigen Exemplar, das sich schier endlos vermehrte.

Nachts, in den kalten Stunden, gehen Männer regelmäßig von Baum zu Baum. Sie halten ein kleines Messer in der Hand. Innerhalb von fünf Sekunden machen sie ein paar kümmerliche Schritte, bücken sich, richten sich wieder auf und hinterlassen eine Kerbe in der Rinde. Dafür brauchen sie höchstens fünfzehn Sekunden, und so erreicht jeder Mann ungefähr alle zwanzig Sekunden einen anderen Baum, und in der benachbarten Reihe folgt ihm ein anderer Mann, und über hunderte und aberhunderte Meter bewegen sich Hunderte von Männern barfuß und in Leinen gekleidet voran, eine Laterne in der Hand, in der anderen ein Messer, und kerben die Rinde ein. Dann beginnt ein langsames Tropfen. Fast wie Milch. Doch es ist keine Milch, es ist Latex. Und jede Nacht lässt jeder Mann ungefähr eintausendachthundert Bäume zur Ader, eintausendachthundertmal legt der Mann sein Messer an die Rinde, eintausendachthundertmal zieht er seine Kerbe und schneidet eine dünne, ungefähr zwei Millimeter breite Scheibe ab, eintausendachthundertmal muss er aufpassen, dass er den Holzkern nicht berührt. Und während unsere Gewerbeaufseher mit dem Wagen die endlose Plantage durchqueren, während sie die hier konkret umgesetzte Rationalität bewundern, wie es Taylor und Michelin gelungen ist, den »natürlichen Müßiggang« des annamitischen Arbeiters mit einer rationellen Arbeitsorganisation in den Griff zu bekommen, während die Inspektoren bewundern, in welchem Maße dieser Wald, die unbarmherzige Organisation dieses Waldes, einen unerhörten Kampf gegen die verlorene Zeit darstellt, verspüren sie, den Blick gebannt von der eisigen Unermesslichkeit des Werks, so etwas wie Entsetzen.

Sogar das bestorganisierte System kann versagen. Um neun Uhr morgens, etwa zwanzig Kilometer vor ihrer Ankunft im Plantagenbüro, erblickte Emile Delamarre, seines Zeichens Gewerbeaufseher, drei junge Tonkinesen am Straßenrand. Unglücklicherweise beugte er sich vor, und da sah er, dass sie mit einem Draht aneinandergefesselt waren. Das musste sonderbar, irgendwie unangebracht auf ihn wirken, diese drei barfüßigen, aneinandergebundenen Männer, er befahl dem Chauffeur sofort anzuhalten.

Die drei Männer waren schmutzig und zerlumpt, sie wurden von einem Vorarbeiter begleitet. Delamarre stieg ein bisschen groggy aus dem Auto, strauchelte im Schlamm und arbeitete sich mühsam zu den Gefangenen weiter. Als er auf ihrer Höhe war, schaute er kurz zu dem Vorarbeiter, der angesichts des teuren Anzugs von Delamarre den Hut abnahm. Es war bereits heiß und feucht. Delamarre stellte fest, dass die Gefangenen mit Krätze befallen waren. Auf einen Blick sah er, dass der Draht ihnen übel ins Handgelenk schnitt, und er beschloss, sie direkt zu befragen, auf Vietnamesisch. Nach einem banalen Geplänkel und einem Moment des Zögerns erzählte ihm einer von ihnen, dass er ausgebrochen sei. Er war das, was man einen Deserteur nannte, er hatte die Plantage bei Nacht verlassen, war aber soeben wieder eingefangen worden. Delamarre fand die Behandlung wohl ein bisschen unverhältnismäßig, aber das fiel streng genommen nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Er begnügte sich also mit einer etwas schroffen Bemerkung an den Vorarbeiter, dann trat er zurück, streifte sich die Schuhe am Straßenrand ab und stieg wieder ins Auto ein, »Zur Plantage«, rief er.

Auf der restlichen Fahrt versuchte er, diese unangenehme Szene zu vergessen, und Gott sei Dank, wurde ihnen bei der Ankunft auf der Plantage ein herzlicher Empfang zuteil. Nach einem ersten Blick auf die Anlagen stellte man sie dem Direktor der Firmen Michelin und Cochinchina vor, Monsieur Alpha, in Begleitung des Plantagenvorstehers Monsieur Triaire und ein paar europäischer Angestellter. Gemeinsam begannen sie die Besichtigung: Behausungen der Kulis, kleine Gärten, Duschen, Krankenstation, Lebensmittelläden, Wasserturm. Voller Bewunderung besahen sich die Inspektoren die neue Ausstattung. Man kam wieder heraus aus den Gebäuden, und Delamarre, einen Moment nutzend, in dem er alleine neben dem Direktor dahinschritt, erkundigte sich nach einem Justizbalken, der ihm zu Anfang ihrer Besichtigung neben den Behausungen aufgefallen sei. Monsieur Alpha wirkte unangenehm überrascht, er wandte sich zu seinem Stellvertreter, Monsieur Triaire, und bat ihn in barschem Tonfall um Aufklärung.

»Ich habe diese Vorrichtung anbringen lassen, um die Deserteure hierzubehalten«, erklärte Triaire ein bisschen verlegen. »Wir behalten sie nicht länger als eine Nacht, und nur mit einem Fuß angekettet!«

»Gibt es noch andere Justizbalken auf der Plantage?«, fragte Delamarre wieder.

»Nein, das ist nicht der Fall«, antwortete Triaire kategorisch.

Die Besichtigung ging weiter. Jetzt waren die Küchen dran. Man hatte einen ausgiebigen Rundgang für sie organisiert. Triaire lobte die moderne Anordnung, die Sauberkeit, als Delamarre plötzlich an einer verschlossenen Tür vorbeiging und fragte, was sich dahinter befinde. Man erwiderte ihm mit einem Achselzucken, wahrscheinlich eine Abstellkammer, doch niemand habe die Schlüssel. Weil Delamarre aber unbedingt hineinwill, läuft Triaire sie holen. Endlich kommt der Aufseher völlig außer Atem mit ihm zurück und öffnet die Tür. Der Raum ist leer, doch ganz hinten befindet sich ein Justizbalken mit neun Löchern.

Der Direktor wendet sich ruckartig Triaire zu und verlangt eine Erklärung. Triaire verhaspelt sich, der Direktor schlägt einen schärferen Ton an. Aber so wie wenn sich im Theater vorn auf der Bühne eine kleine Komödie abspielt, die von einer Hintergrundszene offenkundig widerlegt wird, dringt aus einem Nachbarraum plötzlich ein Stöhnen. Wieder ist die Tür verschlossen und man muss die Schlüssel holen. Da macht der Gewerbeaufseher von seiner Autorität Gebrauch und befiehlt energisch, die Tür eintreten zu lassen. Ach, schon ist sie auf, man hatte auf wundersame Weise doch noch die Schlüssel gefunden, wie zerstreut er nur ist, dieser Triaire! Doch statt der Lage ihre Dramatik zu nehmen, verstärkt diese sonderbare Zerstreutheit noch die diffuse Angst, die die Gewerbeaufseher seit ein paar Minuten befallen hat. Und in dem Moment, als die Tür sich öffnet, das spüren sie, während das Stöhnen zunimmt, nur zu gut, dringen sie ein in eine andere Welt.

Ein Mann liegt auf dem Rücken, am Ende seiner Kräfte, erschöpft, beide Füße gefesselt, halb nackt. Der Mann windet sich auf dem Boden und versucht verzweifelt, seine Geschlechtsteile mit einem schmutzigen alten Lumpen zu bedecken, den er notdürftig an sich presst. Während die kleine Prozession von dem gerade Gesehenen noch völlig niedergeschmettert ist, stürzt Triaire vor, reißt den Lumpen weg, den der arme Mann sich zitternd auf den ausgemergelten Körper gehalten hat, und schreit: »Hoffentlich hat er sich nicht selbst verstümmelt!« Die Bemerkung ist derartig unangebracht, dass der Gewerbeaufseher eine Weile braucht, um ihre Bedeutung zu erfassen. Wollte Triaire ihnen etwa weismachen, dass der Mann zu seinem eigenen Wohl so gefesselt worden war?

Der Kuli war nun fast nackt, sämtlichen Blicken ausgesetzt. Es war eine Szene des Grauens. Man befreite ihn so gut man konnte von seinen Fesseln, man half ihm hoch, und die Wärter untersuchten grob die kleinsten Winkel seines Körpers, als hätte der Mann versucht, sich umzubringen, als wollte er etwas verbergen. Der Raum war schlecht erleuchtet, düster. Der Mann entsetzlich mager. Er konnte sich kaum aufrecht halten. Er hatte Angst.

Der Direktor herrschte Triaire an, »Was ist das bloß für eine Geschichte?«, brüllte er, »Ich weiß es nicht«, wiederholte Triaire und schrie seinerseits dem Aufseher zu, sofort den Krankenpfleger zu holen. Man musste sich gedulden. Das Warten schien endlos. Der Vietnamese war ausgemergelt, dem Tode nahe, gezwungen, sich zwischen den Direktoren und zwei Unbekannten, deren Sprache er nicht beherrschte, aufrecht zu halten. Er schwankte, die Franzosen schwiegen. Von Zeit zu Zeit fiel ein dicker Tropfen auf das Wellblech. Ein kühler Luftzug wehte durch das Zimmer. Und Triaire wiederholte für sich selbst: »Ich verstehe das nicht.«

Endlich kam der Krankenpfleger. Womöglich glaubte er, die Inspektoren mit seiner Erklärung »Mein Patient ist an Ruhr erkrankt« zu beruhigen. Doch diese überra schende Erklärung belastete die Atmosphäre nur noch mehr. Delamarre dachte: »Und so behandeln Sie also Ihren Patienten, indem sie ihn halb nackt an einen Balken binden!« Mit kühler Stimme befahl er: »Ziehen Sie diesen Mann vollständig aus!« Triaire gab den beiden Aufsehern ein Zeichen, der Kuli zuckte erschrocken zusammen, war aber zu schwach, um auch nur einen Schritt zu tun. Man zog ihm die Jacke aus. Der Mann war nun völlig nackt, so wie wir alle eines Tages vor unseren Richtern stehen werden. Er hielt den Kopf gesenkt, glich einem Toten. Inspektor Delamarre näherte sich langsam, sehr langsam ging er um den Mann herum. Mit einer Handbewegung forderte er seinen Kollegen auf heranzutreten: »Ich bitte Sie festzustellen, dass dieser Mann auf dem Rücken sechs deutlich ausgeprägte Rattanstockschläge aufweist.«

Am folgenden Tag suchte Delamarre die andere Michelin-Plantage auf, wo unlängst mehrere Selbstmorde per Erhängen vermeldet worden waren. Die Firma Michelin machte sich Gedanken über die »Beweggründe für diese Selbstmordepidemie«, wie es im Bericht der Gewerbeaufsicht hieß. Der Liste zufolge, die man ihm weiterleitete, hatten sich die Selbstmorde in einem haarsträubenden Rhythmus ereignet. Pham-thi-Nhi, erhängt am 19. Mai, Pham-van-Ap, erhängt am 21. Mai; Ta-dinh-Tri, erhängt am selben Tag; Lê-ba-Hanh, erhängt am 24.; Dô-thê-Tuât, erhängt am 10. Juni; Nguyên-Sang, erhängt am 13. Juni; Tran-Cuc, erhängt an diesem Morgen. Insgesamt sieben Selbstmorde in einem Monat. Und auf seinem Rundgang entdeckt der Inspektor an den Kulis tiefe Spuren von Schlägen, und während er sie befragt, reihen sich die Berichte von Demütigungen und Schrecken aneinander, und obwohl alles abgestritten wird, findet Delamarre schließ lich in einer Abstellkammer einen ganzen Vorrat an Rattanstöcken, und wie gehabt weiß der Plantagendirektor von nichts, und wie gehabt wirkt er ausnehmend betroffen und erklärt, zwar seien ihm gewisse Übergriffe zu Ohren gekommen, aber er habe sofort durchgegriffen und einen beflissenen jungen Assistenten losgeschickt, solche Ausschreitungen jedoch habe er sich nicht im Entferntesten ausmalen können, und wie gehabt äußert der Direktor sein tiefes Bedauern, und wie gehabt werden die Misshandlungen als Ausnahmen, als Fehlverhalten, als Grausamkeit eines Aufsehers oder Sadismus eines Untergebenen dargestellt. Der Gewerbeaufseher verfasst gewissenhaft seinen Bericht, die Behörden sprechen ein paar Empfehlungen aus. Ihnen folgt weder Reform noch Verurteilung. In jenem Jahr erzielte die Firma Michelin einen Rekordgewinn von dreiundneunzig Millionen Franc.

Einige Jahre zuvor hatte André Michelin bei einem ihm zu Ehren bei Prunier in Paris organisierten Mittagessen die Bekanntschaft von Frederick W. Taylor gemacht. Bei der Nachspeise hatte Taylor, nach den Schilderungen Michelins »die Bescheidenheit in Person«, ihnen schüchtern die Grundprinzipien seiner Methode auseinandergesetzt. Doch um die Bewunderung André Michelins für die Taylor’schen Theorien besser zu verstehen, um das Grauen zu ermessen, das die Gewerbeaufseher verspürten, als ihr Wagen in aller Herrgottsfrühe an diesem geometrischen Wald entlangzufahren begann, wo alle Bäume im gleichen Abstand voneinander gepflanzt worden waren, damit jeder Kuli nur ein paar Schritte machen musste, immer die gleiche Anzahl, im gleichen Takt, um richtig zu begreifen, was unter der Bescheidenheit Taylors, jenem Vorzug, mit dem Michelin ihn schmückte, zu verstehen ist, wollen wir diesen kleinen Auszug aus dem bedeutenden populärwissenschaftlichen Werk Frederick W. Taylors zitieren, in dem er die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung anführt: »Ein Mann mit der Intelligenz eines durchschnittlichen Arbeiters kann für die heikelste und schwierigste Arbeit dressiert werden, wenn sie sich oft genug wiederholt, und seine unterlegene Mentalität befähigt ihn mehr als den Facharbeiter dazu, die Monotonie der Wiederholung zu ertragen.«

Nach Taylor also wäre Pham-thi-Nhi, Identitätsnummer 2762, der sich am 19. Mai 1928 auf der Plantage von Dâu Tiêng erhängt hat, nichts anderes als ein für die heikelste und schwierigste Arbeit dressierter Mann mit der Intelligenz eines durchschnittlichen Arbeiters, dem es aber trotz seiner unterlegenen Mentalität offenbar nicht gelungen ist, die Monotonie der Wiederholung auszuhalten; und Pham-van-Ap, Identitätsnummer 1309, der sich am 21. Mai 1928 erhängt hat, war womöglich nichts anderes als ein für die heikelste und schwierigste Arbeit dressierter Mann mit der Intelligenz eines durchschnittlichen Arbeiters, und trotzdem scheint auch er der Monotonie der Wiederholung nicht standgehalten zu haben.

Im gleichen Jahr kamen dreißig Prozent der Arbeiter auf der Plantage ums Leben, mehr als dreihundert Personen. Delamarre sah wieder die abgemagerten, vom Draht eingeschnittenen Handgelenke der drei verstörten Gefangenen vor sich, dieser Deserteure, denen sie frühmorgens begegnet waren, ihren abwesenden Blick. Er schämte sich. Die Wahrheit war hier, vor seinen Augen. Was zählte da schon ihr gottverdammter Arbeitsvertrag, in dessen Namen man ihnen eine solche Gewalt antun konnte. Als er sich an jenem Abend zur Weiterfahrt aufmachte, begriff der Gewerbeaufseher Delamarre, dass diese Männer mit der Flucht von der Plantage nur versuchten, ihre Haut zu retten.

Dupont der Logen

Im Norden Vietnams in der Region von Tonkin gibt es wunderschöne Hügellandschaften, das, was Reiseunternehmen als Traumlandschaften bezeichnen. Die steilen Hügel, klaren Seen und atemberaubenden Wasserfälle scheinen direkt der chinesischen Malerei entsprungen. Wie mit einem ausgefransten Pinsel gemalt, damit die auf ein Mindestmaß reduzierte Linie nur eine neblige Grenze andeutet. Doch im September 1950 bekam der Militärposten, von dem aus die Franzosen seit einem Vierteljahrhundert diese herrlichen Landschaften bewunderten, seine Versorgung nur noch auf dem Luftweg und war mithin gefährlich isoliert. Man hatte Schwierigkeiten, die mit dem Fallschirm abgeworfene Verpflegung zu ergattern, und begann, den Hunger zu fürchten. Die Situation spitzte sich zu. Umfangreiche Arbeitskraftkontingente, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, verließen die Plantage. Man sah sich einer regelrechten Armee gegenüber. Nach einigem Hin und Her entschloss sich der französische Generalstab, die Stellung zu räumen. Zu spät. Am Tag, als der Befehl zur Evakuierung eintraf, starteten die Viêt Minh einen Großangriff. Umgehend wurden zusätzliche Legionäre mit dem Fallschirm abgesetzt, doch der Ansturm ging so schnell und brutal vonstatten, dass sie keine Zeit hatten einzugreifen; und so fiel der Posten.

Das Regiment, das Cao Bang evakuiert hatte, kämpfte sich mühsam durch den Dschungel, und nach einigen blutigen Zwischenfällen, unklugen Befehlen und Gegenbefehlen gelang es ihm irgendwann, zu einer zweiten Kolonne aufzuschließen. Doch nach Einbruch der Dunkelheit traten die Überlebenden, von allen Seiten in Bedrängnis gebracht, angesichts der immer alarmierenderen Situation einen verzweifelten Rückzug an. Der Feind ließ nicht locker. Und nach ebenso zahlreichen wie heftigen Zusammenstößen wurden die beiden Kolonnen ausgelöscht.

Ungefähr zehn Tage später, am Donnerstag, den 19. Oktober 1950, adressierte Édouard Herriot, ihr Präsident, in der Nationalversammlung die rituelle Würdigung an unsere bewaffneten Kräfte, dann ein Wort an unsere heldenhaften Soldaten, und schließlich erwähnte er äußerst würdevoll ihren Kampf in Indochina; er hielt es sogar für angezeigt hinzuzusetzen, dass es ihre Aufgabe gewesen sei, »die Unabhängigkeit einer im Rahmen der Union française mit unserem Land verbündeten Nation zu sichern«. Dabei hatte er seinen Blick über das Publikum schweifen lassen. Die Logen waren gut gefüllt. Sobald er den Familien auf passende Weise unser tiefes Mitgefühl ausgesprochen hatte, wollte er schnell weiter im Text und erteilte dem ersten Fragesteller, Monsieur Juge, das Wort.

Im Namen der kommunistischen Fraktion fragt der Abgeordnete, wie die Regierung auf das Angebot des Präsidenten Hô Chi Minh, Gefangene auszutauschen, zu antworten gedenke. Sein Beitrag dauert ein paar Minuten, die Abgeordneten beginnen zu gähnen, wie heiß es doch ist in diesem Oktober! Man lockert den Krawattenknoten ein wenig, genehmigt sich ein zusätzliches Loch im Gürtel. Endlich ergreift, eine Viertelstunde später, ein weiterer Abgeordneter das Wort, und sofort kommt Leben in den