Traurigkeit der Erde - Éric Vuillard - E-Book

Traurigkeit der Erde E-Book

Éric Vuillard

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Beschreibung

Indianer zu Hunderten, Horden von Bisons und ihre Jäger, Hitze und Spannung, Staub und das unentwegte Knallen von Schüssen – Éric Vuillards Erzählung strotzt vor Abenteuer. Doch die Spur verläuft im Kreis, die Männer bewegen sich vor einer riesigen Leinwand, die Rufe der Menge überdecken alle Geräusche : Billy Cody alias Buffalo Bill tobt im Zentrum eines Spektakels, das als Wildwest-Show über zwei Jahrzehnte in der ganzen Welt bekannt war und eine Geschichte von Heldentum und gerechtem Zorn konstruierte. Doch die Schlachten der Sieger, der heroische Gründungsmythos eines vermeintlich freien Landes, waren das Massaker an Amerikas Ureinwohnern, deren Überlebende nun gezwungen sind, im Kostüm des Besiegten zu posieren und ihre Erniedrigung bei jeder Darbietung abermals zu durchleben. Éric Vuillard konfrontiert in dieser fesselnden historischen Rhapsodie den amerikanischen Mythos der Eroberung des Westens mit den vergessenen Gesichtern ihrer Opfer und entlarvt das erste große Massenvergnügen der Neuzeit als lügenhafte Umerzählung der brutalen Ausrottung eines Volkes in ein gigantisches, von den Siegern zu Markte getragenes Spektakel.

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Inhalt

Cover

Das Museum des Menschen

Was ist das Wesen des Spektakels?

Ein Schauspieler

Buffalo Bill in Elsass-Lothringen

Das Massaker bei Wounded Knee

Ein Kind kaufen

Die Schlacht von Wounded Knee

Die Stadt Cody

Die Wirklichkeit ist nicht mehr, was sie war

Die Unterhaltungsprinzen sterben traurig

Geschichten

Der Schnee

Éric Vuillard

Traurigkeit der Erde

Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody

Erzählung

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Für Stéphane Tiné

Das Museum des Menschen

Das Spektakel ist der Ursprung der Welt. Dort verharrt das Tragische, reglos, merkwürdig unzeitgemäß. Auf der Weltausstellung 1893 in Chicago, die den vierhundertsten Jahrestag der Reise Kolumbus’ feierte, zeigte ein im Mittelgang postierter Reliquienstand den vertrockneten Leichnam eines indianischen Neugeborenen. Es gab einundzwanzig Millionen Besucher. Sie spazierten über die Holzbalkone des Idaho Buildings, bestaunten die Wunder der Technik, wie jene kolossale Venus von Milo aus Schokolade am Eingang des Landwirtschaftspavillons, und dann leisteten sie sich eine Tüte Würstchen zu zehn cent. Man hatte zahllose Bauten errichtet, und das Ganze ähnelte einer schlechten Sankt-Petersburg-Kopie, deren Gipsbögen und -obelisken aus allen Epochen und Ländern stammten. Die Schwarz-Weiß-Fotos davon vermitteln die Illusion einer außergewöhnlichen Stadt mit statuen- und springbrunnengesäumten Palästen, mit Wasserbecken, zu denen die Steintreppen sanft abfielen.Und doch ist alles falsch.

Der Glanzpunkt der Weltausstellung aber, die Krönung, der größte Zuschauermagnet, waren die Vorstellungen der Wild West Show. Alle wollten sie sehen. Und auch Charles Bristol – der Inhaber des indianischen Reliquienstands, der den Kinderleichnam zur Schau stellte – wollte alles stehen und liegen lassen, um hinzugehen! Dabei kannte er dieses Schauspiel, weil er zu Beginn seiner Karriere manager und Kostümbildner für die Wild West Show gewesen war. Aber das hatte sich geändert, mittlerweile war es ein gigantisches Unternehmen. Pro Tag fanden zwei Vorstellungen statt, bei achtzehntausend Plätzen. Die Pferde galoppierten vor riesigen bemalten Leinwänden. Es handelte sich nicht mehr um die ihm vertraute vage Abfolge von Rodeos und Scharfschützen, sondern um eine regelrechte Inszenierung der Geschichte. Und während die Weltausstellung die industrielle Revolution zelebrierte, verherrlichte Buffalo Bill die Eroberung.

Später, sehr viel später arbeitete Charles Bristol für die Kickapoo Indian Medicine Company, die ungefähr achthundert Indianer und etwa fünfzig Weiße beschäftigte, um ihren Kram zu verkaufen. Ihr Spitzenmedikament war Sagwa, eine Mischung aus Kräutern und Alkohol gegen Rheuma oder Verdauungsbeschwerden. Vor allem die Cowboys hatten anscheinend ganz besonders unter Blähungen und geräuschvollen Störungen der Verdauung zu leiden, da man überall im Land auf der Suche nach einem Heilmittel war. Schließlich gab Charles Bristol den Medikamentenverkauf auf und begab sich mit seiner Kunstsammlung auf ausgedehnte Rundreisen. Zwei Winnebago-Indianer der Medicine Company schlossen sich ihm an. Das Museum machte Station im mittleren Westen, und die kleinen sketchs, in denen die Indianer tanzend die Rolle jedes einzelnen Kunstobjekts veranschaulichten, waren so unterhaltsam wie lehrreich.

Ende 1890, knapp drei Jahre vor Eröffnung der Weltausstellung, hatte sich Charles Bristol mit einem Armleuchter namens Riley Miller zusammengetan. Nachdem Bristol sich mit Riley eingelassen hatte, ist der Legende nicht mehr zu glauben. Bis dato verdankten sich die von Bristol zusammengetragenen Schätze ihm zufolge seinen Bekanntschaften mit Indianern – eine ganze Reihe von kleinen Geschenken. Aber Riley Miller war ein Mörder und ein Dieb. Er skalpierte und entkleidete die toten Indianer, ermordete sie und nahm ihnen dann ihre Mokassins weg, ihre Waffen, ihre Tuniken, alles. Männern, Frauen oder Kindern. Ein Teil der von Bristol auf der Messe in Chicago ausgestellten Reliquien stammte daher. Später sollte das Historische Museum in Nebraska Charles Bristols Sammlungen kaufen; und heutzutage befindet sich womöglich irgendwo im Museumsfundus das vertrocknete Indianerkind der Weltausstellung. Daran sieht man, dass das Schauspiel und die Wissenschaften vom Menschen in denselben Vitrinen ihren Anfang nahmen, mit Toten abgenommenen Kuriosa. In den Regalen der Museen auf der ganzen Welt finden sich bis zum heutigen Tag derartige Beutestücke, Trophäen. Und das, was wir dort als Ausstellungsobjekte von Negern, Indianern oder Asiaten bewundern, sind den Leichen geraubte Gegenstände.

Was ist das Wesen des Spektakels?

Blicken wir kurz auf die Jahre vor der Weltausstellung in Chicago zurück, und untersuchen wir diese fabelhafte Wild West Show etwas genauer. Was bringt täglich vierzigtausend Menschen dazu, sich dieses Schauspiel anzuschauen? Welche Schräglage ihres verfliegenden Lebens lässt sie bis in die große Manege rutschen, in der zwischen Pappkulissen galoppierende Reiter brüllen? Buffalo Bill hatte zehn Jahre vor der Ausstellung sein Spektakel auf die Beine gestellt; das Ganze war durch die Verknüpfung der unterschiedlichen Nummern langsam gewachsen. Die erste Fassung bestand lediglich aus einer eintönigen Abfolge von Rodeos, aber Buffalo Bill beließ es nicht dabei. Der ehemalige ranger sollte die Kunst der Unterhaltung auf der Bühne revolutionieren, sollte etwas anderes daraus machen. Buffalo Bill zog mit seinem Zirkus von Stadt zu Stadt, feilte an den Nummern, engagierte immer neue Stars; und die Wild West Show verwandelte sich erfolgreich: Es war kein einfacher Zirkus mehr, nicht mehr nur eine Schaustellertruppe, die auf die Bretter stieg, nein, es war etwas völlig Neues. Dabei war all das bei näherer Betrachtung ziemlich unzusammenhängend, eine Abfolge kurzer Szenen; und es gab keine Sensation, keine Monster, keine Schreckgestalten; was aber dann?

Bewegung und Aktion. Die pure Wirklichkeit. Ja, einfach ein paar galoppierende Pferde, nachgestellte Schlachten, Spannung, Typen, die tot umfallen und wieder aufstehen. Es fehlte an nichts. Und das Publikum kam immer zahlreicher, klatschte, lachte, schrie, war gebannt, fasziniert; als sei die Welt in einem Trommelwirbel erschaffen worden.

Doch der entscheidende Funke lag in etwas anderem. Die zentrale Idee der Wild West Show war eine andere. Das Publikum musste durch eine Ahnung von Leid und Tod, die es fortan nicht mehr loswürde, in Staunen versetzt werden. Es musste aus sich herausgeholt werden, wie kleine silberne Fische aus den Keschern. Vor seinen Augen mussten menschliche Gestalten schreiend in einer Blutlache zusammenbrechen. Es mussten Bestürzung her und Schrecken, Hoffnung und so etwas wie eine über das gesamte Leben geworfene Klarheit, äußerste Wahrheit. Ja, die Leute mussten schockiert werden – das Schauspiel muss alles, was wir wissen, erschüttern, es schleudert uns aus uns selbst heraus, nimmt uns alle Gewissheiten und verbrennt uns. Ja, das Spektakel verbrennt, ob es seinen Gegnern passt oder nicht. Das Spektakel beraubt und belügt und berauscht uns, es zeigt uns die Welt in all ihren Facetten. Und bisweilen scheint die Bühne weltlicher zu sein als die Welt, lebendiger als unsere Leben, anrührender und wirklicher als die Wirklichkeit, furchterregender als unsere Alpträume.

Um das Publikum anzulocken, um immer mehr Zuschauer zu einem Besuch der Wild West Show zu animieren, musste eine Geschichte erzählt werden; und zwar die, die zunächst Millionen von Amerikanern und später auch die Europäer hören wollten, die einzige, die sie hören wollten und die sie im Knistern der elektrischen Glühbirnen vielleicht bereits ausmachen konnten. Die amerikanischen Städter, diese neue Sorte von Menschen, die sich hartnäckig nur um sich selbst drehten, die im Ursprung ihrer Angst das Gefühl hatten, etwas Besonderes zu sein, auserwählt vom Genius des Fortschritts, um die Fackel der Menschheit zu ergreifen und sie höher zu halten als je irgendjemand vor ihnen, nun ja, diese amerikanischen Städter wollten Zeugen von etwas anderem sein, sie wollten im Geiste die Great Plains durchqueren, die Schluchten des Colorado durchmessen und das Leben der Pioniere erleben. Es mag seltsam klingen, aber über das Leben der Pioniere, durch die leidvolle Erzählung von ihrer Migration wollten die Bürger der jungen amerikanischen Städte unmittelbar an ihrer eigenen Geschichte teilhaben, an jenem großen Aufgebot von Mut und Gewalt, das ein paar Tausend Kilometer entfernt noch stattfand.

Schön und gut, aber Buffalo Bill wusste durch die Ausdünstung der Menge oder ein Ausströmen der Seele nur zu gut, dass das Publikum nicht wegen der Kuhjungen oder der Scharfschützen kam. Nein. Die Stärke seines Schauspiels (und vermutlich begriff er selbst nicht, woher sie wirklich rührte), die Idee, in der seine authentische Substanz lag, die es unwiderstehlich machte, waren die Indianer, echte Indianer. Ja, die Leute kamen wahrscheinlich nur ihretwegen. Oh, das war ihnen natürlich nicht bewusst, denn die meisten von ihnen verachteten Indianer. Aber wenn sie sich das Brot vom Munde absparten, um eine Eintrittskarte für jedes Familienmitglied zu besorgen und auf den Zuschauertribünen brav nebeneinander Platz nahmen, dann tatsächlich, um sie zu sehen, und nur deshalb. Buffalo Bill musste sie also zeigen, die Indianer. Und damit ein solches Spektakel florierte, musste er immerzu neue Stars auftreiben.

Dafür war, neben Buffalo Bill, Major John Burke zuständig, sein Impresario. Wie die meisten Manschettenträger damals, war Major John Burke keineswegs Major. Gelegentlich wird er als Arizona John zitiert, obwohl er nie in Arizona war. Er war schlichtweg ein Gauner der übelsten Sorte. Damals konnte der erstbeste Depp eine Stadt gründen, General, Geschäftsmann, Gouverneur, Präsident der Vereinigten Staaten werden; vielleicht ist das immer noch der Fall. Und er, John Burke, hatte die Stunde des Spektakels kommen sehen und war Buffalo Bills Pressesprecher geworden, sein Werbeagent. Er war der mächtigste und drolligste Agent von allen. Der ehemalige Journalist, Makler und Leiter einer Akrobatentruppe erfand in einem perfekten Zusammenführen des Menschen mit seiner Zeit das show business.

Ein Schauspieler

Die Zivilisation ist eine riesige, unersättliche Bestie. Sie frisst alles. Sie braucht Pfeffer, Tee, Kohle, Zinn. Sie bekommt nie genug. Die Zivilisation verlangt auch nach einer weniger materiellen Nahrung, hat sie allerdings schnell satt. Sie braucht unentwegt Frischfleisch, neue Gesichter. So musste die Wild West Show fortwährend andere Schauspieler beschäftigen. Und da gibt es etwas, das besser ist als die Artisten, besser als die besten Akrobaten, besser als jede Laune der Natur. Es gibt echte Protagonisten der Geschichte. Stellen Sie sich das vor! Einen Jongleur, der das Publikum verblüfft, kann man sich immer leisten, kann immer einen Buckligen oder siamesische Zwillinge auftreiben, um Neugierige anzulocken. Damit aber Tag für Tag Zehntausende kommen, damit fünfzehntausend Leute einen Dollar und ein paar Zerquetschte zahlen, zwanzigtausend morgens und abends, über Jahre hinweg, braucht es etwas anderes als Jongleure und Bucklige, es braucht etwas Ungeheuerliches. Und so bekam 1885 der alte Indianerhäuptling Sitting Bull, Sieger von Little Bighorn, nach mehreren Jahren im Exil und weiteren in Gefangenschaft, eines Morgens Besuch von John Burke.

Das große Säugetier war allein gekommen. Bei strahlendem Wetter. John Burke hatte sich, hoch oben auf seinem gefederten Phaëton hin- und hergeworfen, die Sache gründlich überlegt. Die Straße war eine Herausforderung für einen Mann seiner Korpulenz, die Buckel und Schlaglöcher hatten ihm heftig zugesetzt. Seufzend war er eine elend lange Weidenallee entlanggefahren und hatte einen schmalen Pfad quer über eine allzu weite Ebene genommen. Wenn auch arg strapaziert von der Reise, hatte er sich bei seiner Ankunft liebenswürdig und entspannt gegeben. Ja, unter Ehrenbezeigungen brachte er kleine Geschenke und den blauen Himmel mit. Er bot dem Indianer eine Zigarre an, doch der wollte keine. Also rauchte er seine Fürstenpfeife vor dem stummen alten Indianer alleine. Nach den offiziellen Begrüßungen, die bereits ein unterschwelliges und rabiates Gefecht waren, verfiel John Burke auf eine lange blumige Rede voller Abschweifungen und Ungereimtheiten. Zwischen zwei Komplimenten strich er sein verklebtes Haar zurecht und klemmte es hinter die Ohren. Doch der alte Indianer schwieg hartnäckig. Nach einem Viertelstündchen Geschwafel sah John Burke ein, dass seine Taktik zu nichts führte; Sitting Bull wirkte abgeneigt, und er beschloss, auf die Zielgerade einzubiegen.

Der Indianerhäuptling wusste seit Langem, dass der weiße Mann viele Gesichter hat und dass er sich von keinem dieser Gesichter täuschen lassen dürfe; alle waren sie eigennützig. Zu den ihm bekannten – Trapper, Soldaten, Pioniere, Kuhjungen, Alkoholverkäufer –, kam nun das des Impresarios. Doch Sitting Bull hatte bereits eine kurze Erfahrung im showbiz