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Wir lernen früh, die Rolle zu spielen, die andere von uns erwarten – aber niemand fragt uns, wer wir wirklich sein möchten. Als Fee zum ersten Mal bei der Laienspielgruppe der Freilichtbühne mitmacht, fühlt sie sich sofort wie zuhause. Die Gemeinschaft, die Proben, das gemeinsame Erschaffen einer anderen Welt – all das begeistert sie. Besonders die neue Hauptdarstellerin Leyla Haddad verzaubert mit ihrem Gesang und ihrer Präsenz das Publikum. Doch hinter den Kulissen brodelt es. Die Rollenverteilung sorgt für Missgunst – warum ausgerechnet die Zugezogene, die noch nie zuvor auf der Bühne stand? Als Fee und Tom in der Sommerpause des Theaters Leylas leblosen Körper auf der Bühne entdecken, verwandelt sich das idyllische Sauerland in einen Tatort. Bei ihren Nachforschungen stoßen die beiden auf Drohbriefe, verborgene Beziehungen und düstere Geheimnisse. In einer Gemeinschaft, in der nicht jeder bereit ist, über den eigenen Schatten zu springen, wird Fee schmerzlich bewusst: Toleranz ist etwas, das sich lohnt zu üben – doch manchmal kostet sie einen hohen Preis. Während die Liste der Verdächtigen immer länger wird, muss Fee sich auch ihren wachsenden Gefühlen für Tom stellen. Doch in einer Welt, in der jeder eine Rolle zu spielen scheint und Vorurteile tiefe Gräben ziehen können, weiß sie nicht mehr, wem sie vertrauen kann – besonders ihrem eigenen Herzen. Ein atmosphärischer Sauerlandkrimi über Akzeptanz, Leidenschaft und die Schwierigkeit seine eigenen Wege im Leben zu finden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
EIN FALL FÜR FELINE
BUCH 3
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Nachwort
Über Kerstin Rachfahl
Deutsche Erstausgabe Juli 2025
Copyright © 2025 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs, dualect.de
Buchcover: Florin Sayer-Gabor - 100covers4you.com
Bilder: Kerstin Rachfahl
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstin-rachfahl.de
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Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Den Mitwirkenden der Freilichtbühne Hallenberg auf und hinter der Bühne, die mit Hingabe und Herzblut jede Spielzeit zu etwas Besonderem machen.
Fee nahm Viola rechts und Timo links an der Hand. Gemeinsam warteten sie auf das Zeichen von der Technik. Das Lichtsignal leuchtete auf, und alle Mitspielenden verbeugten sich unter dem tosenden Applaus des Publikums. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Sie ließen einander los und winkten freudestrahlend in die Menge. Für Fee war es ein unbeschreibliches Gefühl, in die glücklichen Gesichter von Kindern, Teenagern und Erwachsenen zu blicken.
Die drei Stunden waren wie im Flug vergangen. Drei Stunden, in denen sie die knapp eintausend Zuschauer durch ein Wechselbad der Gefühle geführt hatten. Die Atemlosigkeit des Publikums war greifbar gewesen während der messerscharfen Choreografie des Straßenkampfes, kollektives Luftanhalten hatte den Moment des Verrats begleitet, und bei den zärtlichen Tönen des Liebesduetts war der ein oder andere verträumte Seufzer durch die Zuschauerreihen gegangen. Die Kinderbande hingegen hatte mit jeder ihrer frechen Einlagen Lachsalven ausgelöst und so die Anspannung zwischendurch gemildert.
Fee würde die Aufführungen in der vier Wochen dauernden Sommerpause vermissen. Sie blickte an der aufgereihten Spielschar entlang, in deren Mitte Leyla, Finn und Miriam um die Wette strahlten. Um diese drei Personen rankte sich die Geschichte. Zwei Freundinnen, die sich in denselben Jungen verliebten und deren Freundschaft daran zerbrach. Ein Standardplot, der erst durch die Charaktere und ihre Handlungen zu einem spannungs- und temporeichen Stück wurde.
Leylas Stimme war bemerkenswert vielseitig. Sie beherrschte mühelos sowohl tiefe, warme Töne als auch klare, kraftvolle Höhen. Ihre Klangfarbe wechselte zwischen rauer Intensität und sanfter Prägnanz – eine Kombination, die niemanden im Publikum unberührt ließ. Wenn sie sang, transportierte sie jede Emotion ihrer Figur: leise und verletzlich in den intimen Momenten, scharf und durchdringend in Auseinandersetzungen oder mit einem leichten Zittern in Sekunden der Unsicherheit. Die Leute erlebten nicht nur eine Sängerin, sondern eine Geschichtenerzählerin, deren Stimme jede Wendung des Dramas verkörperte.
Genauso beeindruckend war die Leistung von Miriam in der Rolle der Freundin. Eine tragische Figur, die die Absichten des Jungen, der von Finn gespielt wurde, falsch interpretierte und die zaghaft hoffte, dass er sie sehen und lieben würde, nur um festzustellen, dass sein Herz der Hauptfigur gehörte. Ihr verzweifelter Versuch, einen Keil zwischen die beiden zu treiben und seine Zuneigung zu erzwingen, scheiterte. Die dunklen Gefühle, die daraus entstanden, zerstörten alles, was ihr Leben ausmachte.
Besonders damit konnte Fee sich identifizieren. Doch wie in der Geschichte selbst galt der Applaus am Ende Leyla und nicht Miriam. Die Autogrammsuchenden standen Schlange bei Leyla und Finn, während sich zu Miriam nur wenige verirrten.
Die Naturbühne war in verschiedene Ebenen unterteilt. An einigen Stellen waren die natürlichen Plattformen erweitert sowie durch Treppen ergänzt worden. Unter der Bühne gab es geheime Gänge, durch die die Spielenden – vom Publikum unbemerkt – von der einen Bühnenseite zur gegenüberliegenden gelangten. Bäume, Büsche und Steine bildeten urwüchsige Höhlen. Dazwischen gab es schmale Pfade, die hinter die Kulissen führten. Dort wurde es hektisch, wenn jemand auf der einen Seite abging, um auf der anderen kurz darauf wieder aufzutauchen. Hinter der Bühne wurden – unsichtbar für das Publikum – Kostümegewechselt oder Mikrofone getauscht.
Das Spielen auf der Freilichtbühne schweißte alle zusammen. Aus anfänglichen Bekanntschaften wurden während der intensiven Probenzeit echte Freundschaften. In den gemeinsamen Stunden hinter der Bühne teilte man nicht nur die praktischen Aspekte des Theaterlebens wie das gegenseitige Helfen beim Kostümwechsel zwischen mehreren Rollen, das Warten auf den nächsten Auftritt oder das Schminken, sondern man teilte auch die Aufregung vor der Premiere und die Euphorie nach einer gelungenen Vorstellung. Die gemeinsam durchlebten Höhen und Tiefen, die geteilte Verantwortung für das Gelingen und die Freude daran, etwas Größeres zu schaffen, formten mehr als nur ein Ensemble – all das schuf eine Gemeinschaft, in der sich jeder aufgehoben fühlte.
Für Fee, die erst seit zwei Jahren im Dorf lebte, stellte dies eine unerwartete Möglichkeit dar, mit einer der Urgemeinschaften in Berghalle in Kontakt zu kommen. Alle waren freundlich zu ihr gewesen, doch sie hatte die Distanz und Skepsis wahrgenommen. Während der Proben fielen Fee die unterschiedlichen Kreise innerhalb der Akteure rund um die Freilichtbühne auf. Da waren zunächst die Familien mit historischen Wurzeln – Nachfahren jener, die nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Passion auf der Felsenbühne ins Leben gerufen hatten. Sie bildeten den Kern des Ensembles. Dann die langjährigen Stammspieler, die bereits als Kinder auf dieser Naturbühne mitgewirkt hatten und nun ihre eigenen Kinder mitbrachten. Manche Eltern integrierten sogar ihre Babys in die Inszenierung, indem sie sie in zeitaltergemäßen Kinderwagen über das Felsplateau schoben. Am Rand dieses etablierten Gefüges standen die Neuzugänge: Fee und Sabine mit Viola und Timo als Zugezogene, zwei weitere Mütter mit Kindern aus der Nachbarstadt sowie die Hauptdarstellerin Leyla Haddad. Als Neuankömmlinge bildeten sie ihre eigene, noch nicht vollständig integrierte Gruppe.
Amüsiert beobachtete Fee, wie Leyla mal wieder die Kinder um sich sammelte. Nie schien sie es müde zu werden, Autogramme zu geben und für Selfies zu posieren. Im Gegensatz zu Finn. Der wirkte genervt von dem Andrang und zwang sich sein Lächeln auf. Auf der Bühne beim Spielen harmonierten Leyla und Finn, wobei sie klar im Mittelpunkt stand und die Sympathieträgerin in dem Stück darstellte. Wenn Leyla nach vorn kam, um sich ihren Applaus zu holen, dann tobte das Publikum im gesamten Zuschauerraum.
Fee mochte das Mädchen und unterhielt sich häufiger mit ihm, wenn sich die Gelegenheit ergab. Für Viola, Julia und Timo war sie die Heldin, was daran lang, dass Leyla immer ein paar nette Worte für das Dreigestirn übrig hatte.
Für die Regisseurin war vor allem Julia zu Beginn der Probenzeit ein rotes Tuch gewesen. Leyla hingegen war in das lebhafte Mädchen vernarrt. Sie hatte ihr geholfen, Sinas harsche Worte bei der Rollenkritik zu verdauen und sich in die Figur, die sie darstellte, einzufühlen, damit sie das umsetzen konnte, was Sina ihr mit ihrer Kritik zu vermitteln versucht hatte.
Die Methoden der Regisseurin im Umgang mit der Spielschar hielt Fee aus professioneller Sicht für bedenklich, doch sie nahm sich zurück. Sie wusste, dass eine Gruppe, die über Jahrzehnte gewachsen war, ihre eigene Dynamik besaß. Es fiel ihr schwer, zu verstehen, weshalb Sinas emotionale Ausbrüche einfach hingenommen wurden. Konstruktive Kritik, Lob und eine Erklärung dessen, was sie vor ihrem geistigen Auge sah, hätte die Motivation aller gesteigert. Nur durch den Klatsch und Tratsch in der Spielerschar wurde ihr schließlich klar, wieso das Verhalten der Regisseurin toleriert wurde.
Sina führte seit fünf Jahren bei jedem Familienstück Regie. Sie hatte für ihre fantasievollen Inszenierungen eine Menge Lob in der Presse kassiert. Die Besucherzahlen hatten sich in den letzten zwei Saisons verdoppelt. Der Vorstand scheute das Risiko, ihr künstlerisches Talent zu verlieren. Am Ende hatte Fee es dennoch nicht mehr ausgehalten. Sie hatte die Regisseurin beiseitegenommen und mit ihr gesprochen, und nach diesem konstruktiven Feedback hatte Sina sich zusammengerissen. Mit der Premiere wurde das Stück an die Spielleitung übergeben. Beim Familienstück war das eine Doppelspitze, bestehend aus Katja, der Nichte von, Fees Nachbarin Alexandra, und Holger, dem Vater von Miriam. Beide gehörten zu den Gründerfamilien der Freilichtbühne.
Das Publikum sprang auf, pfiff, klatschte, und die ersten Rufe wurden laut. »Zugabe! Zugabe! Zugabe!«, skandierte die Menge.
Fee sah Holger an, der die Entscheidung treffen musste, ob Leyla noch einmal das Duett mit Finn und der Kindergruppe singen sollte. Bei dem Lied stand das gesamte Ensemble auf der Bühne und tanzte. Julia, Viola und Timo trällerten es im Alltag ständig. Es war ein echtes Mutmachlied, das von der Stärke handelte, die in jedem steckt, selbst in dem größten Feigling, und gab die perfekte Zugabe ab, da alle dabei auf der Bühne blieben. Mit einem Schmunzeln gab Holger das Zeichen an die Technik. Fee fiel es schwer, einzuschätzen, wer mehr Freude empfand: die Mitwirkenden, als sie ihre Startpositionen für das Lied einnahmen, oder das Publikum, sobald der Song angestimmt wurde.
Sie sah, dass Miriam rasch zu Finn lief und ihm etwas zuflüsterte. Der runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Das Mädchen presste die Lippen zusammen. Im Stück wie in der Realität war sie in den Jungen verliebt. Ob er ihre Gefühle erwiderte, fand Fee schwer einzuschätzen. Sie wusste, dass die beiden schon als sie noch klein gewesen waren, auf der Bühne mitgespielt hatten. Das führte nun zu einer Vertrautheit, die sich in wortloser Kommunikation spiegelte. Die befreundeten Familien unternahmen viel zusammen, und die Jugendlichen gingen in dieselbe Klasse. Leyla war im Herbst in demselben Jahrgang dazugestoßen. Miriam hatte sie, die Neuzugezogene, mit zum Casting genommen, und prompt hatte diese sich direkt die Hauptrolle gesichert, wohingegen das Freilichtbühnenkind die undankbare Rolle der Antagonistin bekam.
Viola, Julia und Timo rannten zur Kindergruppe, die zusammen mit Leyla das Lied sang. Fee lief die Treppen zum Hauptweg hoch, von wo sie sich Stück für Stück zum zentralen Punkt auf der Bühne tanzen würde. Die Choreografie war anspruchsvoll. Sie hatte ein gutes Gefühl für ihren Körper und den Rhythmus und hatte die Abfolge rasch gelernt. Aus diesem Grund hatte sie eine Position erhalten, an der sich andere in der Tanzgruppe bei Unsicherheiten orientieren konnten.
Die einleitenden Takte der Musik erklangen, und in Fee kribbelte es vor Freude. Sie hatte heute zum ersten Mal in ihrem Leben für eine Aufführung auf der Bühne gestanden und war davon ausgegangen, dass sie vor lauter Panik alles vergessen würde, sobald sie vor Publikum spielte. Aber da hatte sie sich gründlich geirrt. Das Gegenteil war der Fall. Durch die Kostüme und die Musik und mithilfe des Ensembles, in dem jeder mit Feuer und Flamme dabei war, war sie in eine andere Welt eingetaucht. Sie wurde zu der Figur, die sie darstellte, und vergaß die Realität um sich herum, bis sie am Ende der Vorstellung das Kostüm wieder ausziehen und sich abschminken würde.
Dass sie es genoss, geschminkt zu werden und sich in jemand anderen zu verwandeln war eine weitere neue Erfahrung für sie. Maja, ihre vor wenigen Jahren verstorbene zwei Jahre ältere Schwester, hatte eine Zeit lang im Theater in der Maske gearbeitet und Fee in dieser Phase oft als Modell missbraucht. Fee hatte es verabscheut, es aber ihr zuliebe ertragen. Von Marlene, der mittleren Tochter ihrer Nachbarin Karin jedoch ließ sie sich gern verwandeln. Sie empfand es, als würde sie sich eine fremde Haut überziehen, um in die Rolle eines anderen Wesens zu schlüpfen, die sie dann wieder abstreifen konnte.
Dank eines Tipps von Grit, der älteren Schwester von Marlene, litt sie nicht mehr unter Ausschlag von der Theaterschminke. Im Grunde war Grit das begabtere der beiden Mädchen, was das Schminken betraf, und hatte ihrer Schwester alles beigebracht. Doch im Gegensatz zu Marlene wäre Grit nie auf den Gedanken gekommen, ihre kostbare Zeit gratis der Freilichtbühne zur Verfügung zu stellen.
Mit diesem geschäftlich ausgeprägten Feinsinn hätte Grit glatt die Tochter von Fees Schwager Paul sein können. Die beiden hatten sich von Anfang an gut verstanden, und so hatte Grit eine Ausbildung zur Kauffrau für Marketingkommunikation bei AutonoMatik begonnen. Sie war begeistert von ihrem Job und vom Geldverdienen. Zur großen Überraschung ihrer Eltern hatte sie einen beachtlichen Ehrgeiz entwickelt und sich durch ihre hervorragenden Leistungen für einen der begehrten dualen Studiengänge in der Firma qualifiziert.
Fee war außer Atem, als sie schließlich in der Endstellung des Liedes einfror. Stumm zählte sie bis zehn, dann lief sie die Treppe hinab und nach links auf den schmalen Weg, wo sie sich wieder in die Position für die Applausordnung einreihte. Diesmal stand das Publikum direkt auf und belohnte sie alle mit frenetischem Applaus. Langsam schritt Katja auf die Mitte zu und stellte sich an den Rand der Spielplattform.
Das Publikum verstummte.
»Herzlichen Dank für Ihre Begeisterung. Es hat uns unglaublich viel Freude bereitet, für Sie zu spielen. Ein besonderer Dank geht an unser Technikteam, die Maskenbildner und den Bühnenbau – an alle, die im Hintergrund dazu beitragen, dass wir Ihnen dieses Erlebnis bieten können. Heute war unsere letzte Vormittagsvorstellung vor der Sommerpause. Am Sonntag, den 4. August, startet der zweite Teil unserer Saison mit einer Nachmittagsvorstellung um 15:30 Uhr. Sie haben dann noch sieben weitere Male die Gelegenheit, uns auf der Bühne zu erleben. Besuchen Sie auch gern unser Erwachsenenstück, das diesen Freitag um zwanzig Uhr zur Abendvorstellung einlädt, bevor auch dieses Ensemble in die Pause geht. Teilen Sie Ihre Begeisterung mit Verwandten und Bekannten, in unserem Gästebuch oder auf Social Media. Wir wünschen Ihnen eine gute Heimfahrt – aber nicht, bevor Sie sich auf den ausgeteilten Autogrammkarten die Unterschriften unserer Darstellerinnen und Darsteller geholt haben. Vielen Dank.«
Katja winkte ins Publikum, und sie alle genossen den letzten Applaus, bevor sie ihre Plätze auf der Bühne aufsuchten, um Autogramme zu geben. Julia flitzte wie immer neben Leyla, die sich in der Mitte auf die Stufen gesetzt hatte, wo sich in Windeseile eine dichte Traube um sie bildete.
Viola stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.
»Irgendwie schade, dass die erste Hälfte der Spielsaison schon um ist.«
Fee lachte und legte ihrer Nichte den Arm um die Schultern. Wenn sie daran dachte, wie sie beide damals vor zwei Jahren nachts hier eingetroffen waren, dann kam ihr das surreal vor. Aus dem scheuen, in sich gekehrten und ernsthaften fünfjährigen Mädchen, das mit dem Verlust der geliebten Mutter und des ungeborenen Geschwisterchens hatte fertigwerden müssen, war eine fröhliche, jedoch weiterhin vernünftige Viola hervorgegangen. Sie würde nie so eine Lebhaftigkeit wie Julia ausstrahlen, aber es reichte, Paul zu erleben, damit einem klar wurde, dass diese Art auch gar nicht zu seiner Tochter gepasst hätte. Am Ende war es ein Mix aus den Anlagen beider Eltern, der Großeltern und all der Vorfahren, die vor ihnen gelebt hatten, der den Charakter eines Menschen mit beeinflusste.
»Das sagst ausgerechnet du, wo du in einer Woche mit deinem Vater im Flieger nach San Sebastián sitzt. Abgesehen davon spielen wir das Stück ja noch ganze sieben Male.«
»Ja, aber die neun Male, die wir es schon gespielt haben, waren total schnell rum. Findest du nicht?«
»Auf jeden Fall. Es war eine tolle Idee von Katja, uns zu ermuntern, mitzuspielen.«
»Entschuldigen Sie.«
Fee drehte sich zusammen mit Viola um. Vor ihr stand eine selbstbewusst wirkende Mittvierzigerin mit präzise geschminktem Fernsehgesicht – was ihr die Mimik erschwerte – und einem Mikrofon in der Hand. Hinter ihr ragte ein stämmiger bärtiger Kerl mit einer Schlägerkappe auf, dessen Gesicht von einer Kamera verdeckt wurde, die mithilfe eines Schultergurts und eines Gestells auf seiner linken Schulter fixiert war. Fee zuckte erschrocken zurück. Katja hatte erzählt, dass heute der WDR bei der Vorstellung anwesend sein würde. Das hatte sie völlig verdrängt. Viola blieb an ihrer Seite stehen.
»Keine Sorge, wir nehmen Sie nicht auf.«
»Ich möchte noch ein Interview mit Miriam, Finn und natürlich Leyla führen. Können Sie mir sagen, wie lange es in etwa mit den Autogrammen dauern wird?«
Fee betrachtete das Gewusel auf der Bühne. Holger hatte eine kleine Gruppe um sich geschart, die er zu einer Bühnenführung mitnahm. Für die Kinder war es immer ein Highlight, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und durch die geheimen Gänge zu schleichen. Ansonsten verschluckte die Menge das Ensemble. Hier und da sah man einen Fetzen von einem Kostüm. Genauso wenig gelang es ihr, Katja zu entdecken, die normalerweise die Presse auf der Freilichtbühne betreute.
»Tut mir leid. Ich kann Ihnen überhaupt nicht weiterhelfen. Für mich ist es das erste Mal, dass ich mitspiele. Viola, kannst du Katja suchen?«
»Klar.«
Ihre Nichte rannte los, während Fee etwas verlegen neben der Reporterin stehen blieb.
»Sie haben toll getanzt.«
»Danke. Es macht auch viel Spaß, hier mitzuspielen.«
»Ich muss gestehen, dass ich zum ersten Mal die Freilichtbühne in Berghalle besuche. Meine Kollegin, die für den Bericht vorgesehen war, ist ausgefallen, und ich musste für sie einspringen. Ich war nicht begeistert, weil ich ein langweiliges Provinztheater erwartet hatte, aber die Leistung, die ich heute zu sehen bekommen habe, ist der helle Wahnsinn. Stimmt es, dass die Hauptdarstellerin auch zum ersten Mal mitspielt?«
»Ja. Sie ist erst letzten Herbst in die Gegend gezogen.«
»Sie stammt aus Syrien, richtig?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe sie nie danach gefragt.«
»Ist ziemlich beeindruckend, wie gut sie Deutsch spricht.«
»Sie ist sehr sprachbegabt. Sie spricht auch ausgezeichnet Englisch.«
»Sind sie und der Hauptdarsteller ein Paar?«
»Wie kommen Sie darauf?« Fee verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Mit der Gegenfrage versuchte sie, Zeit zu gewinnen. Hoffentlich kam Katja bald.
»Nun ja, bei den Liebesszenen knisterte es gewaltig zwischen den beiden. Ein hübsches Paar, finden Sie nicht?«
Die Spielleiterin kam in Violas Schlepptau heran, sodass Fee erleichtert aufatmete. Es war ihr unangenehm, in der Aufmerksamkeit der Presse zu stehen. Sie beneidete die Persönlichkeiten öffentlichen Interesses kein bisschen darum. Kaum hatte Katja der Journalistin mit einem Lächeln die Hand gereicht, nutzte Fee gemeinsam die Chance, mit Viola nach hinten zu den Umkleideräumen zu flüchten.
Sabine kam ihr in ihrer Polizeiuniform entgegen. »Kannst du Timo wieder mitnehmen?«
»Ja, klar. Kein Thema. Verschwinde lieber, bevor Max dir wieder einen Vortrag darüber hält, wie er zu Unpünktlichkeit steht.«
Sabine grinste. »So übel, wie du ihn darstellst, ist er gar nicht. Immerhin hätte ich ohne seine Unterstützung nicht mitspielen können.«
»Was ist eigentlich mit Leon?«
»Was soll mit ihm sein?« Sabine versuchte, ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen, was ihr misslang.
»Timo hat gesagt, dass ihr drei zusammen in den Urlaub fahrt.«
»Hat er das?«
»Sabine.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Die Pause zwischen den Spielen ist nur drei Wochen lang. Da ist es schwer, zwei Urlaubstermine zu finden. Also hat Leon vorgeschlagen, dass wir zusammen nach Italien an den Gardasee fahren. Mehr nicht. Mach da kein Drama drum.«
»Mache ich nicht. Du bist diejenige, die bei mir darüber geschimpft hat, dass sich Leon damals fein aus der Affäre gezogen hat. Dass du ihn ständig ermahnen musstest, seine Alimente zu zahlen.«
»Als Student ist man nun mal knapp bei Kasse.«
»Du hast gesagt, ich soll dich daran erinnern, dass ihr beide daran beteiligt wart, als Timo entstanden ist, und du kein Mitleid mit ihm hast.«
Sabine verdrehte die Augen. »Ciao, Bella. Wirst du mit Tom nach Italien fahren und seinen Onkel auf Sardinien besuchen?«
»Weder das eine noch das andere. Wir bleiben zum Wandern hier. Der Gedanke, dass Paul mit Viola nach San Sebastián fliegt … Er war noch nie ganze zwei Wochen mit ihr allein unterwegs, seit Maja gestorben ist.«
»Der Mann ist Geschäftsführer eines Unternehmens. Er wird ja wohl mit seiner Tochter klarkommen. Abgesehen davon ist Viola das unkomplizierteste und verantwortungsbewussteste Kind, das ich jemals erlebt habe. Und fährt nicht diese Marion mit dem Adelsnamen mit?«
Fee rümpfte die Nase. »Marion von Fürstenberg? Ja. Die beiden scheinen sich wieder näherzustehen. Der Urlaub war ihre Idee. Deshalb auch San Sebastián mit seiner vibrierenden Kunstszene und der Mischung aus traditioneller und moderner Kunst plus Street-Art.«
»Seit wann interessierst du dich dafür?«
Fee zuckte mit den Schultern. »Gar nicht, aber ich wollte wissen, wohin Viola fährt. Immerhin liegt die Stadt am Meer und hat einen tollen Strand. Und zum Glück ist sie eine super Schwimmerin.«
»Na, du hast ja Vertrauen in deinen Schwager.«
»Hab ich ehrlich gesagt nicht, wenn du mich fragst.«
Fee saß am Küchentisch, den Laptop direkt vor sich und rund um sie herum die Bücher über Psychotherapie. Solange die Situation mit Paul nicht geklärt war, scheute sie sich davor, in ihren alten Beruf mit den unregelmäßigen Einsätzen zurückzukehren. Die Arbeitszeit ließ sich nicht planen, und niemand nahm Rücksicht auf irgendjemandes Bedürfnisse, wenn eine Krise auftrat oder sie das Kriminalamt mit ihren kriminalpsychologischen Kenntnissen unterstützte. Mit Birgit, Toms Chefin, hatte sie darüber gesprochen, die Schulungen für den polizeilichen Nachwuchs zu übernehmen. Zeitlich war das jedoch mit einem Schulkind nicht machbar. Aus diesem Grund hatte sie sich entschieden, an ihrer Approbation zur Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie zu arbeiten. Auf diese Weise nutzte sie ihre freie Zeit sinnvoll und stand gleichzeitig jederzeit für Viola parat.
Karin arbeitete als Krankenschwester in der psychosomatischen Klinik in Bad Berleburg und hatte ihr den Platz für den praktischen Teil des Studiums organisiert. Es war eine nette Truppe, die für neue Methoden offen war und ein breites Therapieangebot bereithielt. Alex, ihre Nachbarin von direkt nebenan, war pensioniert und sprang ein, wenn Sabines und Karins Schichtpläne sowie Fees Einsatz in der Klinik sich mal überschnitten. Für Viola und Timo war sie eine Ersatzoma, da beide keine echte Oma hatten, die im Sauerland wohnte. Julia liebte Alex. Sie fand sie cool, obwohl sie von ihr klare Grenzen aufgezeigt bekam.
Fee war davon ausgegangen, dass es eine Zeit dauern würde, bis sie sich wieder ins Lernen einfand. Aber Pustekuchen. Ihr Gehirn war süchtig nach neuem Lernstoff, und sie liebte es, sich in weitere Themengebiete in ihrem Fach einzuarbeiten. Sie hatte es vermisst, geistig gefordert zu werden und sich auf wissenschaftlicher Ebene auszutauschen. Obwohl ihr Studium gar nicht so lange her war, hatte das digitale Zeitalter vieles verändert. Sie hatte sich für einen Fernlehrgang entschieden, der nur wenige Präsenztermine zusätzlich zu ihrer praktischen Ausbildung erforderte.
Ihr Smartphone vibrierte und kündigte eine Kurznachricht an. Sie hatte vergessen, die Fokusfunktion einzustellen. Ihr Blick wechselte von dem Buch, in dem sie las, zum Handydisplay. Nein, bleib fokussiert. Es dauerte exakt drei Atemzüge, dann nahm sie das Gerät in die Hand. Gleichzeitig ärgerte sie sich über ihr Verhalten. Früher hätte sie sich niemals von so was stören lassen. Sie hörte ihre eigene Stimme im Kopf. Aber da hatte es keine Smartphones gegeben. Sie entsperrte den Bildschirm. Die Nachricht kam von Tom. Sie schmunzelte.
Wie ich sehe, hattest du Spaß bei deiner letzten Aufführung vor der Pause.
Und wie.
Was machst du?
Lernen.
Du hast einen Job.
Nie verkehrt, sein Wissen zu erweitern.
Läuft nicht bald das Sorgerecht aus?
Paul überlegt, es um ein Jahr zu verlängern.
Fee …
Sie wird so schnell groß.
Okay. Bleibt es bei Montag?
Der Weg ist geplant.
Fee teilte den Wanderweg für Montag mit ihm. Sie lachte über das schmerzhaft verzerrte Smiley-Gesicht, das Tom schickte. Die Strecke hatte es in sich. Zwar waren die Berge hier nicht hoch, aber ein Auf und Ab blieb immer, egal wie man plante. Für nächstes Jahr hatte sie sich die Wanderung des Rothaarsteigs vorgenommen. Diesmal hatte sie nur eine Teilstrecke herausgesucht, die in Winterberg startete und die sie auf der Höhe von Berghalle verlassen würden. Ein letzter Schlenker ging zur Freilichtbühne, bevor sie wieder nach Hause zurückkehren würden. Mit dem Zeigefinger wischte sie über den Bildschirm, um die Fokusfunktion zu aktivieren. Keine Ablenkungen mehr vom Lernen, aber da blieb ihr Blick auf »Wie ich sehe« hängen.
Warst du bei der Vorstellung?
Nein.
Wieso hast du dann geschrieben »Wie ich sehe«?
Weil du im Ausschnitt zu sehen bist.
In welchem Ausschnitt?
Na, in dem Beitrag vom WDR.
Der wurde heute gesendet?
Ja. Du hast dein Tanztalent bisher geschickt vor mir verborgen.
Haha.
Leyla ist der Hammer.
Sie hat eine Mega-Stimme.
Und ist ehrgeizig genug, um ihr Ziel zu erreichen.
Interview?
Ja. Nicht leicht für sie.
Wie meinst du das?
Neider und Trolle.
??
Schau es dir an.
Sie öffnete die Seite des Fernsehsenders auf ihrem Laptop und suchte nach dem Beitrag zu der Aufführung des Familienstücks vom Dienstag, wählte die Sendung aus und klickte auf den Pfeil.
Ein Potpourri von Sekundenszenen aus dem Stück war zu sehen, eine davon aus der Zugabe mit einem kurzen Zoom auf Fee. Sie stoppte das Video, spielte es vom Anfang bis zu dem Moment, wo sie deutlich zu sehen war. Sie grinste selig, stutzte dann. Seit wann war sie derart eitel? Sie rutschte einmal auf ihrem Stuhl hin und her. Statt die Sequenz der Szenen aus dem Stück ein weiteres Mal zu wiederholen, ließ sie die Sendung weiterlaufen.
Leyla stand in ihrem Kostüm auf der vordersten Felsplattform, die Kulisse im Hintergrund. Ihre Augen leuchteten, die Wangen waren hitzig gerötet. Sie strahlte von innen heraus. Das war es, was in den Zeitungsartikeln beständig herausgehoben wurde. Dass sie eine Präsenz im Stück hatte, mit der sie alle Aufmerksamkeit wie ein Magnet auf sich zog.
Alle Mitglieder der Spielschar brachten ihre Leistung mit vollem Elan auf die Bühne. Jede Person im Ensemble trug dazu bei, dass sowohl Haupt- als auch Nebendarsteller in ihren Rollen glänzten. Ohne die Reaktionen, das Einfrieren oder die Energie der Truppe würde das Stück nicht funktionieren. Dennoch warf Leylas Darbietung einen gewissen Schatten auf den Rest, und das hatte dazu geführt, dass sie von Anfang an für die Öffentlichkeit im Rampenlicht gestanden hatte.
»Wie viele Autogramme hast du gerade gegeben?«
Leyla brach in ihr warmes, anziehendes Lachen aus, ein tiefes Lachen, das sofort seine Wirkung auf die Journalistin entfaltete. Fee spürte, wie die Herzlichkeit vom Bildschirm zu ihr herüberschwappte, und erwiderte das Lächeln. Wie vollbrachte das Mädchen dieses Kunststück? Die junge Frau strahlte eine vollkommene Harmonie mit sich selbst aus. Mit siebzehn Jahren hatte Fee nicht den Hauch einer Ahnung von ihrer Identität oder ihren Erwartungen an das Leben gehabt. Sogar heute noch, mit achtundzwanzig, tappte sie in dieser Hinsicht weiterhin teilweise im Dunkeln.
Mit einem Schmunzeln hakte Leyla nach. »Mit Selfies oder ohne?«
»Mit.«
»Keine Ahnung, Hunderte?«
Leyla winkte jemandem zu, der sich außerhalb des Kamerabildes aufhielt.
»Du bist vorhin zuerst in den Zuschauerraum gehüpft und zu der Gruppe aus einem Behindertenheim gegangen. Wieso?«
»Sie hatten so viel Spaß bei der Vorstellung, und ich dachte, dass sie keine Möglichkeit haben, sich Autogramme zu holen oder ein Foto mit mir zu machen. Deshalb bin ich zu ihnen runter. Es war dann etwas chaotisch, wieder auf die Bühne zurückzukommen.«
»Ist es deine erste Hauptrolle?«
»Auf der Freilichtbühne? Ja. Ich bin erst letzten Herbst mit meiner Mutter ins Sauerland gezogen.«
»Aber es ist nicht das erste Mal, dass du auf der Bühne stehst?«
Das Lächeln in Leylas Gesicht verschwand. Ihre Pupillen weiteten sich. Sie straffte ihre Haltung. Ihre Mundwinkel blieben nach oben gehoben.
»Mit vierzehn habe ich zum ersten Mal in einem Stück mitgespielt, aber das ist mit dieser Rolle nicht zu vergleichen.«
»Du warst auf einer Schauspielschule?«
»Nein. Ich war in einer normalen Schule und besuche das Gymnasium. Nächstes Jahr mache ich Abitur.«
»Unterstützen deine Eltern deine Schauspielkarriere?«
»Es ist nicht leicht, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen. Haben Sie Kinder?«
»Drei. Zwei Jungs und ein Mädchen.«
»Wenn eines von ihnen davon träumt, einmal eine berühmte Schauspielerin oder ein Schauspieler zu sein, was würden Sie Ihrem Kind sagen?«
»Dass es besser Lotto spielen sollte.«
Leyla lachte herzlich und steckte die Journalistin damit an.
»Sehen Sie, da haben Sie Ihre Antwort.«
»Wenn man das Stück sieht, wirkt alles harmonisch. Ist das nur ein Eindruck?«
»Da ist schlicht und ergreifend eine Energie, die uns alle trägt, sobald wir geschminkt und in unsere Kostüme geschlüpft sind. Alle, die mitspielen, sind mit ganzem Herzen bei der Geschichte, die wir spielen. Wir werden zu einer Gemeinschaft, in der alle dasselbe Ziel antreibt – den Leuten eine tolle Zeit zu schenken. Wir möchten sie mit in die Geschichte nehmen, mit allen Emotionen, die damit einhergehen. Es ist schwer, das jemandem zu beschreiben, der es nicht miterlebt hat. Mich trägt es immer durch die ganze restliche Woche.«
»Du hast direkt die Hauptrolle bekommen, obwohl du zum ersten Mal mitspielst. Waren da andere nicht enttäuscht, die schon sehr lange auf der Bühne stehen?«
»Das müssten Sie die anderen fragen. Ich kann nur für mich sagen, dass ich enttäuscht gewesen wäre, wenn ich nach dem Casting die Rolle nicht bekommen hätte. Jeder gibt sein Bestes, und es ist wahnsinnig aufregend. Aber am Ende entscheidet die Regisseurin, wer ihre Vorstellung von der Figur am besten darstellt.«
»Was ist mit der Nebendarstellerin im Stück, Miriam Schultze? Hat sie sich auf die Hauptrolle beworben?«
»Das hat sie, und sie hat die Szene super gespielt, besser als ich in meiner Aufregung.«
»Aber du hast die Rolle bekommen.«
»Wie gesagt, die Regisseurin trifft die Entscheidung. Ich habe mich riesig gefreut, und es macht viel Spaß, mit Miriam zu spielen. Sie ist eine Super-Antagonistin und verkörpert die tragische Figur. Meiner Mutter bricht es jedes Mal das Herz, wenn sie das Stück sieht.«
»Was ist mit dem Hauptdarsteller? Wenn man euch beide auf der Bühne zusammen sieht, hat man das Gefühl, dass es zwischen euch knistert. Seid ihr ein Paar?«
»Wenn wir auf der Bühne stehen, spielen wir unsere Rollen.«
»Bei den Proben soll ein recht harscher Umgangston geherrscht haben. Stimmt das?«
Leyla runzelte die Stirn. Sie atmete zwei-, dreimal, um sich Zeit für ihre Antwort zu verschaffen.
»Es fällt nicht jedem leicht, seine Ideen und Vorstellungen in Worte zu kleiden. Da kann es leicht zu Missverständnissen in der Kommunikation kommen. Es ist für alle eine Herausforderung, vor allem, wenn man noch nie Theater gespielt hat. Ich bin beeindruckt von der Leistung dieser Spielschar. Ich denke, besser hätten es auch Bühnenprofis nicht umsetzen können, und das ist ja auch das Verdienst von Sina.«
»Möchtest du Schauspielerin werden?«
»Es wäre mein größter Traum.«
»Aber erst machst du das Abitur?«
»Auf jeden Fall. Meine Mutter ist sehr streng, was das betrifft.«
»Und dein Vater?«
Das Licht in Leylas Augen erlosch. Für einen Moment versteifte sie sich fast unmerklich. Sie strich sich über den Arm, eine flüchtige, unbewusste Geste. Dann kehrte ihr Lächeln zurück – präzise eingesetzt wie ein Werkzeug, funktional, aber ohne Wärme. Sie atmete flach, bevor sie mit beherrschter Stimme antwortete: »Ich freue mich auf die nächste Aufführung nach der Sommerpause.«
Fee lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Sie hatte Leyla nie nach ihrem Vater gefragt. Sie hatte Instinkt und Geschick darin bewiesen, die Fragen zu beantworten, ohne dass man ihr aus den Antworten einen Strick hätte drehen können. Wie ein echter Profi hatte sie es vermieden, Klatsch zu verbreiten, ohne zu lügen. Das zeigte ihre Antwort auf die Frage zur Arbeit der Regisseurin oder zu dem Fakt, dass sie die Hauptrolle erhalten hatte, obwohl sie zum ersten Mal auf der Freilichtbühne mitspielte.
Von Katjas Tante Alex, ihrer Nachbarin, hatte Fee erfahren, dass Letzteres ein echtes Drama heraufbeschworen hatte. Nicht nur Miriam, sondern vor allem Holger war empört gewesen, dass seine Tochter die Rolle nicht bekommen hatte. Sie gehörten zu den Ursprungsfamilien, und Miriam hatte bereits zweimal die Hauptrolle gespielt und ihr Talent bewiesen. Holger hatte sich an den Vorstand gewandt, der wiederum meinte, das sei allein die Entscheidung der Regisseurin. Nach der ersten Wut und vielen Tränen hatte sich Miriam dann schließlich gefügt.
Mehrmals hatte Fee bei den Proben die Jugendlichen dabei erwischt, wie sie sich über die Fehler ausgelassen hatten, die Leyla unterliefen. Finn hatte versucht, sich rauszuhalten, war aber damit gescheitert. Für Fee sah es so aus, als verliebte er sich mit jeder Aufführung ein wenig mehr in seine Partnerin. Oder er war ein verdammt talentierter Schauspieler.
Seufzend sah Fee auf die Uhr. Ihr blieben maximal zwei Stunden zum Lernen. Karin war mit den Mädels nach Frankenberg gefahren, zum Shoppen für das Schützenwochenende. Heute Abend fiel der Startschuss für das Fest. Das beinhaltete das Abholen des aktuellen Schützenkönigs samt Königin und des Jungschützenkönigspaars sowie den Antritt der Schützen und einen Umzug durch den Ort bis zur Schützenhalle, wo dann eine Kapelle zum Tanz aufspielte. Alles folgte einer festen Struktur, die Fee an einen Staatsakt erinnerte. Sie hatte nur einmal daran teilgenommen und entschieden, dass es nichts für sie war.
Sie schob die Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf ihren Text. Ronja erhob sich von ihrem Körbchen, tapste zum Wassernapf und schlabberte laut. Fee blickte auf die Hündin, überlegte, ob es sinnvoll war, eine Gassirunde mit ihr zu drehen, bevor Karin mit den Kindern wiederkam. Nur kurz blickte sie noch einmal auf den Laptop, klappte ihn mit Schwung zu, raffte die Bücher zusammen und brachte alles hinauf in das ehemalige Gästezimmer, das sie zu ihrem Zimmer umgestaltet hatte. Zwar war Paul weiterhin oft unterwegs, doch sie fand es lästig, jedes Mal das Schlafzimmer zu räumen, wenn er wieder aufkreuzte. Die WG mit ihrem Schwager behagte Fee nicht. Dennoch brachte sie es nicht über sich, das Haus ganz zu verlassen. Es war Majas letztes Projekt gewesen, und in jedem kleinen Detail steckte die Handschrift ihrer Schwester. Fee hatte versucht, es Paul abzukaufen. Zu ihm passte es sowieso nicht. Sie wartete noch auf einen passenden Zeitpunkt, um ihn erneut darauf anzusprechen.
Sie wählte den Weg hoch aufs Feld am gegenüberliegenden Ende des Dorfes, wo die Schützenhalle stand. Dort war man emsig bei den letzten Vorbereitungen. Sie mochte den Blick in Richtung Hessen über die Berge, die sich unendlich am Horizont entlang zogen. Im Sommer waren die Farben blass. Die Höhenzüge verschwammen mit dem Himmel. Es entstand der Eindruck, als würde beides miteinander verschmelzen. Jemand mähte mit einem Traktor das Gras. Vier Rotmilane kreisten in der Luft oberhalb der Wiese und hielten nach Mäusen Ausschau. Ein Turmfalke schoss von einem Zaunpfosten empor und ließ Fee, die ihren Gedanken nachgehangen hatte, zusammenfahren. Ronja raste durch ein Feld und scheuchte bellend die Raben auf. Schimpfend strichen sie an Fee vorbei durch die Luft. Sie pfiff. Ronja kehrte zu ihr zurück und setzte sich brav vor ihr hin.
»Das hast du fein gemacht.«
Sie legte ihrer Hündin die lange Schleppleine an. Beim Weitergehen ließ sie unbemerkt von ihrem Vierbeiner ein Hundespielzeug fallen. Sie lief etwa fünfzig Meter weiter, blieb stehen und rief Ronja zu sich.
»Such.«
Sofort hob die Hündin schnüffelnd den Kopf in die Höhe, sog witternd die Luft durch die Nasenflügel und fing an zu hecheln, sodass sie besser den Geruch einfangen konnte. Sie lief zurück, diesmal mit der Nase am Boden. Fee achtete darauf, Ronja genügend Spielraum an der Schleppleine zu geben. Es dauerte nicht lange, da kam sie mit freudig wedelnder Rute, das Spielzeug im Maul, zu ihr. Sie tauschten die Beute gegen ein Leckerli. Fee wiederholte das Spiel viermal. Es war eine anstrengende Aufgabe, die ihre Hündin rasch zum Hecheln brachte. Heute Abend würde sie tief schlafen.
Zurück am Haus entdeckte sie Pauls Auto. Sie runzelte die Stirn. Nach einer Woche voller Kundentermine legte er also heute einen Bürotag ein. Am Nachmittag sollte die Gesellschafterversammlung stattfinden, die mit einem Abendessen endete, sodass sie Paul vor heute Abend um zehn Uhr nicht zurückerwartet hatte. Sie schloss die Haustür auf. Aus der Küche hörte sie das warme Lachen einer Frau, das ihr bekannt vorkam. Rasch zog sie die Turnschuhe aus, hängte die Windjacke, die Schleppleine und ihre Bauchtasche mit den Hundeleckerlis und den Kotbeuteln im Hauswirtschaftsraum auf. Ronja lief voraus in die Küche, Fee folgte ihr. Sie blieb im Türrahmen stehen.
Paul saß an der Küchentheke mit einem Becher Kaffee. Nour Haddad, Leylas Mutter, lehnte ihm gegenüber ebenfalls mit einem Kaffeebecher an der Arbeitsplatte. Ronja war direkt zu ihr gelaufen und sah sie schwanzwedelnd mit großen Augen an. Nachdem das nicht funktionierte, warf sie sich auf den Rücken. Nour beugte sich zu ihr hinunter und kraulte der Hündin den weißen Bauch.
»Du hast Glück. Ich werde immer von ihr ausgebellt.«
Fee sah Paul an. »Das liegt daran, dass du ein Mann bist.«
»Sie mag keine Männer? Und was ist mit Tom?«
»Keine Ahnung. An dem hat sie einen Narren gefressen.«
Nour strich Ronja über den Kopf. »Hör nicht auf ihn. Er ist nur eifersüchtig. Was bist du doch für eine Süße. So ein hübscher Hund.«
»Oh, Nour, das ist Feline, meine Schwägerin.«
Die Besucherin grinste Paul verschmitzt an. »Ich weiß, wir kennen uns von der Freilichtbühne. Hallo, Feline, ich hoffe, es ist in Ordnung, dass wir dich einfach so überfallen.«
»Kein Thema. Ich bin nur überrascht, weil ich dachte, Paul hätte heute Gesellschafterversammlung.« Fee trat in die Küche, holte sich ein Glas aus dem Oberschrank und füllte es an der Spüle mit Leitungswasser. »Du hast dasselbe Lachen wie deine Tochter.«
»Wohl eher umgekehrt. Aber, ja, sie hat viel von mir.«
»Ist die Gesellschafterversammlung ausgefallen?«
Paul stellte seinen Becher auf der Küchentheke ab. »Wir sind früher fertig geworden. Thabo hat Nour von dem Schützenfest erzählt, und jetzt möchte sie unbedingt dorthin, weil sie noch nie auf so einem Fest war.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals auf einem warst.«
»Weshalb wir spontan entschieden haben, es heute Abend zu besuchen. Thabos Kinder gehen wahnsinnig gern samstagabends in Berghalle auf dieses Fest, weil die Musikband so gut sein soll.«
Fee zog rasch die Lippen zwischen die Zähne, um ihr Schmunzeln zu verstecken. Allein der Gedanke an den nordisch kühlen Paul auf einem sauerländischen Schützenfest war zu köstlich. Sie hoffte nur, dass Thabo sich nicht verschätzte und keine Schlägerei ausbrach, weil ihr Schwager unbewusst einen der Einheimischen vor den Kopf stieß. Obwohl es in der heutigen Zeit laut Karin zivilisierter und weniger kämpferisch zuging. In ihrer Jugend war es, wie sie sagte, häufiger zu handgreiflichen Auseinandersetzungen gekommen. Alex hatte daraufhin nur die Augen verdreht. Sie erzählte, wie in ihren jungen Jahren Gruppen aus anderen Dörfern auf das Fest gekommen waren, und wenn die Jungs dann die Mädels „schief angesehen“ hatten, sei die Hölle ausgebrochen. Fee erinnerte sich an ihr eigenes einmaliges Erlebnis vom Schützenfest und versuchte, sich ihren Schwager, der aus einer alten Hamburger Kaufmannsfamilie stammte, in dem Milieu vorzustellen. Es gelang ihr nicht.
»Kommst du auch mit?«
Fee sah Nour an, die die Frage gestellt hatte. »Nein, solche Feste sind nichts für mich. Karin, meine Nachbarin, bringt nachher das Dreigestirn vorbei. Sie schlafen heute bei uns.«
»Das Dreigestirn?«
»Viola, Julia und Timo.«
»Ah, stimmt. Julia Brieden. Leyla ist ganz vernarrt in das Mädchen.«
»Und Julia in sie.«
»Wer ist Timo?«
»Der Sohn von Sabine. Sie spielt ebenfalls im Stück mit.«
»Die Polizistin.«
»Du bist gut. Mir ist es am Anfang deutlich schwerer gefallen, alle auseinanderzuhalten.«
»Leyla erzählt viel von der Freilichtbühne. Sie ist total begeistert, fand es aber schwierig, Anschluss an ihre Altersgruppe zu finden. Du, Sabine und das Dreigestirn, wie du es nennst, waren da sehr viel offener.«
»Für jemanden, der von Berlin nach Berghalle zieht, ist die Dorfidylle ein echter Schock.«
»Paul hat gesagt, dass du auch nicht von hier stammst, sondern zugezogen bist.«
»Das stimmt. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Hattingen verbracht.«
»Wieso bist du umgezogen?«
Fee warf Paul einen fragenden Blick zu, gab ihm die Chance, das Wort zu ergreifen, aber er blieb regungslos sitzen, die Lippen fest verschlossen. Sie betrachtete kurz ihre Hände, sammelte sich innerlich und hob dann entschlossen den Kopf, um sich auf Nour zu konzentrieren.
»Der Ortswechsel von Hamburg nach Berghalle war ein lang gehegter Wunsch meiner Schwester. Sie sah das Haus und hatte direkt eine Idee, was daraus werden könnte. Das hat sie umgesetzt, nachdem Paul sich bereit erklärt hatte, mit ihr hierherzuziehen. Kurz vor dem Umzug kam Maja dann bei einem Autounfall ums Leben.«
Sie musterte ihren Schwager, der durch ihre Worte in die Vergangenheit abgetaucht schien. »Wir beide dachten, dass es Viola bei der Verarbeitung des Verlusts ihrer Mutter helfen würde, wenn sie in dem Haus wohnen kann, das Maja mit so viel Liebe gestaltet und eingerichtet hat.«
»Du hast alles aufgegeben, um mit deiner Nichte im Haus deiner Schwester zu wohnen?«
Fee warf erneut einen Blick auf Paul. Sie hatte keine Ahnung, wie er damit umging, wenn sie seiner Mitarbeiterin zu viel über sein persönliches Leben preisgab. Für sie wirkte er wie ein Chef, der Privates klar von Beruflichem trennte.
Diesmal übernahm er die Antwort. »Ich bin Feline sehr dankbar, dass sie sich bereit erklärt hat, mit Viola in das Haus zu ziehen.«
»Moment. War das der Zeitraum, als du nach Singapur gegangen bist und dort den asiatischen Markt aufgebaut hast?«
»Zum Glück, sonst gäbe es AutonoMatik heute womöglich nicht mehr, und du hättest keinen Job.«
»Tut mir leid, es sollte nicht vorwurfsvoll klingen. Es ist eine ungewöhnliche Situation. Ihr beide lebt unter einem Dach in einer Art WG?«
Fee schwieg.
Paul räusperte sich. »Nun ja, ich bin aktuell sehr viel unterwegs und kann mich nicht um Viola kümmern. Deine Tochter ist siebzehn und kann auf sich allein aufpassen. Das ist eine andere Situation.«
»Das war sie aber nicht immer. Es war sehr schwer für uns, unsere Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu fliehen.«
»Ich dachte, Leylas Vater ist Deutscher?«
»Das ist er. Er ist Professor an der Humboldt-Universität und hat lange Zeit in Syrien gelebt und geforscht. So lernten wir uns kennen.«
»Dann war es keine Flucht, und du bist kein Flüchtling. Dein Deutsch ist perfekt.«
»Danke. Doch ich muss dich korrigieren. Für mich war es eine Flucht. Wäre ich geblieben, hätte ich dafür gebüßt, dass ich mit einer westlichen Forschungsgruppe zusammengearbeitet und westliches Gedankengut ins Land gebracht habe.«
»Nun, zum Glück lebst du ja hier in Deutschland und bist Deutsche.«