Frieda my Beat - Kerstin Rachfahl - E-Book

Frieda my Beat E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

»Und du machst es wieder." - "Was?" - "Schlecht über dich selbst reden. Ist das deine Angst? Denkst du, wenn du anderen zuvorkommst, könnten sie dich nicht verletzen?" Frieda my Beat ist eine berührende Liebesgeschichte über die Schlagzeugerin der Band Wintergrün, die mit ihrem Sohn Elias endlich ein neues Leben als Familie beginnen will. Doch während sie äußerlich frei ist, kämpft sie innerlich gegen unsichtbare Ketten, die sie gefangen halten. Als verurteilte Straftäterin dunkler Hautfarbe sieht sich Frieda mit zahlreichen Vorurteilen konfrontiert, was es ihr schwer macht, neue Beziehungen einzugehen. Zu allem Überfluss wird Elias in der Schule ihretwegen zum Außenseiter. Doch dann tritt Sander, sein Klassenlehrer, in ihr Leben und verändert alles. Sander nimmt sich nicht nur Elias' an und hilft ihm, seine Ängste zu überwinden, sondern er versucht auch beharrlich, Frieda hinter ihrer Schutzmauer hervorzulocken. Doch sie ist zutiefst geprägt von Schuldgefühlen und kann sich weder Liebe noch einen Mann in ihrem Leben vorstellen. Wird es Sander gelingen, Frieda das Vertrauen in die Liebe zurückzugeben, oder wird er für immer in die Rolle eines Freundes verbannt? Tauche ein in eine Geschichte voller Herausforderungen, über Vorurteile und die Kraft der Liebe. Frieda my Beat wird dich mitreißen und dein Herz berühren.

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Frieda my Beat

WINTERGRÜN

BUCH ZWEI

KERSTIN RACHFAHL

IMPRESSUM

Deutsche Erstausgabe Juli 2023

Copyright © 2023 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs, dualect.de

Buchcover: Florin Sayer-Gabor - 100covers4you.com

Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: chalyshevae

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Liedtext von Evelyn Wolf

1. Nach Hause

2. Der Klassenlehrer

3. Wettkampf

4. Konfrontation

5. Wochenende

6. Unerwartet

7. Du bist frei

8. Verwirrung

9. Neptun

10. Begegnung

11. Grünes Klassenzimmer

12. Gemeinsames Essen

13. Ein Treffen

14. Entdeckung

15. Ein Foto

16. Zur Goldenen Gans

17. Freunde

18. Hauskonzert

19. Einweihungsparty

20. Wunden

21. Der Morgen danach

22. Zwei und eins ergibt vier

Epilog

Wie geht es weiter?

Anmerkungen

In Erinnerung an meinen Onkel Herbert. Er liebte die Musik, spielte Schlagzeug und hätte supergern als Musiker seinen Lebensunterhalt verdient. Danke für die schönen Momente mit dir und dafür, dass du einen Weg gefunden hast, zu vergeben.

Liedtext von Evelyn Wolf

Refrain:

Wir sind ewig, und doch sind wir endlich.

Wir sind stark, und doch sind wir zerbrechlich.

Wir sind frei, und doch sind wir gefangen,

Versuchen ständig unserem Alltag zu entkommen.

Raus aus den engen Grenzen, die wir uns selber setzen,

Im Glauben, etwas müsste so sein, statt unsere Freiheit zu schätzen.

Du bist frei, wenn du willst,

Du bist stark, auch wenn du fällst, und du bist nie zu klein,

um Großes zu bewegen.

Du hast die Wahl, zu entscheiden, und zwar täglich wieder neu.

Du bist Mensch, du bist Schöpferin deines Lebens.

1. Strophe

Ausbrechen, aufbrechen.

Ich pass hier nicht mehr rein.

Die Rolle, die ich einst anstrebte, ist doch jetzt viel zu klein.

Hab die Luft der großen Freiheit geschnuppert.

Und dabei gemerkt, was mich wirklich bekümmert,

Dass ich die ganzen Jahre dachte, aus mir muss was werden.

So eilte ich durchs Leben, um mehr Wissen zu erwerben.

Doch was sind wir, wenn wir uns einmal besinnen und den Meinungen anderer für einen kurzen Moment entrinnen.

2. Strophe

Anhalten, aufhalten, das, was uns nicht gefällt.

Du wurdest geboren, um was zu bewegen in dieser Welt.

Wir sind frei, und doch sind wir gefangen.

Du bist hier, um dich mit deiner eigenen Weisheit zu verbinden …

KAPITEL1

Nach Hause

Mit geschlossenen Augen wartete Frieda auf den Aufprall. Quietschende Reifen. Der Geruch nach verbranntem Gummi. Der Schrei von einem Kind. Beweg dich. Das alles prasselte in Sekundenbruchteilen auf ihre Sinne ein. Sie machte einen Schritt zurück. Zu spät. Sie spürte den Fahrtwind, aber keinen Aufprall. Sie öffnete die Augen. Das Vorderrad stand direkt vor ihrem linken Fuß. Durch den Schritt zurück war ihr Gewicht auf den hinteren, den rechten Fuß verlagert worden, und deshalb hatte die Karosserie des Fahrzeugs sie nicht erwischt. Die Tür flog auf und ein Mann packte sie am Arm und schüttelte sie.

»Sind Sie lebensmüde? Was haben Sie sich dabei gedacht, einfach so auf die Straße zu laufen?«

Frieda hielt den Kopf gesenkt. Ihr brach der Schweiß aus. Panik machte sich in ihr breit.

»Lassen Sie auf der Stelle meine Enkeltochter los.«

Der Griff an ihrem Arm lockerte sich. Sie zog den Arm zurück.

»Ihre Enkeltochter hat wohl keine Augen im Kopf!«

»Nichts da. Sie sind locker fünfzig gefahren. Das ist hier eine Dreißigerzone.«

»Blödsinn.«

»Kein Blödsinn, der Herr hat recht. Es ist eine Dreißigerzone, und Sie sind zu schnell gefahren, mal ganz abgesehen davon, dass Sie trotz der Arbeiten an der Verkehrsinsel bereits dort viel zu schnell waren.«

Die ruhige Stimme der Frau, die ihr nur allzu vertraut war, ließ Frieda den Kopf heben. Sie sah Jasmin an, die sich vor dem Mann aufgebaut hatte, mit verdreckten Händen und einer Spitzhacke in der Hand.

»Aber wissen Sie was? Ich rufe jetzt die Polizei, und wir können das gleich hier vor Ort klären.«

»Für so einen Scheiß habe ich keine Zeit.«

Der Mann wandte sich von ihr ab, stieg in sein Auto und fuhr davon.

»Das ist dann wohl Fahrerflucht. Möchten Sie den Mann anzeigen, Frau Drechsler? Ich habe mir das Kennzeichen notiert.«

Frieda sah die Justizvollzugsbeamtin an, die aus dem Büro gekommen war und sich zu ihnen gesellt hatte. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie schüttelte den Kopf.

Die Beamtin lächelte und nickte. »Sie haben recht, Frau Drechsler. Es ist an der Zeit, dass Sie für sich einstehen, anstatt den Kopf einzuziehen. Ist das Ihr Sohn?«

Frieda wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schluckte den Kloß im Hals herunter. Sie sah Elias an, der käseweiß war und weiterhin die Hand ihres Opas umklammert hielt. Sie ging in die Hocke, breitete die Arme aus, und Elias rannte zu ihr. Sie hielt den mageren Körper ganz fest und saugte tief seinen Geruch in sich auf.

Langsam kam sie hoch, Elias auf dem Arm. »Ja, das ist mein Sohn Elias.«

»Muss meine Mama wieder ins Gefängnis?«

Seine Worte schnitten Frieda tief ins Herz.

Die Justizvollzugsbeamtin schüttelte den Kopf. »Nein, deine Mama hat nichts falsch gemacht. Es wäre zwar besser gewesen, wenn sie die Fußgängerampel benutzt hätte, statt hier über die Straße zu gehen, doch ich kann verstehen, dass sie den direkten Weg zu dir gewählt hat. Das hätte ich an ihrer Stelle auch getan.«

»Ich bin kein kleines Baby, Mama. Lass mich runter.«

»Das stimmt. Du bist ja jetzt ein Schulkind.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und setzte ihn wieder ab. Ihre Hände zitterten von dem Schreck.

»Was für ein Arschloch. Der ist so was von schnell unterwegs gewesen …«

»Du arbeitest an der Verkehrsinsel?«

Jasmins Gesicht hellte sich auf. »Ja, wir bepflanzen jede einzelne in der Stadt neu und verwandeln sie in ein kleines Naturparadies.«

»Seit wann ist die Stadt so großzügig?«

»Ist sie gar nicht. Das Projekt wird durch eine zweckgebundene Spende an den Naturschutzverein finanziert. Wars das jetzt mit deiner …«

Frieda legte den Arm um Elias. »Ja.«

»Ich würde dich ja umarmen.« Jasmin sah an sich hinab.

»Nein, danke. Darauf verzichte ich. Aber wenn du Lust hast, kannst du am Sonntag zum Essen vorbeikommen. Ich koche. Das ist doch in Ordnung, Opa?«

»Ich habe nichts dagegen.«

Jasmin schulterte ihre Spitzhacke. »Dann bis Sonntag.«

Frieda sah ihr nach, als sie zurück zur Verkehrsinsel ging, die keine zehn Meter von ihnen entfernt lag. Baustellenschilder mahnten die Autofahrer, das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit zu verlangsamen. Als sie die Straße überqueren wollte, waren sie ihr gar nicht aufgefallen.

»Danke.«

Ihr Opa runzelte die Stirn. Tiefe Linien durchzogen sein Gesicht. »Wofür?«

»Für alles. Ich verspreche dir, dass ich in Zukunft besser aufpasse.«

»Das weiß ich. Keine Ahnung, wie es bei euch beiden aussieht, jedenfalls könnte ich jetzt Waffeln mit Sahne und heißen Himbeeren und einen Kaffee vertragen.«

Frieda atmete tief durch. Elias schob seine kleine Hand in ihre, und sie genoss die Wärme.

Entschlossen zog ihr Sohn sie in Richtung der Ampel.

»Aber diesmal gehen wir über die Fußgängerampel.«

Die Landhausdielen knarzten unter Friedas Füßen, als sie den Flur entlang zu der steilen Treppe schlich, die nach unten führte. Sie ging in die Küche, wo ihr Opa mit einer Flasche Bier am Esstisch saß und die Zeitung las. So weit sie zurückdenken konnte, war das sein Abendritual gewesen. Eine Flasche, nie mehr. Während sie Elias ins Bett brachte und ihm eine Gutenachtgeschichte vorlas, hatte er die Küche in Ordnung gebracht. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Möchtest du auch ein Bier?«

»Nein, besser nicht.«

Er schwieg und trank einen Schluck aus der Flasche. So wie meistens hatte er seine schlohweißen Haare zu einem Zopf gebunden und die Hornbrille auf die Stirn geschoben. Ihr Opa war gut darin, zu schweigen. Frieda sortierte ihre Gefühle. Seit sieben Jahren und 276 Tagen würde sie zum ersten Mal wieder zu Hause schlafen. In den ersten zwei Jahren hatte Elias mit ihr in der Justizvollzugsanstalt gelebt. Danach war er zu Opa gekommen, dem sie die Vormundschaft für ihn übertragen hatte. Anfangs war regelmäßig jemand vom Sozialamt zu ihm gekommen, um sicherzustellen, dass es keine Probleme gab. Opa hatte das gelassen hingenommen. Nach ihrem Wechsel in den offenen Vollzug, als sie wieder tagsüber bei ihrem Sohn sein konnte, war die Sozialarbeiterin wieder ein paar Mal da gewesen. Mit drei war Elias in den Kindergarten gekommen. In der Vollzugsanstalt hatte Frieda ihre Ausbildung zur Tischlerin angefangen, erfolgreich beendet und den Meister drangehängt. Ohne Opa hätte sie es nicht geschafft. Sie kamen über die Runden, und sie war froh, dass Opa, obwohl er siebenundsechzig Jahre alt war, weiterhin mit ihr die Schreinerei betrieb. Er holte die Kundenaufträge rein. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ohne ihn zurechtkommen würde.

»Hast du vielleicht einen Abendtee oder so etwas?«

»Rechts in der Schublade unter den Gewürzen.«

Frieda erhob sich. Sie schaltete den Wasserkocher ein, holte einen Becher aus dem Küchenregal und füllte einen Löffel losen Tee in ein Teesieb. Sie fühlte, dass ihr Opa sie beobachtete.

»Elias war ganz schön aufgedreht«, sagte sie.

»Ist das ein Wunder?«

»Wann steht er morgens auf?«

»Normalerweise um sieben. Herr Rauscher, sein Klassenlehrer, hat gesagt, dass es reicht, wenn er morgen erst zur zweiten oder dritten Stunde kommt oder gar nicht, wenn ihr den Tag gemeinsam verbringen möchtet. Am Freitag ist ein Schwimmwettbewerb der Schulen, zu dem er ihn angemeldet hat. Es wäre also gut, wenn er Donnerstag am Sportunterricht teilnimmt.«

»Was meinst du? Soll er morgen in die Schule gehen?«

»Das ist ab jetzt deine Entscheidung. Du bist seine Mutter.«

»Das ist alles so neu für mich.«

»Du warst immer seine Mutter.«

»Ja, aber nicht so. Du weißt schon.«

»Umso wichtiger, dass du jetzt die Verantwortung übernimmst. Möchtest du dir morgen den Tag freinehmen?«

Opa trank noch einen Schluck aus der Bierflasche. Der Wasserkocher schaltete sich ab. Frieda stand auf, füllte den Becher durch das Teesieb mit kochendem Wasser auf und brachte ihn zusammen mit einer Untertasse, auf die sie das Sieb später stellen konnte, zurück an den Tisch.

»Ich denke, ich lasse Elias länger schlafen und bringe ihn zur dritten Stunde in die Schule. Wie lange hat er morgen Unterricht?«

»Das steht auf seinem Stundenplan.«

Seufzend erhob sie sich und ging zum Kühlschrank, an dessen Seite mit Magneten Elias’ Stundenplan, Notfallnummern und der Einkaufszettel befestigt waren. Früher hatte dort ihr Stundenplan gehangen, später der Tourneeplan von Wintergrün. Sie sah auf die Spalte für Mittwoch. Fünf Stunden Unterricht.

»Hmpf«, machte sie. »Da lohnt es sich nicht, zwischendurch nach Hause zu fahren.«

»Möchtest du nicht, dass er weiter in die Nachmittagsbetreuung geht?«

»Oh, stimmt, das habe ich vergessen. Meinst du, ich sollte ihn für diese Woche abmelden?«

»Das ist deine Entscheidung.«

Sie verdrehte die Augen. So ging das mit Opa heute bereits den ganzen Tag. Egal, was sie ihn fragte, die Antwort war entweder »Mach es so, wie du es für richtig hältst« oder »Das ist deine Entscheidung«. Nicht besonders hilfreich. Sie kam zurück an den Tisch und setzte sich.

»Hast du für diese Woche weitere Aufträge angenommen?«

»Nein. Es gab nur zwei Anfragen, die ich auf nächste Woche geschoben habe. Ich dachte, dass du es langsamer angehen möchtest.«

Sie lächelte. »Damit Elias und ich uns an den neuen Alltag gewöhnen können?«

Ein Schmunzeln glitt über seine Lippen. »Du kannst bei Frau Wagner anrufen und ihr sagen, dass du mit den Einbauschränken für ihr Gästezimmer bereits diese Woche anfangen kannst.«

»Da wird sie sich bestimmt freuen. Ist es wirklich in Ordnung, wenn Jasmin am Sonntag zum Essen kommt?«

»Frieda, das hier ist dein Zuhause, und du bist erwachsen. Ich gehe wie jeden Sonntag zum Gasthof Adler, und wenn du magst, kann ich Elias mitnehmen.«

»Ich weiß nicht …«

Er legte seine Hand auf ihre. »Elias ist dein Sohn, und ich möchte, dass du die Verantwortung für ihn übernimmst. Das bedeutet nicht, dass wir beide nicht auch mal was ohne dich unternehmen und du ein bisschen Zeit für dich hast. Du und Jasmin, ihr habt einiges, worüber ihr reden solltet.«

»Sind Jasmin und Damian zusammen?«

»Keine Ahnung. Das musst du sie selbst fragen. So, und nun wird es Zeit für mich, ins Bett zu gehen.«

Er trank seinen letzten Schluck aus der Flasche. Nachdem er die leere Flasche zurück in den Kasten im Vorrat gebracht hatte, kam er zu ihr zurück und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. »Du schaffst das. Mach einfach einen Schritt nach dem anderen.«

Frieda nahm das Sieb aus dem Becher. Sie pustete auf den heißen Tee und trank einen ersten vorsichtigen Schluck. Sie lauschte auf die Schritte ihres Großvaters, dessen Zimmer im Erdgeschoss lag. Die Räume oben waren ganz allein für sie und Elias. Den angefangenen Ausbau der alten Werkstatt hatten sie nach dem Prozess auf Eis gelegt. Zum Glück, denn nach dem Leben in einer Zelle waren die Räume oben groß genug für sie. Nur Elias’ Zimmer wurde langsam zu klein für ihn.

Die häuslichen Geräusche waren ungewohnt, anders als in der Haftanstalt, wo der Boden aus Linoleum bestand und Schritte quietschten, und nicht knarzten. Alles im Haus roch nach Holz, Leim und Ölen. Sie liebte das alte Haus mit dem Übergang zu der alten Werkstatt, die leer stand. Den Neubau, der inzwischen zwanzig Jahre alt war, hatte Opa rechtwinklig zum Haus gebaut. Ein überdachter Lagerplatz schloss sich wiederum im rechten Winkel an, sodass zwischen den Gebäuden eine Art Innenhof entstanden war. Rechts am Lagerplatz vorbei führte ein Feldweg in den Wald. Mit seiner Lage am Stadtrand war das großflächige Grundstück inzwischen ein Vermögen wert. Es gab eine Obstwiese, einen Gemüsegarten und einen kleinen Gartenbereich mit Terrasse, wo sie im Sommer abends schön sitzen und essen konnten. Es war lange her, dass Frieda zuletzt dort den Sternenhimmel betrachtet hatte. Den Schuppen, der in diesem Teil des Gartens stand, hatte ihr Opa für sie, Jasmin und Anina gebaut. Seit dem Unfall hatte sie ihn nie wieder betreten.

Frieda seufzte und trank ihren Tee. Ihre erste Nacht in Freiheit, und sie verbrachte sie damit, über die Vergangenheit nachzugrübeln. Nein, ab sofort würde sie nur noch in die Zukunft blicken.

KAPITEL2

Der Klassenlehrer

»Frau Drechsler? Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«

Frieda hatte gerade das Fundament der Pfosten für das Grüne Klassenzimmer überprüft. Sie blickte hinüber zum Schuleingang und zuckte erschrocken zusammen. Nein, Blödsinn, das konnte gar nicht sein. Erstens stand sie hier im grünen Schulhof der Grundschule, und zweitens war die Schule kein Ort, an dem Polizeibeamte ihren Namen riefen. Es lag einfach an dem einen Zentimeter kurzen Haarschnitt und seiner Haltung, die Autorität ausstrahlte. Seine kantigen Gesichtszüge, die die Frisur noch verstärkte, wurden jedoch von dem freundlichen Lächeln gleich aufgelockert. Vage erinnerte Frieda sich daran, den Mann bereits einmal gesehen zu haben. Stimmt, das war an dem Tag gewesen, an dem sie alle zusammen die Geräte aufgestellt hatten. Damals war er ihr aufgefallen, weil er kräftig mit angepackt und sich handwerklich geschickt angestellt hatte, trotz seines Studiums. In ihrer Erfahrung schloss das eine das andere oft aus.

Mit langen, federnden Schritten kam er auf sie zu. Frieda drückte sich aus der Hocke hoch, verharrte und wartete darauf, dass er vor ihr stehen blieb. Meergrüne Augen hielten ihren Blick fest. Sie atmete tief durch. Woher kannte der Mann ihren Namen? Sein Lächeln veränderte sich, wirkte jetzt eine Spur unsicher, als er dicht vor ihr stehen blieb. Frieda war das gewohnt. Die meisten Menschen wussten nicht, wie sie mit einer Straftäterin umgehen sollten, die wegen gefährlicher Körperverletzung zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war.

»Ich wollte nur prüfen, ob das Fundament getrocknet ist, damit wir mit der Dachkonstruktion beginnen können. Falls ich eine Vorschrift übertreten habe, tut es mir leid. Das war nicht meine Absicht.«

»Von mir aus können Sie auch das Klettergerüst benutzen.«

»Nein danke, eine Haftstrafe reicht mir.«

Die buschigen Augenbrauen ihres Gegenübers schossen in die Höhe. Dann überzog ein feiner Hauch von Röte seine Wangenknochen. Er senkte den Blick. Süß. Er schien tatsächlich verlegen zu sein. Sie wartete, war gespannt darauf, wie er auf ihre direkte Erwähnung der Haft reagieren würde. Ein Ruck ging durch seinen Körper, er hob den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Frieda spannte unwillkürlich die Muskeln an.

»Sind Sie immer so direkt?«

»Nein.« Überrascht von ihrer eigenen Ehrlichkeit fuhr sie fort: »Normalerweise gehe ich damit nicht hausieren.«

»Dann sage ich ›Danke für Ihr Vertrauen‹.«

Jetzt war sie es, der das Blut ins Gesicht schoss. Sie schob ihre Hände in die Hosentaschen.

Er holte tief Luft. »Ich bin Sander Rauscher, der Klassenlehrer von Elias.«

Ihre Hände flogen regelrecht wieder aus den Hosentaschen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Ist was passiert? Gibt es Probleme?«

»Nein, nein, keine Sorge, Frau Drechsler, mit Elias ist alles in Ordnung. Ich würde nur gern mit Ihnen sprechen.«

»Geht es um sein Verhalten? Seine Noten?«

»Nein, bitte machen Sie sich keine Gedanken. Ich wollte Sie auf keinen Fall beunruhigen. Na super, Sander, das hast du jetzt echt toll hinbekommen.«

Frieda schluckte ihre Panik hinunter und musste unfreiwillig lachen. Sein verzweifelter Gesichtsausdruck und dass er mit sich selbst sprach, wirkte urkomisch auf sie.

Herr Rauscher atmete hörbar durch und grinste. »Das sind alles Dinge, die ich noch lernen muss. Ich komme gerade frisch von der Uni, und dieser Jahrgang ist meine erste Klasse, im wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem bin ich ein großer Fan von Ihnen.«

Frieda trat einen Schritt zurück und schob die Hände zurück in die Taschen.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht sagen. Vergessen Sie den letzten Satz. Können wir vielleicht einfach noch mal von vorne anfangen?«

Frieda legte den Kopf schief.

Er streckte die Hand aus. »Hallo Frau Drechsler, ich bin Sander Rauscher, der trottelige Klassenlehrer von ihrem Sohn Elias.«

Sie biss sich auf die Wangen, doch das Grinsen ließ sich nicht mehr aufhalten. Irgendwie drollig, der Kerl. Sie fasste seine Hand. Er hatte einen kräftigen Händedruck, den sie erwiderte. »Frieda Drechsler, die Mutter von Elias.«

»Angenehm.«

»Sie können meine Hand wieder loslassen.«

Er löste den Griff. Seine Fingerspitzen glitten dabei sanft über ihren Handrücken und sandten ein sanftes Prickeln ihren Arm hinauf. Ein weiteres Mal ließ sie die Hände in die Hosentaschen gleiten, während in ihrem Kopf der Beat von Nur ein Lied erklang. Albern. Sie benahm sich völlig albern. Sie runzelte die Stirn, als sie sich auf ihr Gegenüber konzentrierte.

»Es geht um den Schwimmwettbewerb morgen. Eine Mutter, die mitfahren sollte, hat abgesagt, und ich dachte, es wäre schön, wenn Sie mitkämen – natürlich nur, wenn Sie sich das zeitlich einrichten könnten. Elias würde das viel bedeuten. Er ist mein bester Schwimmer im Team.«

Frieda zog die Nase kraus. »Wann?«

»Halb zehn bis etwa ein Uhr.«

»Ich weiß nicht, ob ich weggehen kann. Ich muss das erst klären.«

»Selbstverständlich. Hier ist meine Nummer.«

Langsam zog Frieda ihre rechte Hand hervor und griff nach dem knitterigen Zettel, den er aus seiner Hosentasche hervorgezogen hatte.

»Danke.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, drehte sich der Lehrer auf dem Absatz um und eilte zurück zum Seiteneingang der Schule. Na super, dachte Frieda, was muss der jetzt von dir denken? Dass ich erst bei einem Justizbeamten nachfragen muss, bevor ich mit auf den Schwimmwettbewerb meines Sohnes fahren darf? Sie unterdrückte das Bedürfnis, Herrn Rauscher hinterherzulaufen, um ihm zu sagen, dass sie mitkommen würde, nur um ihm zu zeigen, dass sie selbst über ihr Leben bestimmen durfte.

Ein großer Fan von Ihnen. Der Liebessong, den Jasmin und Liam auf dem Abschlussgrillfest bei der Umgestaltung des Schulhofes zum Besten gegeben hatten … Seitdem waren die Bandmitglieder von Wintergrün wieder in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Als Folge davon war sie in der Justizvollzugsanstalt von einer Mitgefangenen krankenhausreif geschlagen worden. Mit den Fingerspitzen berührte sie die schmale Narbe an ihrer Lippe, die sie zurückbehalten hatte. Dabei war Stardust gar nicht infolge der Ohrfeige auseinandergebrochen, die Jasmin Liam verpasst hatte. Genauso wenig, wie Wintergrün damals in der Versenkung verschwunden war, weil Jasmin mit Liam geschlafen hatte. Nein, sie war es gewesen, die alles mit ihrer Eifersucht zerstört hatte.

Das Eingangsportal ging auf und ein schmaler Junge mit einem Tornister, der viel zu groß für seinen Rücken wirkte, kam auf sie zugerannt. Elias, ihr ganzes Glück. Die Liebe zu ihm durchflutete sie wie ein Sonnenstrahl, der die dunklen Wolken durchbrach. Wie sollte sie die Vergangenheit bereuen, wenn es ohne sie ihren Sohn niemals gegeben hätte?

»Der Klassenlehrer von Elias hat mich gefragt, ob ich als Aufsichtsperson zum Schwimmwettbewerb mitfahre.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Wir haben jede Menge zu tun. Die Kommode ist noch nicht fertig, ganz zu schweigen von den sechs Stühlen.«

»Frieda, sowohl der Kommode als auch den Stühlen ist es völlig egal, ob du sie am Freitagmorgen fertigstellst oder erst abends.«

Frieda klappte die Spülmaschine zu und schaltete sie ein. Nach der Schule und dem Schwimmtraining waren Elias beim Abendessen die Augen zugefallen. Nach dem Gutenachtkuss schlief er ein, ohne dass sie ihm eine Geschichte hätte vorlesen können. Überhaupt wurde er für dieses Ritual langsam zu alt. Sie seufzte. So viel Zeit mit ihrem Kind hatte sie verpasst. Ehe sie sichs versah, wäre er ein Teenager und würde von seiner Mutter nichts mehr wissen wollen.

Mit einem Becher Tee setzte sie sich zu Opa an den Tisch, wo er genüsslich einen Schluck aus seiner Bierflasche trank.

»Möchtest du darüber reden?«

»Du meinst, über meine Angst, dass die anderen Kinder hinter vorgehaltener Hand lauter dummes Zeug über mich reden? Ich möchte nicht, dass Elias sich für mich schämt oder meinetwegen gehänselt wird.«

»Das ist die Realität, Frieda. Es gibt Eltern, die wollten, dass Elias in eine andere Klasse geht. Die Kinder plappern nach, was ihre Eltern ihnen vorquatschen. Der Klassenlehrer hat dem einen Riegel vorgeschoben und stärkt ihm den Rücken.«

»Er ist jung.«

»Ein Jahr älter als du.«

»Dieser militärische Kurzhaarschnitt und seine Haltung … Im ersten Moment dachte ich …« Frieda brach den Satz ab und sah in ihren Becher.

»Der Mann strahlt Autorität aus. Das ist in seinem Job unter Garantie ein Vorteil. Aber glaub mir, er ist ein empathischer junger Mann, eher locker im Umgang mit den Kindern, der jedoch klare Grenzen setzt. Er ist gut in seinem Job, und das will was heißen, aus meinem Mund. Du kennst meine Einstellung zum Lehrpersonal an Schulen.«

»Ich hätte Elias zur Adoption freigeben sollen.« Tränen traten ihr in die Augen und ein Schmerz zog durch ihr Herz, den sie in dieser Art erst einmal im Leben verspürt hatte. »Dann wäre sein Leben leichter.«

»Ich bin froh, dass du dich dagegen entschieden hast. Ohne ihn hätten wir es beide nicht durch die Zeit geschafft. Du liebst ihn, und das stärkt ihm den Rücken. Ihr beide bekommt das hin.«

Frieda wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und nahm das Taschentuch von ihrem Opa an, um sich zu schnäuzen. »Wie?«

»Indem du dir vergibst. Nur dann können dir auch andere vergeben.«

»Anina sitzt im Rollstuhl.«

»Dafür hast du fast acht Jahre deines Lebens in der Justizvollzugsanstalt verbracht. Schau nach vorn. Du bist jung, du bist kreativ, du bist gesund und du kannst arbeiten.«

»Und dank dir sitze ich nicht auf der Straße. Aber du wirst auch nicht jünger.«

»Wirf mich jetzt nicht zum alten Eisen.«

»Du hast meinetwegen viele Kunden verloren.«

»Es reicht, dass wir davon leben können.«

»Du musstest deine Mitarbeiter entlassen.«

»Nicht alle. Manche sind auch von selbst gegangen.«

»Alles wegen mir.«

»Frieda, wenn du in Selbstmitleid baden willst, bist du bei mir an der falschen Stelle. Reiß dich am Riemen und lerne aus deinen Fehlern. Geh mit und zeig Elias, wie stolz du auf ihn bist. Das stärkt ihm den Rücken.«

»Das hast du bei mir auch gemacht.«

»Du bist eine talentierte Schlagzeugerin.«

»War.«

»Nein, das bist du immer noch. Wintergrün war mehr als nur irgendeine Band. Ihr habt vielen Jugendlichen eurer Generation aus dem Herzen gesprochen. Kunst ist nicht nur kreativer Ausdruck, sie kann auch eine Veränderung in der Gesellschaft herbeiführen.«

»Du meinst, so wie deine geliebten Beatles?«

»Sag nichts gegen die Beatles.«

»Habe ich nicht vor. Opa?«

Er trank einen Schluck und sah sie an.

»Ich liebe dich.«

Stöhnend verdrehte er die Augen. »Und jetzt wirst du auch noch sentimental. Trink deinen Tee, und dann kannst du dir noch einen Stuhl vornehmen, während ich Rechnungen schreibe.«

Elias strahlte übers ganze Gesicht. Sie vermied es, ihn an der Hand zu halten, obwohl sie nichts lieber getan hätte, als sich an ihm festzuhalten. Sie schwitzte. Herr Rauscher hakte die Liste der Kinder ab, die sich in den kleinen Bus drängten. Lara warf ihr einen neugierigen Blick zu, während zwei Jungen anfingen, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln, kaum dass sie an Frieda vorbei in den Bus gestiegen waren. Natürlich setzten sie sich in die letzte Reihe. Wenn es noch so wie früher war, bedeutete es, dass sie die coolen Jungs in der Klasse waren. Tatsächlich wurden die zwei Erstklässler nicht durch die Älteren von der Rückbank verscheucht, die vielmehr so taten, als würden die beiden nicht existieren. Elias stieg als Letzter ein und setzte sich zu Lara. Die beiden waren befreundet, und darüber war Frieda froh. Das Mädchen kommandierte zwar gern herum, doch ihr verdankten sie es, dass Elias nach und nach aus seinem Schneckenhaus herausgekommen war. Beide hatten eine Vorliebe für Anime-Filme, was weder sie noch Opa verstand. Egal, Hauptsache, er musste nicht allein sitzen. Sie stieg in den Bus und setzte sich auf die vorderste Bank.

»Wir sind vollzählig.«

Der Busfahrer schloss die Tür. Herr Rauscher richtete den Blick auf die Jungs in der letzten Bank, die ihr Tuscheln sofort einstellten und sich aufrecht hinsetzten. Der Lehrer hielt sich an der Stange fest und ließ sich neben Frieda auf die Sitzbank fallen, sobald sie losfuhren. Frieda rückte ganz nach außen und sah aus dem Seitenfenster. Ihr Herz klopfte in einem schnelleren Rhythmus, und ihre Hände zuckten, um den Takt aufzunehmen. Hastig verschränkte sie die Finger miteinander. Herr Rauscher tat so, als würde er es nicht bemerken, und plauderte mit dem Fahrer. Langsam entspannte sie sich.

»Ist das nicht toll, wie Jasmin den Schulhof in ein Naturparadies verwandelt hat? Ich bilde meinen Hund gerade zu einem Therapiehund aus und der wird sich wahnsinnig freuen, wenn er in der großen Pause auf den Hackschnitzelwegen herumlaufen kann, statt auf Beton.«

Pause.

Der Fahrer sah in den Rückspiegel. Frieda spürte kurz, wie sein Blick auf ihr ruhte, bevor seine Aufmerksamkeit sich wieder auf den Verkehr richtete. Die Worte von Herrn Rauscher waren eindeutig an sie gerichtet.

»Was für ein Hund ist es?«, fragte sie.

»Ein amerikanischer Collie.«

»Lassie?«

Herr Rauscher lachte. »Nein. Er heißt Hardy.«

»Jetzt verstehe ich auch, wieso er haart. Hardy ist also ein Hund. Ich dachte, es wäre ein Junge aus der Klasse, der so heißt.«

»Elias liebt Hardy, und das beruht auf Gegenseitigkeit. Er hat ein echtes Händchen für Hunde, im Gegensatz zu Lara, die mit ihren Liebesbekundungen manchmal zu stürmisch für Hardys Geschmack ist.«

»Er kommt mit in die Schule?«

»Das ist der Sinn und Zweck eines Therapiehundes, doch im Moment ist er nur an ausgewählten Tagen für kurze Zeit in der Schule, um sich an die Kinder zu gewöhnen.«

»Ist das nicht anstrengend für einen Hund?«

»Es kann eine Herausforderung sein, und nicht jeder Hund eignet sich dafür. Doch Hardy ist super im Umgang mit den Kindern, und wenn er da ist, sinkt der Lärmpegel im Klassenraum um einiges. So wie der Schulhof dazu beiträgt, dass die Kinder sich austoben.«

Schweigen.

Frieda wusste nicht, was sie noch fragen sollte. Früher wäre ihr das nie passiert.

»Lasse!«

Die Stimme des Lehrers hatte einen strengen Ton angenommen, der keinen Widerspruch zuließ.

»Glaub nicht, ich würde es nicht mitbekommen, was ihr zwei auf der Rückbank veranstaltet.«

Frieda drehte den Kopf, um nach hinten zu schauen, und einer der Jungs streckte ihr die Zunge raus. Herr Rauscher, der sich halb in seinem Sitz umgedreht hatte, spannte sich an.

»Das ist die Rote Karte – zum dritten Mal in dieser Woche. Du kannst den Wettbewerb heute von der Bank aus mitverfolgen.«

Alle Farbe wich aus Lasses Gesicht. Das freche Grinsen verschwand. Tränen traten ihm in die Augen. Trotzig presste er die Lippen zusammen. Die Gespräche der übrigen Schüler auf der Rückbank verstummten, und alle Kinder verfolgten neugierig das Geschehen.

»Och nö, Herr Rauscher. Dann verlieren wir in der Staffel«, maulte Lasses Sitznachbar.

»Das ist mir egal. Lasse hat sich das selbst zuzuschreiben.«

»Das erzähle ich meiner Mama, dann bekommen Sie voll Ärger.«

Herr Rauscher ignorierte die Bemerkung und wandte sich stattdessen der Sitzbank mit Elias zu.

»Lara, du übernimmst Lasses Platz in der Staffel.«

Das Mädchen hob mit einem breiten Grinsen im Gesicht den Daumen. »Geht klar, Herr Rauscher.«

»Die ist viel zu lahm«, tönte es von hinten.

»Moritz, noch eine Bemerkung, und du schaust dem Wettbewerb ebenfalls von der Ersatzbank aus zu.«

»Wünschte, Ihre Kollegen wären auch so konsequent«, brummte der Busfahrer.

KAPITEL3

Wettkampf

Scheu sah sich Frieda in der Schwimmhalle um. Vier Grundschulen traten zu dem Wettbewerb an. Überall wuselten Kinder in Badeanzügen und Schwimmhosen herum. Der Lärmpegel war entsprechend hoch. In der Luft lag erwartungsvolle Spannung. Ihre Kopfhaut juckte, in ihren Fingern zuckte es. Es brachte die Erinnerung an ihre Auftritte zurück, diese Momente, kurz bevor sie die Bühne betraten. Rasch verdrängte sie sie.

»Frieda, ich finde meine Schwimmbrille nicht.«

»Hast du sie denn eingesteckt?«

Lara stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe meine Tasche gestern mit Papa gepackt, und wir hatten eine Liste. Es war alles dabei. Bestimmt hat Lasse sie mir geklaut.«

»Komm, lass uns noch mal in Ruhe deinen Schwimmbeutel durchsuchen.«

»Das habe ich mit Elias zusammen schon gemacht. Stimmt doch, Elias, oder?«

Statt zu antworten, nickte ihr Sohn lediglich. Sein Blick war abwesend. Er saß auf der Bank und schien völlig in sich versunken zu sein.

Lara verdrehte die Augen. »Das macht er immer vor dem Wettbewerb. Sitzt da und stiert vor sich hin.«

Frieda war nicht auf den Schmerz vorbereitet, den Laras Worte in ihr auslösten. Sie dachte nur selten an den Vater ihres Sohnes, doch genau das hatte er vor jedem Auftritt gemacht. Sich in eine dunkle Ecke zurückgezogen, Kopfhörer aufgesetzt und in eine Welt abgetaucht, die niemand von ihnen erreichen konnte. Spaßeshalber hatten Jasmin und sie sich mal vor seinen Augen die T-Shirts hochgezogen. Nichts war geschehen. Nicht mal der Takt von seinem Kopfwippen hatte sich verändert.

»Ohne Schwimmbrille kann ich nicht starten«, heulte Lara.

Lasse, der angezogen auf der oberen Reihe der gekachelten Bank saß – zusammen mit Moritz in Badehose – giggelte.

»Heulsuse, Heulsuse, macht noch in die Hose.«

Frieda warf den Jungs einen scharfen Blick zu, und sie verstummten. Sie nahm Lara an der Hand. »Zeig mir mal, wo du dich umgezogen hast.«

»Da ist nichts. Es waren Lasse und Moritz. Die haben meine Schwimmbrille geklaut.« Wütend stampfte Lara mit dem Fuß auf, entzog ihr die Hand und verschränkte die Arme vor der Brust.

Frieda ging in die Hocke. »Wenn es wirklich so ist, werden wir es herausfinden. Doch bevor du jemanden beschuldigst, etwas getan zu haben, solltest du ganz sicher sein.«

»Also gut, ich zeig es dir, aber meine Tasche nehme ich mit.«

»Gute Idee.«

Gemeinsam gingen sie die lange Seite des Schwimmbads hinunter. Die ersten Schwimmer machten sich für den Wettkampf fertig. Herr Rauscher stand mit einem Klemmbrett neben einer Schülerin. Ihre Blicke trafen sich. Fragend hob er die Augenbrauen. Frieda zeigte ihm ein »Daumen hoch«. Sie ließ den Blick von unten aufwärts über seine Gestalt wandern. Seine muskulösen Beine endeten in einer kakifarbenen Bade-Short. Darüber trug er ein lockeres dunkelblaues Poloshirt sowie eine dunkelblaue Sweatshirt-Jacke mit dem Logo der Grundschule. Um seinen Hals hing eine Trillerpfeife. Frieda hatte bemerkt, wie die Blicke seiner Kolleginnen und der begleitenden Mütter immer wieder zu dem Sportlehrer wanderten, was dieser komplett ignorierte. Bisher hatte sie gedacht, dass überwiegend Frauen den Lehrerberuf wählten, vor allem in der Grundschule. Bei dem Wettbewerb überwog jedoch der männliche Anteil. Herr Rauscher war allerdings mit Abstand der Jüngste und Attraktivste in der Truppe. Rasch schob sie den Gedanken beiseite. Sie erreichten die Tür, die von der Schwimmhalle zu den Sammelkabinen der Mädchen führte. Mit Schwung warf Lara ihre Tasche auf die Bank.

»Hier, genau hier habe ich mich angezogen.«

Frieda musste schmunzeln. Das Mädchen stand mit beiden Beinen im Leben.

»Woher weißt du das so genau?«

»Weil ich mich immer vor dem Schließfach 113 umziehe. Das bringt mir Glück.«

Frieda ließ den Blick suchend durch die Umkleidekabine schweifen. Ein paar Kinder von einer der anderen Schulen waren noch mit einer Betreuerin da und zogen sich um.

Lächelnd kam die Frau auf sie zu. »Ist das ihre Tochter?«

»Nein, sie ist die Freundin meines Sohnes. Ich bin als Aufsichtsperson mitgekommen.«

»Ich auch. Und was habt ihr verloren?«

»Meine Schwimmbrille. Lasse hat mir die geklaut.«

»Ist das ein Junge?«

»’türlich. Was soll er denn sonst sein?«

Frieda grinste, und auch die andere Mutter blinzelte ihr verschwörerisch zu, griff in ihre Jackentasche und zog eine Schwimmbrille heraus.

»Ist es vielleicht die?«

Laras Augen wurden kugelrund, ihr Mund klappte auf, sie ließ die Arme sinken und nahm die Schwimmbrille.

»Das ist sie, aber …«

»Vorhin kam ein Mädchen rein, weil es zwei Schwimmbrillen hatte und nicht mehr wusste, wer sich neben ihr umgezogen hatte. Sie war völlig aufgedreht, weil sie im ersten Wettbewerb startet, und ich sagte, sie soll die Brille hierlassen, weil irgendwann bestimmt jemand käme, um sie zu suchen.«

Lara schnaubte. Sie schien nicht ganz glücklich zu sein, dass sich ihre Anschuldigungen als falsch herausgestellt hatten.

Frieda nickte der Mutter zu. »Na, dann wäre ja jetzt alles geklärt. Danke.«

»Kein Problem. Ich wünschte, alles ließe sich so leicht aufklären.«

Frieda nahm Laras Schwimmtasche, und gemeinsam gingen sie zurück zu den Bänken. Um den Zielbereich machten sie einen größeren Bogen, da dort die Helfer standen, um die Zeiten zu stoppen. Der Lärmpegel war inzwischen grenzwertig. Frieda sehnte sich nach ihren Ohrstöpseln, die sie früher hinter dem Schlagzeug immer getragen hatte.

Sie erreichten die Bank, wo inzwischen alle bis auf Elias ihre Mannschaftskameraden anfeuerten. Lara setzte sich in die untere Reihe, die für die Schwimmer reserviert war. Inzwischen saß auch Moritz unten bei den Schwimmern und nicht mehr neben seinem Kumpel. Kurz zögerte Frieda, dann setzte sie sich neben Lasse. Der sah sie mit großen Augen an. Seine Pupillen waren geweitet und er hielt den Atem an.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

»Meine Mama sagt, dass du eine Mörderin bist.«

»So, sagt sie das? Na, da hat sie dann wohl etwas falsch verstanden.«

»Du warst im Knast.«

»Das stimmt, aber nicht wegen Mordes.«

Lasses Gesichtsausdruck änderte sich und schwankte zwischen Neugierde, Angst und Bewunderung.

»Ich wollte dir nur sagen, dass wir Laras Schwimmbrille gefunden haben. Ich möchte mich in ihrem Namen bei dir entschuldigen, dafür, dass sie dich beschuldigt hat, die Brille geklaut zu haben.«

»Das hat Lara nicht gesagt.«

»Nein, das hat sie nicht. Ich hoffe, du nimmst sie trotzdem von mir an.«

Lasse schnaubte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist mir egal, was du sagst. Jemandem, der im Knast saß, kann man nicht glauben.«

»Ich nehme an, das sagt deine Mutter?«

Er schwieg, schob trotzig die Lippe vor und starrte aufs Schwimmbecken.

»Was sagt dein Vater? Ist er derselben Ansicht?«

Alles an dem Jungen versteifte sich. Selbst sein Gesicht fror ein. Sie hatte ins Schwarze getroffen.

»Das dachte ich mir.«

Frieda erhob sich und setzte sich auf die mittlere Bank. Es gab nur wenige Zuschauer bei dem Schwimmwettbewerb – eine Handvoll Kinder, die wie Lasse angezogen auf der obersten Bank saßen, und die Aufsichtspersonen, die sich jeweils zu ihren Schülergruppen platziert hatten. Drei Mütter, ein Vater. Die Frau aus der Umkleidekabine lächelte und winkte ihr zu. Frieda erwiderte das Lächeln, bevor sie sich scheu in die Starterliste vertiefte, die Herr Rauscher ihr in die Hand gedrückt hatte. Die Schwimmer und Schwimmerinnen ihrer Grundschule waren mit einem gelben Leuchtstift markiert.

Lara startete als Nächste im Brustschwimmen. Kaum hatte sie sich erhoben, hörte sie auf zu plappern, ihr Grinsen verschwand und sie wirkte in ihrem Ernst mit einem Mal erwachsener. Elias, der sich bisher nicht bewegt hatte, klatschte ihre Hand ab. Frieda verkniff sich ein Grinsen, als Lara dieses Ritual bei jedem ihrer Teammitglieder wiederholte. So etwas verband, das wusste sie aus Erfahrung, und sie sah kurz auf ihr Handgelenk, an dem Jasmin vor Kurzem das Freundschaftsband von Wintergrün befestigt hatte. Sie strich über die gestanzte Münze mit dem Logo aus ihren drei Anfangsbuchstaben: J-F-A. Nur so hatten sie einander angesprochen. Ihre wahren Namen dahinter waren nie zur Presse durchgesickert, bis zum Tag der Gerichtsverhandlung. Wochenlang hatten ihr Name und der von Anina in den Schlagzeilen gestanden. Jasmins Identität war erst durch den Liebessong aufgeflogen, den sie beim Abschlussgrillen nach dem Schulprojekt zusammen mit Liam gesungen hatte.

Sie verpasste Laras Start. Als sich ihr Blick wieder auf die Gegenwart fokussierte, sah sie, dass Lara nach dem Absprung an fünfter Stelle lag. Nicht nur Elias war aufgesprungen, um sie anzufeuern. Es war erstaunlich, wie das Mädchen mit kraftvollen Zügen und Beinschlägen Stück für Stück aufholte. Am Ende wurde sie Dritte und verpasste damit knapp den Einzug ins Semifinale. Sie trug es mit Fassung und nickte der Erst- und der Zweitplatzierten zu. Während Lara an den anderen Schwimmern ihrer Grundschule vorbeiging, bekam sie tröstende Worte zu hören.

»Das lag nur am Start.«

»Du bist super geschwommen.«

»Du hast zwei Plätze aufgeholt.«

»Das nächste Mal klappt es besser.«

»Blödsinn«, hörte Frieda da. »Sie ist ’ne Loserin und wird den Start bei der Staffel genauso verpatzen.«

»Ach, halt die Klappe, Lasse. Du hast mehr als einen Start verpatzt.«

Nicht nur Frieda, auch Lara sah Elias überrascht an. Ohne ein weiteres Wort versank er danach wieder in seinen meditativen Zustand – anders hätte sie es nicht bezeichnen können. Nachdem die Wettbewerbe im Brustschwimmen durch waren, kam der Freistil dran. Elias startete in der dritten Gruppe. Auch er brauchte nicht an seinen Start erinnert zu werden. Frieda hatte keine Ahnung, was ihn triggerte, jedoch erhob er sich, und im Gegensatz zu Lara klatschte er nicht bei den anderen ab und niemand sagte einen Ton zu ihm. Es schnitt Frieda ins Herz, dass er selbst im Schwimmteam ein Außenseiter war.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Ja, klar.«

Die Mutter von dem anderen Team nahm neben ihr Platz. »Von hier aus kann man die gesamte Bahn und das Ziel besser sehen.«

»Mhm.« Friedas Blick blieb auf Elias fixiert, der erst die Schultern kreisen ließ, dann den Kopf, bevor er einen tiefen Atemzug machte. Zuletzt positionierte er die Brille über den Augen und setzte die Füße auf den Startblock.

»Ist Elias Ihr Sohn?«

»Ja.«

»Da sind Sie bestimmt stolz auf ihn. Er ist der beste Schwimmer im Wettbewerb, obwohl er Erstklässler ist.«

»Auf die Plätze«, schallte es über ihren Köpfen.

Die Schwimmer positionierten sich am Rand ihrer Startblöcke.

»Fertig.«

Die Oberkörper senkten sich, mit den Fingern umfasste Elias den vorderen Rand des Blocks. Weder hob er den Kopf, noch senkte er ihn, wie einige der anderen Schwimmer es taten. Friedas Pulsschlag beschleunigte sich, und sie verknotete ihre Finger, zog sie wieder auseinander und steckte sie zusammen. In ihrem Kopf hörte sie den Beat von einem ihrer Songs. Ohne es zu wollen, nickte sie den Takt. Es beruhigte sie.

»Los.«

Wie ein Pfeil von einem gespannten Bogen schoss Elias mit lang gestrecktem Körper nach vorn. Er tauchte ins Wasser ein, blieb knapp unter der Oberfläche und nutzte den gesamten Schwung aus, während andere bereits auftauchten. Frieda schlug mit den Fingern den Takt des Songs auf ihren Oberschenkel. Tauch auf, tauch auf, tauch auf. Sein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche, und mit langen, kräftigen Armzügen erreichte er das Ziel und schlug ab. Erst einen Atemzug von Frieda später erreichte die zweite Schwimmerin den Beckenrand. Nicht nur die Teammitglieder, auch Frieda hielt nichts mehr auf der Bank.

»Jiah! Elias, du bist spitze!«

Er hob den Kopf, zog die Brille ab und streckte sie wie einen Pokal nach oben in ihre Richtung. Frieda kamen die Tränen, und es war ihr egal, was die anderen von ihr dachten. Sie küsste ihre Fingerspitzen und hauchte ihm einen Kuss zu. Ihr Blick wurde von Herrn Rauscher eingefangen, der mit den Augenbrauen wackelte und breit grinste. Rasch brach sie den Augenkontakt ab. Elias kam lächelnd aus dem Wasser und setzte sich wieder neben Lara, die ihm den Arm um die Schulter legte und ihn drückte. Frieda beherrschte sich, um ihn nicht ebenfalls zu umarmen. Es reichte, dass sie ihn mit ihrem Ausruf und der Kusshand in Verlegenheit gebracht hatte.

»Meine Tochter ist total froh, dass sie erst im Finale gegen Elias antritt. Ist es das erste Mal, dass Sie ihn im Wettkampf schwimmen sehen?«

»Ja.« In Gedanken fügte sie hinzu: Es ist das erste Mal, dass ich ihn überhaupt in dieser Art schwimmen sehe.

»Waren Sie mit ihm beim Babyschwimmen?«

»Nein.«

»Sind Sie Schwimmerin?«

»Nein.« Sie wandte sich der Frau zu, die sie inzwischen aufgrund ihrer knappen Antworten irritiert ansah. »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, woher er so gut schwimmen kann. Ich denke, das hat Herr Rauscher ihm beigebracht.«

»Auf keinen Fall. Er mag ein ausgezeichneter Sportlehrer und Schwimmtrainer sein, aber innerhalb von drei Monaten schafft selbst er es nicht, Elias zu einem derart technisch versierten Schwimmer zu machen. In welchem Schwimmverein trainiert er?«

Frieda atmete tief durch. »Das weiß ich nicht. Die Zeit, die Elias und ich miteinander verbringen konnten, war bisher sehr begrenzt.«

»Oh, tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, so in Ihr Privatleben einzudringen. Ich bin nur ein großer Fan von Ihrem Sohn, genauso wie Sina, meine Tochter. Ich bin alleinerziehend und weiß, wie das ist, wenn man gerne mehr Zeit mit seinem Kind verbringen möchte. Ich denke oft, dass ich eine Rabenmutter bin.«

»Das sind Sie nicht.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil Sie heute hier sitzen, um Ihre Tochter anzufeuern. Nicht die Anzahl der Stunden, die Sie mit ihr verbringen, ist entscheidend, sondern wie Sie die Zeit, die Ihnen gemeinsam zur Verfügung steht, nutzen.«

»Danke.«

KAPITEL4

Konfrontation

Amüsiert beobachtete Frieda, wie Sinas Mutter neben ihr die Hände faltete und mit so viel Kraft zusammendrückte, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Das Mädchen wirkte beim Start genauso konzentriert wie Elias. Ihr Ritual war anders. Sie stieg auf den Startblock, streckte den rechten Arm in die Höhe, ergriff mit der linken Hand das rechte Ellenbogengelenk und dehnte den Arm hinter ihrem Kopf nach links. Dasselbe wiederholte sie mit dem anderen Arm. Danach lockerte sie die Arme, während sie sich hinunterbeugte, um mit den Fingern den Rand des Startblocks zu umfassen. Auch ihr Kopf blieb in einer Linie mit dem Oberkörper. Es war ein kraftvoller Absprung, und genau wie Elias tauchte sie einen halben Meter vor den anderen Startern flach ins Wasser ein. Angesichts des Jubels und der Anfeuerungsrufe von Sinas Klassenkameraden hielt sich Frieda die Ohren zu. Der Kopf des Mädchens tauchte auf, und mit langen Armzügen erreichte sie das Ende des Beckens. Bei der kurzen Strecke hatten die anderen Schwimmer nicht den Hauch einer Chance gehabt, ihren Vorsprung durch den Absprung aufzuholen. Jetzt verstand Frieda, was Lasse mit dem Kommentar über Laras Absprung gemeint hatte und was für eine kraftvolle Schwimmleistung Lara erbracht hatte, um zwei Plätze weit aufzuholen. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht schob Sina sich die Schwimmbrille hoch auf die Stirn und stieß eine Faust in die Höhe, was den Lärmpegel wieder ein Stück weiter ansteigen ließ. Neben Frieda sprang ihre Mutter auf und beendete die Aloha-Welle, die die Klassenkameraden ihrer Tochter angefangen hatten. Sina winkte kurz zu ihrer Mutter hoch, bevor sie sich aus dem Wasser stemmte.

»Wow. Glauben Sie wirklich, dass Ihre Tochter Elias nicht schlagen wird?«

Sinas Mutter grinste breit, als sie sich ihr zuwandte. »Hart genug trainiert hat sie in den letzten Wochen dafür.« Sie setzte sich wieder und reichte ihr die Hand. »Paola.«

Sie nahm die dargebotene Hand an. »Frieda.«

»Frieda?« Sie hob die Augenbrauen. »Wie die Schlagzeugerin von der Mädchenband Wintergrün?«

Frieda machte einen tiefen Atemzug, erhielt ihr Lächeln aufrecht und antwortete: »Ja.«

Paola kniff die Augen zusammen, als versuchte sie, abzuschätzen, ob Frieda sich einen Scherz mit ihr erlaubte. Wegen der Wärme in der Schwimmhalle hatte Frieda sich die Ärmel ihres Langarm-T-Shirts ein Stück hochgeschoben, so bemerkte Paola das Freundschaftsband von Wintergrün an ihrem Handgelenk. Ihre Augen wurden riesengroß. Ihr Blick wanderte weiter über ihre tätowierten Unterarme. Innerlich wappnete sich Frieda für jegliches Szenario – Entsetzen, verbale Attacke oder im besten Fall, dass sie aufstehen würde, um sich wieder zu den Schülern und Schülerinnen ihrer Grundschule zu setzen.

»Jetzt verstehe ich auch, wie du das mit der wenigen Zeit meintest. Es tut mir wirklich furchtbar leid, dass ich vorhin so taktlos war. Meine Schwester war ein großer Fan deiner Band.«

»Und du nicht?«

Sie lächelte. »Das Liebesduett von J mit dem Sänger der Jungsband, die damals bei ihren letzten sechs Auftritten dabei war …«

»Liam.«

»Ja, das war sein Name. Inzwischen heißt die Band ja anders, irgendwas mit Sternen.«

»Stardust.«

»Genau, also das Lied fand ich schön, und noch ein paar wenige andere von den langsameren. Ansonsten stehe ich auf deutsche Schlager. Kein Wunder, bei meinem Namen.«

»Wieso?«

»Paola Felix, die Schlagersängerin?«

Frieda schüttelte ratlos den Kopf.

»Ich fang noch einmal an, irgendwann, am Blue Bayou.«

»Tut mir leid, da klingelt noch immer nichts bei mir.«

»Ach, ist auch egal. Jedenfalls war mein Vater ein Riesenfan von der Sängerin, später dann von Helene Fischer, und er bestand darauf, dass seine erste Tochter Paola heißen sollte.«

»Es ist auf jeden Fall ein schöner Name, der zu dir passt.«

»Da bist du nicht die Erste, die das feststellt. Ich sehe ihr sogar ein bisschen ähnlich mit den kurzen dunkelbraunen Haaren und den haselnussbraunen Augen.«

Erst der steigende Lärmpegel ließ sie zurück auf das Schwimmbecken schauen, wo das Semifinale im Freistil gestartet war. Frieda hatte Elias’ zweiten Start verpasst. Auch diesmal schlug er eine Armlänge vor den anderen den Beckenrand an. Sina stand bereits in der zweiten Startergruppe auf der ersten Bahn, derselben, auf der auch Elias geschwommen war.

»Die beiden waren die Schnellsten in ihren jeweiligen Gruppen, deshalb schwimmen sie beide auf der ersten Bahn.«

»Hast du es mitbekommen, Frieda?« Lara wippte aufgeregt auf ihren Füßen.

»Du meinst den zweiten Durchlauf von Elias?«

»Nein, du hast es verpasst.« Lara zog einen Schmollmund. »Ich bin im Rückenschwimmen eine Runde weiter.«

»Klasse, Lara. Ich verspreche dir, dass ich dich bei der nächsten Runde anfeuere.«

Derweil sprang Paola ein zweites Mal auf. Eine weitere Aloha-Welle schwappte über die Reihen.

Lara deutete mit dem Finger auf Paola. »Das ist die Mama von Sina.«

»Das stimmt.«

»Sina ist die größte Konkurrentin von Elias.« Aus Laras Stimme klang Empörung.

»Das hat sie mir gesagt.«

»Du weißt das und redest trotzdem mit ihr?«

»Wieso denn nicht?«

Lara klappte den Mund auf, da wurde sie von einem ihrer Klassenkameraden angestupst.

»Du bist als Nächste dran.«

»Scheint, als würden die Kinder den Wettkampf ziemlich ernst nehmen.«

Paola nickte. »Todernst. Vor allem das Mädchen, mit dem du gerade gesprochen hast. Lara?«

»Ja, so heißt sie.«

»Sie ist eine tolle Freundin. Stellt sich wie ein Wachhund vor Elias. Bei einem gemeinsamen Trainingsschwimmen zwischen unseren Grundschulen vor einem Monat hat sie Lasse ins Wasser geschubst, weil er ihn als Knastbaby bezeichnet hat. Ein echt toughes Mädchen.«

Frieda drehte sich zu Lasse in der oberen Reihe um, der sie beide geflissentlich ignorierte und mit gesenktem Kopf auf seinem Smartphone herumtippte.

»Du kennst Lasse?«

»Er ist der Sohn eines meiner Mandanten. Herr Rauscher wird Ärger bekommen, weil er nicht startet.«

»Das lag an mir. Er hat mir die Zunge rausgestreckt.«

»Eigentlich kann einem der Junge leidtun. Er hat es nicht leicht mit seiner Mutter, anders als Elias.« Sie grinste. »Ich habe gesehen, wie du ihm eine Kusshand zugeworfen hast. Auch wenn Herr Rauscher die auf sich zu beziehen schien.«

Frieda schoss die Röte ins Gesicht. Paola knuffte ihr mit dem Ellenbogen in die Rippen. »Keine Sorge, ich verrate dich nicht. Ganz abgesehen davon bist du nicht die Einzige, die ein Auge auf ihn geworfen hat.«

Jetzt war es an Frieda, Paola mit hochgezogenen Augenbrauen anzusehen.

»Nein, ich nicht. Mein Bedarf an Männern ist vorerst gedeckt.«

Frieda konzentrierte sich auf das Rückenschwimmen-Semifinale, bei dem Lara startete. Im Gegensatz zu den anderen Wettbewerben erfolgte hier der Start im Wasser. Die Knie gebeugt hielten sich die Schwimmer und Schwimmerinnen am Beckenrand fest, bis das Startsignal ertönte. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen, doch am Ende war es Lara, die als Erste mit der Hand am Beckenrand anschlug. Frieda sprang auf, klatschte und warf ihr eine Kusshand zu. Das Mädchen strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

»Beeindruckend, wie sie durchgezogen hat, obwohl sie den Rand nicht sehen konnte.«

Paola deutete auf das Band mit den Wimpeln, das quer übers Becken gespannt war. »Dafür gibt es die Fünf-Meter-Markierung vor dem Beckenrand.«

Sie verfolgten die restlichen Wettbewerbe, bis das Finale der Rückenschwimmer anstand.

Paola reichte ihr die Hand. »Möge die Bessere gewinnen.«

»Oder der Bessere.«

Sina startete auf Bahn eins, Elias auf Bahn zwei, daneben reihten sich die anderen sechs Schwimmer und Schwimmerinnen ein. Sina hatte also im Semifinale die schnellere Zeit hingelegt. Beide Kinder blieben ihren Ritualen treu, und keines von beiden sah zu dem anderen hin. Sina war ein wenig größer als Elias und wirkte an den Schultern muskulöser.

Friedas Herzschlag beschleunigte sich. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Gegen die Anfeuerungsrufe für Sina kamen die für Elias nicht an. Kurz entschlossen bildete Frieda mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund.

»Du schaffst das Elias! Gib alles!«

Ein Boxhieb von einer kleinen Hand traf ihre Wade. Sie blickte hinunter auf Lara.

»Lass das, du reißt ihn total aus der Konzentration.« Bevor sie etwas erwidern konnte, drehte sich Lara bereits wieder zum Schwimmbecken, die Hände zu Fäusten geballt, die sie gegen ihre Wangen presste.

Paola lachte, beugte sich zu ihrem Ohr, damit Frieda sie in dem Lärm verstehen konnte. »Ich habe dich ja gewarnt. Eine echte Amazone.«

Sie verpassten beide den Start ihrer Kinder. Elias’ Kopf tauchte als Erster auf der Wasseroberfläche auf, und dann gab er Gas. Hatte Frieda schon bei den Vorentscheidungen gedacht, er wäre schnell, war das nichts im Vergleich zu jetzt. Doch Sina hielt mit. Die beiden lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und am Ende hätte Frieda nicht sagen können, wer von den beiden zuerst am Beckenrand angeschlagen hatte. Die Zeitnehmer der beiden Bahnen traten zueinander, um ihre Uhren zu vergleichen. Derweil zogen Sina und Elias ihre Schwimmbrillen hoch. Sina hob die rechte Hand und Elias schlug sie ab. Sie grinsten beide. Inzwischen waren auch die letzten Schwimmer am Beckenrand angekommen. Der Zeitnehmer von Elias hob die Hand.

Frieda packte Paolas Arm.

»Heißt das …?«

»Ja, Elias hat gewonnen. Herzlichen Glückwunsch.«

»Deine Tochter ist echt schnell.«

»Das ist sie.« Wie zuvor Sina hob Paola ihre Hand hoch, und Frieda schlug sie ab. Dann – ohne darüber nachzudenken, was sie tat – umarmte sie Paola.

Paola lachte. »Wenn ich das meiner Schwester erzähle, wird sie grün vor Neid.«

Sina sahnte den ersten Platz im Finale beim Brustschwimmen ab. Frieda freute sich darüber genauso wie Paola. Von Moritz, der nur den zweiten Platz gemacht hatte, bekam sie einen wütenden Blick zugeworfen. In der Staffel gewann ihre Grundschule den zweiten Platz, direkt hinter der erstplatzierten Staffel von Sinas Schule. Nach einem weiteren verpatzten Start von Lara hatten sie an fünfter Stelle gelegen. Kevin holte für sie einen Platz auf, ebenso die dritte Schwimmerin, Helen. Das i-Tüpfelchen kam von Elias, der mit einem sagenhaften Absprung und Sprint nicht nur einen Platz wettmachte, sondern sich am Ende ein weiteres Kopf-an-Kopf-Rennen mit Sina lieferte, das sie diesmal für sich entschied. Der Jubel war bei allen groß, und auch Elias bewies, dass er ein guter Verlierer war, indem er Sina zum Abschlagen die Hand hinstreckte.

Paola erhob sich. »War schön, dich kennengelernt zu haben. Ich hoffe, es bleibt nicht nur dabei. Wenn du mal eine Steuerberaterin brauchst oder einfach jemanden zum Quatschen …«

Sie tauschten ihre Handynummern aus.

Gemeinsam gingen sie zur Mädchen-Sammelumkleidekabine, und innerhalb kurzer Zeit verstand Frieda, weshalb sich Paola bereits in der Schwimmhalle von ihr verabschiedet hatte. Was sich im ersten Moment wie ein lockerer Job angehört hatte, wurde zu einer echten Herausforderung. Das Anziehen klappte von selbst, doch die nassen Schwimmsachen zu verpacken, verlorene Socken und Unterhosen zu suchen und dann noch Haare zu föhnen, dazu waren gefühlt sechs Paar Hände nötig. Zum Glück gab es in der Wettkampfgruppe ihrer Grundschule nur fünf Mädchen, zwei davon mit kurzen Haaren. Blieben noch drei mit langen. Das wäre leicht zu schaffen gewesen, wenn die Mädchen wenigstens für ein paar Sekunden stillgehalten hätten. Sie waren jedoch derart aufgeregt von ihren Wettkämpfen, dass bei ihnen der Mund nicht stillstand, ganz zu schweigen vom Kopf. Zum ersten Mal war Frieda für die Insichgekehrtheit ihres Sohnes dankbar. Oft hatte sie sich gewünscht, dass er ihr mehr vom Kindergarten und jetzt von der Grundschule erzählte, doch ein Geplapper wie das von den Mädchen würde sie auf Dauer nicht durchhalten. Hinzu kam, dass anders als bei ihrer Ankunft die Sammelumkleide diesmal voll war, mit allen Mädchen sämtlicher Grundschulen.

Paola warf ihr immer wieder Blicke zu und verdrehte die Augen. Frieda grinste. Sie hatte sich hinausgewagt und war mit einem neuen Kontakt belohnt worden, einer Frau, die es nicht zu stören schien, dass sie vorbestraft war.

»Ich möchte einen geflochten Zopf. Kannst du das?«

»Schau mich an. Sehe ich aus, als könnte ich keine Zöpfe flechten?«

Das Mädchen sah mit großen Augen ihre drahtigen, kruseligen Haare an, die um ihren Kopf herum explodierten. Nachdem sie sie jahrelang kurz geschoren hatte, weil das in der Justizvollzugsanstalt einfacher gewesen war, ließ sie sie seit zwei Jahren wieder wachsen. Normalerweise flocht sie ihre Haare in kleine Zöpfe, doch im Moment brauchte sie das Gefühl von Freiheit auch für ihre Haare. Bei der Arbeit trug sie ein Tuch, um sie aus dem Gesicht herauszuhalten, das hatte sie für die Schwimmhalle vergessen, und durch die feuchte Luft kringelten sich ihre Haare noch mehr als sonst.

»Flechtest du die Haare jeden Abend ein, damit sie so kraus sind?«

»Quatsch. Sie hat afrikanische Vorfahren«, mischte sich Lara in das Gespräch ein.

»Du meinst, sie ist eine Negerin? Aber sie ist doch gar nicht schwarz.«

»Mensch, Helen, bist du doof? Das Wort darf man nicht sagen.«

»Welches?«

»Negerin«, flüsterte Lara. Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund und sah Frieda erschrocken an.

Frieda schmunzelte. In der Justizvollzugsanstalt hatte sie sich ganz andere Bezeichnungen anhören müssen. Seit ihrer Kindheit bekam sie den Rassismus in Deutschland zu spüren. Erst mit der Freundschaft von Jasmin und später auch Anina hatte sie zum ersten Mal gespürt, was es bedeutete, als Mensch angenommen zu werden. Als berühmte Schlagzeugerin von Wintergrün waren ihr dann bei Interviews immer wieder rassistische Aussagen von angeblich gebildeten Leuten begegnet. Sie waren in der Gesellschaft so fest verankert, dass niemand sie wahrnahm. Insofern fand sie es erstaunlich, dass Lara in dieser Hinsicht so sensibel von ihrer Mutter aufgezogen worden war. Tatsächlich hätte ihr Hautton von einer südeuropäischen Abstammung kommen können. Elias dagegen sah man – mit seinen dunkelblonden, welligen Haaren, die er von seinem Vater hatte, und einem noch blasseren Hautton – seine Vorfahren vom afrikanischen Kontinent kaum mehr an. Ihre Oma war Amerikanerin, und Frieda wusste nicht, aus welchem Land ihre Familie ursprünglich stammte. Mit Opa hatte sie weder über ihre Oma noch über ihre Mutter gesprochen.

»Es stimmt, was Lara sagt. Ich bin zu einem Viertel Schwarze.«

»Aber wieso sprichst du dann so gut Deutsch?«, fragte Helen langsam und artikuliert.

»Mann, Helen, du bist echt Banane«, schimpfte Lara. »Frieda ist Deutsche, wieso sollte sie kein Deutsch können? Abgesehen davon ist sie eine berühmte Schlagzeugerin.«

Bevor Helen auf die Idee kam, weiter nachzuhaken, mischte sich Frieda ein. »Soll ich dir die Haare flechten oder nicht?«

Helen lächelte erfreut. »Ja, bitte.« Sie drehte ihr den Rücken zu, und Frieda flocht ihr flink einen Mozartzopf. Das Mädchen hatte feine weißblonde Haare. Frieda dachte an ihre Kindheit zurück, als sie mit neun Jahren einmal versucht hatte, ihre Haare wasserstoffblond zu färben.

Sie manövrierte die Mädchen auf den Parkplatz in Richtung Bus. Paola hob zum Abschied die Hand, während sie mit ihren Mädchen zu dem Bus auf der anderen Seite des Parkplatzes lief.

»Alle vollzählig«, sagte Herr Rauscher. »Oh, Helen, du hast aber einen schönen Zopf.«

»Den hat mir Elias’ Mama gemacht. Meine Mama kann keine Zöpfe flechten, und Papa nur so ganz einfache.«

Der Lehrer grinste und zwinkerte Frieda zu. »Na, vielleicht kann Frau Drechsler deinem Papa beibringen, wie das geht. Ab in den Bus.«

Da fuhr ein silberner Mercedes in viel zu hohem Tempo auf den Parkplatz. Die Schar von Kindern, die zu ihren Bussen liefen, und die begleitenden Eltern stoben erschrocken auseinander. Eine Lehrerin bremste die Fahrerin ab, indem sie sich dem Wagen in den Weg stellte. Die Frau trat auf die Bremse, hupte und fuhr langsam auf die Lehrerin zu. Die hob beschwichtigend die Hände und trat aus dem Weg.

»Shit.« Herr Rauscher schaute auf die drei Mädchen, die noch in den Bus steigen mussten, und seufzte.

»Was ist?«

»Lasses Mutter.«

»Oh.«

»Nicht ›oh‹, das wird richtig ungemütlich. Am besten steigen Sie in den Bus und lassen es mich regeln.«

Frieda hatte nicht vor, zu flüchten, und die Mädchen – neugierig auf das, was gerade passierte – machten keine Anstalten, in den Bus zu steigen. Die Kinder in den Bussen drückten ihre Nasen an den Fensterscheiben platt. Voyeurismus ist doch eine zutiefst menschliche Eigenschaft, dachte Frieda. Dann tauchten in ihrem Kopf die Bilder des bis zum Anschlag vollgestopften Gerichtssaales auf, die Mikrofone, die man ihr ins Gesicht hielt, und das Blitzlichtgewitter. Sie spannte sich an. Der Mercedes blieb direkt vor ihnen stehen. Die Fahrertür wurde aufgerissen. Das Rot unter den Stöckelschuhen wurde zuerst sichtbar.

Es folgte eine Frau, die von einem Hauch Bergamotte-Zitrone mit einer dezenten Rosennote umweht wurde. Zu viel des Guten, wie Frieda fand. Nicht nur der eng anliegende Hosenanzug wirkte teuer. Dass der Trenchcoat von Ralph Lauren stammte, sah Frieda mit einem Blick. Ihre Managerin hatte immer so einen getragen, sonst hätte sie es nicht erkannt. Jasmin hatte sich ihn mal in einer Pause geschnappt, als sie nassgeschwitzt gewesen war, um nicht auszukühlen. Ihre Managerin war daraufhin ausgeflippt und hatte Jasmin gefragt, ob sie wüsste, was so ein Mantel kostete. Diese hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und gesagt, sie müsse ihn ja nicht tragen, wenn sie ihn sich nicht leisten könne. Typisch J.

Frieda ließ den Blick über die Gestalt der Frau gleiten. An den Fingern prangten mindestens zehn Ringe. Sie trug langen Ohrschmuck mit schwarzen, fein geschliffenen Edelsteinen. Ein Pagenschnitt betonte das schmale Gesicht. Die signalroten Lippen in dem blass geschminkten Gesicht hoben zusätzlich die enzianfarbenen Augen hervor. Eine attraktive Frau, die viel Zeit auf ihr Äußeres verwandte. Ihre Haltung war selbstbewusst, der Kopf hoch erhoben. In wenigen Schritten überwand sie die kurze Distanz von der Tür bis zum Einstieg des Busses, wo ihre kleine Gruppe immer noch verharrte. Herr Rauscher stand neben Frieda. Er straffte sich und presste sein Klemmbrett, auf dem er die Namen der Kinder abgehakt hatte, vor die Brust. Frieda trat unwillkürlich einen Schritt zurück, um hinter ihm in Deckung zu gehen.

»Sie.«

Ein Zeigefinger mit blutrot lackiertem Fingernagel zeigte auf die Brust des Lehrers.

»Wie können Sie es wagen, meinen Sohn vom Wettkampf auszuschließen!«

»Guten Tag, Frau Wittenborn.«

»Werden Sie nicht frech, beantworten Sie meine Frage.«

»Welche Frage?«

»Weshalb haben Sie meinen Sohn aus dem Wettkampf genommen? Er ist der beste Schwimmer der ganze Klasse.«

»Das mag sein. Dennoch gelten für ihn dieselben Regeln wie für alle. Wer sich danebenbenimmt, wird gesperrt.«

»Danebenbenimmt? Mein Sohn hat ausgezeichnete Manieren, darauf legen mein Mann und ich sehr viel Wert.«

»Schade, dass er das in der Schule zu vergessen scheint.«

»Was hat er getan?«

»Mir die Zunge rausgestreckt.«

Streng genommen hatte Lasse ihr die Zunge rausgestreckt, doch Frieda hütete sich davor, Herrn Rauscher zu korrigieren.

»Das hätte er niemals ohne Grund getan.«

»Sie denken, ich hätte ihn provoziert?«

»Wenn er das getan hat, richtete es sich mit Sicherheit nicht gegen Sie.«

Ihre Stimme bekam einen schmeichlerischen Ton. Die roten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Perlweiße, ebenmäßige Zähne kamen zum Vorschein. Sie klimperte mit ihren angeklebten langen Wimpern.

Herr Rauscher ließ sich von dem Stimmungswechsel nicht beeindrucken. »Sie waren nicht dabei.«