Tisiphones Tochter - Kerstin Rachfahl - E-Book
SONDERANGEBOT

Tisiphones Tochter E-Book

Kerstin Rachfahl

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tisiphone – eine der drei Rachegöttinnen aus der griechischen Mythologie Ihr erstes Opfer: ihr eigener Vater. Sie hat das Vertrauen in das Rechtssystem verloren. Sie tötet Männer, die sich mit Geld und Lügen von ihren Verbrechen freigekauft haben. Sie glaubt, für Gerechtigkeit zu sorgen, bis sie erkennen muss, dass auch sie nur ein Werkzeug ist. Mitten aus dem Leben gerissen. Ein schneller Tod ohne Schmerzen. Er kennt all ihre Gewohnheiten, hinterlässt keine Spuren. Wer steckt hinter den Morden an reichen und bekannten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kunst und Religion? Dr. Rees Stancell, Psychologiedozent beim FBI und spezialisiert auf Gewaltverbrechen, ahnt, dass er es hier mit einem ganz besonderen Killer zu tun hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tisiphones Tochter

Rächerin der Opfer

Kerstin Rachfahl

Impressum

Deutsche Erstausgabe Juni 2019

Copyright © 2019 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs, dualect.de

Buchcover: Anne Gebhardt, annegebhardt.design

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Cosima, die dem romantischen Thriller mit ihrer Satzidee den letzten Schliff verpasst hat. Vielen Dank für dein Input.

Inhalt

Prolog

1. Wieder nüchtern

2. Sekretärin

3. Die Jagd beginnt

4. Wer Zweifel sät

5. Britische Botschaft

6. Hausmädchen

7. For Your Eyes Only

8. Die schwarze Witwe

9. Witterung aufgenommen

10. Zur Rechenschaft gezogen

11. Gracie

12. Zarte Bande

13. Die geheimnisvolle Fremde

14. Auf gefährlichem Terrain

15. Lindsay

16. Der Turm der blauen Pferde

17. Unter Verdacht

18. Falsches Spiel

19. Sackgasse

20. Verloren

21. Verflechtungen

22. Ultimatum

23. Countdown

24. Rechenschaft

25. Auslieferung

26. Verantwortung

27. Neubeginn

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

Prolog

Der Tritt traf Skylar knapp unterhalb ihrer Rippen und schleuderte sie durch die Küche, bis der Tisch ihrem Flug ein Ende setzte. Anders als in den Actionfilmen, die sie wie süchtig in sich einsaugte, brach das Holz nicht, als sie mit dem Rücken darauf auftraf. Der Aufprall raubte ihr die Luft, und für einen Moment war sie wie gelähmt. Am liebsten wäre sie liegen geblieben. Vor ihren Augen verschwamm der Raum, dafür schärfte sich ihr Gehör, und was sie hörte, ließ das Adrenalin in einer neuen Woge durch ihre Adern pulsieren. Dumpfes Platschen von Haut auf Haut. Schreie.

Ihre Sicht festigte sich. Sie sah ihre Mum, deren Gesicht von den Schlägen geschwollen und grotesk verformt wirkte. Nur ihre blauen Augen, die sonst immer Sanftmut ausstrahlten, wenn sie sich um die Zwillinge kümmerte, waren vor Angst weit aufgerissen. Sie starrte sie an und ihr Mund bewegte sich, doch es kam kein Laut hervor. Blut suchte sich einen Weg über ihre vollen Lippen.

Skylar wusste auch so, was ihre Mum ihr sagen wollte. Hör auf, dich zu wehren. Verrat es ihm. Lass es ihn haben, dann verschwindet er und alles ist vorbei.

Nein, diesmal nicht. Diesmal würde sie Mums Worte ignorieren. Sie wusste, dass es niemals enden würde, weder für sie noch für ihn. Die Drogen vernebelten ihm die Sinne, verlangsamten seine Körperkoordination, aber sie hatten ausgereicht, um Mum zu verprügeln, weil sie sich schützend vor sie gestellt hatte. Er wollte das Geld, das Skylar sich mit Nebenjobs verdiente und mit dem sie die Familie die letzten Monate über Wasser gehalten hatte. Selbst Mum wusste nicht, wo im Haus sie das Geld versteckte, durfte es nicht wissen, denn sie hätte es ihm sofort ausgehändigt, sobald er es verlangte.

Dieser Mann dort war nicht mehr der Dad, der mit ihr im Wald zelten gegangen war. Der Alkohol, die Tabletten, die Drogen – das alles hatte aus ihm einen anderen Menschen gemacht, erst langsam, nur an Kleinigkeiten merkbar, und dann steigerte es sich immer weiter. Heute hatte er eine unsichtbare Grenze überschritten. Noch nie war er derart gewalttätig gegen seine Familie geworden. Später, wenn er wieder zu sich käme, würde er es bereuen, das wusste sie. Gracies angstvolles Wimmern und Flehen weckte ihren Kampfgeist. Skylar rappelte sich auf, schüttelte die Benommenheit ab. Er hatte Toby am Kragen gepackt und hochgehoben und schüttelte ihn.

»Wo ist es, du verdammter Bastard, sag schon!«

Nein, er würde nicht aufhören. Diesmal nicht. Skylar wandte sich um und zog das Fleischmesser aus dem Messerblock. Sie hatte nur einen einzigen Versuch.

»Lass ihn los. Er weiß nicht, wo das Geld ist. Nur ich weiß es.«

Er schmiss Toby in die Ecke. Ihr kleiner Bruder landete auf einem Holzstuhl, der durch den Schwung nach hinten kippte. Sie hörte ein furchtbares Krachen, als sein Körper mitsamt dem Stuhl auf dem Boden landete. Dann wurde es gespenstisch still.

Skylar knirschte vor Anstrengung mit den Zähnen, um den Impuls zu unterdrücken, Toby zu Hilfe zu eilen. Langsam kam ihr Dad auf sie zu. Aus seiner Nase tropfte Blut, tiefe Kratzer von ihren Fingernägeln zogen sich über seine Wange. Seine Augen waren gerötet. Sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel.

»Du bösartige kleine Giftschlange«, zischte er. »Du glaubst wohl, du bist klüger als dein Daddy.« Er hielt auf dem Weg zu ihr inne, machte eine Geste, die das gesamte Chaos in der Küche umfasste. Von der Wand tropfte die Kartoffelsuppe, wo der Topf mit der heißen Brühe auf die Wand getroffen war. Das Geschirr lag in Scherben über den Boden verteilt. Stühle waren umgeworfen, von ihm und von ihr, als sie versucht hatte, vor seinem Gewaltausbruch zu flüchten. »Sieh dir an, was du gemacht hast. Wozu mich deine Sturheit getrieben hat. Schau deine Mum an. Du hast mich dazu gebracht, ihr wehzutun. Du hättest mir nur das Geld geben müssen. Das alles ist ganz allein deine Schuld.«

Er versuchte sie mit seinem weichen, vorwurfsvollen Ton einzulullen, als wäre er das unschuldige Opfer. Aber das war er nicht. Er war der Angreifer, der Täter – und sie war nicht ihre Mum. Sie brachte sich in Angriffsposition, so wie er es ihr beigebracht hatte. Ihre Hände hingen an den Seiten herab, sie beugte die Schultern, ging weich in die Knie, ihre Füße standen einen Schritt weit auseinander fest und ausbalanciert auf dem Boden. Alles, was sie über das Kämpfen mit Fäusten, Messern und Schusswaffen wusste, hatte sie von ihm. Das war auch ihm bewusst. Er fixierte den Blick auf ihre Augen, weil er ihr beigebracht hatte, dass man dort sah, wann der Gegner sich entschied anzugreifen. Sie behielt den angstvollen, demutsvollen Ausdruck bei und hütete sich, ihm ihre wahren Gefühle der kalten Wut und des Widerstandswillens zu offenbaren. Den Fehler hatte sie zuvor gemacht. Jetzt war da nur noch ihr Hass auf den Mann, zu dem er geworden war, der sie zwang zu tun, was sie tun musste, nicht für sich, sondern vor allem für ihre Mum und ihre Geschwister.

»Wo ist das Geld? Hol es mir und alles ist vorbei!« Er blieb stehen, musterte sie mit schmalen Augen.

Etwas an ihrer Haltung musste seinen jahrelang antrainierten Instinkt für eine drohende Gefahr geweckt haben, trotz der Drogen, die durch sein Blut zirkulierten. Oder deren Wirkung ließ nach.

Sie knirschte mit den Zähnen. Dann musste sie eben besser sein als er. Von der Straße drangen die Sirenen von Polizeiautos in die Wohnung. Blaues Licht flackerte über die Wände. Einer der Nachbarn hatte wohl die Polizei alarmiert. Kein Wunder bei dem Lärm, den sie veranstalteten. Es hatte eine Zeit gegeben, da lag ihre ganze kindliche Hoffnung in diesem Geräusch, aber das war vorbei. Sie wusste aus leidvoller Erfahrung, dass Mum ihren Dad niemals anzeigen würde.

»Fuck, fuck, fuck«, fluchte ihr Dad. Er vergaß sein Misstrauen, ignorierte seine Instinkte und überwand die Distanz zu ihr, wollte sie packen. »Gib mir das Geld, du verfluchte kleine Mistratte, oder …« Verblüfft riss er die Augen auf. Seine Hände fielen kraftlos herunter, sein Blick ging nach unten.

Entschlossen führte sie das Messer weiter, quer durch den Bauchraum. Einen raschen Tod, das wollte sie für ihn. Sie hatte nicht den Fehler gemacht, auf das Herz zu zielen, das von den Rippen geschützt wurde. Das Messer glitt mühelos durch die Haut und die darunterliegenden Muskeln und die Fettschicht. Nicht, dass sie es anders erwartet hätte. Mum hielt ihre Küchenmesser scharf. Sie hatte als Köchin in einem feinen Hotel gearbeitet, bevor sie, noch sehr jung, unerwartet mit ihr schwanger geworden war. Aber Skylar musste sich eingestehen, dass sie erwartet hatte, die Muskeln würden einen größeren Widerstand leisten. Andererseits hatte die Figur ihres Vaters durch den Alkohol, das fette Essen und die Drogen im letzten halben Jahr gelitten. Obskur, was ihr in den wenigen Sekunden alles durch den Kopf ging.

Warm floss das Blut über ihre Hände. Sie verstärkte den Griff um den Schaft, um zu verhindern, dass das Messer ihr aus der Hand glitschte. Ein ekelerregender Geruch kroch ihr in die Nase. Sie ließ ihn außer Acht. Ihre Augen, blieben auf die ihres Dads gerichtet. Der legte die Hände auf seinen Bauch, als wollte er zusammenhalten, was dort herausquoll. Wie rasch das herausfließende Blut ihm die Kraft nahm!

Sie ließ das Messer los, sprang zurück, als er in die Knie sackte. Seine Muskeln zitterten jetzt, er kippte zur Seite, und sie wich rasch weiter zurück, als er versuchte, ihr Fußgelenk zu packen.

Sie hörte die Türklingel, das Klopfen, die Rufe der Polizei, das Stimmengewirr von den Nachbarn. Sie blickte zu den Zwillingen. Gracie war aus ihrer Ecke zu ihrem Zwillingsbruder hinübergerutscht. Tobys Kopf ruhte an ihrer Brust. Mit der einen Hand stützte sie seinen Hals wie bei einem Baby, als hätte er nicht mehr die Kraft, ihn zu halten. Das Chaos vor der Tür außer Acht lassend, hockte Skylar sich zu ihrer Schwester. Ein Blick in Tobys glasige Augen reichte, und sie wusste, dass für ihn jede Hilfe zu spät kam. Das Schluchzen und der vibrierende Rücken ihrer kleinen Schwester zeigten ihr, dass auch sie es wusste. Sanft streichelte sie über Gracies blonde Locken, und es war ihr egal, dass das Blut ihres Vaters sie rosa färbte.

»Schscht, Püppilein, schuhschuh, es ist vorbei«, flüsterte sie. »Nie wieder wird dir jemand wehtun, nie wieder, versprochen.«

1

Wieder nüchtern

Rees blinzelte und stöhnte. Er wollte seinen Arm heben, doch etwas lag darauf. Langsam, jede schnelle Bewegung vermeidend, drehte er den Kopf zur Seite. Seine Nase landete in seidig weichem Haar.

Verfluchter Mist, verfluchter, wie viele Gläser Rotwein hatte er gestern Abend getrunken? Oder lag es an dem Whisky? Er drehte den Kopf wieder zurück und schloss die Augen. Fünf Minuten Konzentration. Er machte einen zweiten Anlauf und hob den Kopf. Diesmal war es einen Hauch besser. Er zog den Arm unter der Frau hervor. Verdammt, wer war sie noch mal? Die Sängerin mit diesem klangvollen griechischen Namen? Odessa, ja richtig. Oder war es doch die Tochter des schwedischen Botschafterehepaars, Malin, die in seinem Bett lag? Wenigstens sein Namengedächtnis ließ ihn nicht im Stich.

Schwer zu sagen. Beide Frauen hatten lange blonde Haare. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, da es in den vielen Kissen vergraben war. Vorsichtig zog er sein Bein unter dem nackten Körper hervor. Ein Murmeln. Er hielt den Atem an. Das Letzte, was er wollte, war, sie zu wecken. Die Erinnerung an das, was er gestern mit ihr angestellt hatte, fehlte ihm keineswegs …

Er grinste. Oh ja, daran erinnerte er sich sogar ziemlich genau. Ein wenig dünn und kantig war sie für seinen Geschmack, der Busen zu klein, doch das hatte sie mit ihrer Leidenschaft wettgemacht. Sie waren nicht gerade leise gewesen. Sein Blick wanderte zum Nachttisch. Er atmete erleichtert auf. Zwei leere Kondomhüllen zeugten von der nächtlichen Aktivität. Er hatte doch wohl zwei Male? Oder drei …? Nein, definitiv zweimal, zu mehr war er selbst in nüchternem Zustand nicht in der Lage. Achtsam arbeitete er sich aus dem Bett, tunlichst darauf bedacht, die Frau – jetzt konnte er ihr Profil erkennen, und es war die Sängerin Odessa – nicht zu wecken. Offensichtlich hatte ihn sein Urteilsvermögen trotz der Menge an Alkohol nicht im Stich gelassen. Die Sängerin war für ein amouröses Abenteuer eine wesentlich unkompliziertere Variante, als es die Tochter eines Botschafterehepaars gewesen wäre. Er musste wirklich aufhören, sich bei offiziellen Anlässen zu betrinken.

Nach dem Duschen ging es ihm besser. Er überlegte kurz, ob er eine Tablette gegen die Kopfschmerzen einnehmen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Wer saufen kann, kann auch leiden. Eigentlich lautete es im Spruch seines Vaters »kann auch arbeiten«, doch in diesem Fall musste er es abwandeln. Immerhin war heute Sonntag und er würde sich ausschließlich Dingen widmen, die ihm Spaß machten, auch wenn sie in diesem Fall Arbeit beinhalteten.

Auf leisen Sohlen durchquerte er die Küche und hielt am Kühlschrank. Seine Gelüste nach etwas Salzigem und Fettigem mussten befriedigt werden, aber bevor er den Kühlschrank öffnen konnte, ließ ihn ein dezentes Räuspern innehalten. Er straffte die Schultern und drehte sich um. »Guten Morgen, Fitzgerald.«

»Dr. Stancell …« Sein Butler deutete auf ein Glas auf der Küchentheke.

Er kannte den Inhalt, der aus püriertem Gemüse, Salz, Pfeffer sowie einigen geheimen Zutaten bestand, die tatsächlich einen Kater im Nu vertreiben konnten, wenn man es schaffte, das Getränk im Magen zu behalten. Er hob das Glas, schnupperte daran und verzog das Gesicht.

»Trinken Sie. Sie wissen, dass es Ihnen danach besser gehen wird. Eigentlich dachte ich, wir hätten Ihre wilde Zeit hinter uns gelassen.«

»Das dachte ich auch, Fitzgerald.« Er hielt sich mit einer Hand die Nase zu und kippte den Inhalt des Glases hinunter, wartete einen Moment, indem er flach atmete und damit rechnete, brechen zu müssen, aber dann beruhigte sich sein Magen schnell.

Fitzgerald schob ihm ein Glas Wasser sowie einen Becher schwarzen Kaffee hin. Dankbar trank er erst das Wasser, bevor er sich auf den Barhocker setzte und den heißen, aromatischen Kaffee Schluck für Schluck genoss. Die Kopfschmerzen – eben noch hämmernd – verebbten, und er fühlte, wie sein natürlicher Tatendrang zurückkehrte.

»Was täte ich nur ohne Sie, Fitzgerald?«

»Mit Verlaub, Sir – in der Gosse landen.«

Rees schmunzelte. So unrecht hatte sein Butler gar nicht. Er war dankbar gewesen, als Fitzgerald sich entschieden hatte, ihn in die USA zu begleiten. Seit er denken konnte, hatte der Mann im Dienst seiner Familie gestanden. Es war beruhigend, ein Stück Heimat dabeizuhaben, und es erdete ihn. Dummerweise fiel ihm in diesem Moment ein, dass es noch etwas gab, was er ihm beichten musste. Besser, man packte den Stier direkt bei den Hörnern. »Mr. Fitzgerald, in meinem Zimmer befindet sich eine Dame, die noch nicht ganz wach ist. Es wäre nett, wenn Sie sich, während ich mein Training beginne, darum kümmern würden, dass sie etwas zu essen bekommt, und ihr dann ein Taxi rufen. Selbstverständlich übernehme ich die Kosten.« Er drehte sich rasch um, in der Hoffnung, so der zweifellos gleich erfolgenden Standpauke zu entgehen.

»Einen Moment, Sir, nicht so eilig.«

Rees zog die Schultern hoch und den Kopf ein.

»Was hatte ich Ihnen über derlei Situationen gesagt?«

»Schon gut, Fitzgerald, ich verspreche Ihnen, es wird nicht wieder vorkommen. Wie vereinbart weiche ich in Zukunft auf die Wohnung oder das Hotelzimmer der Dame aus. Allerdings lagen hier besondere Umstände vor.«

»Vermutlich so wie auch in den letzten einundzwanzig Fällen. Und jedes Mal versprachen Sie mit einem überaus reuevollen Gesichtsausdruck, es werde nicht wieder vorkommen.«

»Wie gesagt, es waren besondere Umstände. Die Dame lebt nicht allein in ihrem Apartment, und ich bin aus dem Alter raus, in dem man auf der Toilette oder in einem Auto kopuliert. Ganz abgesehen davon hätte ich gestern gar nicht mehr fahren können. Das bedeutet auch, dass ich das Auto noch holen muss, sobald mein Alkoholspiegel es zulässt. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen.«

»Nein, das will ich nicht«, lautete die ungewohnt scharfe Antwort des Butlers. »Sie haben sich in diese Situation hineinmanövriert, also werden Sie sich auch wieder herausmanövrieren müssen. Es ist an der Zeit, dass Sie lernen, die Konsequenzen Ihres Verhaltens zu tragen.«

»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«

»Ich richte Ihnen ein Tablett für die Dame her, das Sie höchstpersönlich hochtragen. Nachdem Sie Ihren Übernachtungsgast so rücksichtsvoll, wie es sich für einen Gentleman gehört, geweckt haben, servieren Sie ihr das Frühstück. Und danach erklären Sie ihr, weshalb Sie diesen One-Night-Stand nicht zu etwas Dauerhafterem zu verlängern gedenken.«

»Mr. Fitzgerald, wer sagt, dass ich es bei der einen Nacht belassen möchte? Ms. Odessa Flemming ist eine ungewöhnlich begnadete Sängerin. Sie ist intelligent, humorvoll und …« Er hielt inne, suchte nach weiteren Adjektiven, die für ihn eine interessante Frau charakterisierten.

»Überraschen Sie mich, Dr. Stancell, und gehen Sie mit dieser ungewöhnlichen Dame eine längere Beziehung ein.« Fitzgerald drehte sich um und zauberte ein Tablett hervor. Sein spezieller Gemüsesaftmix, ein Vollkorntoast mit Avocadocreme sowie Gurken- und Tomatenscheiben, eine filetierte Orange, ein Thermobecher mit Kaffee, ein Kännchen Milch und eine langstielige rote Rose hatten darauf einen Platz gefunden. »Ich war so frei«, sagte er und drückte ihm das Tablett in die Hände. Mit einer Geste, die ihn aus seiner eigenen Küche hinauskomplementierte, machte er Rees deutlich, dass er entlassen war.

Während er die Stufen in die erste Etage hochging, kam Rees sich vor, als wäre er von einem Hochgeschwindigkeitszug mitgerissen worden. Mit dem Ellenbogen öffnete er die Tür.

Odessa lag quer im Bett. Die Bettdecke verhüllte nur wenig von ihrem nackten Körper. Sie war definitiv viel zu dünn. Er konnte auf ihrem Rücken die einzelnen Wirbel erkennen. Nein, auf keinen Fall war sie etwas für eine längere Beziehung, die er bisher immer erfolgreich vermieden hatte, kein leichtes Unterfangen, stellte er doch mit seinem attraktiven Äußeren und seinem üppig gefüllten Bankkonto eine fette Beute für die Damenwelt dar. Er wusste sehr wohl, wer bereits plante, ihn an den Haken zu nehmen, und mied tunlichst die saftigen Köder, die man ihm hinhielt. Diese Frau hier zählte jedoch nicht zu den Anglerinnen. Sie wusste nur wenig von ihm, nur dass er Professor für Psychologie war. Er hatte das Gespräch bewusst auf ihren Beruf gelenkt. Sängerinnen redeten gern über sich, und Odessa war da keine Ausnahme, zumal sie gerade am Beginn ihrer Karriere stand. Wie alt war sie? Vierundzwanzig? Oder jünger? Sie blinzelte, als hätte sie seine Gedanken gehört oder seinen kritischen Blick gespürt. Einen Moment betrachtete sie ihn verwirrt, dann richtete sie sich mit einem breiten Lächeln auf.

»Hallo, Seemann.«

Fast wäre ihm das Tablett aus der Hand gerutscht. Verflucht, das hatte er völlig verdrängt. Er war für sie in die Rolle des Piratenkapitäns geschlüpft, in Anlehnung an einen Hollywoodfilm, den sie sehr mochte und der ihre sexuelle Fantasie anheizte. Er wurde wirklich zu alt für derartige Spielchen. Als würde sie sich ihrer Blöße gerade erst bewusst, zog sie die Bettdecke über sich und nahm gleichzeitig die Mitte seines Queensize-Betts ein. Erst die verführerische Nymphe, dann die scheue Frau. Oh ja, Odessa wusste, wie man einen Mann verführte. Nur ließ ihn das kalt.

»Ich muss furchtbar aussehen«, sagte sie und schenkte ihm ein gekonnt scheues Lächeln.

Er verzog den Mund. »Hunger?«

Sie blickte auf das Tablett. »Du hast dir wirklich Mühe gegeben.«

»Nach dieser Nacht war ich dir das schuldig«, log er, ohne rot zu werden.

Sie klopfte auf die Bettkante, und er folgte ihrer Aufforderung, klappte den Fußstand des Tabletts auf und platzierte es auf ihrem Schoß, bevor sie auf dumme Gedanken kommen konnte.

»Hmh, mein Lieblingsfrühstück. Du hast meinen neuesten Blogbeitrag gelesen. Bis auf das da.« Sie deutete auf das Glas mit Gemüsesaft und runzelte die Stirn.

»Tatsächlich?« Dieser Fitzgerald! Diesmal würde er ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Er brachte ihn noch in Teufels Küche. Er nahm das Glas hoch. »Nun, dies, meine Sexgöttin, ist ein Wundermittel. Eine geheime Rezeptur meiner Familie, die nicht nur jegliche inneren Folgen eines übermäßigen Alkoholkonsums eliminert, sondern dich auch von innen heraus strahlen lässt. Probier es aus.«

Skeptisch betrachtete sie ihn.

Er behielt seinen unschuldigen Gesichtsausdruck bei. Niemand schaffte es, hinter seine Fassade zu blicken, wenn er es nicht zuließ. Außer Fitzgerald. Der hatte einen siebten Sinn dafür.

Sie nahm das Glas, schnupperte daran, verzog das Gesicht, nippte und spuckte den Schluck umgehend ganz undamenhaft wieder aus.

»Soll das heißen, es schmeckt dir nicht?« Er verzog enttäuscht die Mundwinkel.

Sie versuchte ein tapferes Lächeln. »Na ja, es war lieb von dir gemeint, aber erstens habe ich gestern längst nicht so viel Alkohol getrunken wie du und zweitens gehöre ich zu der ungewöhnlichen Kategorie von Menschen, die nie unter einem Kater zu leiden haben.« Sie nahm den Kaffeebecher, nippte daran und schenkte ihm einen Augenaufschlag, der bei ihren langen Wimpern diesmal seine Wirkung auf ihn nicht verfehlte. »Ich würde mich dafür gern erkenntlich zeigen.«

Er war ein rational denkender Mann, der sich nicht allein von seinem Geschlechtsorgan leiten ließ. Noch einmal mit ihr zu schlafen, würde das Ende dieses Stelldicheins nur unnötig hinauszögern.

»Odessa, du warst heute Nacht himmlisch, doch sieh mich an. Ich bin viel zu alt für dich.«

Ihr Lachen war glockenhell und reizvoll. Er erinnerte sich, dass ihn das gestern am meisten angelockt hatte.

»Ich verstehe«, gab sie zurück. »Du suchst nach einem Ausweg. Keine Sorge, ich bin nicht auf der Suche nach einer langfristigen Beziehung. Damit würde ich sogar den Vertrag mit meiner Entertainment Company brechen. Du weißt, die Fans müssen glauben, dass ich Single und noch zu haben bin. Genau genommen muss ich dich sogar bitten, dass dieses kleine Tête-à-Tête unter uns bleibt.«

Er führte die Finger über seine Lippen, als würde er einen Reißverschluss zumachen. »Ich werde schweigen wie ein Grab.«

»Und, bereit mein Angebot anzunehmen?« Sie stellte das Tablett zur Seite, ließ die Decke herunterrutschen, rückte an ihn heran und schlang ihm die Arme um den Hals. »Oder bist du zu alt für eine dritte Runde?«

Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen.

Rees hockte auf den Unterschenkeln am Boden. Mit geschlossenen Augen vollzog er die Atemübungen des Aikido. Er mochte diese defensive japanische Kampfsportart, die von den Samurai stammte und viele Bewegungsabläufe des Schwert- und Stockkampfes beinhaltete. Im Prinzip ging es darum, den Angriff eines Gegners anzunehmen oder diesem auszuweichen. Ziel war es nicht, den Gegner zu vernichten, sondern ihn zu neutralisieren. Ueshiba Morihei, der Begründer des Aikidos formulierte es in The Art of Peace so treffend: »Aggressionen zu kontrollieren, ohne Verletzungen zuzufügen, das ist der friedvolle Weg.«

Seine Eltern hatten Rees auf Anraten von Fitzgerald gezwungen, diesen Kampfsport zu erlernen, nachdem er wegen ungewohnt aggressiven Verhaltens auch von dem dritten Internat geflogen war. In den Jahren darauf hatte er viele Kampfsportarten erlernt, war aber immer wieder zu dieser zurückgekehrt.

Er begann mit den Aufwärmübungen, vollführte die Bewegungsabläufe und Kombinationen zuerst ohne Hilfsmittel, nahm dann das Shinai dazu. Wie bei vielen anderen Dingen hatte Fitzgerald richtig erahnt, was er für sein Leben brauchte. Er hatte sogar drei Monate zur Verfeinerung seiner Technik bei einem Lehrmeister in einem japanischen Kloster verbracht. Nach nur wenigen Wochen war er vollkommen mit sich im Einklang gewesen. Daraus war am Ende der Wunsch erwachsen, Psychologie zu studieren, und zwar einen ganz speziellen Zweig der Psychologie, der sich bestimmten Fragen widmete, nämlich was Menschen dazu bewog, Gewalt auszuüben, und was sie zu einem Serienmörder oder einem Terroristen machte. Wie immer, wenn Rees sich mit Leidenschaft einer Sache hingab, galt er in seinem Fachgebiet rasch als Experte. Es folgte der Ruf in die USA. Inzwischen lehrte er seit vier Jahren an der National Defense University in Washington und beim FBI in Quantico. Amerika war in seinen Augen ein Eldorado für Forschungen in seinem Fachgebiet.

»Und?« Fitzgerald baute sich in seiner traditionellen Aikidoka-Tracht vor ihm auf.

Rees hatte die Jacke ausgezogen. Sein Oberkörper war mit Schweiß bedeckt. Er schenkte seinem Gegenüber ein süffisantes Lächeln. »Eine ausgezeichnete Lektion, die Sie mir erteilt haben. Ich denke, ich weiß jetzt, worauf ich achten muss.«

Fitzgerald fixierte ihn. »Mein ›und‹ bezog sich nicht auf die letzte Aikido-Lektion, die ich Ihnen nahelegte, sondern auf den Damenbesuch.«

»Ich weiß, und meine Antwort bezog sich exakt darauf.«

»Sie haben noch einmal mit ihr geschlafen.« Missmutig musterte ihn sein Butler.

Sein Lächeln wurde eine Spur breiter. »Ein Gentleman genießt und schweigt. Womit trainieren wir?«

»Da Sie das Shinai bereits in der Hand halten …«

Eine Stunde später war Rees das Lächeln vergangen. Fitzgerald hatte lediglich einen dünnen Schweißfilm auf der Stirn und trug noch immer Jacke, Hose und Hakama. Er würde dem Alkohol entsagen und sich ab jetzt nur noch gesund ernähren, das schwor sich Rees.

»Wird Miss Flemming in Zukunft häufiger Gast in diesem Hause sein?«, fragte Fitzgerald und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht, bevor er aus einem Krug Ingwer-Orangen-Wasser in zwei große Gläser füllte und Rees eines davon reichte.

»Nein, wird sie nicht. Wir waren uns einig, dass dies eine einmalige Begegnung war. Immerhin beträgt der Altersunterschied dreizehn Jahre.«

»Was Sie noch nie davon abgehalten hat, mit einer Frau intim zu werden.«

Rees schaffte es nicht, das zufriedene Grinsen zu verbergen. Nein, es schien, als würde seine Anziehungskraft vor allem auf jüngere Frauen mit jedem Jahr, das er älter wurde, steigen. Eigentlich hatte er gedacht, dass er sich spätestens mit fünfunddreißig für eine Ehefrau entscheiden müsste, um in den Genuss von regelmäßigem Sex zu kommen. Doch bisher konnte er sich nicht beklagen. Er mochte die Abwechslung und Unverbindlichkeit seiner Beziehungen.

»Ich fürchte, Fitzgerald, Sie haben sich die falsche Dame ausgesucht, um mir eine Lektion zu erteilen. Wussten Sie, dass die Entertainment Company ihre Sänger und Sängerinnen vertraglich verpflichtet, keine feste Beziehung einzugehen? Ein interessantes Jagdgebiet.«

Das abgrundtiefe Seufzen seines Butlers ließ Rees in Lachen ausbrechen. »Keine Sorge, ich werde in Zukunft darauf achten, das Apartment der Dame zu nutzen, um Ihr Anstandsgefühl nicht weiter zu strapazieren. Es birgt auch für mich gewisse Vorteile, wenn ich mich am nächsten Morgen davonschleichen kann.«

Er trank das Glas leer, stellte es auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. Nach dem morgendlichen Sex und der Aikido-Stunde fühlte er sich frisch und fit genug, um sich seinem Verstand zu widmen.

»Eines Tages treffen Sie noch auf eine Frau, die Sie Demut lehren wird. Und ich werde diesen Tag mit einer Flasche Champagner feiern, das verspreche ich Ihnen.«

»Fitzgerald, ich fürchte, darauf werden Sie bis an Ihr Lebensende warten.«

»Wir werden sehen.«

2

Sekretärin

Ihre Finger flogen über die Tastatur, während die Stimme in ihrem Kopfhörer den Text diktierte. Sie druckte den Brief aus und legte ihn in die Unterschriftenmappe. Als Nächstes arbeitete sie die Termine ihres Chefs durch, ergänzte, stornierte, prüfte, ob sie alle Flüge und Hotels gebucht hatte. Perfekt. Gerade wollte sie sich zufrieden zurücklehnen, um sich den wohlverdienten Kaffee zu holen, als die Tür aufging. Rasch beugte sie sich wieder über die Tastatur und starrte konzentriert auf den Bildschirm.

»Ms. Tyler, immer noch fleißig, wie ich sehe.«

Das war das Schwerste an ihren wechselnden Jobs, dass sie die verschiedenen Namen im Kopf behalten und darauf reagieren musste. Mit dem Zeigefinger schob sie ihre dicke Hornbrille hoch. Ein flüchtiges, schüchternes Lächeln, nicht mehr. Sie klickte mit der Maus auf das E-Mail-Programm, das sie bereits geschlossen hatte.

Sein moschusartiger Duft verstärkte sich, als er sich an ihren Schreibtisch lehnte. »Habe ich Ihnen schon gesagt, was für eine hervorragende Arbeit Sie leisten?«

»Ja, Mr. Timberland.«

»Sie sind die beste Sekretärin, die ich je hatte.«

»Danke.« Sie wich seinem Blick aus. Es fiel ihr nicht schwer, nervös zu wirken. Seine Nähe, die selbstbewusste Haltung, die Tatsache, dass er sie, da sie auf ihrem Bürostuhl tiefer saß, überragte, das alles trug dazu bei, dass sie sich in ihrer Haut unwohl fühlte.

»Ts, ts, Ms. Tyler«, sagte er in einschmeichelndem Ton, »hatten wir beide nicht vor Kurzem ein Gespräch über Ihre Arbeitskleidung?«

Oh ja, das hatten sie, und selbstverständlich ging sie nicht auf seine Vorgaben ein. Schließlich hätte die gewünschte Änderung nicht zu ihrer Rolle gepasst und die Gefahr mit sich gebracht, dass die Lage eskalierte.

»Sehen Sie, Ms. Tyler, wenn meine Kunden und Lieferanten zu einem Termin bei mir kommen, sind Sie die erste Person, die sie zu Gesicht bekommen. Was sollen sie davon halten, wenn sie von einer Frau begrüßt werden, die bis oben hin zugeknöpft ist?«

Er beugte sich vor und sie hielt die Luft an, als er die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse öffnete und dabei mit den Fingerknöcheln bewusst über ihre Haut strich. Sie wurde stocksteif.

»Wo Sie doch einen so schönen Anblick zu bieten haben. Wissen Sie, Ms. Tyler – ich weiß, Sie mögen es nicht, wenn ich Sie Kira nenne –, mit ein paar kleinen Änderungen …« Er nahm ihr die Brille ab, bevor sie ihn daran hindern konnte. »… würde aus dem kleinen grauen Mäuschen eine attraktive Frau werden.«

Sie rollte mit ihrem Bürostuhl zurück, schnappte sich die Brille aus seiner Hand, setzte sie auf und knöpfte die Bluse wieder zu.

»Hoppla, entdecke ich da gerade eine widerspenstige Seite an Ihnen, Ms. Tyler? Wissen Sie, was man mit unartigen Kindern macht?«

Die Tür ging auf, und geschmeidig wie eine Katze erhob sich Mr. Timberland von der angelehnten Position an ihrem Schreibtisch. Er rückte seine Krawatte zurecht und machte einen Schritt in den Raum, um den Ankömmling zu begrüßen.

Erleichtert atmete Skylar auf, als er mit dem Besucher in sein Büro ging. Ihr Chef war ein echtes Schwein. Fast hätte er sie dazu gebracht, ihre Tarnung auffliegen zu lassen. Sie gab sich drei Minuten, bevor sie anklopfte und den Gast nach seinem Getränkewunsch fragte.

Das Einzimmerapartment war klein, stickig und laut. An der Wand hatte sie Schimmel entdeckt. Eine echte Zumutung, diese Bruchbude, und sie durfte gar nicht daran denken, was sie dafür bezahlte. Sie packte ihre Matte aus und begann mit dem Training. Am liebsten wäre sie eine Runde gerannt, doch das konnte sie sich nicht erlauben, wenn sie einen Auftrag übernommen hatte. Diesmal hatte sie einige Äußerlichkeiten an sich verändert, und zum Image der schüchternen, zugeknöpften Ms. Tyler passte es nun mal nicht, wenn sie in einem Jogging-Outfit die Straßen von Chicago entlangjoggte. Sie wärmte sich mit dem Springseil auf und machte Dehnübungen, bevor sie mit dem Muskelaufbautraining anfing. Zum Ausklang hängte sie Tai Chi dran. Die langsamen, fließenden Bewegungen lösten die innere Anspannung des Tages. Nachdem sie geduscht hatte, kochte sie sich eine frische Gemüsepfanne mit Kräutern. Sie nahm das Essen mit zu ihrem Laptop.

Als Erstes ergänzte sie die Ereignisse des heutigen Tages in der Akte von Mr. Timberland. Eigentlich, das hatte die Ehefrau versichert, ließ ihr Mann die Hände von seinen Sekretärinnen. Sie hatte keine Ahnung, weshalb er ausgerechnet bei ihr eine Ausnahme machte. Sie hatte sich bewusst für eine unscheinbare Aufmachung entschieden und achtete bei der Arbeit auf möglichst züchtige Kleidung. Es war, als würde er die wahre Frau hinter der Fassade wittern. Sie konnte nur hoffen, dass das Konzil rasch zu einem Ergebnis kam. Bisher war der Fall für die Mitglieder noch nicht eindeutig gewesen, deshalb ihre täglichen Berichte an ihre Kontaktperson. Seit heute war ihr klar, dass die Entscheidung positiv ausfallen würde. Also beschäftigte sie sich mit der Ausarbeitung verschiedener Angriffspunkte zur Ausübung der Tat. Sie sah sich die Bilder des Hauses, des Wegs zur Arbeit, des Freizeitklubs und des Wochenendhauses am See an. Letzteres wäre der ideale Platz, um ihn zu beseitigen. Das Gelände bot mehrere mögliche Positionen, von denen aus sie ihn mit einem Scharfschützengewehr ins Visier nehmen konnte.

Es war die Waffe ihrer Wahl. Die große Entfernung bot ihr die nötige Distanz zum Opfer, die sie immer mehr brauchte, je länger sie in diesem Job arbeitete, wenn man es denn als Job bezeichnen konnte. Mit dem Messer hatte sie nur einmal getötet, und sie würde es nie vergessen. Es war eine sehr persönliche Mordmethode, eine, die der Nähe zum Opfer bedurfte und des Kontakts. Nein, sie bevorzugte das Scharfschützengewehr oder, wenn es sein musste, auch eine Pistole. Manchmal ließ es sich jedoch nicht vermeiden, dass sie aus der Nähe tötete. In dem Fall griff sie auf die Tötungstechniken der Kampfsportarten zurück. Wenn sie tötete, dann sollte es schnell und schmerzlos geschehen.

Als Nächstes nahm sie sich die Karten vor, maß Distanzen, nutzte das Internet, um sich Satellitenaufnahmen der Gebiete anzusehen. Das ersetzte selbstverständlich nicht die Überprüfung vor Ort, grenzte jedoch die Anzahl der Plätze ein, die sie sich ansehen musste. Der Wecker an ihrem Smartphone klingelte. Zeit für ihren ersten Anruf.

»Hi, alles klar bei dir?«, fragte sie.

»Ja.«

»Bist du noch im Krankenhaus?«

»Nein. Mein Dienst war vor zwei Stunden zu Ende. Wie geht es dir?«

»Ich wünschte, ich wäre bei dir.«

»Wie lange noch?«

Skylar schaute auf das Bild von Derek Timberland. »Drei, vier Wochen.«

»Ich vermisse dich.«

»Ich dich auch. Und – Gracie?«

»Ja?«

»Pass auf dich auf.«

»Das mache ich, versprochen.«

Sie beendete das Gespräch. Sie achtete darauf, die Gespräche kurz zu halten und nie über Orte, Städte oder sonst ein Detail zu reden. Man wusste nie, ob nicht jemand mithörte. Irgendwann würde ihre Glückssträhne enden. Irgendwann würde jemand Zusammenhänge sehen, wo es scheinbar keine gab. Irgendwann würde sich jemand an ihre Fersen heften. Sie hoffte, dass ihr noch ein wenig mehr Zeit bliebe, wenigstens bis Gracie jemanden fand, der sie liebte und auf sie aufpassen würde, wenn sie es nicht mehr konnte.

Skylar stand auf, ging vorsichtig ans Fenster. Statt frontal stellte sie sich seitlich und schaute auf die schmale Straße mit ihren Geschäften. Sie betrachtete die Menschen, die die Straße entlangliefen. Touristen mit Rucksäcken schauten die Häuserwände hoch und machten Fotos von den Feuertreppen. Im Hintergrund blickte man auf die Skyline der Hochhäuser, die sich den Fluss entlang hinzog. Sie konnte den beleuchteten Willis Tower sehen. Nicht weit von ihrem Apartment lag der Millennium Park, der sich direkt am Ufer des Michigansee entlangzog. Sie fand es herrlich, am Wochenende dort spazieren zu gehen. Der See kam einem vor wie das Meer, und im Park waren jede Menge Familien unterwegs, Kinder mit ihren Müttern und Vätern, die mit ihnen spielten, ihnen ein Eis kauften und sie trösteten, wenn sie hingefallen waren.

Sie wandte sich wieder vom Fenster ab. Genug geträumt. Sie hatte einen Job zu erledigen. Gestern war die Freigabe vom Konzil gekommen. Derek Timberland war einstimmig zum Tode verurteilt worden. Nächstes Wochenende würde seine Frau mit den Kindern zu ihren Eltern fahren. Sein Schwiegervater hatte Geburtstag, aber Derek würde zu Hause bleiben, weil sein Terminkalender angeblich zu voll war. Das Verhältnis zwischen Timberland und der Familie seiner Frau war angespannt, was vermutlich noch nett formuliert war, wie Skylar aus dem wenigen, was sie mitbekommen hatte, annahm. Es war der perfekte Zeitpunkt, um seinem Treiben ein Ende zu setzen. In den letzten Wochen war er von Tag zu Tag aufdringlicher geworden, bis die Personalabteilung ihr vor zwei Tagen diese Praktikantin Vanessa Bruce aufgedrückt hatte. Mit ihrem Erscheinen hatte sich sein Fokus verändert. Statt die Gefahr zu spüren, fühlte sich der Neuzugang von der Aufmerksamkeit des Chefs geschmeichelt. Für Skylar stellte es eine echte Herausforderung dar, darauf zu achten, dass Vanessa nie mit ihm allein war. Vanessa nutzte jede Gelegenheit, mit ihrem Chef zu flirten, und Skylar kam sich langsam tatsächlich wie die alte Jungfer vor, die sie spielte. Heute war Vanessa in einem Rock zur Arbeit gekommen, der nicht länger als eine Hand war, und ihre Bluse präsentierte mit drei geöffneten Knöpfen mehr von ihrem Dekolleté, als sie verdeckte. Kurzerhand nahm sie sich das Mädchen vor und schickte es zum Umziehen nach Hause. Das war selbstverständlich mit einem riesigen Aufstand von Vanessas Seite einhergegangen, doch Skylar hatte genug Erfahrung und Autorität im Umgang mit einer bockigen jungen Frau, um die Szene schnell zu beenden. Dummerweise hatte Timberland es trotzdem mitbekommen.

Wenn sie Pech hatte, würde man sie morgen früh feuern. Grundsätzlich käme ihr das entgegen, weil sie dann aus dem Weg wäre, wenn die polizeilichen Nachforschungen in Gang kämen. Allerdings hätte sie dann keinen Zugriff mehr auf Timberlands Kalender. Wenn er am Ende plante, das Wochenende zum Arbeiten zu nutzen oder es aus einem anderen Grund in dem Häuschen am See zu verbringen, bekäme sie es nicht rechtzeitig mit. Büro und Haus zu überwachen wäre aufwendig und es barg die Gefahr, dass sie jemanden auffiel. Vertieft in ihre Gedanken fuhr sie den Laptop hoch. Sie konnte sich eine Kopie anlegen. Kaum hatte sie ihr Kommunikationsprogramm geöffnet, poppte die Erinnerung an eine Aufgabe auf. Geschäftsbericht des Vorjahres für die Unternehmensleitung. Shit, shit, shit, das hatte sie in dem Drama von heute total vergessen. Wie konnte ihr nur so was passieren? Sie stellte sich für alle Aufgaben rechtzeitig einen Alarm. Moment. Vanessa! Das war der schuldbewusste Ausdruck in ihrem Gesicht gewesen, nachdem sie sie an ihrem Arbeitsplatz erwischt hatte. Vermutlich war es ihre Rache für die von ihr empfundene Demütigung. Mist, jetzt musste sie noch mal zurück ins Büro. Sie brauchte den Zugriff auf die Zahlen der Bereichsleiter, und die lagen gesichert auf dem internen Netzwerk, auf das sie von extern keinen Zugriff hatte.

Im Geist ging sie bereits die einzelnen Arbeitsschritte durch. Die Highlights der Zahlen hervorheben, die Texte übernehmen, prüfen und gegebenenfalls ergänzen. Das Ganze in dreifacher Ausfertigung ausdrucken, binden und den Raum für das Meeting der Geschäftsführung morgen vorbereiten. Kurz überlegte sie, ob sie nicht morgen zwei Stunden früher anfangen sollte, verwarf den Gedanken aber direkt wieder. Erstens hasste sie es, Aufgaben in letzter Sekunde zu erledigen, und zweitens reichte ein kleines technisches Problem oder eine fehlende E-Mail, und die knappe Zeitplanung würde alles den Bach runterschicken. Nein, es kratzte an ihrer Ehre. In jedem Job, den sie annahm, gab sie ihr Bestes. Darum hatte die Personalabteilung ihr auch Vanessa Bruce zugeordnet, damit sie von ihr lernen konnte, vor allem, wie man es längere Zeit als Sekretärin von Mr. Timberland aushielt. Nun, das Geheimnis war recht simpel: indem man seinem Drängen nicht nachgab. Es wunderte sie, dass keine ihrer Vorgängerinnen ihn wegen sexueller Belästigung oder Vergewaltigung angezeigt hatte. Die Überzeugung seiner Frau, dass er nie eine seiner Sekretärinnen als Opfer auswählte, war definitiv falsch.

Keine Stunde später parkte sie ihr Auto in der Tiefgarage. Die längste Zeit hatte sie damit verbracht, sich wieder in Kira Tyler zurückzuverwandeln. Sie nickte dem Sicherheitsdienst zu, drückte auf den Aufzugknopf und fuhr hoch in die zehnte Etage. Die Stille und die Dunkelheit der Flure und Büros, in denen sonst Hektik und Lärm herrschten, entspannte sie. Sie mochte keine Menschenmengen. Das fand sie manchmal am härtesten in ihrem Job.

Sie blieb irritiert stehen, als sie sah, das ihr Bürostuhl nicht exakt unter dem Schreibtisch, sondern weiter hinten stand, als wäre sie eben erst aufgestanden. Auch ihre Tastatur lag schräg auf dem Tisch. Sie griff sich automatisch an die linke Achsel und fluchte. Natürlich hatte sie als Kira Tyler ihre Sig Sauer nicht dabei.

Zunächst löschte sie das Licht im Raum. Verflucht, sollte nicht der gesamte Bereich überwacht werden? Nein, natürlich nicht, nur die Flure. Die Büros waren wegen der persönlichen Rechte der Mitarbeiter ausgenommen worden. Überaus fortschrittlich, allerdings fragte sie sich, ob man nicht einfach vermeiden wollte, dass die Angestellten protestierten, wenn nur die Büros der Geschäftsleitung von der Sicherheitsüberwachung ausgenommen wurden.

Alle ihre Sinne waren in Alarmbereitschaft. Sie lauschte. Nichts. Konnte es sein, dass sie selbst heute in der Hektik ihren Platz so verlassen hatte? Immerhin hatte sie auch vergessen, den Geschäftsbericht vorzubereiten. Nein.

Sie öffnete die Tür zum Büro ihres Chefs. Das Licht der Stadt flutete durch die Fenster herein. Das übliche Chaos auf dem Schreibtisch von Derek Timberland fehlte. Stattdessen war alles schön sauber und ordentlich an seinen Platz geräumt. Ungewöhnlich. Ihre Nasenflügel blähten sich auf. Es roch penetrant nach Raumspray. Ein Smartphone fing an zu vibrieren. Skylar folgte dem Geräusch. Sie umrundete den Schreibtisch und sah das Leuchten des Displays. Nicht das Smartphone ihres Chefs. Der Anruf ging zur Mailbox. Sie hob das Gerät auf. Vanessa war eine typische Vertreterin ihrer Zeit. Sie ging nirgendwo ohne ihr Smartphone hin. Skylar aktivierte das Display. Der Meldebildschirm zeigte drei Anrufe, vier Nachrichten und alle möglichen weiteren Meldungen von sozialen Plattformen an. Rasch scannte sie die Uhrzeiten. Die erste Nachricht war von 10:23 p.m. Jetzt war es 00:17 Uhr a. m. Vanessa hätte ihr Smartphone niemals liegen gelassen, und wenn, dann wäre sie längst wieder ins Büro gekommen, um es zu holen. Ihr stellten sich alle Nackenhaare auf. Was war hier passiert? Weshalb roch es dermaßen nach Raumspray und wieso war der Schreibtisch fein säuberlich aufgeräumt? Sie ging zu der hinteren Tür im Raum, die zu einem kleinen Bad führte. Schließlich konnte der Geschäftsführer sich nicht die Toilettenräume mit dem Personal teilen. Timberland hatte ihr angeboten, dass auch sie das Bad benutzen könne, was sie dankend abgelehnt hatte.

Auch hier herrschte klinische Sauberkeit. Klinisch, weil es nach Desinfektionsmittel roch. Die Handtücher fehlten. Kein Wassertropfen haftete am Waschbecken. Sie hob den Toilettendeckel an. Nichts. Langsam ging sie zurück in ihr Büro. Hier fand sie nichts Auffälliges außer der Position des Bürostuhls und der verschobenen Tastatur. Das Smartphone in ihrer Hand vibrierte erneut. Sie nahm den Anruf an.

»Vanessa, endlich«, sagte eine Frauenstimme. »Herrgott noch mal, wo steckst du denn? Du hast mir vor fast drei Stunden geschrieben, dass du später kommst, aber diesen Bericht wirst du doch inzwischen wohl fertig haben. Es ist fast halb eins!« Endlich holte die Anruferin Luft.

»Mein Name ist Kira Tyler. Ich bin die Sekretärin von Derek Timberland. Vanessa scheint ihr Smartphone im Büro vergessen zu haben. Mit wem spreche ich?«

Am anderen Ende blieb es eine Zeit lang still, bis die Anruferin sagte: »Vanessa würde nie ihr Smartphone irgendwo liegen lassen.«

»Hat sie aber, sonst hätte ich den Anruf nicht angenommen«, erläuterte Skylar sanft den Umstand. Sie konnte die Sorge aus der Stimme der Anruferin hören. »Sagen Sie mir Ihren Namen?«

»Louis Andrews. Vanessa und ich teilen uns ein Apartment. Ich verstehe das nicht.«

»Ms. Andrews, oder darf ich Sie Louis nennen?«

»Ja, bitte.«

»Louis, sagen Sie mir, wo Sie wohnen, und ich bringe Ihnen das Smartphone. Vielleicht können wir dann zusammen herausfinden, wo sie ist.«

Die junge Frau am anderen Ende der Leitung gab ihr die Adresse und Skylar machte sich auf den Weg.

»Das nächste Mal erwarte ich, dass Sie für den Geschäftsbericht unser Unternehmensfarbschema verwenden.«

»Sehr wohl, Mr. Timberland.«

Sein Gesicht glättete sich und er schenkte ihr ein feines Lächeln. »Ansonsten gute Arbeit, Ms. Tyler, wie immer.«

»Nun, um ehrlich zu sein, ich war es nicht, die den Geschäftsbericht geschrieben hat.«

»Ach nein?« Dieser verfluchte Scheißkerl schaffte es tatsächlich, seinem Gesicht einen überraschten Ausdruck zu verleihen.

»Nein. Ms. Bruce hat den Großteil geschrieben. Ich habe dem Ganzen lediglich den letzten Schliff verpasst.«

»Nun, dann sagen Sie bitte Ms. Bruce …« Er sah sich um. »Wo ist sie überhaupt? Ich habe sie den ganzen Vormittag noch nicht gesehen. Hat sie sich krank gemeldet?«

»Nein.«

»Sicher?«

»Ich habe bei der Personalabteilung nachgefragt, und sie hat sich dort nicht gemeldet.«

»Sehen Sie, das ist das Problem mit den jungen Leuten von heute. Sie werden immer unzuverlässiger. Zum Glück habe ich Sie, Ms. Tyler. Streichen Sie meine Termine für heute Nachmittag. Meine Tochter hat eine Ballettaufführung, die ich unter keinen Umständen verpassen möchte.«

»Was ist mit dem Termin mit den Banken?«

»Auch den.«

»Mr. Timberland«, hakte sie nach. Immerhin war dieser Termin als äußerst wichtig markiert worden.

»Lassen Sie sich etwas einfallen. Ich weiß, Sie bekommen das hin.« Damit entschwand er aus ihrem Büro in den Flur.

Skylar ließ die verspannten Schultern und den Kopf kreisen. Bis in die frühen Morgenstunden war sie mit Louis in der Stadt unterwegs gewesen, ohne ein Ergebnis. Gemeinsam hatten sie Vanessas Zimmer durchsucht. In dem Chaos aus Papieren, Klamotten, halb gegessenen Fertiggerichten und leeren Pappschachteln von Fast-Food-Ketten hatten sie nicht den geringsten Hinweis gefunden. Louis hatte ihr versichert, dass Vanessa nie einfach nur wegbleiben würde, ohne ihr Bescheid zu geben. Sie waren seit der High School beste Freundinnen. Erst hatte Louis sich geweigert, zum Chicago Police Department, dem CPD, zu gehen. Doch mit viel Fingerspitzengefühl war es Skylar gelungen, sie von dem Schritt zu überzeugen. Vor allem schaffte sie es, dass Louis allein zur Polizei ging. Sie hatte nicht die Absicht, auf dem Radar der CPD zu erscheinen.

Danach hatte sie kurz in ihrem Apartment vorbeigeschaut, sich frisch gemacht, um dann wieder ins Büro zu fahren. Dort hatte sie den angefangenen Geschäftsbericht gesehen, als sie den Rechner hochfuhr. Darauf hätte sie auch schon gestern kommen können. Natürlich hatte er einen Grund gebraucht, damit die Praktikantin im Büro bleiben musste, oder hatte Vanessa es aus eigener Initiative gemacht? Verdammt, sie vergaß normalerweise nie etwas. Der Gedanke, dass ihre Schlampigkeit dazu geführt hatte, dass Timberland das Mädchen … Sie musste aufhören, daran zu denken. Es führte zu nichts. Abgesehen davon konnte Vanessa jeden Moment putzmunter wieder auftauchen – nur glaubte sie nicht wirklich daran.

Skylar schaffte es, den Banktermin zu verschieben, musste sich dafür aber ein langes Lamento anhören. Als wäre es ihre Schuld, dass ihr Chef den Termin nicht wahrnahm. Auch die unterschwelligen Drohungen der Bank, die Kreditlinie zurückzufahren, ließen sie kalt. Rasch lief sie in die Kantine hinunter. Sie hatte nicht vor, auch heute wieder Überstunden zu machen.

Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete. Die zwei Männer erhoben sich aus den Besucherstühlen.

»Ms. Kira Tyler?«

»Ja.«

Der ältere der beiden kam mit ernstem Gesichtsausdruck auf sie zu und hielt ihr einen Ausweis hin. »Detective Lancy, und das ist mein Kollege Johnson.«

Skylar hatte sich wieder gefasst und nahm die dargebotene Hand des Detectives an.

»Es tut mir leid, Detective Lancy, doch ich muss Sie enttäuschen. Mr. Timberland ist vor zwei Stunden nach Hause gefahren, und wir erwarten ihn heute nicht mehr im Büro.«

»Woraus schließen Sie, dass wir zu ihm möchten?« Der Polizeibeamte musterte sie eindringlich.

Ihr rutschte das Herz in die Hose, doch äußerlich blieb sie gelassen. Ja, sie spürte beinahe etwas wie Erleichterung, wäre da nicht noch dieser eine Job, den sie unbedingt durchziehen wollte – und würde.

»Weil Sie in diesem Büro sitzen und warten.«

Detective Johnson zog einen kleinen Notizblock hervor. »Ist es korrekt, dass Sie heute gegen null Uhr neunzehn einen Anruf auf Ms. Vanessa Bruce’ Smartphone angenommen haben?«

»Ja, das ist korrekt.«

»Wo genau haben Sie das Smartphone her?«

»Im Büro gefunden«, wich sie einer direkten Antwort aus, während ihr Gehirn fieberhaft arbeitete. Wenn das CPD Timberland festnahm, würde er sich einfach wieder einen Anwalt nehmen und irgendwie den Kopf aus der Schlinge ziehen. Nein, sie brauchte erst alle Informationen, bevor sie entschied, wie sie weiter vorgehen würde. Ein Smartphone unter dem Schreibtisch ihres Chefs war kein Indiz, das ein cleverer Anwalt nicht entkräften konnte. Für die Polizei hingegen wäre es womöglich ein Grund, ihn festzunehmen, und damit wäre er außerhalb ihrer Reichweite.

»Wo genau im Büro?«

»Unter dem Schreibtisch, in der Nähe des Stuhls.« Sie richtete den Blick bewusst auf ihren Bürostuhl und konnte sehen, zu welcher Schlussfolgerung der Beamte kam. Erschreckend, wie leicht Menschen durch Körpersprache zu manipulieren waren.

»Seit wann arbeitete Ms. Bruce mit Ihnen zusammen?«

»Seit Montag, also eigentlich drei Tage, da sie ja heute nicht im Büro war.«

»Warum haben Sie Ms. Andrews gedrängt, zur Polizei zu gehen?«

»Weil sie sich offensichtlich große Sorgen um den Verbleib ihrer Freundin machte. Sie sagte, es sei weder ihre Art, unter der Woche über Nacht fortzubleiben, noch sich nicht bei ihr zu melden.«

»Stimmt es, dass sie beide in ihrem Auto herumgefahren sind, um zu prüfen, ob sich Ms. Bruce in einem ihrer Stammlokale aufhielt?«

Innerlich fluchend, nickte sie. »Ja, das haben wir gemacht.«

»Wieso?«, schoss er die nächste Frage auf sie ab.

»Wie ich bereits sagte, machte sich Ms. Andrews große Sorgen. Auch war es ungewöhnlich für Ms. Bruce, ihr Smartphone am Arbeitsplatz liegen zu lassen.«

»Nun, meine Frage bezog sich eher auf Sie, Ms. Tyler. Sie kannten Ms. Bruce gerade mal drei Tage.«

»Kannten?«, hakte sie ein.

Detective Lancy warf seinem Kollegen einen bösen Blick zu, und dieser räusperte sich verlegen.

»Würden Sie bitte meine Frage beantworten?«

»Nur weil man einen Menschen erst kurze Zeit kennt, bedeutet das nicht, dass man sich keine Sorgen um ihn macht.«

»Ms. Tyler, wir möchten Sie bitten, uns aufs Revier zu begleiten.«

»Weshalb?«

»Ms. Andrews sieht sich außerstande, die weibliche Leiche zu identifizieren, die seit heute Morgen bei uns in der Pathologie liegt. Je eher wir wissen, ob es sich um Ms. Bruce handelt, desto höher sind unsere Chancen, die Spur des Verbrechens zu verfolgen.«

Skylar verschränkte die Arme und umfasste ihre Taille. Innerlich breitete sich eisige Kälte in ihr aus.

»Ms. Tyler?«, hakte Johnson nach.

Sie atmete tief durch und nickte. »Ich muss einer Kollegin Bescheid sagen und das Telefon umstellen. Geben Sie mir bitte einen Moment.«

Rechts und links von den Detectives flankiert betrat Skylar den Kühlraum der Pathologie. Einer der Mitarbeiter erwartete sie, vor sich eine Stahlliege, auf der ein Körper mit einem Tuch abgedeckt lag. Er blickte Detective Lancy an, der wiederum auf Skylar schaute. Sie nickte und stellte sich so hin, dass sie das Gesicht ansehen konnte, das unter dem Tuch zum Vorschein kam. Sie erinnerte sich an einen Tag vor achtzehn Jahren, an dem sie in einem ähnlichen Raum mit zwei anderen Detectives an ihrer Seite die Leiche ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders hatte identifizieren müssen. Ihre Mutter, die an den Folgen der Faustschläge ins Gesicht gestorben war. Der Anblick ihres Vaters war ihr erspart geblieben.

Unterhalb von Vanessas Haaransatz befand sich eine Blutkruste. Die Augen hatte man ihr geschlossen, dennoch glaubte Skylar, die Angst unter den Lidern sehen zu können. Das Gesicht wies noch weitere Spuren von Gewalt auf. Keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte sie die junge Frau gezwungen, nach Hause zu fahren, um sich etwas Anständiges anzuziehen.

»Ms. Tyler?«

Das Gesicht der Toten verschwamm vor ihren Augen. Jemand packte sie sanft an den Schultern. Der Mitarbeiter der Pathologie deckte Vanessa wieder zu, und er tat es in einer derart respektvollen Weise, dass sie dem Mann dankbar zunickte.

Nachdrücklich schob man sie aus dem Raum. Draußen wurde ihr ein Stuhl hingestellt, und Detective Lancy nötigte sie nachdrücklich, sich zu setzen.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«, fragte Johnson und reichte ihr ein Papiertaschentuch, das sie dankbar annahm.

»Nein.« Sie atmete durch. »Ja, es ist Vanessa Bruce«, bestätigte sie, was die Polizeibeamten ohnehin bereits anhand ihrer Reaktion ahnten.

Sie lag unter dem Gebüsch und blickte durch das Nachtsichtzielfernrohr ihres Scharfschützengewehrs, eines McMillan Tac-50. Für jeden Auftrag verwendete sie eine neue Waffe. Die Seriennummer war sorgfältig abgeschliffen worden. Das Gewehr war in schlechtem Zustand gewesen, aber sie hatte es gepflegt, geölt und damit trainiert. Niemanden aus dem Konzil interessierte es, wie sie ihren Auftrag ausführte. Das alte Fahrzeug, das sie bei einem Autohändler für 660 Dollar in bar erstanden hatte, parkte in einer Straße einen Block entfernt. Die letzten Spaziergänger hatten den Park vor einer knappen Stunde verlassen. Dann war doch noch ein Jogger mit einer Stirnlampe gekommen und zuletzt ein Hundebesitzer, der zum Glück zu sehr in das Telefongespräch mit seiner Freundin vertieft war, als dass er auf das Schwanzwedeln seines Hundes geachtet hätte, als das Tier sie im Gebüsch witterte. Solche Dinge waren einfach nicht kalkulierbar. In ihrer Ausbildung hatte ihr Trainer sogar einmal eine Schlange über sie kriechen lassen. Dennoch bedeuteten Hunde eine ungleich größere Gefahr, entdeckt zu werden.

Die Timberland-Mädchen lagen im Bett. Das Ehepaar hatte sich gestritten. Durchs Zielfernrohr hatte sie hilflos mitangesehen, wie Timberland seine Frau schlug. Zu dem Zeitpunkt war der Jogger im Park aufgetaucht, und sie hatte nicht schießen können. Auch wäre es gefährlich gewesen, denn bei dieser Distanz war es durchaus möglich, dass sie, wenn sich ihr Ziel beim Kampf nur leicht aus der Schusslinie bewegte, die Frau treffen würde. Geduldig harrte sie weiter aus.

Johnson war ein aufmerksamer, ehrgeiziger Detective, der seiner Arbeit leidenschaftlich nachging. Egal wie gut ihre Vita war, sie war sich nicht sicher, wie lange sie seinen Nachforschungen standhalten würde. Sie wusste, ihr blieb keine Zeit mehr, dabei hasste sie es, ihrem eigenen Plan zuwider zu handeln. Als sie im Büro der Detectives kurz allein gelassen worden war, hatte sie den auf dem Schreibtisch liegenden Bericht des Pathologen überflogen. Nein, Vanessa Bruce war keinen leichten Tod gestorben.

Sie sah, wie Derek Timberland in sein Arbeitszimmer ging. Perfekt. Einen besseren Platz hätte er sich für sein Ableben nicht aussuchen können. Er ließ ein Glas mit Whisky und Eis in seiner Hand kreisen, während er nachdenklich an die Decke starrte. Skylar warf einen letzten Blick auf ihre Instrumente. Windgeschwindigkeit, Windrichtung und sicherheitshalber noch einmal die Distanz. Sie korrigierte die Position des Laufs minimal, dann drückte sie ab. Der Schuss schreckte die tierischen Parkbewohner auf. Ein Karnickel sprang aus seinem Bau, dessen Eingang in ihrer Nähe lag, und jagte über die Rasenfläche. Skylar beobachtete ihre Umgebung, aber nichts wies darauf hin, dass jemand ihren Schuss bemerkt hatte. Ein kurzer Kontrollblick durch das Zielfernrohr – über der Nasenwurzel direkt zwischen den Augen befand sich ein kreisrundes Loch in Timberlands Kopf. Er würde nie wieder seine Frau schlagen oder eine seiner Angestellten belästigen. Bisher hatte er noch nie eines seiner Opfer getötet. Sie hatte gelesen, dass Vanessa sich heftig gewehrt haben musste. Vermutlich Panik von seiner Seite, diesmal das falsche Opfer gewählt zu haben, eines, das ihn anzeigen würde.

Sorgfältig packte sie die Patronenhülse ein und machte sich daran, die Mordwaffe zu verpacken und die Spuren zu beseitigen. Ihr Auftrag war erledigt und die Welt um ein Schwein ärmer.

3

Die Jagd beginnt

»Bisher ging man davon aus, dass Gewaltverbrecher zumeist unsichere Menschen sind, die die Unterlegenheit, die sie gegenüber anderen Menschen empfinden, durch die Ausübung von Gewalt wettmachen müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Gewaltverbrecher sind der Überzeugung, das Richtige zu tun, die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren. Sie glauben daran, dass alle anderen nur nicht bereit sind, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und das Notwendige zu tun. Das ist selbstverständlich nur ein Aspekt. Ja, Mr. Duncan, Sie haben eine Frage?«

»Warum gibt es eigentlich mehr Serienkiller als –killerinnen?«

»Nun, weil Letzteren der Schwanz fehlt.«

Einen Moment herrschte Totenstille im Saal. Er konnte sehen, wie sich der weibliche Teil seiner Zuhörerschaft empört aufrichtete, lächelte und hob beschwichtigend die Hände.

»Testosteron, meine Damen und Herren. Die Hormone steuern unser Verhalten. Oder aber Frauen sind geschickter darin, ihre Spuren zu verwischen.«

Rees fuhr mit der Vorlesung fort und öffnete das klinische Gutachten aus der Akte eines Serienmörders auf seinem Laptop, dessen Bildschirm auf die Leinwand projiziert wurde. Er erläuterte und stellte Fragen. Es war ihm wichtig, seinen Studenten klarzumachen, dass es nicht um daseine Muster und den bestimmten Menschen ging, wenn man die Neigung zu Gewaltverbrechen untersuchte. Es gab ein komplexes Gebilde, das einen Ermittler dazu zwang, ständig außerhalb des gesteckten Rahmens zu denken.

In der letzten halben Stunde beantwortete Rees die Fragen seines Auditoriums, bevor er die Vorlesung abschloss.

»Professor Dr. Stancell?«

Überrascht wandte er sich der letzten verbliebenen Person im Hörsaal zu, einem Mann, der sich ihm näherte. Er lächelte erfreut und streckte die Hand aus. »Agent Gilmore, was treibt Sie zurück in meine Vorlesung?«

»Wir alle können ab und an eine Auffrischung gebrauchen.«

»Allein Ihre Antwort bestätigt mir wieder einmal, dass Sie einer meiner besten Studenten sind. Also, weshalb sind Sie wirklich hier?«

»Scheint, als hätten Sie das Gedankenlesen noch nicht verlernt, Professor. Hätten Sie etwas Zeit für mich?«

Rees packte seinen Laptop zusammen. »Den ganzen restlichen Tag. Für heute habe ich meine Veranstaltungen beendet.«

»Was halten Sie von einem Steak?«

»Ich hoffe, Sie meinen das essenstechnisch.« Rees verzog die Nase.

---ENDE DER LESEPROBE---