Ein finsterer Ort - James Marrison - E-Book

Ein finsterer Ort E-Book

James Marrison

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Beschreibung

ETWAS BÖSES GEHT UM IN DEN COTSWOLDS ...

In einem kleinen Dorf in den Cotswolds wird die Leiche eines Mannes gefunden, der zu Lebzeiten für etliche brutale Verbrechen im Gefängnis saß. Als die Ermittler Downes und Graves sein Haus durchsuchen, finden sie rätselhafte Fotos mit dem immer gleichen Motiv: Jungen, die in einem sterilen Raum auf einer Metallbahre liegen. Während Graves in London ermittelt, sucht Downes in den Cotswolds nach Hinweisen auf die Identität der Jungen und findet heraus, dass sie seit zwanzig Jahren als vermisst gelten ...

RAFFINIERT-DÜSTERE SPANNUNG VOR ATMOSPHÄRISCHER KULISSE


PRESSESTIMMEN ZU MARRISONS DEBÜTROMAN:

»James Marrisons Erstling Das Mädchen im Fenster ist ein Psychothriller mit Tiefgang und überraschenden Wendungen.« Main-Echo

»Diese herrlich verschlungene Geschichte mit ihrem faszinierenden, vielschichtigen Ermittler überrascht den Leser durch unerwartete Wendungen und fesselt ihn bis zu ihrem schaurigen Ende. Marrison legt die Messlatte hoch mit diesem beeindruckenden Debüt.« Richmond Times-Dispatch

»Etwas durch und durch Böses geht um in Marrison’s fesselndem Debütroman. (...) Das ungewöhnliche Ende wird die meisten Leser überraschen.« Publishers Weekly

»Ein überzeugendes Spannungsdebüt und allen Fans von Elizabeth George und Peter Robinson wärmstens zu empfehlen.« Booklist

»Ein gelungenes Debüt ... spannend und schwungvoll erzählt und mit einem erfrischend ungewöhnlichen Ermittler« The Daily Mail

»Düster, fesselnd und völlig unvorhersehbar« Linwood Barclay

»Ein Polizist mit argentinischen Wurzeln, der im Herzen Englands ermittelt und der durch seine besondere Perspektive einen Mordfall betrachtet, dessen Wurzeln zu ungeklärten Verbrechen in die Vergangenheit reichen. Guillermo Downes ermittelt mit Verstand und Intuition und der Leser folgt ihm dabei gespannt.« Sunday Times

»Ein fesselndes Buch (...) Obwohl ich die Geschichte aufmerksam gelesen habe, hat mich das Ende wirklich überrascht.« The Herald




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Seitenzahl: 465

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

TEIL EINS

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL ZWEI

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

TEIL DREI

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Danksagungen

Über den Autor

James Marrison studierte Geschichte in Edinburgh, bevor er 1996 nach Buenos Aires zog. Noch heute lebt er in der südamerikanischen Metropole, wo er als freier Journalist für verschiedene Zeitungen arbeitet. Er hat bereits ein Sachbuch über die berüchtigtsten Mörder aller Zeiten veröffentlicht, für das er namhafte Psychologen und Kriminalisten interviewte. Nach DAS MÄDCHENIM FENSTER ist EIN FINSTERER ORT sein zweiter Kriminalroman um das ungleiche Ermittlerduo Downes und Graves.

James Marrison

EINFINSTERERORT

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Anke Kreutzer

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2016 by James MarrisonTitel der englischen Originalausgabe: »The Sleepless Ones«Originalverlag: Michael Joseph, an imprint of Penguin Books Ltd,London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Anita Hirtreiter, MünchenTitelillustration: © Trevillion Images/Roy Bishop;© shutterstock/STILLFXUmschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2957-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Es ist das rastlose Hecheln des Geschöpfs;Wie eines Raubtiers hinter Gittern,Das in einem widerwärtigen, tiefen SchnurrenUnd dem endlosen Hin und Her sein Leben fristet.

John Henry Newman:

TEIL EINS

Prolog

Es war eine Wohltat, aus London herauszukommen, und während er durch das Fenster des Pubs auf die schmale Dorfstraße blickte, fragte er sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, wieso er nicht schon früher hierhergekommen war. Ein bisschen frische Luft, das war alles, was er brauchte, und natürlich endlich wieder Arbeit, nachdem er so lange in seiner Bude gehockt und sich in Selbstmitleid gesuhlt hatte. Das war erbärmlich und sah ihm ganz und gar nicht ähnlich.

Der Abstand zu London war wirklich Balsam für seine Seele.

Kaum hatte er die letzten Ausläufer der Metropole hinter sich gelassen, war auch die Spannung von ihm abgefallen. Seine düsteren Gedanken hatten sich ein wenig aufgehellt, und nach den Zerreißproben der letzten Monate hatte er im Lauf des Nachmittags endlich wieder Mut bekommen.

Er trank sein Bier aus, bestellte ein zweites und ging, während er darauf wartete, seine Notizen durch.

In seiner Vorstellung nahm der Artikel erste Konturen an. Ein paar hundert Worte Hintergrundinformation und dann die Bilder, immer vorausgesetzt, er konnte Miller mit den Fakten konfrontieren, die er bereits zu kennen glaubte.

Dem Barkeeper mit der gepflegten Ausdrucksweise eines betuchten jungen Akademikers und der Figur eines Bodybuilders hatte er ein paar zusätzliche Details entlocken können. Keine Ahnung, was der Bursche hier draußen in diesem gottverlassenen Pub zu suchen hatte, doch er fragte ihn nicht danach. Vielmehr beschränkte er seine Erkundigungen auf Miller und bekam den Eindruck, als wäre dieser ein mürrischer, launischer Stammgast, der den Leuten, wenn er zu viel Promille intus hatte, eine Höllenangst einjagen konnte. In Gedanken warf er einige Pfundmünzen in die Musicbox ein.

Würden sie die Story auch ohne hieb- und stichfeste Beweise bringen oder, bis sie wasserdicht war, unter Verschluss halten? Würde vorher jemand anders Wind davon bekommen? Und wem bot er sie am besten als Erstes an? Eine halbe Ewigkeit hatte diese Story nur darauf gewartet, ausgegraben zu werden. Und zwar von ihm. Er spürte die vertraute kribbelnde Erregung, die er jedoch, so gut es ging, im Zaum hielt, denn mit der Erregung kam die alte Angst des Journalisten, jemand anders könnte schneller sein als er. Gut möglich, dass in diesem Moment irgendein Pfiffikus in London auf seinen Computerbildschirm starrte oder in den Archiven wühlte und die fehlenden Glieder in der Kette zusammensetzte. Gut möglich, dass er genau in diesem Augenblick nach dem Telefon griff oder durch die Nachrichtenredaktion zum Büro des Ressortchefs eilte.

Er stand auf und kehrte zum Tresen zurück. Draußen auf der Straße war es schon dunkel. Es kostete ihn Überwindung, allein hinauszugehen. Er zahlte, eilte aus der Bar und durch den Regen zu seinem Wagen. Kaum war er eingestiegen, setzte er auf die Straße zurück, und wenige Minuten später erreichte er den Weg zum Haus. Er ließ den Wagen auf halber Höhe des Hangs in einer Parkbucht stehen, um nach dem Bier einen kleinen Fußmarsch einzulegen, bevor er Miller damit konfrontierte, was er wusste.

Millers Gehöft lag ein wenig zurückgesetzt hinter einer Abzweigung und verschwand zwischen den Hügeln aus dem Gesichtsfeld. Das Haus lag im Dunkeln; ein einziges Fenster im Erdgeschoss war erleuchtet, sodass man die Umgebung etwas erkennen konnte. Mit jedem Schritt, den er Miller näher kam, verblassten in seinem Rücken die Lichter des Dorfs zu einem letzten grauen Schimmer.

Geradeaus waren am Fuß der Böschung die Umrisse des Gehöfts zu erkennen – wie erwartet, ein marodes Gemäuer mit ein paar Scheunen und einem verwilderten Garten dahinter. Auf dem rissigen Teer des Hofs ragten ausgediente Maschinen wie Knochen in die Dunkelheit.

Es war, als treibe ihn die düstere Landschaft voran. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er schon seit einer Weile die Luft anhielt, und so atmete er einmal tief aus. Je näher er dem Bauernhaus kam, desto stärker spürte er diesen Sog in der Magengrube.

Als er das Tor erreichte, klopfte er nervös und machte sich auf die Herausforderung gefasst. Als nichts geschah, versuchte er, sich durch Rufen bemerkbar zu machen, doch es rührte sich nichts. Eine ganze Minute lang lehnte er sich an das Tor, ohne irgendwo ein Lebenszeichen zu entdecken. Auf seinem Weg zur Haustür wehte ihm eine Böe totes Laub ins Gesicht. Der Regen wurde stärker.

Er klingelte zweimal an der Tür; als sich wieder nichts tat, durchquerte er den verwilderten Garten und spähte zu einem Küchenfenster hinein. Er klopfte energisch an die Scheibe und horchte – nichts.

Nach kurzem Zögern ertappte er sich dabei, wie er zentimeterweise die Klinke herunterdrückte. Die Tür ging geräuschlos auf, und er trat ein.

Drinnen, vermutlich vom Herd, schlug ihm ein Geruch nach Bratfett entgegen. Auf dem Küchentisch standen ein paar Teller und Gläser. Der Fernseher lief, doch ohne Ton, und im Kamin brannte ein Feuer. Für einen Moment blieb er mitten in der Küche stehen und strich sich das Haar aus der Stirn. Er rief »Hallo!« in die Stille, aber vergebens.

»Mr Miller!«, versuchte er es noch einmal. »Mr Miller! Jemand zu Hause? Tut mir leid, so hereinzuplatzen, aber ich müsste kurz mit Ihnen reden. Es ist wichtig.« Vielleicht ging er besser wieder und wartete draußen auf ihn. Plötzlich erschien ihm die Stille im Haus wie eine lauernde Gefahr, wie ein böses Omen. Ohne sich vom Fleck zu rühren, horchte er auf das geringste Geräusch. Durch die Tür zur Diele strömte Licht herein und tauchte den Küchenboden in einen orangefarbenen Schimmer. Er wagte sich ein paar Schritte weiter ins Haus und rief erneut nach Miller, doch seine Stimme hallte nur gespenstisch von den Wänden wider.

Am Küchentisch blieb er unschlüssig stehen. Er sollte besser vernünftig sein und hier verschwinden und am Morgen wiederkommen. Er hatte genug! Entschlossen machte er kehrt und riss die Tür zum Garten auf. Er hatte auch nie beabsichtigt, so weit zu gehen; nicht mal im Traum hätte er gedacht, sich bis in dieses Haus vorzuwagen, aber als er gerade einen Fuß ins Freie setzen wollte, drehte er sich zu seinem eigenen Erstaunen noch einmal um. Bevor er es sich anders überlegen konnte, hatte er die Küche durchquert und stand an der Schwelle zum Flur, als ihm vom anderen Ende der Diele ein unangenehmer Geruch entgegenschlug – zunächst nur schwach, doch mit jedem Schritt durch den Flur ein wenig stärker.

In einer Böe aus dem Garten schlug die Tür hinter ihm zu. Was war das für ein Geruch? Nach Verbranntem? Er versuchte, sich im Dämmerlicht zu orientieren. Links war die Treppe zum Obergeschoss, dahinter stand eine Tür einen Spalt breit offen. Von dort kam der orangefarbene Schimmer. Was hatte er sich nur bei dieser Nacht-und-Nebel-Aktion gedacht? Geschah ihm recht, so mutterseelenallein in Millers Haus einzudringen. Dort vorne, in dem erleuchteten Zimmer mit dem seltsamen Geruch, musste der Eigentümer ihn erwarten, während er soeben seinen Wagen in unerreichbarer Ferne abgestellt hatte.

Er nahm seine ganze Willenskraft zusammen, schlich lautlos bis zur Treppe, fand am Geländer Halt und setzte aus Angst vor einer knarrenden Diele behutsam einen Fuß vor den anderen. Der Lichtschein flackerte auf, durch den Spalt entwich ein Rauchkringel in den Flur. Der Geruch wurde augenblicklich stärker.

Er hatte die Tür erreicht und stieß sie auf. Vor ihm lag das Wohnzimmer mit schwerem, altmodischem Mobiliar. Das Feuer im Kamin brannte viel höher als das in der Küche, und der Fernseher war an.

Hier drinnen war es viel zu heiß. Er knöpfte sich den Kragen auf, hustete vom Qualm, der offenbar nicht richtig abzog und ins Zimmer quoll. Loderten die Flammen wirklich gerade höher, oder bildete er sich das nur ein? Dem Geruch nach musste etwas auf dem Kaminrost sein, das da nicht hingehörte, doch so genau wollte er es gar nicht wissen. Die Rücklehne des Armlehnstuhls vor dem Fernseher verstellte ihm teilweise den Blick. Er riss sich vom Feuer los und wandte sich zum Fenster um. Am liebsten hätte er es aufgerissen und Luft hereingelassen, aber stattdessen blieb er wie angewurzelt stehen. Gott, was hast du hier bloß zu suchen?, dachte er, als sich seine alarmierte Miene in der Scheibe spiegelte. Nichts wie raus!

Als ihm beim nächsten Knistern und Knacken der Scheite auf dem Rost dieser Geruch erneut in einer Schwade in die Nase stieg, verzog sein Spiegelbild angewidert das Gesicht.

Mit dem seltsamen Gefühl, als sähe er sich gerade selber zu, näherte er sich langsam von hinten dem Sessel. An der Rückseite grub sich ein Strick in das dunkle Polster ein. Als sein Blick beim Betreten des Raums auf die Zange und den Bratspieß gefallen war, hatte er daraus geschlossen, Miller habe etwas über dem offenen Feuer gegrillt, doch als er näher hinschaute, erkannte er, was da auf dem Rost lag. Dann entdeckte er ein verkohltes Handtuch auf dem Boden. Erst jetzt drehte er sich zu dem Mann um, der im Sessel saß.

Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Es war zweifellos Miller – er erkannte ihn von den Fotos wieder, die er gesehen hatte, nur dass der Mann hier inzwischen älter war. Ihm waren die Arme hinter der Rücklehne gefesselt. Sein starrer Blick ging zur Decke. Sein Hemd war bis zum Schoß blutgetränkt, und um seine lehmverkrusteten Stiefel hatte sich eine große rote Lache gesammelt.

Millers Gesicht war zu Brei geschlagen, die Nase eine klaffende Wunde. Im weit geöffneten Mund war hinter den Zähnen ein zerfetzter Fleischklumpen zu erkennen. Jemand hatte ihm mit der Zange am Gaumen die Zunge herausgerissen und ins Feuer geworfen, wo sie nunmehr zu Asche verbrannte. Möglicherweise war Miller gezwungen worden, zuzusehen, und das Letzte, was er zu Gesicht bekommen hatte, war seine eigene Zunge im Feuer.

Plötzlich ertönte ein gewaltiges Prasseln und Tosen; ihm brach der kalte Schweiß aus und rann ihm den Rücken herunter. Mit dem Jackenärmel wischte er sich übers Gesicht. Der Gestank nach verkohltem Fleisch drang ihm in jede Pore. Millers Augen waren wie zwei Brenngläser, in denen sich der Widerschein des Feuers fing und ihm mit gebündelter Kraft wie zwei dunkle Flammenwerfer in den eigenen Augen brannten. Er wandte sich ab und merkte zu seiner Beschämung, dass er sogar noch in diesem Moment an die Story dachte.

Sie war seine Rettung, so viel stand fest; und sie nahm immer größere Ausmaße an, vor allem aber war nunmehr unabweislich klar, dass sie stimmte. Alle seine vergangenen Sünden wären vergeben. Seinem Comeback stünde nichts mehr im Wege. Sie mussten ihn zurückholen. Er griff nach seinem Handy. Es war nicht da. Er suchte sämtliche Taschen ab, bis ihm dämmerte, dass er das verdammte Ding im Wagen gelassen hatte.

In diesem Moment öffnete sich eine Tür in der Wand mit dem Kamin. Statt eines Entsetzensschreis brachte er nur einen krächzenden Laut heraus. Sie starrten ihn unerbittlich an. Alle beide, und ihre Augen erschienen ihm fast so zu glühen wie die des toten Miller. Er hob die Hand, um ihnen die Situation zu erklären, dann ließ er sie wieder sinken. Sie mussten schon die ganze Zeit da gewesen sein.

Je länger er wie angewurzelt stehen blieb, desto lauter hallte ihm das Knistern des Feuers in den Ohren, und er hätte schwören können, dass die Flammen, wie neu entfacht, immer höher loderten. Dennoch stand er einfach nur da und erwiderte wie gebannt den Blick der beiden Männer. Sie kamen ein paar Schritte auf ihn zu; er wich ein paar Schritte zurück. Er stieß gegen einen kleinen Tisch hinter seinem Rücken, konnte sich jedoch gerade noch fangen, erreichte den Flur und krachte mit der Schulter an die Wand, bevor er sich umzudrehen und loszurennen wagte. Auch die beiden Männer zögerten ein paar Sekunden. Dann nahmen sie die Verfolgung auf.

Kapitel 1

Als Russell und Varley aus dem Revier kamen und zu ihrem Wagen liefen, beschloss ich mitzukommen und stieg auf der Beifahrerseite ein. Zu meiner Entschuldigung sagte ich nur, ich könne ein bisschen frische Luft gebrauchen; sie hatten nichts dagegen einzuwenden, und so fuhren wir in gemächlichem Tempo durch Moreton-in-Marsh, bevor Russell, als wir die Stadt hinter uns ließen, aufs Gas trat. Sie sagten mir, wohin sie wollten, und ich nickte nur stumm.

Ich starrte aus dem Fenster und dachte an Powell. Irgendwie konnte ich es immer noch nicht fassen. Der unablässige Regen, das monotone Geräusch der Scheibenwischer, die windgepeitschten Bäume machten alles nur noch schlimmer. Seit einer Woche regnete es nun schon ohne Pause. Powell war tot. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, doch ein Teil von mir wollte, konnte nicht fassen, dass ich ihn nie wiedersehen und das Bild von seiner gebrechlichen Gestalt und den braunen Wänden des kleinen Wartezimmers und die Schritte seines Sohnes Alex, der draußen auf dem Flur rastlos auf und ab lief, für immer meine letzte Erinnerung an ihn sein sollte.

Varley beugte sich auf dem Rücksitz zu mir vor. Er war jung, mit hellblauen Augen und schmalem Gesicht. Wie immer machte er dieses unnachahmlich betroffene Gesicht. »Der Wagen steht schon seit einer Woche dort. Wir werfen also nur einen kurzen Blick darauf, um zu sehen, was es damit auf sich hat, und das war’s. Wird da draußen also nicht lange dauern. Das Fahrzeug wurde noch nicht mal als gestohlen gemeldet. Wahrscheinlich dachte jeder, der dran vorbeikam, der stünde da aus gutem Grund oder der Halter würde ihn schon früher oder später holen. Über die Feiertage und zum Jahreswechsel treibt es sowieso kaum mal einen da raus. Irgendwann kam es dann doch jemandem komisch vor, und er hat es gemeldet. Na ja, wie gesagt, keine große Sache. Aber wenn Sie wollen, können wir natürlich auch länger bleiben, ich meine, falls Sie allein noch irgendwo hinwollen, kein Problem …«, verhedderte sich Varley in seinem eigenen Wortschwall.

Der junge Polizist auf dem Rücksitz redete ohne Punkt und Komma, doch ich hörte nicht zu. Kaum hatte sich die Sache mit Powell herumgesprochen, hatte sich im Revier eine gedrückte Stimmung breitgemacht, und die beiden Beamten waren froh gewesen, rauszukommen – bis ich beschloss, ihnen Gesellschaft zu leisten.

Der Wagen parkte auf einem Bankett auf halber Höhe des Hügels, an einem abschüssigen Weg. Er wirkte irgendwie eingesackt, als stünde er schon zu lange am selben Fleck. Varley stieg aus, um sich das herrenlose Fahrzeug genauer anzusehen. Während er durch die Fenster spähte, gab Russell in der wohligen Wärme seines Wagens das Kennzeichen in den Computer ein und startete den Suchdurchlauf. Binnen Sekunden wurde er fündig.

»London«, brummte Russell in beinahe vorwurfsvollem Ton.

Reine Routine also, wie es schien, mit der Polizisten den größten Teil ihres Berufsalltags verbringen. Ich griff nach meinem Schirm, stieg aus, streckte die Glieder und war trotz des Regens froh, an der frischen Luft zu sein.

»Jemand hat das Fenster eingeschlagen«, stellte Varley mit Bedauern fest.

»Kein Alarm?«

»Nein.«

»Na ja, alte Klapperkiste«, sagte Varley. »Kaum der Mühe wert. Wahrscheinlich Jugendliche, die nichts Besseres zu tun hatten. Haben nicht mal das Radio geklaut.«

Unterdessen machte sich Russell, mit Schirm und Klemmbrett gewappnet, auf den Weg zum Bauernhaus und summte dazu ein Weihnachtslied. Ich spähte zum Dorf hinüber, doch da gab es nicht viel zu sehen, und so schlenderte ich ein paar Minuten später wieder zum Wagen zurück. Varley stand auf der Kuppe des Hügels; ich gesellte mich zu ihm und starrte hinunter.

Russell kam angerannt. Er war Mitte vierzig und hatte, solange ich ihn kannte, einen Walrossbart getragen – bis er ihn sich, als Geschenk für seine Frau, die ihn seit Jahren bekniete, ihn sich abzunehmen, kurz vor Weihnachten abrasierte. So wie er bei seinem Sprint ächzte, war er lange nicht mehr gejoggt und wusste kaum noch, wie es ging.

»Was zieht er da ab?«, fragte Varley leise. »Ich wette um einen Zehner, dass er es nicht bis oben schafft.«

»Die Wette gilt«, sagte ich.

Varley überlegte einen Moment, sah mich an und sagte: »Das mit Powell tut mir leid, Sir. Ich weiß, dass damit zu rechnen war, aber das macht es nicht leichter, oder? Genau wie bei meiner Oma. Letztes Jahr. Ich versuche, zur Beerdigung zu kommen. Len war ein feiner Kerl«, setzte er zu einem für seine Verhältnisse großen Kompliment an, »war jedenfalls immer nett zu mir.«

»Danke, Varley«, sagte ich und meinte es auch so.

Bei seinem beschwerlichen Aufstieg wackelte Russells Bauch im Takt seiner Schritte über dem Gürtel hin und her. Schließlich gab er auf und legte die restlichen Schritte in gesetztem Tempo zurück.

»Wer sagt’s denn«, flüsterte Varley.

Ich griff in die Tasche und reichte ihm zwei Fünf-Pfund-Noten, die sofort in seiner Tasche verschwanden.

»Der muss seinen Schirm irgendwo verloren haben«, stellte Varley fest. »Und wo hat er sein Klemmbrett gelassen?«

Russell holte tief Luft und stählte sich für das letzte Stück des Aufstiegs. Als er die Kuppe erreichte, atmete er nochmals tief durch. Varley sah ihm amüsiert zu.

Russell wischte sich übers regennasse Gesicht. »Da ist ein … Da ist ein … Gott! Moment!«

Erschöpft beugte sich Russell vor und starrte auf seine Schuhe. Dann richtete er sich langsam auf. »Ich denke, das sehen Sie sich besser selber an, Sir«, sagte er.

Kapitel 2

Brewin beugte sich über den Toten in der Küche, während seine Assistentin Fiona auf die kleinen Schnittwunden an seinen Fingern zeigte. Der Coroner hatte offensichtlich über die Weihnachtsfeiertage ein paar Kilos zugelegt; in dem weißen Einwegoverall trat die Wölbung um die Taille deutlich hervor. Als er die Arme über dem Bauch verschränkte, raschelte das papierähnliche Material. Der Mann wirkte einfach zu groß und schwer für einen Beruf, der so viel Fingerspitzengefühl und Sinn fürs Detail erforderte, besonders wenn es darum ging, eine Leiche zu sezieren. Er strich sich mit dem Daumen über den Nasenrücken und nieste laut. Anschließend ging er behutsam um die Leiche am Boden herum, kniete sich daneben und sah sich die Wunde unter dem Kinn des Opfers genauer an, stand auf und tastete sich verlegen mit den Fingerkuppen über die Stelle, an der sein Overall spannte. Fiona beobachtete ihn amüsiert.

»Schon gut, ich weiß, Fiona, die nächste verfluchte Diät«, brummte er und stieß einen vielsagenden Seufzer aus. »Und Sie«, fügte er in meine Richtung hinzu, als er meinen Blick auffing, »verkneifen sich gefälligst jeden Kommentar, Guillermo. Mir reichen die Gardinenpredigten von meinem Arzt.«

Ich sah mich in dem Trümmerhaufen der Küche um. Gläser und Dosen mit Kaffee, Reis, Zucker und Pasta türmten sich im Ausguss. Überall trat man auf Scherben von Geschirr, um eine zerbrochene Flasche auf dem Boden breitete sich eine Lache Bier.

Stühle und Regale waren umgekippt, der Inhalt von Büchsen und Kästen ausgeleert, im ganzen Raum lagen Töpfe, Pfannen und Deckel, ganze Oberschränke waren aus den Wandverankerungen gerissen.

Die Verwüstung beschränkte sich nicht auf die Küche. Der oder die Mörder hatten das ganze Haus auf den Kopf gestellt: Auf der Treppe lagen alte Bücher, lose Seiten aus Zeitschriften und Zeitungen; in der Diele lagen Kleidungsstücke, einschließlich Schuhen und Stiefeln, die sie offenbar von oben übers Geländer geworfen hatten, in einem Haufen an der Wand. Kissen und Matratzen waren aufgeschlitzt, sodass am ausgeleerten Kühlschrankinhalt und den Scherben Federn und Stofffetzen klebten. Doch das Schlimmste war der Gestank, der wie ein giftiges Gas in die letzten Winkel, die kleinsten Ritzen, in Polster, Wände und Teppiche gedrungen war und einem den Magen umdrehte.

Der Anblick des Toten auf dem Boden machte es nicht besser; gegen den Brechreiz schloss ich für einen Moment die Augen. Ich war lange genug in dem Metier, um zu wissen, dass die Übelkeit ganz normal war und schnell verging. Schon jetzt konzentrierte ich mich auf dieses unterschwellige Gefühl, den Eindruck, den die Täter hinterlassen hatten: die Verachtung und Gleichgültigkeit gegenüber ihren beiden Opfern. Bei dem Mann auf dem Boden hatten sie, soweit ich sehen konnte, kurzen Prozess gemacht, seine Brieftasche gefilzt und neben die Leiche geworfen.

Ich sah mir den Mann genauer an. Er war stämmig, aber nicht so groß wie Brewin, mit schütterem braunem Haar und recht markantem Kinn. Wie’s aussah, war er bei dem Versuch, durch die Hintertür zu entkommen, vornübergestürzt. Rings um seinen Hals und die Tischbeine hatte sich viel Blut auf dem Boden gesammelt. Offensichtlich hatte er versucht, sich aufzurichten. Bei seinem Sturz war er mit so großer Wucht auf den Tisch aufgeschlagen, dass er dabei einen Stuhl umgestoßen hatte, doch das meiste Blut war unter seinem Kinn ausgetreten, zweifellos von mehr als einer Stichverletzung.

»Keine Spur von der Tatwaffe?«, fragte ich und richtete mich auf.

»Nein, bisher nicht.«

»Aber wie gesagt, höchstwahrscheinlich mehr als ein Angreifer«, fügte Brewin hinzu. »Vielleicht nur einer bei diesem Burschen hier, aber bei dem im Wohnzimmer eher zwei.«

Ich nickte und sah mich noch ein Weilchen um. Die beiden Toten lagen seit mehreren Tagen in diesem Chaos; den Mann, den Brewin betrachtete, hatten sie mit skrupelloser Brutalität ausgeschaltet.

»Als er versuchte, wegzukriechen – im Uhrzeigersinn dorthinüber–, haben sie ihn so weit aufgerichtet, dass er sich mit dem Kopf ungefähr auf dieser Höhe befand«, erklärte Fiona und hielt die Hand ein wenig oberhalb ihrer Taille. »Mit einem Messer haben sie mehrfach auf ihn eingestochen. Die tödliche Wunde ist die direkt unter dem Kinn.«

Ich nickte stumm, während mich eine dumpfe Ahnung beschlich. Das Durcheinander im Haus, das viele Blut, das auf den Fliesen verkrustet war, bot ein Bild der blinden Zerstörungswut, der Mord als solcher hingegen zeugte von eiskalter Effizienz. Der Täter, falls es nur einer war, hatte ihn unter dem Kinn fest gepackt und mit dem Einstichwinkel dafür gesorgt, dass das Blut nicht in seine Richtung spritzte. Auf diese Weise hatte er kein Blut an den Kleidern abbekommen.

»Offensichtlich hat er noch versucht aufzustehen, vielleicht sogar noch einmal nach der Stichwunde am Hals, aber ein paar Sekunden später muss er das Bewusstsein verloren haben, und dann …« Fiona zuckte die Achseln.

»War er tot«, hatte Brewin wieder einmal das letzte Wort. Mit einem Seufzer ging ich durch den Flur ins Wohnzimmer voraus und blieb am Sessel stehen. Das zweite Opfer war Anfang vierzig, mit zerzaustem, angegrautem schwarzem Haar. Der Mann trug verwaschene Jeans und ein rotschwarz kariertes Hemd zu schweren Arbeitsschuhen. Er war ungewöhnlich kräftig gebaut; seine im Rücken des Sessels gebundenen Unterarme waren drahtig und muskulös. Seine wuchtige, hünenhafte Gestalt schien alles andere im Raum zu schrumpfen, und der Lehnstuhl, an den er gefesselt war, drohte jeden Moment unter seinem Gewicht zusammenzubrechen. Seine billige digitale Armbanduhr hatte an den mächtigen Händen Spielzeugformat; am Hals lugte ein Tattoo aus dem Kragen hervor – der Schwanz eines Tiers, das sich vom Schlüsselbein hinaufwand.

»Die Autopsie der beiden Opfer ist für morgen früh angesetzt«, sagte Brewin, »auch wenn ich mir davon kaum neue Erkenntnisse verspreche. Auch bei diesem Burschen haben wir ein paar Abwehrverletzungen, aber anders als bei dem in der Küche gegen die Messerstiche. Wie’s aussieht, wurde der hier getreten und geschlagen, dem Dreck an seinen Kleidern und den Blutflecken an der seitlichen Hauswand nach zu urteilen, draußen. Anschließend haben sie ihn hier hereingebracht und an diesen Sessel gefesselt. In diesem Zimmer gibt es kein Fenster zur Hausfront – nur eins zum Hof. Sie konnten also mit ihm machen, was sie wollten. Wenn auch nicht so lange, wie sie wollten.«

»Wollten? Wie meinen Sie das?«

»Also, ich glaube, sie haben einen Fehler begangen, Guillermo. Da draußen. Sie haben nach etwas gesucht, nicht wahr? Den Burschen in der Küche haben sie schnell erledigt, sie waren präzise und effizient … ich mag gar nicht dran denken, was das zu bedeuten hat, Ihnen brauche ich das wohl nicht zu sagen.«

»Die Burschen wissen, was sie tun.«

Brewin nickte. »Allerdings. Sie sind keine blutigen Laien. Allerdings haben sie bei dem armen Schwein hier einen Fehler gemacht, und er hat dafür bezahlt.« Brewin ging um den Sessel herum und blieb auf der anderen Seite stehen. »Nachdem sie ihn hereingeschleppt und in diesen Lehnstuhl verfrachtet hatten, muss ihm einer der Täter an den Haaren gezerrt oder gerissen und ihm die Kopfhaut verletzt haben. Ich glaube, das geschah aus einem triftigen Grund.«

»Lassen Sie hören.«

»Ich glaube, als sie ihn hereingebracht haben, war er bewusstlos. Er hat Abschürfungen an den Knöcheln, gut möglich, dass sie es da draußen etwas übertrieben hatten, und sie haben ihn an den Haaren gezogen, um ihn gewaltsam wieder zu Bewusstsein zu bringen. Gut möglich, dass sie sich ziemlich an ihm ausgetobt hatten, als sie ihn wieder reinzerrten. Aber die Fraktur hier an seinem Kopf könnte eine intrakranielle Blutung verursacht haben – eine langsame Einblutung ins Gehirn. Möglicherweise hat er sich die draußen zugezogen, vielleicht ist er unter ihren Schlägen gestürzt, oder es war ein brutaler Tritt gegen den Kopf. Gut möglich, dass er die ganze Zeit immer nur für kurze Momente zu Bewusstsein gekommen ist.«

»Aber an den Schlägen und Tritten ist er nicht gestorben, richtig?«

»Nein.« Mit einem hilflosen Achselzucken starrte Brewin auf den Rost im Kamin. »Ihnen ist sicher das Handtuch nicht entgangen?«

Ich schüttelte den Kopf. Als es mir das erste Mal ins Auge fiel, hatte ich es noch nicht recht einordnen können; dieses unscheinbare Detail ging in dem allgemeinen Chaos im Wohnzimmer und im übrigen Haus unter. Jemand hatte es unweit der Feuerstelle auf den Boden geworfen.

»Seine Lippen und seine Mundhöhle sind von Verbrennungen dritten Grades übersät«, sagte Brewin.

Ich zwang mich, mir das Gesicht des Opfers genauer anzusehen. Ich hatte so etwas befürchtet, doch nicht gewagt, den Gedanken zu Ende zu denken. Als ich mir jetzt vor Augen führte, was sie dem Opfer angetan hatten, packte mich die schiere Verzweiflung.

»Verbrennungen sehen immer am schlimmsten aus«, sagte Brewin. »Er ist an neurogenem Schock gestorben. Durchblutungsinsuffizienz im ganzen Körper. Nachdem das Schlimmste vorüber war, ist es wahrscheinlich sogar schnell gegangen. Man würde es nicht vermuten, aber in dem Moment, als das Ding da drüben« – Brewin deutete auf die Zange – »seine Lippen berührte, hat er den Mund aufgemacht. Hatte gar keine Wahl. Dann haben sie es ihm reingeschoben, und sobald die glühenden Kanten seine Mundhöhle berührten, hat er reflexartig so fest auf das Metall gebissen, dass er mindestens drei Schneidezähne verloren und sich möglicherweise den Kiefer gebrochen hat.« Ich zwang mich, mir die Feuerzange anzusehen. Wahrscheinlich hatten sie nicht geplant, sie einzusetzen, sondern waren erst auf die Idee gekommen, davon Gebrauch zu machen, als sie vor ihnen neben der Feuerstelle lag. Vielleicht hatten sie sich gegenseitig aufgestachelt und sie im Kamin zum Glühen gebracht, während sie ihm damit drohten, sie zu benutzen. Bis einer von ihnen hinging und Ernst damit machte. So ungefähr könnte es gelaufen sein.

»Falls er seine Mörder kannte, muss ihm augenblicklich klar gewesen sein, dass sein Leben auf dem Spiel stand, oder?«, fragte ich.

Brewin stieß nur einen Seufzer aus.

»Aber er wollte oder konnte ihnen nicht sagen, was sie wissen wollten«, spann ich den Gedanken weiter. »Wahrscheinlich hat er nicht mit Nachsicht gerechnet und sie auch nicht bekommen.«

»Sie meinen, es war eine Strafe, Guillermo?«

»Gut möglich.«

Ich drehte mich um und überlegte. Sie hätten auch anders vorgehen können. Sie hätten an der Haustür klingeln und ihn überrumpeln können. Andererseits waren sie draußen im Dunkeln im Vorteil. Sie wussten vermutlich, mit was für einem Mann sie es aufnahmen, und planten ihre Vorgehensweise.

Ich trat in den Flur und drehte den Knauf an der Haustür. Sie war von innen abgeschlossen und verriegelt. Und auf dem abgetretenen Teppich war eine Menge getrockneter Lehm. Demnach wussten sie wahrscheinlich, dass er das Haus bei seiner Rückkehr durch die Eingangstür und nicht durch die Küchentür betreten hatte. Sie hatten auf ihn gewartet, ihm vielleicht sogar aus sicherer Entfernung aufgelauert.

Das hellblaue Handtuch neben dem Kamin sah auf den ersten Blick ganz harmlos aus, bis man den verkohlten Streifen an der Oberkante bemerkte. Wahrscheinlich hatten sie das Tuch aus dem Badezimmer besorgt, um damit die glühend heiße Zange aus dem Feuer zu holen, wahrscheinlich ihre letzte Hoffnung, dass er den Mund aufmachte. Schließlich rissen sie ihm die Zunge heraus und warfen die Zange Richtung Kamin. Auch dieser Mord zeugte von einer eiskalten Entschlossenheit, vor allem aber von einer kaum zu überbietenden Abartigkeit.

Kapitel 3

Ich sah mich noch eine Weile im Haus um, bevor ich ins Freie trat. Nach Tagen hatte es endlich einmal zu regnen aufgehört, doch in diesem Moment fing es schon wieder an. Auch der Wind nahm zu und wirbelte auf dem Weg das Laub auf. Irwin kam auf mich zu.

»Und? Schon was rausgefunden?«, fragte ich den großen, kantigen Mann mit dem spitzen Adamsapfel und der Hakennase.

»Der in der Küche«, sagte er und warf einen Blick durchs Fenster, »das ist George Finn.«

»Der Eigentümer des Hauses?«

»Nein. Finn war Journalist.«

»Aus der Gegend hier?«

»Nein. Er arbeitete für ein Klatschblatt in London, das heißt, früher mal. Da oben am Hang, das ist sein Wagen, das heißt, nicht wirklich seiner. Er hat ihn sich von einer Ex ausgeliehen, ohne ihr davor Bescheid zu geben, dass er ihn sich borgt. Das war vor fünf Tagen, und seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört oder gesehen.«

»Und? Weiß sie, was er hier draußen wollte?«

»Nein. Sie haben sich schon vor längerer Zeit getrennt, und sie hat ihn seit einem Monat nicht mehr gesehen. Aber er hatte noch die Schlüssel zu ihrer Wohnung. Er ist rein, als sie auf der Arbeit war, hat ihr auf einen Zettel geschrieben, er sei am Abend mit dem Auto wieder zurück. Wie’s aussieht, hat er sich die Wagenschlüssel geschnappt, ist hier rausgefahren und nicht zurückgekehrt. Offenbar hat er sich den ganzen Tag nach dem Eigentümer dieses Hauses umgehört. Einen Burschen namens Lee Miller.«

»Das andere Opfer?«

»Ja. Finn«, sagte er und deutete Richtung Küche, »war von der Zeitung suspendiert – auf unbestimmte Zeit. Seit er hier eingetroffen war, hat er sich nur nach Miller umgehört. Das Blatt wollte mir nicht sagen, wieso er suspendiert war. Muss auf jeden Fall was Ernstes gewesen sein. Ich hab die Chefin gebeten, bei denen nachzuhaken. Der Redakteur redet sich damit raus, er könne uns nicht weiterhelfen, bevor er mit den Anwälten der Zeitung gesprochen hat. Hoffentlich kann die Chefin ihm ein bisschen Dampf unterm Hintern machen. Wie ich sie kenne, schafft sie das.«

»Demnach hat ihn nicht das Blatt hier rausgeschickt?«

»Nein, der Redakteur hatten keinen Schimmer. Er hatte noch nie von Miller und schon gar nicht von dem Dorf hier gehört. Und Finn hat niemandem verraten, für wen sonst er arbeitete. Er kam so um Mittag hier an und klopfte bei den Leuten im Dorf auf den Busch. Einer einzigen Anwohnerin hat er seine Visitenkarte gegeben. Offenbar hat ihm die gute alte Frau eine deftige Geschichte über Miller erzählt, wohl ziemlich Furcht einflößend. Ihre Worte. Er hat sich alles notiert. Hinterher hat sie es wohl bereut und anhand der Visitenkarte ziemlich aufgeregt bei seiner Zeitung angerufen, die sich natürlich keinen Reim auf die Geschichte machen konnte. Als ihn jemand anders fragte, in welcher Zeitung sein Artikel erscheinen würde, hat er wohl gesagt: in allen.«

»In allen?«, fragte ich verblüfft.

»Hat er wohl gesagt.«

»Muss sich seiner Sache ja ziemlich sicher gewesen sein.«

Irwin nickte. »Ziemlich großspurig, der Typ, wie’s scheint, Sir. Und aalglatt. Hat alle überrumpelt. Na ja, Sie kennen ja die Tricks, mit denen diese Burschen arbeiten. Klingt andererseits so, als wäre er an einer heißen Sache dran gewesen. Kommt bei strömendem Regen her und geht von Haus zu Haus. Wegen des Wetters haben ihn die meisten Leute reingebeten.«

»War er das erste Mal im Dorf?«

»Offenbar ja. Falls er tatsächlich an einer heißen Story dran war, vermutet der Redakteur, hatte er wohl vor, sie einem anderen Blatt zu verkaufen. Überall, nur nicht bei seinem alten Arbeitgeber.«

»Demnach war er sauer wegen der Suspendierung?«

»Stinkwütend.«

»Und worum ging es bei dieser Story?«

»Das kann offenbar niemand sagen. Er hat sich ziemlich bedeckt gehalten, sich für Miller interessiert, aber mit keiner Silbe erwähnt, weswegen. Nur, dass er sein Umfeld und seine Vergangenheit unter die Lupe nimmt. Er war auch im Pub. Wirkte wohl etwas nervös. Der Barkeeper hat mit ihm geredet, sonst niemand: Wollten wohl nicht, dass Miller am nächsten Morgen aufwacht und in der Sonntagszeitung liest, was sie hinter seinem Rücken über ihn getratscht haben. Also hat er den Pub um etwa sieben Uhr verlassen.«

»Und ist hier in dieses Drama hereingeplatzt.«

»Sieht so aus. Vielleicht hat er es ja zuerst an der Haustür versucht. Ist Richtung Wohnzimmer gegangen und hat Miller gefesselt in diesem Sessel vor dem Kamin entdeckt. Vielleicht war Miller da noch am Leben. Werden wir nie erfahren. Bekam Panik und rannte auf seiner Flucht gegen den Tisch im Flur. In der Küche haben sie ihn eingeholt und, als sie mit ihm fertig waren, hier weitergemacht.«

»Und seine Sachen? Alles weg?«

»Ja. Einige von den Dorfbewohnern haben ihn mit einem Laptop, einer Kamera und einem Aufnahmegerät gesehen. Das, seine Brieftasche und sein Handy haben sie ihm offenbar abgenommen. Die Kinder, die nur so aus Langeweile den Wagen aufgebrochen haben, beteuern, im Auto wäre nichts gewesen und sie hätten auch nichts geklaut.«

»Dieser Journalist kommt also ins Dorf und quetscht die Leute den ganzen Nachmittag nach Miller aus. Hat er sich noch für was anderes interessiert?«

»Fehlanzeige. Über Miller war er wohl bestens informiert.«

»Aber wer war dieser Mann?«

»Offenbar hatte das halbe Dorf eine Scheißangst vor dem Kerl. Er war gerade erst aus dem Knast entlassen.«

»Der Bursche war im Knast?«, fragte ich erstaunt.

»Ja. Bewaffneter Raubüberfall. War zwölf Jahre im Bau. Und nicht zum ersten Mal; hatte schon mal wegen desselben Verbrechens gesessen. Jedenfalls, dieses Gehöft hatte Millers altem Herrn gehört. Als er starb, stand es jahrelang leer. Miller hatte von Jugend an in London gelebt und sich bei seiner Entlassung aus irgendeinem Grund entschieden, hierher zurückzukommen. Aber ich sag Ihnen, Sir, mir ist schleierhaft, was ein Spitzenjournalist aus London hier zu finden hofft. Ich meine, nach allem, was wir wissen, war Miller einfach nur ein Krimineller.«

»Und Finn muss irgendeiner Sache aus Millers Vergangenheit auf der Spur gewesen sein, seiner kriminellen Vergangenheit.«

Irwin nickte. »So sieht’s aus, nur dass keiner hier die leiseste Ahnung hat, worum es geht.« Irwin lief im gewohnten Eilschritt zum Haus und trat in die Küche. Bevor er sich der Leiche auf dem Boden zuwandte, verschaffte er sich einen kurzen Überblick. Er blieb neben dem Toten stehen und schwieg einen Moment. Er wirkte übernächtigt und enttäuscht, als habe er gehofft, sich drinnen aufzuwärmen, und müsse sich erst an die Kälte im Haus gewöhnen.

»Da wäre noch was«, sagte er und drehte sich langsam zu mir um. »Tut mir leid, Sir, aber wir haben es zunächst alle übersehen, ist ja auch kein Wunder, so wie die das ganze Haus auf den Kopf gestellt haben, und die Spurensicherung musste sich draußen erst mal sortieren. Na, jedenfalls sieht es ganz so aus, als hätte Miller einen Gast im Haus gehabt, der rechtzeitig entwischen konnte. Es gibt ein Gästezimmer, und da hat jemand geschlafen. Zuerst dachten wir, jemand hätte sich dort eingenistet, als das Haus leer stand, während Miller einsaß, und Miller hätte ihn nach seiner Entlassung vor die Tür gesetzt. Aber dann hab ich mir das Zimmer noch mal genauer vorgenommen. Die Kleider, die der Bursche zurückgelassen hat, passen schlecht zu der Theorie. Sie sehen neu aus, und ein paar Leute im Dorf bestätigen, dass über Weihnachten jemand bei Miller war.«

Irwin deutete zum Flur, und ich folgte ihm die Treppe hinauf, wo wir uns um zerfledderte Bücher, verstreute Kleider und Bettzeug manövrieren mussten. Im Flur im Obergeschoss erwartete uns das gleiche Chaos.

»Gütiger Himmel«, murmelte Irwin und hielt sich die Hand über die Nase, »der Gestank ist hier oben genauso penetrant wie unten, oder?«

»Was ist mit dem Speicher? Haben die auch da oben gesucht?«

Irwin nickte. »Die haben alles auseinandergenommen. Müssen einen Höllenlärm gemacht haben, aber so abseits, wie das Haus liegt, hat natürlich keiner was gehört. Dabei haben sie sich offensichtlich alle Zeit der Welt genommen, möglicherweise Stunden. Irgendeine Ahnung, wonach sie gesucht haben?«

Ich zuckte die Achseln. »Haben sich außer diesem Finn noch andere Fremde über Miller erkundigt?«

»Nein.«

»Und wir können ausschließen, dass sie irgendwelche Wertgegenstände mitgenommen haben?«

»Allem Anschein nach ja.«

»Wie steht’s mit Angehörigen von Miller?«

»Soweit wir wissen, gibt es nur eine Tante. Wohnt drüben in Shipston-on-Stour.«

Irwin umschiffte die Scherben einer Vase sowie ein paar Schuhe mitten im Flur und führte mich in einen winzigen Raum. Dort lag, halb an die Wand gelehnt, eine Matratze, in einer anderen Ecke, mit aufgeschlitzten Nähten, ein Schlafsack; auf dem Boden stand ein wie neu aussehender Koffer und der mutmaßliche Inhalt in einem Haufen dicht daneben. Auch die Kleider wirkten neu, wenn auch anspruchslos.

»Und wir können ausschließen, dass das hier Millers Zimmer war?«

»Ja. Zuerst haben wir es für eine Abstellkammer gehalten. Millers Schlafzimmer liegt am anderen Ende des Flurs.«

»Und Sie haben die Sachen hier gründlich durchsucht?«

»Ja. Keine Brieftasche, keine Ausweispapiere. Nur diese Kleider.«

Ich durchquerte den Raum und blickte nachdenklich durch das verdreckte Fenster.

»Wie steht’s mit Graves?«, brach Irwin das Schweigen. »Soll ich ihn anrufen? Eigentlich hat er morgen frei, aber wir könnten ihn hier gut brauchen.«

Ich überlegte. »In Ordnung, rufen Sie ihn an«, sagte ich ein wenig widerstrebend. »Setzen Sie ihn ins Bild, und sagen Sie ihm, wir brauchen ihn gleich morgen früh; er soll für morgen alles andere von seinem Terminkalender streichen und sich, falls er weg ist, noch heute Abend hinters Lenkrad setzen.«

»Er wird nicht begeistert sein«, murmelte Irwin.

»Wieso das?«, fragte ich ein wenig schroff.

»Na ja«, fing Irwin an und senkte verlegen den Kopf. »Er hat ein Date«, rückte er schließlich heraus. »Schwärmt schon seit Tagen von der Frau.«

»Oh, das ging aber schnell!«, sagte ich, aufrichtig beeindruckt. »Ich meine, er ist doch erst seit ein paar Wochen hier. Wer ist denn die Glückliche?«

»Sie ist nicht von hier, Sir. Eine Verflossene, soweit ich weiß. Hat ihm vor Jahren den Laufpass gegeben«, klärte mich Irwin auf und vergewisserte sich mit einem prüfenden Blick, dass ihn sonst niemand hörte.

»Wie auch immer, holen Sie ihn her.«

Durchs Fenster sah ich, wie Irwin das Haus verließ. Es hatte etwas Surreales, an einem Ort wie diesem über Dates und Freundinnen zu reden. Auf dem Hof hinter dem Haus eilten die Polizisten zu den wartenden Mannschaftswagen, wo ein Kollege bereits mit einer riesigen Thermoskanne auf sie wartete. Das Tageslicht würde die systematische Tatortuntersuchung am nächsten Morgen erleichtern. Fröstelnd schob ich das Kinn unter den Kragen und starrte in den erneut einsetzenden Regen.

Durch sämtliche Fenster fiel helles Licht in den Hof. Beim Anblick des geschäftigen Treibens unten im Hof fiel mir Powell wieder ein. Für einige Stunden hatte ich nicht mehr an ihn gedacht. Fast hätte ich für den Doppelmord einen Anflug von Dankbarkeit empfunden.

In diesem Moment fuhr ein Streifenwagen heran, und ich vertiefte mich in den Regen in seinem Scheinwerferlicht. Ich verbannte sämtliche Geräusche aus meinem Bewusstsein und stellte mir vor, wie die Täter ins Haus eindrangen. Wie sie bei ihrer Suche alles auseinandernahmen, wie sie Schränke leer fegten, Geschirr zerbrachen, Bücher zerrissen. Wenn sie in Büchern suchten, mussten sie hinter etwas Kleinem her sein, das zwischen die Seiten von Büchern passte. Einem Brief? Geld? Im Geist hörte ich ihre entschlossenen Schritte im Flur. Wie hatte ich mir diese Männer vorzustellen? Kamen sie von auswärts? Oder aus der Gegend hier? Mit was für einem Gegner hatten wir es zu tun? Welche Vergangenheit hatte Miller eingeholt und sein Schicksal besiegelt? Und wieso hatte er nicht mit ihnen gerechnet?

Oben im Dorf klopften in diesem Moment die Constables an jede Tür und blickten in besorgte, misstrauische Gesichter. Wie ein Besatzungstrupp waren die Uniformierten unter meiner Befehlsgewalt in die überschaubare Welt dieser Leute eingefallen. Ich war froh, dass ich sie hatte, froh, dass sie unter meiner Kontrolle standen. Doch das beruhigende Gefühl wich einer dumpfen, bösen Ahnung: Ich war hinter Männern her, denen Gewalt nicht nur vertraut war, sondern die offenbar keinerlei Hemmungen hatten, sie zu gebrauchen. Sie hatten eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung: Es widerte sie nicht an, einem Menschen Qual zu bereiten.

Ich blieb noch eine Weile am Fenster stehen. Noch vor wenigen Stunden hätte man meinen können, das halbe Dorf sei den Hügel heruntergekommen und habe sich auf der anderen Straßenseite zusammengeschart, um schaudernd auf den Ort des grausigen Geschehens zu blicken. Jetzt stand dort draußen in der Abenddämmerung nur noch ein einsamer Mann mit traurigem Gesicht und einem Hund an der Leine. Nicht lange, und er machte sich enttäuscht auf den Heimweg, nachdem seine Hoffnung schwand, einen Blick auf einen schwarzen Leichensack zu erhaschen.

Kapitel 4

Als Graves wieder in Moreton eintrudelte, war es schon fast Mitternacht. Müde und frustriert ließ er seinen Wagen auf dem Bahnhofsparkplatz und trottete zu Fuß durch die Stadt Richtung Hotel. Da hatte er sich nun tagelang auf seinen Kurzurlaub gefreut und in einem Moment der Euphorie in einer Pension in Cheltenham sogar ein Doppelzimmer gebucht, doch dank Downes war der Abend auf der ganzen Linie ein Reinfall gewesen. Irgendwie hatte er die ganze Zeit geahnt, dass es so kommen musste. Wie gewohnt hatte ihn Amanda beim Essen in die Defensive gedrängt, er war zunehmend nervös geworden und hatte um Worte gerungen. Tatsächlich wurde es irgendwann so schlimm, dass er beinahe erleichtert war, als in seiner Hose das Handy klingelte. Als Irwin, der darauf bestand, ihm den Fall bis in die letzten Einzelheiten zu schildern, und offenbar kein Problem damit hatte, ihm den Abend zu versauen, endlich die Luft ausging, kochte Amanda vor Wut. Sie erklärte ihm klipp und klar, sie werde mit dem nächsten Zug nach London zurückkehren und hege nicht die Absicht, auch nur eine Minute länger zu bleiben. Das Ganze erwies sich von vorn bis hinten als ein einziges Fiasko. Aber so war sie nun mal, Amanda, schon als sie sich kennenlernten. Sie war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden.

Tat ihr sicher mal ganz gut, dachte Graves bitter. Sie hatte von klein auf immer ihren Willen bekommen, war ein verwöhntes Kind und … Im Schatten eines Baums starrte er auf die zugezogenen Gardinen der Häuser. Was hatte er in diesem Kaff überhaupt verloren? Mit einem Schlag überkam ihn das Gefühl, festzusitzen. Wenn er nun tatsächlich hier draußen in der Pampa hängen blieb?

Er kam an einem kleinen Supermarkt und der Bank vorbei. Ihm knurrte der Magen. Er schob die Hände tief in die Hosentaschen und dachte an Downes. Seit seinem Dienstantritt hatte er sich von ihm beobachtet gefühlt. Von Zeit zu Zeit bekam er mit, wie er ihn unauffällig beäugte, als sei ihm momentan entfallen, wer er war, oder als sei er sich unschlüssig darüber, ob er ihn wieder los sein wollte. Er ließ den Blick über die menschenleere Provinzstadt schweifen und fragte sich zum hundertsten Mal, womit er es verdient hatte, in dieser Einöde zu landen. Dabei hatte er es anfänglich gar nicht mal so schlimm gefunden. Es war viel los im Revier, keine Zeit zum Trübsalblasen, aber jetzt … hatte er das Gefühl, total ab vom Schuss zu sein. Völlig abwegig, dass in diesem verschlafenen Nest irgendetwas passieren könnte. Die Häuser waren zu adrett, die Gärten zu gepflegt. Es wohnten einfach zu viele alte Leute in diesem hinterwäldlerischen Nest! Die lagen jetzt alle unter der warmen Bettdecke und schnarchten sich die Seele aus dem Leib.

Im Hotel holte er einen Beutel mit frischer Wäsche ab, den sie an der Rezeption für ihn bereithielten, stieg auf dem dicken Teppichläufer die Treppe zu seinem Zimmer hoch, legte den Beutel auf dem Bett ab und kramte in der Minibar nach Snacks und einem Bier.

Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Amanda schmoren zu lassen, dann aber sein Handy gezückt, sobald er zur Tür herein war. Als sie nicht dranging, entschuldigte er sich auf ihrer Voicemail und legte auf.

Wie immer hatte sie toll ausgesehen, als er sie vom Bahnhof abholte, noch hinreißender, als er sie in Erinnerung hatte. Vor Jahren, in der Studienzeit, hatte sie ihm, kurz vor dem Examen, den Laufpass gegeben, mal eben so. Damals hatte er angenommen, dass sie ihn schnell vergessen würde, doch dann hatte sie ihn eines Tages, wahrhaftig an Weihnachten, auf dem Weg zu seinen Eltern, im Zug ausfindig gemacht, und sie waren sich wieder nähergekommen. Zumindest hatte er das gedacht. Im Augenblick hatte er keine Ahnung, ob zwischen ihnen noch etwas lief.

In den Jahren nach ihrer Trennung hatte er sich den Moment des zufälligen Wiedersehens immer wieder ausgemalt. Er wäre gerade dabei, einen gefährlichen Schwerverbrecher zu verhaften oder käme Arm in Arm mit einer attraktiven Blondine aus einem piekfeinen Restaurant. Sobald sich ihre Blicke träfen, würde er sie ungerührt mustern, als käme sie ihm nur vage bekannt vor, und cool seines Weges gehen.

Doch dann hatte irgendjemand wohl das Drehbuch vertauscht, und er hatte sich in einem anderen Stück, in einer weit weniger angenehmen Rolle wiedergefunden. Im Zug war er eingedöst und irgendwann aus einem Albtraum aufgewacht, wohl die Nachwirkungen seiner ersten Tage mit Downes. Im Traum hatte er sich in einem großen, leer stehenden Haus in den Cotswolds wiedergefunden; die sprichwörtliche Leiche im Keller war, wie im Film, auf knöchernen Händen auf ihn zugekrochen. Als ihn Amanda am Arm rüttelte, um ihn zu wecken, kippte er einen Becher kalten Kaffee auf dem Tisch um. Der Kaffee schwappte einem alten Mann ihm gegenüber auf den Schoß, der ihn für den Rest der Strecke nach London mit wüsten Beschimpfungen überhäufte. Amanda hatte sich dabei prächtig amüsiert.

Nachdem sie sich nun durch einen unglaublichen Zufall wieder über den Weg gelaufen waren, gingen sie wie alte Freunde miteinander um. Doch da war noch mehr im Schwange, das spürte er. Zumindest bis heute Abend.

Wie seine Mutter hegte Amanda in ihrem tiefsten Innern Vorbehalte gegen seinen Beruf. Bei seinem Weihnachtsbesuch hatte ihm seine Mutter zuerst aufmerksam zugehört, als er von den wochenlangen Ermittlungen zu einem Mordfall in den Cotswolds erzählte. Er hatte Hoffnung geschöpft, doch ihr gequälter Gesichtsausdruck hatte ihm schnell klargemacht, dass sie das alles von Herzen abstoßend fand, was es, bei Lichte betrachtet, ja auch war. Unterdessen hatte sein Vater von Anfang an nur die Stirn gerunzelt und wohl in dem Moment, als er erfuhr, was Downes für ein Landsmann war, auf Durchzug geschaltet.

»Ein Argentinier?«, hatte er gefragt, plötzlich senkrecht gesessen und heftig mit seiner Zeitung geraschelt. »Was in aller Welt hat ein Argentinier da draußen in den Cotswolds verloren?«, hatte er nur bemerkt, ihn über die Zeitung hinweg mit einem missbilligenden Blick durchbohrt und sich ein Weihnachtspraliné in den Mund geschoben. »Ich meine, wieso gerade da? Wieso verschlägt es einen Mann aus Südamerika in die englische Wildnis?«

»Er ist Halbbrite«, brachte Graves schließlich zur Verteidigung seines Chefs hervor. Am Ende sah er sich bei seinen Eltern immer zu einem Rechtfertigungsversuch genötigt, auch wenn er wusste, dass es letztlich zwecklos war. »Eigentlich hat er eine Weile hier gearbeitet, hier in London. Aber er wurde …«

»Was?«, hakte sein Vater nach, der sich nun plötzlich doch für seinen Vorgesetzten interessierte. »Du meinst, er wurde gefeuert? Demnach muss auch hier in London was vorgefallen sein. So wie bei dir in Oxford, sieh mal einer an«, sagte sein Vater triumphierend.

»Aber ich –«

»Sie haben ihn also in die Wüste geschickt. Klingt, als hätte er es verdient, nach allem, was du erzählst. Mein Gott, in Brunnen zu springen, Gebäude abzufackeln. Was hat sich der Mann nur dabei gedacht? Hält der sich für Superman?«

Bei der Erinnerung an die Tirade seines Vaters schüttelte Graves den Kopf. Da er in dem komfortablen Hotelbett nicht schlafen konnte, weil ihn die unbehagliche Frage nicht losließ, ob seine Eltern und Amanda am Ende vielleicht richtiglagen, schaltete er den Fernseher ein. Schließlich war er immer noch jung, und man konnte nicht gerade sagen, dass es mit seiner Karriere steil bergauf ging. Und plötzlich kam ihm dieses Fließband-Gefühl wieder in den Sinn, das ihn jahrelang begleitet hatte: von der Privatschule an die Universität, dann zum Job in der City – alles nach Plan, bis es plötzlich hakte. Sand im Getriebe. Irgendetwas war mit ihm passiert, als Amanda ihn abservierte, ohne dass er je erfahren hatte, weshalb.

Er verzog kläglich das Gesicht. Sein Entschluss, Polizist zu werden, war wohl seine Version der Fremdenlegion. Ein altmodischer Impuls, der ihm irgendwie ähnlich sah. Aber war es wirklich das Richtige für ihn? Mochte er seine Arbeit überhaupt? Trieb ihn der Ehrgeiz, wie bei Downes? Das Wiedersehen mit Amanda hatte ihm deutlich gemacht, wie zurückgezogen er lebte. Und dann dieser Vorfall in Oxford. Jedes Mal, wenn er daran dachte, packte ihn wieder die kalte Wut, und sein Magen zog sich zusammen. So hatte er sich seine Laufbahn nun wirklich nicht ausgemalt – strafversetzt.

In der Hoffnung, doch noch seinen Schlaf zu bekommen, köpfte er ein weiteres Bier. Aber es half nichts. Seine Gedanken kreisten entweder um Amanda oder um die Frage, was er machen sollte. Die Erinnerungen stellten sich wie ungebetene Gäste ein: sein Vorgesetzter, der ihm eröffnete, er werde in die Cotswolds versetzt, ins Team eines ranghohen Beamten. Natürlich kam die Nachricht nicht überraschend, doch als es so weit war, rieb er sich trotzdem die Augen, besonders weil alles so schnell ging. Selbst als sich sein Chef den Anflug eines Lächelns abrang, war sein Blick unnachgiebig. Bei der Erinnerung hielt es Graves nicht auf dem Bett; er sprang hoch und lief im Zimmer auf und ab.

Für Graves, der sich auf London oder wenigstens Birmingham Hoffnung gemacht hatte, lagen die Cotswolds hinterm Mond. Die Enttäuschung und die Wut saßen so tief, dass der Gedanke daran ihm selbst jetzt noch, einen Monat danach, ein hohles Gefühl in der Magengegend bereitete.

»Aber hat er denn noch keinen Sergeant?«, hatte er seinen Chef gefragt.

»Sein Sergeant ist krank. Genauer gesagt liegt er im Sterben.« An diesem Punkt hatten sich die Züge des Superintendenten geglättet, um genau den angemessenen Grad an Mitgefühl zu zeigen, ohne es damit zu übertreiben. Nach der Hälfte des Gesprächs schien ihm sein diszipliniertes Verhalten jedoch zu anstrengend zu werden, und so fuhr er milder gestimmt fort: »Jedenfalls ist der Bursche schon eine Weile da draußen. Sehen Sie’s mal so, Graves: Von dem Mann können Sie was lernen, das ist eine große Chance. Der Hecht im Karpfenteich. Als wir seinen Namen lasen, dachten wir sofort an Sie. Dem Mann eilt ein Ruf voraus.«

»Aber Sie kennen ihn nicht?«

»Nein, nicht persönlich. Ich habe von ihm gehört. Ich wurde einmal vor Jahren auf ihn aufmerksam gemacht – bei einem Rugby-Spiel.«

»Auf ihn aufmerksam gemacht, Sir? Wieso?«

»Ist mir entfallen. Deren Jungs gegen unsere, hätte beinahe wie üblich in einer wüsten Schlägerei geendet. Er handelte sich einen Platzverweis ein, wenn ich mich recht entsinne. Hat sich mit dem Schiri angelegt, vielleicht auch jemandem eine Ohrfeige verpasst – oder einen Tritt in den Hintern.« Der Superintendent machte ein angestrengtes Gesicht. »Fällt mir beim besten Willen nicht mehr ein. Trotzdem, ein guter Spieler.«

»Aber weiß er denn Bescheid, dass ich komme?«, fragte Graves misstrauisch. »Weiß er, dass er … mit jemand anderem zusammenarbeiten soll?«

»Ja, er hat zugestimmt, auch wenn ich Sie der Ehrlichkeit halber warnen muss. Anfänglich hat er sich vehement dagegen gesträubt. Aber so ist er nun mal, etwas gewöhnungsbedürftig – ein sonderbarer Kauz. Er kommt übrigens aus dem Ausland. Er ist Chief Inspector, heißt Downes.« Und mit einer schwungvollen Geste fügte er hinzu: »Guillermo.« So, wie er ihn aussprach, klang der Name französisch. »Guillermo Downes.«

Graves klang er nicht französisch in den Ohren.

Ihm war nicht entgangen, dass sein Vorgesetzter ihn über den Schreibtisch hinweg mit einem eindringlichen Blick musterte. Er schien bekümmert, vielleicht sogar ein wenig besorgt, die bloße Erwähnung des Namens könne ihn vergraulen oder zumindest misstrauisch machen.

»Kräftiger, hochgewachsener Bursche. Er hat eine Narbe genau hier«, fuhr sein Vorgesetzter fort und deutete auf seinen Oberkopf. »Sie können ihn also nicht verfehlen. Er ist überaus erfahren, wie gesagt, Sie können viel von ihm lernen. Aber lernen Sie schnell! Und er ist nicht jedermanns …« Der Superintendent hielt inne und fuhr fort: »Na ja, ehrlich gesagt, ist er nicht jedermanns Geschmack. Hat seine Laufbahn in den Cotswolds begonnen und wurde vor ewigen Zeiten nach London versetzt – nach Brixton. Hat sich schnell einen Namen gemacht, ist dann aber urplötzlich gegangen. Ich dachte, Sie hören es besser gleich von mir.« Im selben Moment hob er die Hand, um Graves’ naheliegender Frage zuvorzukommen. »Wieso, kann ich Ihnen nicht sagen, ich weiß auch nichts Näheres. Ist inzwischen wahrscheinlich sowieso mächtig aufgebauscht, wie alle diese alten Geschichten. Aber da ist eine Menge Gehässigkeit im Spiel. Und wie’s aussieht, ist seine Arbeitsweise, sagen wir, ein wenig unkonventionell. Vielleicht können Sie den Mann ja zur Vernunft bringen, wenn Sie sich erst ein bisschen kennengelernt haben«, fügte der Superintendent in aufgesetzt kumpelhaftem Ton hinzu, »mit Ihrem berühmten Charme sollte Ihnen das doch ein Leichtes sein, Graves.«

Graves hatte ihn nur stumm angesehen, bevor er herausgeplatzt war: »Das war’s dann also, ja?«

»Wie bitte?«, fragte der Superintendent nach.

»Das war’s dann für mich«, wiederholte Graves. Einmal wieder konnte er die Klappe nicht halten. »Ich werde in die Pampa versetzt. Das ist also der Dank.«

Sein Vorgesetzter sah ihn daraufhin wortlos an und fuhr sich genervt über die Stirn. Aber was er dann sagte, damit hätte Graves nicht gerechnet.

»Was haben Sie denn erwartet, Graves?«, fragte er. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, das käme für Sie überraschend.«

»Doch, zumindest ziemlich plötzlich.«

»Wissen Sie was, Graves? Vielleicht gewöhnen Sie sich besser Ihr Selbstmitleid ab. Sie haben Glück gehabt, sehr viel Glück. Es gab hier mehr als einen, der nur darauf gewartet hat, dass Sie Ihre Sachen packen, und zwar Leute, Graves, die schon lange dabei sind. Für immer, verstehen Sie? Die wollten Sie hier nie wiedersehen. Dass es glimpflich für Sie ausgeht, verdanken Sie Downes.«

»Ich verstehe nicht ganz?«

Der Superintendent machte plötzlich die Schotten dicht, als hätte er schon mehr als genug gesagt.

»Die spekulieren darauf, dass Sie beide sich, zusammen in einem Zimmer, gegenseitig in den Wahnsinn treiben oder Downes irgendwie dafür sorgt, dass Sie gefeuert werden. Die warten nur darauf, dass Sie in der Versenkung verschwinden, die wollen Sie für das, was Sie getan haben, bluten sehen.«

Graves nickte. Was sonst? Er hatte begriffen.