EIN FREISPRUCH MIT FOLGEN - Helen Nielsen - E-Book

EIN FREISPRUCH MIT FOLGEN E-Book

Helen Nielsen

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Beschreibung

Die glasigen Augen des Mannes starrten mit einem verwunderten Ausdruck auf die bunt bemalten Karussell-Figuren. Aus einer Wunde über seinem rechten Auge floss Blut über sein Gesicht. Einen Moment lang schwankte er leicht, dann stürzte er lautlos zu Boden.

Im Krankenhaus kam Jaime Dodson, Verschwender und Playboy, wieder zu sich - und er wurde beschuldigt, seine Schwester Sheilah ermordet zu haben...

 

Der Roman Ein Freispruch mit Folgen von Helen Nielsen (* 23. Oktober 1918 in Roseville, Illinois; † 22. Juni 2002 in Prescott, Arizona) erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967 (unter dem Titel Ein folgenschwerer Freispruch).

Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Thriller-Klassikers in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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HELEN NIELSEN

 

 

Ein Freispruch mit Folgen

 

Roman

 

 

 

 

Die Mitternachtskrimis, Band 12

 

 

Der Romankiosk

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

EIN FREISPRUCH MIT FOLGEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Die glasigen Augen des Mannes starrten mit einem verwunderten Ausdruck auf die bunt bemalten Karussell-Figuren. Aus einer Wunde über seinem rechten Auge floss Blut über sein Gesicht. Einen Moment lang schwankte er leicht, dann stürzte er lautlos zu Boden.

Im Krankenhaus kam Jaime Dodson, Verschwender und Playboy, wieder zu sich - und er wurde beschuldigt, seine Schwester Sheilah ermordet zu haben...

 

Der Roman Ein Freispruch mit Folgen von Helen Nielsen (* 23. Oktober 1918 in Roseville, Illinois; † 22. Juni 2002 in Prescott, Arizona) erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967 (unter dem Titel Ein folgenschwerer Freispruch).  

Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Thriller-Klassikers in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.

   EIN FREISPRUCH MIT FOLGEN

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die Orgel des Karussells am Hanson-Pier quietschte. Das bedeutete zusätzliche Arbeit für Domingo Alvarez, der ohnehin noch den Baldachin streichen und die Farben der Pferde da und dort auffrischen musste. Auch an den Luftschiffen sollte etwas ausgebessert werden, und eines der kleinen Autos war überhaupt nicht mehr zu gebrauchen. Die Arbeit nahm kein Ende. Domingo, dessen schwarzes Haar an den Schläfen zu ergrauen begann, freute sich, dass der Sommer vorbei war. Vom Labor Day an kamen aus den eleganten Strandhotels von Cypress Point, das dreißig Kilometer weiter an der Küste lag, keine mit Fremden beladenen Autos mehr herüber. Die Hauptattraktion - das Fischerboot, mit dem der alte Hanson vom Pier aus sein Geschäft betrieb - schaukelte verschlafen vor Anker, und die einzigen Kunden des Rummelplatzes waren jetzt, um halb neun Uhr, während ein später Sonnenuntergang dunkelrote und korallenfarbene Streifen an den Himmel malte, Domingo Alvarez’ sechs Enkelkinder.

Für sie war es ein Festtag - die ganze Anlage gehörte ihnen allein. Die vier älteren saßen in den kleinen Autos, die zwei jüngsten bettelten immer wieder um eine weitere Runde auf dem Karussell. Der sechsjährige Ramon ritt ein schwarzes Pferd am äußersten Rand der Plattform; Carlos, der kleinste, saß fest seine Taille umklammernd hinter ihm. Für diese beiden, die Freude seiner schwindenden Jahre, ließ Domingo den veralteten Mechanismus noch mal anlaufen; dabei rechnete er sich im stillen aus, wieviel von seinem spärlichen Gewinn an die Reparatur der Ausstattung gewendet werden müsste. Herb Catcher, der drüben auf der anderen Straßenseite seine Garage und Werkstätte hatte, würde ihm wohl ein wenig helfen. Herb war ein Anglo, ein guter Mensch; er würde einen alten Mann, der es schwer hatte, seine Würde zu bewahren, nicht beschwindeln.

»Schneller!«, rief Ramon. »Schneller, Großpapa!«

Diese Kinder! Sie brüllten und befahlen wie junge Prinzen; sie trieben es schon bald so schlimm wie die Kinder der Anglos. Domingo stieß den Hebel vor, und die Orgel gab ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich. Er runzelte die Stirn; der Schaden musste schlimmer sein, als er gedacht hatte. Dann aber hörte er einen noch unheimlicheren Laut: Carlos hatte vor Schrecken aufgeschrien. Domingo blickte zu ihm hin. Das schwarze Pferd befand sich gerade der Autostraße gegenüber; jetzt kam es im Bogen auf ihn zu. Er sah, wie Ramons kleiner Körper auf dem Sattel steif wurde, wie seine Hände die Zügel umklammerten. Hinter ihm heulte Carlos weiter. Die beiden weißen Gesichter jagten vorbei. Erneut waren sie der Straße gegenüber, erneut schrien die beiden auf, und jetzt deutete Ramon mit einer wilden Handbewegung auf irgendetwas. Domingo schob den Hebel zurück und sprang auf die Plattform. Er zwängte sich bis zu dem schwarzen Pferd durch und nahm den kleineren in seine Arme.

»Chito! Chito!«, befahl er. »Ramon, qué pasa?« 

Die alte Orgel schwieg ächzend. In verlangsamter Fahrt näherte sich die Gruppe neuerlich der Landstraße. Domingo hielt das verängstigte Kind dicht an seine Schulter gepresst, während Ramon, vor Entsetzen sprachlos, noch immer auf den Gegenstand seines Schreckens hinwies... Wenige Meter vom Karussell entfernt stand ein hochgewachsener barhäuptiger Mann. Schweres dunkles Haar fiel ihm in die Stirn. Es war ein elegant in Tweedjacke und enganliegende Hose gekleideter Anglo mit Schuhen aus feinem Leder, was, wie Domingo wusste, das untrügliche Kennzeichen des Gentlemans war. Er stand mit gespreizten Beinen, vorgebeugten Schultern und gesenktem Kopf da. Dann hob er den Kopf - und Carlos vergrub zitternd sein Gesicht unter Domingos Arm.

Schuld daran waren in erster Linie die Augen des Mannes. Sein verglaster in Schock erstarrter Blick war mit dem flehenden Ausdruck eines verwundeten Kindes auf die lebendigen Gestalten des Karussells gerichtet. Und es lag auch an seinem Gesicht, denn über dem rechten Auge lief eine Risswunde, und Blut floss in dünnen Bächen über seine Wangen. Im Hintergrund gewahrte Domingo undeutlich bei einer Straßenschranke eine farbige metallische Masse, doch war das nur ein flüchtiger Eindruck, bevor der Fremde, wie betrunken schwankend, in sich zusammensank und mit gespreizten Beinen zu Domingos Füßen fiel.

 

Das Krankenhaus von Cypress Point war zwar klein, aber im Entwurf ein Wunder moderner Architektur. Die mittleren Korridore wurden ausschließlich vom Pflegepersonal benutzt. Zu jedem Saal und zu jedem einzelnen Krankenzimmer gelangten die Besucher durch eine Schiebetür, die von einer Außenrampe her hineinführte. Jaime Dodsons Zimmer blickte aufs Meer, und wäre er bei Bewusstsein gewesen, so hätte er eine prachtvolle Aussicht genießen können. Der Himmel war wolkenlos; eine sanfte Brandung schlug sachte gegen den Strand, und drüben am Horizont glitt ein Schiff der Küstenwache wie ein bewegliches Ausstattungsstück einer allzu perfekten Theaterkulisse vorbei. Aber von alledem wusste Jaime Dodson nichts. Er saß entspannt in die Kissen gelehnt mit geschlossenen Augen im Bett; sein Atem ging ruhig. Die Wunde über dem rechten Auge war ordentlich verbunden worden. Sein Gesicht hatte nach wie vor etwas beinahe Kindliches, jenen ergreifenden Ausdruck völliger Fassungslosigkeit, der dem alten Domingo Alvarez aufgefallen war.

Jaime Dodson wusste nichts von der Anwesenheit des Wachmanns hinter seiner Tür; er ahnte nur undeutlich, wenn er gerade bei Bewusstsein war, dass er des Mordes verdächtigt wurde. Im Augenblick empfand er nicht einmal das. Die Injektion, Sodium Amytal, übte ihre Wirkung aus. Das Entsetzen der letzten achtundvierzig Stunden machte einer künstlich erzeugten Euphorie Platz.

»Jaime«, sagte die Stimme bei seinem Ohr, »Jaime, hörst du mich? Ich bin’s, Steve. Steve Quentin. Ich möchte dir helfen.«

Draußen kreisten zwei Möwen am Horizont. Der Wachmann trat auf der Rampe einen Schritt vor und stützte sich mit den Armen auf das Geländer. Unten schob sich eine blaue Limousine zwischen die parkenden Wagen; ihm entstieg ein Polizeibeamter in Zivil, der zum Wachmann emporblickte, nickte und mit raschen Schritten das Haus betrat.

Der Pavillon im Haupttrakt war ein geräumiger, kreisförmiger Bau aus Glas und weißen Ziegeln. Der Beamte ging rasch auf das Mädchen an der Pforte zu.

»Guten Morgen, Captain Lennard«, sagte sie freundlich, als ihr Blick auf ihn fiel. »Der Patient hat eine ruhige Nacht gehabt.«

Lennard war ein schlanker Mann, mit einer inneren Robustheit, die unter seinem sorgfältig geschnittenen Anzug etwas förmlich Vibrierendes hatte. Man hätte ihn für einen Börsenmakler halten können, wäre nicht das scharfe Auge gewesen, das alles, was in seinem Blickfeld lag, sofort aufzunehmen, abzuschätzen und zu späterem Gebrauch zu bewahren schien.

»Das freut mich«, sagte er. »Meine Nacht war weniger ruhig. Kann man jetzt zu ihm hinaufgehen?«

Das Mädchen zögerte. »Mr. Quentin ist bei dem Patienten«, sagte sie.

»Quentin?« Lennard überlegte scharf. »Wenn Quentin die Verteidigung übernimmt, wird es nicht ohne Kampf zu einer Anklage kommen«, sagte er.

Ein Mädchen an der Pforte eines Krankenhauses pflegte so lange nicht weiter als eine höfliche und tüchtige Miene über einer weißen, gestärkten Uniform zu sein, bis eine gewisse Zusammensetzung von Worten sie plötzlich in eine ganz normale, klatschsüchtige Frau verwandelt. »Verteidigung?«, wiederholte sie. »Also war es ein Mord?«

Lennard runzelte die Stirn. »Schon gut. Rufen Sie das Zimmer an, bitte, und melden Sie dort, dass ich auf dem Weg nach oben bin.«

Er ging rasch auf den Aufzug zu. Auf einer in die Mauer eingelassenen Bronzeplatte stand die Inschrift Krankenhaus von Cypress Point - 1950 und, darunter: Erbaut von den Architekten S. und J. Dodson. Ironie des Schicksals! Das Hospital war Sheilah Dodsons erster großer Auftrag gewesen. Damals war Sheilah - eine brillante Frau voller Vitalität, die später die Berühmtheit von Cypress Point werden sollte - kaum dreißig Jahre alt gewesen. Jaime - das J. im Namen - war ihr Bruder. Er war zehn Jahre jünger und so launenhaft und unberechenbar wie seine Schwester ausgeglichen und methodisch war. Was Lennard - abgesehen von Dorfgeschwätz - tatsächlich über ihn wusste, bezog sich auf eine Reihe von Arreststrafen wegen Trunkenheit am Steuer. Sein Vorstrafenregister war nicht das eines Verbrechers, sondern das eines haltlosen Jungen, der sich und seinen Weg noch nicht gefunden hatte. Letzterer schien nun klarer vorgezeichnet. Lennard trat mit grimmiger Miene in den Aufzug. Er hatte soeben die tote Sheilah im Leichenhaus verlassen und befand sich nun auf dem Weg in den dritten Stock, um Jaime Dodson die Vorladung zur Leichenschau auszuhändigen.

Der Korridor im dritten Stock mutete wie ein breiter Lichtschacht an. Lennard trat aus dem Lift und ging rasch auf den Schreibtisch der Pflegerin zu. Als alter Praktiker hielt er dabei im Gedächtnis fest: Weiße Kaukasierin, schwarzes Haar, braune Augen, ein Meter sechzig groß, Gewicht: hundertzehn Pfund, Alter: zwanzig. Sie war wesentlich erfreulicher anzusehen als der langbeinige Mann im Tweedanzug, der, die eine Hand am Telefon, an den Tisch gelehnt, da stand. Er war mittleren Alters, hatte eine graue Strähne in seinem wilden, buschigen, sandfarbenen Haar und einen leichten, neuenglischen Tonfall in der Stimme.

»Was Mrs. Carpenter vorige Nacht geträumt hat, ist mir völlig egal, und wenn sie’s in Technicolor geträumt hat«, sagte er barsch. »Ich verlange, dass alle Besudle für den Rest des Vormittags abgesagt werden.«

Lennard zog die Aufmerksamkeit der Schwester auf sich und legte seine Dienstmarke vor sie auf. den Tisch. »Ich möchte Jaime Dodson sprechen«, sagte er.

Er hatte keine Gelegenheit, ihre erregte Stimme zu hören. Der Mann im Tweedanzug legte den Telefonhörer auf und wandte sich ihm brüsk zu. »Das geht nicht«, sagte er. »Keinesfalls im Laufe der nächsten Stunde.«

Lennard blickte ihn mit halbzugekniffenen Augen an. »Ich bin Captain Lennard von der Kriminalpolizei«, sagte er. »Ich habe meinen Besuch bei Dr. Pitman angemeldet.«

»Pitman hat mit dieser Sache nichts zu tun.« Mit seinem Vollmondgesicht erinnerte der Mann an einen streitlustigen Engel. »Ich bin Dr. Curry. Mr. Quentin hat mich zugezogen, um seinen Mandanten zu untersuchen.«

»Zugezogen? Gibt es nicht genug Ärzte im Hospital?«

»Ich bin Psychiater«, sagte Curry. »Und jetzt werden Sie mich freundlichst entschuldigen - ein Patient wartet auf mich.«

Curry schritt eilig durch die Halle auf den breiten Mittelgang zu, der dem internen Verkehr des Krankenhauses diente. Vor einer geschlossenen Tür blieb er stehen. Die Hand auf der Klinke, drehte er sich um - und sah Lennard neben sich stehen.

»Dodson ist schon von zwei Psychiatern untersucht worden«, protestierte der Polizeibeamte. »Beide stellten fest, dass er geistig normal ist.«

Curry öffnete die Tür. »Tut mir leid«, sagte er, »ich kann Sie nicht hineinlassen.«

»Aber ich bin dienstlich hier.«

»Das tut nichts zur Sache. Sie müssen trotzdem warten, bis ich fertig bin.«

Damit betrat Curry eilig das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Am Krankenbett saß Steve Quentin, ein blonder, etwa vierzigjähriger, besonnen und energisch aussehender Mann. Seinem Gesicht war die Anspannung der letzten zweiundsiebzig Stunden anzumerken, doch hatte er trotzdem die erforderliche halbe Stunde gefunden, um sich zu rasieren und umzukleiden; zum Schlafen war er allerdings nicht gekommen.

Er fragte gespannt: »Wer war das?«

Dr. Curry näherte sich dem Bett. »Ein schlechtgelaunter Kriminaler«, sagte er. »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken...« Jetzt stand er über den Patienten gebeugt. Jaime atmete mühsam; sein Kopf bewegte sich rastlos auf dem Kissen hin und her. Curry blickte auf. »Wie lange ist er schon in diesem Zustand?«, fragte er scharf.

»Wie meinen Sie das?«

»Es muss ihn etwas aufgeregt haben.«

Quentin zögerte. »Vielleicht der Lärm soeben in der Halle draußen«, vermutete er.

Currys gefurchte Stirn glättete sich. »Möglich«, sagte er. »Manchmal reagiert ein Patient auf solche Weise. Das ist individuell verschieden; man weiß nie genau, was man zu erwarten hat... Sind Sie sicher, dass diese Unterhaltung nötig ist, Quentin?«

»Allerdings«, erklärte Steve. »Ich habe die Untersuchungsergebnisse der amtlichen Psychiater studiert und ich weiß, dass Lennard hier ist, um Jaime vor den Untersuchungsrichter zu laden. Der Indizienbeweis gegen ihn ist ziemlich schwerwiegend. Ich werde ihn vielleicht gegen eine Mordanklage zu verteidigen haben. Wie kann ich das, wenn sein Geist blockiert ist?... Verstehen Sie das nicht, Doktor? Jaime kann sich an nichts erinnern, was sich zwischen seinem vom Diener belauschten Streit mit seiner Schwester und dem Augenblick, als man ihn, fast eine Stunde später, beim Karussell am Hanson-Pier auffand, ereignet hat. Ich will wissen, was diesen Gedächtnisverlust verursacht hat.«

Dr. Curry rückte einen Stuhl an das Bett heran. »Wollen Sie bitte die Vorhänge zuziehen, Mr. Quentin?«, sagte er. »Ich möchte keine Ablenkung und keinen Lichteinfall. Patienten unter Narkose sind höchst beeinflussbar.«

Steve Quentin ging zum Fenster. Der Wachmann stand noch immer träge an das Geländer gelehnt da; sein Interesse galt einem kleinen Boot mit rotem Segel. Quentin zog langsam die Vorhänge vor. Seine Augen folgten dem roten Segel, bis es verschwand, doch nahmen sie das Bild gar nicht richtig auf, weil Dr. Curry hinter ihm bereits angefangen hatte, nach einem Stück verlorener Zeit zu forschen.

»Jaime, hören Sie mich? Jaime, ich möchte Ihnen helfen.«

Steve zog mit einem Ruck die Vorhänge vollends zu. Jaime hatte nun die Augen geöffnet und starrte verwirrt ins Leere.

Dr. Curry sprach leise und eintönig weiter: »Erinnern Sie sich an die Party bei Ihrer Schwester?«, fragte er.

Jaimes Mund bewegte sich unsicher. »Sheilah«, sagte er mit belegter Stimme.

»Ja. An die Party bei Sheilah.«

»Acht Uhr.«

Curry nickte. »Die Einladung war für acht Uhr. Aber Sie kamen früher. Der Diener sagt, Sie seien schon vor sieben gekommen. Er brachte etwas zu trinken...«

Jaimes Miene hellte sich auf. »Martinis«, sagte er. »Albert Trenchs Spezialmischung.«

»Worüber haben Sie und Sheila gesprochen?«

Hier setzte Widerstand ein; Jaimes Geist kämpfte gegen seine Erinnerungen. Seine Finger zupften nervös an den Betttüchern.

»Trench hörte Sie streiten«, bohrte Curry nach. »Worüber, Jaime?«

»Wegen Greta«, sagte Jaime. »Wegen meiner Freundin.«

»Passte Sheilah Ihre Freundin nicht?«

»Ihr gefiel nie ein Mädchen, das mir gefiel. Ich habe sie gewarnt. Ich verlangte von ihr, sie dürfe Greta nichts sagen. Ich sagte ihr...« Jaime schien seine Zuhörer zu vergessen. Sein Tonfall änderte sich, wurde scharf und zornig. »Ich werde Greta heiraten... Du kannst mich nicht daran hindern... Nein, das kannst du nicht!«

Curry warf einen Blick auf Steve. Der stand, den Rücken der Tür zugewandt; sein Gesicht war leicht verschwitzt. Er wollte etwas sagen, aber Curry brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Was erwiderte Sheilah, als Sie ihr das sagten?«, fragte er weiter.

»Sie sagte: Ich entlasse dich, Jaime. Ich habe es Steve gesagt. Ich entlasse dich ohne einen Cent.«

»Entlassen? Woraus?«

»Aus dem ganzen Geschäft... Aus allem... Ich glaubte es ihr nicht. Ich schrie sie an. Ich warf mein Glas nach ihr. Sie wich zurück und fiel hin...«

Jaimes Stimme brach ab. Sein Erinnerungsvermögen verweigerte den Dienst. Er wand sich krampfhaft, im Kampf gegen irgendeinen privaten Dämon. Als er zum zweiten Mal aufblickte, stand Steve am Fußende seines Betts.

»Neben der Leiche wurde ein zerbrochenes Glas gefunden«, sagte Steve. »Ein Glas, das Martini enthalten hatte.«

Curry schien verwundert: »Was soll das heißen - »Sheilah hat es Steve gesagt»?«, fragte er.

»Ich erkläre es Ihnen später. Hören Sie, Dr. Curry, dies hier ist wichtig. Es ist der Punkt, bei dem es in Jaimes Gehirn zu einer Blockierung kommt: Sheilah fiel hin. Er hat die gleiche Geschichte schon ein dutzendmal erzählt, aber hier bricht sie immer ab. Sheilah fiel hin.«

Curry wandte seine Aufmerksamkeit erneut dem auf dem Bett liegenden Patienten zu. »Jaime, was geschah, nachdem Sheilah gestürzt war?«, fragte er deutlich.

Sie warteten. Die Stille im Raum hatte etwas Gespanntes, wie ein angehaltener Atem. Aus dem Korridor drangen leise die Geräusche der geschäftigen Krankenschwestern herein.

»Was geschah, Jaime?«, fragte Curry nochmals.

»Sheilah stürzte... Sie glitt aus, als ich das Glas nach ihr warf.« Die Worte kamen nur stockend über seine Lippen, er musste sich jede Silbe abzwingen. »Ich bückte mich und griff nach dem Feuerhaken...« Jaime schwieg ein paar endlose Sekunden. »...und dann erschlug ich sie«, sagte er.

Die ungeheure Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, das Geständnis aus dem dunkelsten Winkel seines Bewusstseins hervorzuzerren, erschöpfte Jaime völlig. Nun schien er auf den Kissen zusammenzusinken.

Curry sah auf Steve. Dem standen vor übermäßiger Anspannung Schweißperlen auf der Stirn. Seine Augen waren angstvoll auf Jaime gerichtet. Curry wandte sich wieder dem Bett zu.

»Sie griffen nach dem Feuerhaken und brachten Ihre Schwester um?«, wiederholte er leise.

»Ich habe sie getötet! Ich habe sie getötet!«

Und dann brach Jaime zusammen. Er drückte sein Gesicht in die Kissen und schloss die Augen vor dem Grauen, das Curry aus seinem Bewusstsein gelockt hatte. Er zitterte am ganzen Leib. Steve entfernte sich - unbemerkt von Curry, dessen Aufmerksamkeit auf Jaime gerichtet war. Er ging mit raschen Schritten auf die Glastür zu, öffnete sie und ging hinaus. Es wehte jetzt ein leichter Wind; frische Luft und Morgensonne wirkten wie Balsam auf seine überreizten Nerven. Er fand in seiner Tasche eine Zigarette und sah zu, wie der Wachmann ein Feuerzeug hervorholte.

»Wie geht es ihm?«, fragte der Mann.

Steve warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Eine der Schwestern sagte, man wolle es mit Hypnose versuchen«, erklärte der Wachmann.

»Mit einer Narkose«, verbesserte Steve. »Es geht ihm ganz gut.«

»Mir scheint, es gibt heutzutage alles Mögliche, um einem Menschen in die Seele zu gucken.«

Steve hielt das Feuerzeug mit fester Hand, aber er fühlte sich so dicht neben einem Mann, dessen Augen nach Information dürsteten, unbehaglich. Er dankte und wanderte auf der Rampe weiter. Jetzt gab es kein rotes Segel mehr am Horizont, aber er konnte den Strand und darüber die aufragende Klippe sehen, wo der Sonnenschein auf dem Glasdach von Sheilahs Haus glitzerte. Ganz wie Sheilah selbst wirkte es in seiner Schlichtheit und in der Kampfansage gegen jede Konvention dramatisch. Manche mochte das Haus schockieren - genau wie auch Sheilah manche Menschen schockiert hatte. Doch das war niemals ihre Absicht gewesen. Das Ungewöhnliche, Einmalige, Unabhängige gehörte zu ihrem Wesen. Kein Mann hatte sie jemals wirklich gekannt, am wenigsten Steve Quentin. Seine vergessene Zigarette verbrannte ihm den Finger. Er warf sie ärgerlich fort; es war kein geeigneter Zeitpunkt für morbide Erinnerungen.

 

Als Dr. Curry aus Jaimes Zimmer auftauchte, war Steve bei seiner letzten Zigarette angelangt. Auf der Rampe konnten die beiden nicht miteinander sprechen, denn der Wächter war noch in Hörweite. Sie kehrten ins Krankenzimmer zurück, wo Jaimes Bett jetzt hinter einem Paravent verborgen stand.

»Er schläft«, sagte Curry, »aber für Sie ergibt sich da ein Problem. Als ich den Patienten aus der Narkose weckte, wusste er nichts mehr von seinem Geständnis.«

»Tatsächlich?«, fragte Steve verblüfft.

»Das ist nichts Ungewöhnliches - ich habe es schon öfters erlebt. Wenn das Erlebnis, das die Schuld ausgelöst hat, stark genug ist, verschließt sich der Geist dagegen und nimmt es nur im Zustand der Hypnose oder in Narkose auf. Und ist der Patient nicht mehr in diesem Zustand, dann wird die bedrohliche Erkenntnis wieder ins Unterbewusstsein zurückgedrängt.«

»Das ist doch unglaublich!« Steve ging um den Paravent herum und blickte auf das Bett. Im Schlaf hatte Jaime etwas Kindliches. Sein Gesicht war empfindsam und unschuldig, sein Mund entspannt und sinnlich. Etwas an ihm erinnerte an Sheilah - der Knochenbau, die schmale Nase.

»Dr. Curry«, sagte Steve nachdenklich, »glauben Sie, dass Jaime Dodson, wenn ich ihn jetzt zur Zeugenbank brächte, unter Eid aussagen könnte, dass er seine Schwester nicht umgebracht hat?«

»Nein, ganz sicher nicht«, antwortete Curry. »Er könnte nur wieder genau dasselbe aussagen wie vor meinem Eintreffen, nämlich dass er im Streit mit seiner Schwester ein Glas nach ihr geworfen hat und sich an sonst nichts erinnert.« Dr. Curry vergrub die Hände in die Taschen seiner Jacke und betrachtete Steve mit seinen von buschigen Brauen beschatteten Augen. »Und wir haben keine Niederschrift seines Geständnisses«, setzte er hinzu.

»Es würde auch nichts ändern, wenn wir eine hätten«, sagte Steve. »Die Justiz erkennt Aussagen, die mit Hilfe einer Injektion von Barbituraten herausgeholt wurden, nicht an.«

»Warum haben Sie dann...«

»Warum ich Sie das Experiment durchführen ließ? Für mich, in meiner Eigenschaft als Jaimes Rechtsanwalt. Dass er gestehen und dann die ganze Erinnerung an sein Geständnis wieder verlieren würde - aus die Idee wäre ich nie gekommen!«

»Was werden Sie tun?«

Steve antwortete erst nach einigen Sekunden. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen; der Raum lag im Halbdunkel. Er fühlte, wie Currys Augen ihn beobachteten. Endlich sagte er:

»Ihn verteidigen.«

»Obwohl Sie wissen, dass er schuldig ist?«

»Aber das weiß ich doch eben nicht! Es waren keine Fingerabdrücke auf dem Feuerhaken. Nur Blutflecken. Es gab keinen Augenzeugen bei dem Mord, sondern nur einen Mann, der Jaime wenige Minuten, bevor die Leiche gefunden wurde, wegfahren sah. Bei der Verteidigung Jaimes gedenke ich alles, was heute hier geschehen ist, beiseite zu lassen. Schockiert Sie das?«

»Ich bin nicht so leicht zu schockieren«, gestand Curry. »Aber wie steht es nun mit mir? Was soll ich mit alldem anfangen, was heute hier vorgefallen ist?«

»Sie werden nicht als Zeuge vernommen werden.«

»Aber, Mr. Quentin, ich kann doch einen Mord nicht einfach ignorieren!«

Curry war ein hartnäckiger Mann, wahrscheinlich ein Mann mit einer inneren Berufung. Steve taxierte ihn nun als einen Gegner, aber die Gesetze waren auf seiner Seite - und die Gesetze waren Steve Quentins ureigenstes Gebiet. Er ließ nicht locker.

»Bitte, dies hier ist für mich mehr als eine juristische Angelegenheit«, sagte er. »Ich kenne Jaime Dodson seit seinem zweiten Lebensjahr. Ich kannte seine Schwester. Sie war eine herrschsüchtige Frau, und das führte zu Reibungen. Aber Jaime ist kein Verbrecher!«

»Nun schockieren Sie mich aber wirklich«, sagte Curry. »Ist denn ein Mord kein Verbrechen?«

»Sie haben ja das Geständnis gehört. Es war ein Verbrechen aus Leidenschaft und provoziertem Zorn. Beinahe etwas wie ein Unfall!«

Steve blickte erneut auf Jaime herab; Jaime schlief und war sich der Diskussion, die um ihn geführt wurde, in keiner Weise bewusst. Bei Gericht würde er ebenso wenig Schuldbewusstsein zeigen wie jetzt. Er würde Zeugenaussagen hören, die ihn nicht minder verwirren würden als die Geschworenen. Er würde eine Unschuld an den Tag legen, die keine noch so raffinierte Vernehmung in Verlegenheit bringen würde.

»Nein, Dr. Curry«, sagte Steve, »das Geständnis hat nichts zu bedeuten. Wenn die Justiz es nicht als Beweis anerkennt, so erkenne auch ich es nicht an. Sheilah hätte nicht gewünscht, dass das Leben ihres Bruders zerstört wird. Mein Gewissen wird rein sein.«

Steves Tonfall war feierlich, als spräche er über sich selbst ein Urteil aus. Er wandte sich befriedigt ab und wollte den Raum verlassen, doch Curry stellte sich ihm in den Weg.

»Für Sie ist das eine recht bequeme Lösung, Mr. Quentin«, sagte er, »aber ich habe noch eine Frage. Wie steht es mit meinem, Gewissen?«

  Zweites Kapitel

 

 

Das Gerichtsgebäude der Grafschaft Marina stammte aus der Zeit des Generals Fremont und der Republik Kalifornien. Ein imposanter, mit Weinlaub bedeckter, durch Zeit und Meeresluft verwitterter und mit Stuck verzierter Portikus führte in eine Halle mit dicken Mauern und einem fliesenbelegten Fußboden. Am anderen Ende gelangte man durch schwere Doppeltüren zum Gerichtssaal, wo auf Verlangen von Staatsanwalt Ryan eine öffentliche Verhandlung über den Tod Sheilah Dodsons abgehalten wurde. Es war eine hässliche Angelegenheit. Ryan, dessen Familie die Gegend bewohnte, seit ein früher Ryan, Abenteuerlust und Habgier folgend, sich dem Rush auf die Goldgruben angeschlossen hatte, hatte für Sheilah Dodson nichts übrig gehabt. Tief im Herzen hegte er Misstrauen gegen eine Frau, deren Erfolg nicht in erster Linie auf ihrer Funktion als Gattin und Mutter beruhte. Aber Sheilahs Talent und Fleiß hatten dem Städtchen Ansehen und Erfolg gebracht - heute verlieh ihm ihr gewaltsamer Tod eine weniger erfreuliche Berühmtheit. Cypress Point zog im Augenblick einen Typ Leute an, die die Stadt gar nicht mochte: sensationslüsterne Journalisten, Vertreter der Nachrichtendienste, Schaulustige. Wenige Stunden nach Jaimes Entlassung aus dem Hospital hatte eine schlichte Trauerfeier stattgefunden, und das vulgäre Benehmen jener Fremden bei diesem Anlass war zehn Tage später noch nicht vergessen. Je früher die unliebsame Angelegenheit erledigt war, umso besser.

Infolgedessen berief Coroner Arthur Swenson, sobald es möglich war, eine Jury von Bürgern ein, die berechtigt waren, Zeugenaussagen anzuhören und gegebenenfalls die Anklage gegen einen Verdächtigen bei einem so offensichtlichen Mord zu erheben. In dem kleinen Gerichtssaal sammelte sich die lokale Elite und gab ihre Berichte in einer Atmosphäre sorgfältig eingedämmter Erregung ab.

Am Abend ihres Todes hatte Sheilah Dodson eine improvisierte Party geben wollen. Auf der Gästeliste befanden sich die fünf Menschen, die in engster Verbindung mit ihren geschäftlichen Unternehmungen standen: ihr Bruder und Partner Jaime Dodson, dessen Braut Greta

Muldoon, das Ehepaar Cyrus und Tilde Shepherd, die - er als kommerzieller Berater und sie als Innenarchitektin - bei Sheilahs letztem Projekt, dem Kulturzentrum von Cypress Point, mitarbeiteten, und ihr Rechtsanwalt und langjähriger Freund Steve Quentin.