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Zuerst war nur die Angst, die kalte, gedankenlose Angst. Und dann rannte er davon. Er hatte keine Zeit, sich klarzumachen, dass das etwas ganz anderes sei, dass das ganz und gar nicht dasselbe sei... Er konnte sich an nichts mehr erinnern als an den verblüfften Ausdruck in den Augen des Mannes und an das schmale Gerinnsel, das über seine Hemdbrust züngelte...
Marty Weaver versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er zermarterte sich schon seit langem das Hirn - seit einer Stunde vielleicht oder vielleicht seit fünf Minuten. Er stand hinter der verdreckten Spitzengardine, zwischen der Dunkelheit seines billigen Zimmers und der Dunkelheit der Beach Street, und dachte angestrengt nach. Aber er konnte sich nur auf ganz belanglose Einzelheiten besinnen - wie der Fuß ihm weh tat, als er die steile gelbe Böschung zur Beach Street hinaufstolperte, und wie die fernen Konturen eines alten Hafenschuppens mit dem Dunkel dort unten zu verschmelzen schienen. Aber was er gar nicht begreifen konnte, war der Gegenstand in seiner Hand. Er betrachtete ihn abermals in dem trüben Fensterschein, und dann schlug er mit der Faust zu, unwillig und heftig, so dass das verdammte Ding sich in den schäbigen Firnis eines kleinen Lampentischchens bohrte. Wie auf ein Signal flammten unten auf der Straße die Lichter auf, und in ihrem Abglanz stak es empor gleich einem winkenden Finger...
Helen Nielsen (* 23. Oktober 1918 in Roseville, Illinois; † 22. Juni 2002 in Prescott, Arizona) war eine US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin.
Der Roman Im Schatten jener Stunde erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
HELEN NIELSEN
Im Schatten jener Stunde
Roman
Apex Crime, Band 116
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
IM SCHATTEN JENER STUNDE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Zuerst war nur die Angst, die kalte, gedankenlose Angst. Und dann rannte er davon. Er hatte keine Zeit, sich klarzumachen, dass das etwas ganz anderes sei, dass das ganz und gar nicht dasselbe sei... Er konnte sich an nichts mehr erinnern als an den verblüfften Ausdruck in den Augen des Mannes und an das schmale Gerinnsel, das über seine Hemdbrust züngelte...
Marty Weaver versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er zermarterte sich schon seit langem das Hirn - seit einer Stunde vielleicht oder vielleicht seit fünf Minuten. Er stand hinter der verdreckten Spitzengardine, zwischen der Dunkelheit seines billigen Zimmers und der Dunkelheit der Beach Street, und dachte angestrengt nach. Aber er konnte sich nur auf ganz belanglose Einzelheiten besinnen - wie der Fuß ihm weh tat, als er die steile gelbe Böschung zur Beach Street hinaufstolperte, und wie die fernen Konturen eines alten Hafenschuppens mit dem Dunkel dort unten zu verschmelzen schienen. Aber was er gar nicht begreifen konnte, war der Gegenstand in seiner Hand. Er betrachtete ihn abermals in dem trüben Fensterschein, und dann schlug er mit der Faust zu, unwillig und heftig, so dass das verdammte Ding sich in den schäbigen Firnis eines kleinen Lampentischchens bohrte. Wie auf ein Signal flammten unten auf der Straße die Lichter auf, und in ihrem Abglanz stak es empor gleich einem winkenden Finger...
Helen Nielsen (* 23. Oktober 1918 in Roseville, Illinois; † 22. Juni 2002 in Prescott, Arizona) war eine US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin.
Der Roman Im Schatten jener Stunde erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Zuerst war nur die Angst, die kalte, gedankenlose Angst. Und dann rannte er davon. Er hatte keine Zeit, sich klarzumachen, dass das etwas ganz anderes sei, dass das ganz und gar nicht dasselbe sei... Er konnte sich an nichts mehr erinnern als an den verblüfften Ausdruck in den Augen des Mannes und an das schmale Gerinnsel, das über seine Hemdbrust züngelte...
Marty Weaver versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er zermarterte sich schon seit langem das Hirn - seit einer Stunde vielleicht oder vielleicht seit fünf Minuten. Er stand hinter der verdreckten Spitzengardine, zwischen der Dunkelheit seines billigen Zimmers und der Dunkelheit der Beach Street, und dachte angestrengt nach. Aber er konnte sich nur auf ganz belanglose Einzelheiten besinnen - wie der Fuß ihm weh tat, als er die steile gelbe Böschung zur Beach Street hinaufstolperte, und wie die fernen Konturen eines alten Hafenschuppens mit dem Dunkel dort unten zu verschmelzen schienen. Aber was er gar nicht begreifen konnte, war der Gegenstand in seiner Hand. Er betrachtete ihn abermals in dem trüben Fensterschein, und dann schlug er mit der Faust zu, unwillig und heftig, so dass das verdammte Ding sich in den schäbigen Firnis eines kleinen Lampentischchens bohrte. Wie auf ein Signal flammten unten auf der Straße die Lichter auf, und in ihrem Abglanz stak es empor gleich einem winkenden Finger.
Aber nein, es ist doch nur ein Messer, dachte Marty. Wie kann man so dumm sein, sich davor zu fürchten?
Das Licht, das durchs Fenster fiel - das einzige Licht im Raum - verwandelte sein Gesicht zu einer Maske. Ein dunkelhäutiges, trotziges Gesicht, das kantige Kinn ein wenig zu weit vorgeschoben und die Augen ein wenig zu tief in den Höhlen. Obwohl sein Mund etwas Streitlustiges hatte, sah Marty Weaver im Grunde genommen wie ein Mensch aus, der das Leben nur hinnimmt, weil es ein Geschenk ist, das man nicht zurückgeben kann. Das war seltsam, denn hinter dem Schleier der Angst war Marty Weaver noch ein junger Mann.
Nun vergaß er für einen Augenblick die Gedanken, die sich in seinem Kopfe türmten, und spitzte die Ohren. Unten zu ebener Erde spaltete ein langer Flurgang das uralte Haus von der gähnenden Eingangstür bis zur Küche, und die langsamen, schlurfenden Schritte Martha Macks wanderten der ersten kühlenden Abendbrise entgegen. Jetzt würde sie in der Haustür unter dem Fenster stehen, das grobknochige Gesicht mit einer zerknüllten Schürze abwischen und eine verirrte graue Haarsträhne aus der Stirne zurückstreichen - oder vielleicht nur regungslos mit den länglich geschlitzten, müden Augen auf die Straße hinausstarren. Gott sei Dank, dass die Straße leer war. Ein wenig früher, und Martha hätte, als er nach Hause kam, bereits in der Türe gestanden -, bei dem Gedanken an diese Eventualität wurden seine Handflächen feucht, und die Kinnmuskeln strafften sich. Es lag etwas Feindseliges in Martha Macks Haltung. Aber schließlich waren ja alle oder fast alle Menschen feindselig gegen ihn eingestellt. Marty warf den Kopf zurück und sagte sich, der Mensch sei ein einsames Tier, und im Übrigen wolle er’s nicht anders haben. Und dann geschah etwas unten auf der Straße, und Marty stand vor sich selber als ein kläglicher Lügner da...
Folgendes geschah - nichts weiter: Ein junges Mädchen, ein schlankes Mädchen mit kupferrotem Haar trat aus dem Schatten in den Lichtkreis einer Laterne, und mit dieser einen kleinen Bewegung versank die übrige Welt in blasses Nichts. Sie gehörte nicht zur Straße, das konnte man gleich sehen. Sie war zu jung, und die Augen, die sie automatisch zu Martys Fenster erhob, waren viel zu groß. Er trat vom Fenster zurück, als ob ihr Blick durch die Gardine dringen könnte, und beobachtete sie, während sie nach einem Entschluss rang.
Es dauerte nicht lange. Sie stand ein Weilchen ganz still, dann ballte sie die Fäuste tief in den Taschen ihrer frischgebügelten Baumwolljacke und marschierte auf das alte Pensionshaus zu.
»Guten Abend, Mrs. Mack!«, sagte sie. Die Worte schwebten durch das offene Fenster herein. »Heute war es aber richtig heiß, nicht wahr?«
Marty wusste genau, wie die antwortende Stimme klingen würde: kalt, hart und voll alter Bitterkeit.
»Sie sind wohl nicht den weiten Weg gelaufen, um mit mir übers Wetter zu schwatzen.«
»Nei-ein.« Nun war’s nicht leicht für sie, nicht leicht für ein junges Mädchen, das seinen Stolz hat. »Ich - ich dachte, am Strand wird es kühler sein.«
Martha Mack schnaubte durch die Nase. »Und so ein Spaziergang von einem Ende der Stadt zum andern wirkt erst recht abkühlend! Oh nein, Janet Keith, Sie müssen sich schon was Besseres ausdenken! Auf solche Märchen fällt Ihnen niemand rein.«
Von seinem Platz am Fenster aus konnte Marty nicht das vielsagende Lächeln hinter diesen Worten sehen, aber er hatte es schon oft genug gesehen, um zu begreifen, warum das junge Mädchen sich plötzlich steif aufrichtete und mit einer jähen Gebärde den Kopf zurückwarf. »Eins ist sicher!«, sagte sie schroff. »Ich bin nicht hergekommen, um mich mit Ihnen herumzustreiten.«
»Eins ist sicher!«, sagte ein mürrisches Echo. »Bevor Marty Weaver aufgetaucht ist, haben Sie nie Ihre kostbare Zeit damit verschwendet, den Weg zu uns zu finden. Aber über den Geschmack lässt sich eben nicht streiten.«
»Ist Marty zu Hause?«
Marty wartete ebenso eifrig auf eine Antwort wie Janet Keith. Als er zurückkam, hatte er niemanden im unteren Flur gesehen, aber bei Mrs. Mack konnte man nie ganz sicher sein. Manchmal schien sie ihre Augen in jedem Winkel des Hauses zu haben.
»Ich habe eine höfliche Frage gestellt, Mrs. Mack...«
In diesem Augenblick hätte es beträchtlich mehr als eine höfliche oder unhöfliche Frage erfordert, um Martha Macks Aufmerksamkeit von dem Geräusch abzulenken, das sie im Dunkeln aufgeschnappt hatte. Nur die allerschärfsten Ohren konnten Albert Macks Schritte hören, aber seine Mutter hatte sich jahrelang darin geübt. Ein paar Sekunden später kam ein hochgewachsener, hohlbrüstiger junger Mann aus den Schatten herbeigeschlendert, stellte mit Besitzergeste den einen Fuß auf die unterste Stufe des hölzernen Vorbaus und schob einen runzligen Panamahut aus der Stirn. Albert Mack ähnelte seiner Mutter. Das längliche Gesicht schien seine verbitterte Miene von ihr geerbt zu haben, und seine Stimme hatte einen so unsympathischen Ton, dass alles, was er sagte, selbst die harmlosesten Äußerungen, beleidigend wirkten. »’n Abend, Jan! Darf man sich an der Debatte beteiligen - oder störe ich ein vertrauliches Trätschchen?«
Janet wandte sich ihm zu. »Haben Sie Marty gesehen?«
»Marty?« Der Name schien Albert nicht sehr zu schmecken, und er antwortete nicht gleich. »Aber ja, natürlich hab’ ich ihn gesehn«, sagte er schließlich. »Viel zu viel - den ganzen Vormittag lang. Aber seither nicht mehr. Was ist denn los, Schatz? Hat der Lausekerl Sie wieder einmal versetzt?«
»Wir waren nicht verabredet. Ich dachte bloß, vielleicht ist er zu Hause, falls er nicht Überstunden macht - oder sonst was...«
Das war dumm von ihr. Selbst Marty fand ihre Bemerkung hoffnungslos dumm, und er wünschte zu Gott, sie möchte aufhören, ihn zu verteidigen. Es war doch schließlich Samstagabend, und am Samstagabend werden in der Konservenfabrik keine Überstunden gemacht.
»...oder sonst was«, wiederholte Albert nachdenklich. »Das kann alles Mögliche bedeuten!« Aber Janet hatte ihm bereits den Rücken gekehrt.
»Schauen Sie nicht mich an«, erklärte Martha Mack entschieden. »Ich habe den Herrn seit dem Frühstück nicht mehr gesehen. Ich bin eine Zimmervermieterin und kein Auskunftsbüro. Ich könnte Sie ja auch, wenn er zu Haus’ wär’, anlügen und sagen, er ist nicht zu Haus - wenn ich mir einbilden würde, es tät’ was nützen. Aber ich bin zu alt, um an Wunder zu glauben.«
»Warum sollten Sie mich anlügen?«, sagte Janet aufbegehrend. »Wenn ich Marty besuchen will, dann ist das doch meine Sache und geht weder Sie noch Albert etwas an!«
Du vergeudest deine Zeit, Janet. Du verschwendest deinen Atem, dachte Marty, während er wartend an dem dunklen Fenster stand. Es gibt Dinge, über die kann man nicht diskutieren - zum Beispiel Marthas Gefühle für ihren Sohn. Warum wirft ein nettes Mädel wie Janet Keith sich an einen Taugenichts wie Marty Weaver weg, obwohl ein Albert existiert! Was hat sie denn an Albert auszusetzen? So ziemlich die ganze Stadt hätte ihr diese Frage beantworten können, aber Martha Mack würde doch nur den Kopf geschüttelt haben - ebenso wie niemand ihr einreden könnte, es sei an einem unbekannten Herumtreiber wie Marty Weaver ein gutes Haar zu finden. Und damit hatte sie vielleicht recht. Ja, Janet, damit hatte sie vielleicht recht...
»Natürlich geht’s mich was an, wenn ich sehe, wie ein nettes Mädel wegen eines lächerlichen Niemand den Kopf verliert!« Das war die Formulierung der Mrs. Mack.
»So denken Sie!«, erwiderte Janet.
»So denke ich, und ich bin um ein paar Jährchen älter als Sie. Und was ich sage, ist gar nichts gegen das, was Ihre Tante sagen wird, wenn sie von der Sache Wind bekommt. Aber nur immer los, gehen Sie rauf und schauen Sie selber nach, ob Marty zu Hause ist oder nicht. Mir ist viel zu heiß, ich will nicht wegen nichts und wieder nichts treppauf und treppab rennen.«
Janet blickte zum Fenster hinauf, und Marty stockte der Atem. Sie würde doch wohl nicht heraufkommen - sie würde doch um Gottes willen nicht heraufkommen. Und dann sah er, wie sie den Kopf hängen ließ, und da wusste er, dass die Gefahr vorüber war.
»Es ist eine Affenschande!«, murmelte Albert. »So mancher hätt’ nichts dagegen, Sie auszuführen, Jan. So mancher...«
Janet war schon halb auf der anderen Seite der Straße. Sie ging geduckt, trug den Kopf nicht mehr hoch, und da rief Martha hinter ihr her: »Albert wird Sie nach Hause begleiten!« Aber Janet antwortete nicht und drehte sich auch nicht um. Sie hatte den Lichtkreis der Laterne erreicht, bevor Albert mit einigen langen stelzenden Schritten an ihrer Seite landete. »Albert wird Sie nach Hause begleiten!«, sagte er äffisch.
Marty sah die beiden davongehen, und plötzlich stiegen ihm alle die Worte, die er nie aussprechen konnte, in die Kehle, so dass die Stille ihn zu würgen begann. »Jan...«, flüsterte er. Aber sie war bereits seinen Blicken entschwunden. Nur das Messer ragte vor dem Fenster empor, trennend zwischen ihm und ihr, und er wusste, so würde es nun für immer sein.
In der oberen Stadt, an der Pacific Street, hatte die Nacht ein ganz anderes Gesicht. Dort strahlten die Neonlichter in hellem Glanz, und die vergnügungshungrigen Wochenendscharen, die sich aus den benachbarten Dörfern und den umliegenden Höfen rekrutierten, erweckten die Illusion eines dichtbevölkerten Ortes. Aber es war nur eine Illusion. Am nächsten Morgen würde die entzauberte Szene wieder nur eines jener breit hingeräkelten Städtchen zeigen, die einstmals daran gegangen waren, Metropolen zu werden, und dann die ganze Chose abgeblasen hatten.
Am Fuße der Pacific Street - am Rande des Neongürtels - steht das Grandview-Hotel - das Hotel zur schönen Aussicht - ein Gebäude, das seinen Namen zu Unrecht trägt. Es ragt prächtige drei Stockwerke hoch gen Himmel, aber selbst vom Dachfirst aus sind nur ein paar beiläufige Eckchen Bucht zu sehen, zwischen den vierkantigen Geschäftshäusern jenseits der Straße und der verwitterten Fassade des Rathauses jenseits der Plaza. Kurz nach neun, gerade als Albert Mack Janet nach Hause zu begleiten begann, verließ Homer Snyder sein Amtszimmer in dem fast völlig verdunkelten Rathaus, ging über die Plaza und betrat das Vestibül des Grandview-Hotels. Er war ein massiger Kerl. Nicht fett, nur massig, und das gemächliche Lächeln, das die Gewohnheit in sein breites Antlitz eingefurcht hatte, war von ähnlichen Dimensionen. Er ging geradenwegs zum Tabakstand, kaufte eine Büchse Pfeifentabak und die Sonntagszeitungen, die soeben mit dem Zug aus San Francisco gekommen waren, und nahm den Hut ab, um mit einem zerknautschten Taschentuch das Schweißleder abzuwischen.
Ein alter Mann blickte von der Dame-Partie auf, die im Friseurladen am anderen Ende des Vestibüls im Gange war, und rief mit schallender Stimme: »Heut’ ist es schon zu spät für'n Haarschnitt, Homer, bedaure!«
Das Gelächter - Marke Friseurladen -, das diesen Worten folgte, wanderte zu dem Tabakstand und dem kleinen, hohlwangigen Männlein in der Portierloge. Homer lachte mit, es war bequemer so. Seit seiner Studentenzeit war er bis auf einen feinen blonden Haarkranz kahlköpfig gewesen, und in den zwanzig Jährchen, die seither verstrichen waren, hatte der Friseurladenhumor sich nur wenig gewandelt. Freilich wurden sie es mit der Zeit müde, ihn »Krausköpfchen« zu nennen, aber das tat Homer fast leid. Der Klang seines richtigen Vornamens erweckte stets einen leisen unbehaglichen Verdacht in ihm, dass er eigentlich verpflichtet wäre, eine Toga und um die Stirn einen Lorbeerkranz zu tragen.
»Guten Abend, mein Freund!« zwitscherte der kleine grauhaarige Mann in der Portierloge, nachdem der Friseurwitz an Überanstrengung verschieden war. »Und wie gefällt Ihnen heute Nacht die übelduftende Welt?«
Homer lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Tisch. »Nur übelduftend?«, sagte er lächelnd. »Das letzte Mal hieß es anders: Ein faules Komplott gegen alles Vergessen.«
»Süßes Vergessen!«, sagte der kleine Mann zurechtweisend. »Das war der Anfang der Woche. Wenn der Samstag angerollt kommt, bin ich nicht mehr so richtig in Form.«
Es war durchaus nichts Wahres an dem Gerücht, dass Lew Masters bereits in der Portierloge gestanden habe, als rund um ihn das Grandview-Hotel aufgebaut wurde. Aber selbst Homer, der sein ganzes Leben in diesem Städtchen zugebracht hatte, konnte sich kaum erinnern, ihn jemals anderwärts erblickt zu haben. Vielleicht lag es daran, dass man ganz einfach über ihn hinwegsah, wenn er nicht hinter dem massiven Pult stand, das die Blicke auf sich zog.
»Was höre ich? Ihre Frau hat Sie schnöde verlassen?«, fragte er jetzt, und für einen Augenblick glänzte seine billige Zahnprothese zwischen lächelnden Lippen.
»Stimmt!«, sagte Homer seufzend.
»Ist sie nach Los Angeles zu ihren Leuten gefahren?«
»Auch das stimmt.«
Lew legte sein schmales Köpfchen zur Seite und musterte die Züge des andern. »Nur eine kleine Sommervisite?«, sagte er forschend. Homer lachte.
»Wozu Zeit verschwenden, Lew!«, sagte er. »Wann ist es je vorgekommen, dass Ihnen jemand was erzählt hat, das Sie nicht schon gewusst hätten? Sie sind schlimmer als eine alte Klatschtante an einem Gesellschaftstelefon.«
»Es ist eine Kunst!«, erwiderte Lew stolz. »Menschenkenntnis, gepaart mit der Fähigkeit, Augen und Ohren offen und den Mund geschlossen zu halten.«
Dieser letzte Ausspruch stimmte nicht so recht mit den Tatsachen überein, aber Homer hatte keine Gelegenheit, zu protestieren. In dem Friseurladen war ein kleiner Krakeel mit großer Lautstärke ausgebrochen, und Lews Blutdruck begann jäh in die Höhe zu schnellen. »In dieser Räuberhöhle ist ein ehrlicher Mensch seines Lebens nicht sicher«, jammerte er. »Und so treiben sie’s die ganze Nacht durch, wenn ich mich nicht auf raffe und sie hinausjage!«
»Machen Sie keine Geschichten!«, sagte Homer ermahnend. »Harmlose Leutchen.«
»Ja, aber natürlich - lauter harmlose Leutchen, allemal -, wenn man nicht gerade auf den verrückten Einfall kommt, schlafen zu wollen. Und wir haben Gäste im Hotel, sind sehr komisch! Sie lieben es gar nicht, wenn im Vestibül schlagartig die Hölle los ist.«
Lew hätte seine Worte sorgfältiger wählen sollen, das wurde ihm in dem Augenblick klar, da er Homers Augen aufleuchten sah. »Apropos Hölle...«, begann er, und Lew fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
»Haben Sie von unserem kleinen Disput gehört?«
»Ich habe von eurer kleinen Schlägerei gehört.«
»Aber nein, Homer, oh nein - von einer Schlägerei kann nicht die Rede sein. Eine kleine Meinungsverschiedenheit unter Freunden! Sie wissen doch, wie junge Leute manchmal sind, wenn sie über den Durst getrunken haben.« Aber das machte keinen Eindruck auf Homer. »Wieweit reicht die Freundschaft, wenn man mit den Fäusten aufeinander losgeht? Lind was für ein Volk habt ihr neuerdings bei euch wohnen? Ich hatte immer gedacht, das Grandview sei ein anständiges Hotel.«
»Es war kein Hotelgast...«
»Ist Francis Palmer kein Hotelgast?«
»Palmer hat nicht angefangen... Sondern dieser kleine Idiot - der Mack'sche Sohn - mit seinem Jähzorn...«
»Und Palmer mit seinem flinken rechten Haken hat Schluss gemacht!«, fügte Homer hinzu. »Na schön, Lew, schön. Ich weiß, die Verluste waren gering. Trotzdem schmeckt mir die Sache nicht. Wir haben’s hier immer sehr ruhig gehabt, bevor Palmer anfing, bei uns einzukehren und Leben in die Bude zu bringen. Sagen Sie Ihrem guten Freund von mir, entweder muss er mit den Jungs ehrliches Spiel spielen, oder ich komme und nehm’ ihm die Karten weg. Vergessen Sie nicht, ihm das zu sagen!«
Bekümmert sein, lag Lew Masters mit am besten, und er wusste nie genau, wann Homer als Offiziosus auftrat und wann er ihn nur zum Narren hielt. »Ja, ja, ich werde es ihm sagen«, versicherte er eifrig, »aber mein Freund ist er nicht. Kaum taucht er auf, beginnt das Telefon mich rasend zu machen. Da fällt mir übrigens ein - haben Sie den Frauenliebling kürzlich gesehen?«
Homer grinste. »Hat das Telefon Sie schon wieder geärgert?«
»Ja. Gerade bevor Sie kamen. Eine ,sie‘ mit einer angenehmen Stimme. Sie wollte ihn durchaus sprechen.«
»Warum haben Sie sich nicht ihre Nummer geben lassen, Lew? Ich bin heute Abend ganz allein mit der Badewanne und den Witzblättern.«
»Wo Ihre Frau nicht in der Stadt ist! Homer, Sie werden alt.«
Oft und oft fiel es Homer ein, dass man seine Zeit besser anwenden könne, als mit Lew Masters zu plaudern, und nun war es wieder einmal so weit. Der Portier ergötzte sich immer noch an seinem hochoktavigen Lachen, als Homer den Zeitungspacken fester unter den Arm klemmte, die andere Hand leicht zum Gruße erhob und sich dem Ausgang zuwandte. Er hatte genau drei Schritte getan, da machte er auf der Stelle kehrt und ging an die Loge zurück. »Versuchen Sie’s mit dem alten Case«, schlug er vor. Lew blinzelte. »Was soll denn das wieder heißen?«
»Sie suchen Francis Palmer. Vielleicht ist er bei Case. Er hat mit dem Alten geschäftlich zu tun.«
»Nicht solche Geschäfte!«, sagte Lew kichernd. »Und nach dem Klang der Stimme zu urteilen, kann Francis froh sein, dass er momentan nicht ihre süße Nähe genießt. Er soll sich mit der schönen Natur und mit dem Nuttchen begnügen, wegen dessen er die Dame versetzt hat.«
Homer zuckte die Achseln. »Es ist mir nur so eingefallen! Übrigens ist dort oben, wo Case wohnt, die Natur nicht eben zu verachten.«
Nachdem Homer das Hotel verlassen hatte, ging er ein paar Häuserblocks die Pacific Street entlang, bog dann links ab und begann zu dem Höhenviertel hinaufzusteigen. Er ließ die Kinoreklamen hinter sich, die Neonlichter und die Straßen, die sich allmählich leerten bis auf einige verstreute Gruppen vor den Milchbars und Kneipen. Die meisten Passanten, die ihm begegneten, nickten ihm zu oder wechselten einen Gruß, denn so ziemlich alle Bewohner des Städtchens kannten den Polizeichef, kannten und achteten ihn - oder fürchteten ihn, wenn sie zu der kleinen Minorität gehörten, die sich seinen offiziellen Unwillen zugezogen hatte. Es passierte nicht viel in der Stadt, nur das Übliche - Halbwüchsige, die ein wenig über die Stränge schlagen, ab und zu eine Prügelei, alle heiligen Zeiten mal ein richtiger Auflauf, wenn einige liebeskranke Jünglinge von der in der Nähe gelegenen Flottenbasis sich die Unrechten Mädchen und die Unrechten Kneipen aussuchen... Aber es war Homers Heimatort, und obgleich er überzeugt war, er würde sich auch anderswo durchschlagen, blieb er gerne dort, wo er sich zu Hause fühlte.
Das Bergansteigen ging nicht mehr so leicht wie vor fünf oder zehn Jahren, und Homer fragte sich mit einigem Missvergnügen, warum denn seine Gattin immer das Auto mitnehmen müsse, wenn sie nach Los Angeles fuhr. Er hätte natürlich einen Dienstwagen benützen können, aber der Anblick eines Polizeiautos macht gewisse Leute nervös. Nach einer Weile blieb er stehen, um Atem zu schöpfen und in den Taschen seines zerknitterten grauen Anzugs nach einer Pfeife für den Tabak, den er gekauft hatte, zu angeln. Und da merkte er, wo er ganz ohne Absicht haltgemacht hatte. Der Rasen sah eine Ahnung samtweicher aus als alle anderen Rasenflächen, und das große Haus, fast verborgen hinter dichtem Gesträuch, machte den Eindruck, als habe es seit Anbeginn der Welt dort gestanden. Homer wenigstens hatte stets diesen Eindruck gehabt. Sowohl von dem alten Hause wie von dem alten Mann, der drin wohnte.
Ohne Sampson Case gäb’s die Stadt nicht, das wusste jedes Kind. Seine Konservenfabrik hielt das Karussell im Gang, und der Alte persönlich leitete die Fabrik - wie lange schon, das entzog sich der Beurteilung eines Menschen in Homers Jahren. Der alte Case! Nachdenklich polierte Homer den Pfeifenkopf und versuchte, mit sich ins Reine zu kommen. Es gab nur wenige Menschen, die so richtig mit dem Alten bekannt geworden waren - er war empfindlich und menschenscheu -, aber Homer hatte ihm nahegestanden oder sich zumindest einige Jahre lang eingebildet, ihm nahezustehen. Es hatte zu einer Zeit begonnen, da er noch ein neugieriger Schuljunge war ohne die leiseste Spur von Klassenbewusstsein und ohne jeden Respekt vor schmiedeeisernen Gittern. Irgendwie, vielleicht durch reine Unverfrorenheit, war es ihm gelungen, sich einen Weg in die Bibliothek des Alten, in sein Vertrauen und schließlich sogar zu seinem Herzen zu bahnen.
Sie waren Freunde gewesen, gute Freunde, bis der Alte vor drei Jahren dieses Frauenzimmer aus San Francisco mitbrachte. Dieses Frauenzimmer! Homer versuchte, die Worte um- und umzudrehen, damit sie als Mrs. Case her- hauskämen, aber vergebens. Er versuchte sich einzureden, dass er altmodisch sei - dass sie mit ihrem Aussehen und der Alte mit seinem Gelde ein ideales Paar bildeten. Und dann, ohne recht zu merken, was er tat, stieß er das eiserne Tor auf und ging auf das Haus zu.
Etwas kam ihm an diesem Abend nicht ganz richtig vor, vielleicht hatte er sich deshalb entschlossen, anzuklopfen. Alle Fenster unten und oben waren hell erleuchtet, als ob ein Ball stattfände. Das war aber der dümmste Gedanke, den man sich einfallen lassen konnte. Nie, nicht in all diesen Jahren war im Hause Case ein Fest gefeiert worden. Homer blieb an der breiten, reich geschnitzten Tür stehen und klingelte. Das hohle Echo hallte durch den Gang hinter der Tür, und nach einer Weile hörte Homer langsame, unschlüssige Schritte herankommen. Die Schritte machten halt. Homer hatte den deutlichen Eindruck, die Person hinter der Türfüllung wartete nur darauf, dass der Besucher sich entferne. Aus reinem Trotz klingelte er noch einmal.
Ein dickbäuchiger alter Mann, die massigen Schultern vom Alter gebeugt, den silberweißen Kopf leicht vorgestreckt, blickte durch den Spalt der Tür, die er vorsichtig öffnete. Sampson Cases Besucher mussten darauf gefasst sein, mit einem finsteren Stirnrunzeln begrüßt zu werden. Es war, als ob er stets mit dem Schlimmsten rechne und nicht wenig erstaunt sei, wenn es anders kommt. »Ach so - Homer!«, sagte er schließlich. »Was ist denn los? Ist was passiert?«
Einen Augenblick lang war Homer durch die erschrockene Miene des Alten so sehr betroffen, dass er die Situation nicht gleich erfasste. Manchmal vergaß er seine Stellung und bildete sich ein, er könnte ganz ohne weiteres einen Bekannten herausklingeln, ohne ihm einen tödlichen Schrecken einzujagen. »Nichts ist passiert«, versicherte er schleunigst. »Ich komme nicht in amtlicher Eigenschaft - bin nur eben vorbeispaziert -
Er verstummte bedeutungsvoll, aber der Alte vertrat ihm noch immer den Weg.
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich gestört habe«, fügte er hinzu.
»Oh nein, Homer, keineswegs! Ich freue mich, Sie zu sehen. Es ist lange her...« Der Alte blinzelte wie eine Eule und verzog seine schlaffen Züge zu einem imitierten Lächeln. »Carl - mein Diener - hat seinen freien Abend, aber kommen Sie nur herein. Vielleicht kann ich uns was zu trinken verschaffen.«
Die Worte saßen richtig, aber alles andere stimmte nicht. Sampson Case sah nicht danach aus, als freute er sich über die Ankunft eines unerwarteten Besuchers. Sein Gesicht war von einer seltsamen Blässe, an der nicht nur das Licht des glitzernden Kandelabers schuld war. Die feiste Hand, die noch die Türkante umklammert hielt, zitterte ein wenig. Es lag in Homers Wesen, sich derlei Einzelheiten nicht entgehen zu lassen. Er zögerte. Er war selber verheiratet und glaubte zu verstehen...
»Danke, Mr. Case, danke bestens!«, sagte er. »Aber ich habe einen recht langen Tag hinter mir und muss mich nach Hause verfrachten. Ich wollte nur fragen, ob Francis Palmer bei Ihnen ist.«
Homer war es ganz egal, wo Palmer sich herumtrieb, aber er fühlte sich ein wenig zu alt, um nach Kleinkinder-Art zu klingeln und davonzurennen. »Francis?« Der Name hing ein Weilchen an den Lippen des Alten. »Warum fragen Sie mich?«
»Ich weiß, dass er die Reklamefirma vertritt, mit der Sie arbeiten, und da dachte ich mir, vielleicht ist er mit seinen Mustern bei Ihnen...«
Aber nicht das hatte der Alte gemeint. »Was wollen Sie von ihm?« Homer lächelte. Immer dasselbe, der übliche Argwohn gegen den Polizeimann, wenn er Fragen stellt. Selbst der Alte war nicht immun dagegen. »Ich will gar nichts von ihm«, sagte Homer hastig. »Lew Masters im Grandview hat ihn gesucht... Aber Sie kennen ja Lew. Wahrscheinlich ist es etwas ganz Unwichtiges.«
Nun konnte wohl der Alte erleichtert aufatmen, die trockenen Lippen befeuchten, abermals ein Lächeln hervorzwingen, die Türkante loslassen -, aber aus irgendeinem Grunde tat er nichts dergleichen, sondern stand da mit einem Gesicht, als ob ihm totenübel wäre.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Homer.
»Wie? Nein... Warum...? Nein, nein.« Endlich erschien wieder das flüchtige Lächeln auf des Alten Gesicht. »Ja, und was Francis betrifft - er ist nicht bei mir. Ich bin ganz allein.«
»Allein?«
»Ja, mit meiner Frau. Meine Frau fühlt sich nicht wohl. Sie ist schon zu Bett gegangen.«
»Das tut mir aber leid...«, begann Homer. Der Alte unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Nichts Ernsthaftes«, sagte er schnell. »Ich glaube, es ist die Hitze. Ich habe die Absicht, sie in die Berge zu schicken, bis es kühler wird.«
»Das ist vernünftig«, sagte Homer zustimmend. »Meine Frau, die will immer runter zu ihren Leuten, aber ich ziehe allemal die Berge vor. Vielleicht kann ich mir später ein paar Wochen freinehmen.« - Vielleicht sollte ich Zusehen, schleunigst von hier wegzukommen, dachte er. Zu wenig Platz in der Tür für uns beide... »Na, hoffentlich wird es Mrs. Case bald wieder besser gehen.«
Es war nicht das erste Mal in Homer Snyders Leben, dass man ihm eine Tür vor der Nase zumachte, aber es war das erste Mal, dass es so wehtat. Ein schiefes Lächeln lag um seine Lippen, während er über den langen Kiesweg zu dem schmiedeeisernen Tor zurückspazierte. Ja, lieber Freund, es ist wirklich vieles anders geworden, seit der Alte dieses Frauenzimmer aus San Francisco mitgebracht hat!
Ja, vieles ist anders geworden, aber die Stadt ist dieselbe geblieben. Das ist immerhin schön. Homer stand am Rande der samtenen Rasenfläche und sah sich um. Das war das alte Villenviertel mit großen Grundstücken und Akazienalleen. Ihm aber gefiel sein kleines Häuschen oben in den Hügeln am allerbesten. Er liebte es, auf die Stadt hinunterzuschauen, die Wegzeichen zu zählen und die Verkehrsadern zu verfolgen, kreuz und quer bis zu der Stelle, wo die lose gereihten Perlen der Lichter in der Beach Street die Grenze des festen Landes markierten. Beach Street - die Hafenstraße. Warum dachte er plötzlich an die Beach Street? Vielleicht war es der Anblick der jungen Janet Keith - er konnte sich noch an die Zeit erinnern, da sie im Kinderwagen lag -, die mit Albert Mack am Arm vorüberkam. Eine sonderbare Kombination! Damit zündete Homer seine Pfeife an und begab sich auf den Heimweg.
Inzwischen war es völlig finster geworden. Eines der Lichter in der Beach Street zeichnete ein Viereck an die Decke über Martys Kopf, der auf dem Bette lag und emporstarrte. Das alte Pensionshaus war nur noch ein Schatten unter den Schatten der Nacht, und weit dort unten, wo die Küste ins Nichts zerrinnt, lag ungestörtes Dunkel über dem Toten auf dem Boden des Lagerschuppens.
Marty Weaver sah das erste blasse Licht des Morgens über die Zimmerdecke herankriechen, und es war wie das Wiedersehen mit einem geliebten alten Freund. Lange Stunden hindurch hatte er sich damit zu trösten versucht, dass diese Nacht ein Ende nehmen müsse, dass am Morgen alles ein anderes Gesicht haben würde. Dass morgens alles ein anderes Gesicht hatte, war die bedeutsamste Entdeckung seines Lebens.
Es war keine besonders schöne Dämmerung - feucht, mit tief hängendem Nebel verbrämt; der Tag würde kühler werden, Gott sei Dank! Der Nebel wirkte beruhigend, und Marty wurde plötzlich von dem Verlangen gepackt, so weit und so tief in den Nebel hineinzuwandern, dass er nicht mehr zurückfände und nie mehr nachzudenken brauchte. Er hatte nicht geschlafen - hatte sich nicht einmal ausgezogen bis auf die Schuhe, die er jetzt vom Fußende des Bettes heranholte -, aber er empfand keine andere Müdigkeit als die, die er schon ewig, ewig lange mit sich herumschleppte.
Irgendwann im Laufe der Nacht hatte er das Bett für eine Weile verlassen, um das belastende Messer in die schmale Schublade des Lampentischchens einzuschließen, ohne recht zu wissen warum. Es sei denn, dass er den Anblick satt hatte. Als er sodann leise aus dem Zimmer schlüpfte, die dunkle Treppe hinunter und hinaus in die sonderbare Stille, die der Sonntagmorgen ist, dachte er nicht mehr an das Messer. Er wusste genau, wo er hinwollte. Der Strand gehörte den Kindern und den alten Damen mit ihren Schoßhündchen, aber weiter abseits an der Küste gab es eine Stelle, wo nur ein schmaler Streifen Sand sich zwischen der See und dem hochragenden Ufer vorbeizwängte und wo der Mensch so einsam sein konnte, wie Gott ihn geschaffen hat.
Er beeilte sich, als hätte er etwas zu versäumen. Er kam rechtzeitig an sein Ziel, um im Sande zu sitzen und zuzuschauen, wie hinter dem zerrinnenden Nebel das Meer hervorzutreten begann. Bald würde die Sonne zum Vorschein kommen und ein neuer Tag mit neuen Plagen beginnen. Unterdessen aber herrschte tiefer Frieden. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen und schlief ein und träumte, dass er im warmen Sonnenschein ausgestreckt im Sande liege und Janet neben ihm sitze, ihn mit ihrem Lächeln liebkosend...
Marty machte die Augen auf und sah, dass es kein Traum war.
»Wach nicht auf«, sagte sie. »Ich sehe dich so gern schlafen.«
Es war nicht recht von ihr, ihn so anzuschauen - jung und frisch, das Haar im Sonnenglanz wie ein Heiligenschein. Niemand hat das Recht, Marty Weaver so anzuschauen.
»Hab’ ich geschnarcht?«, fragte er.
»Nur ein kleines bisschen, wie ein Hündchen.« Wieder lächelte sie, beinahe rasch genug, um die feinen Sorgenfalten um den Mund zu verbergen. »Du bist schon so früh unterwegs. Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Ich wusste nicht, ob du Lust hast, mitzukommen.«
»Wolltest du, dass ich mitkomme?«
Er zögerte nur ganz kurz. »Nein. Nein. Ich wollte nicht...«
»Genauso wie gestern Abend?«
»Genauso wie gestern Abend.«
Jetzt sollte sie weglaufen. Zuerst vielleicht wütend werden, schimpfen und allerlei aufführen und ein wenig heulen, schließlich aber davonlaufen... Das Schlimme war, sie rührte sich nicht.
»Ich wusste die ganze Zeit, dass du zu Hause warst.« Sie drehte den Kopf, bis es ihr gelang, den Blick auf seine bekümmerten Züge zu heften. »Ich glaube nicht, dass Mrs. Mack es gewusst hat, aber ich hab’s gewusst. Warum wolltest du nicht herunterkommen?«
Marty richtete sich jäh auf, von einem finsteren Zorn erfüllt. Er war nicht auf Janet zornig, er wollte ihr nicht wehtun, aber früher oder später musste es sein, und warum nicht lieber früher als später... »Wir haben das alles schon hundertmal durchgekaut. Ich habe dich versetzt - na also -, was willst du sonst noch wissen?«
»Jetzt sprichst du wie Albert.«
»Vielleicht hat er recht.«
»Vielleicht hat er unrecht. Ja, Marty, wir haben es hundertmal durchgekaut, und das letzte Mal dachte ich, jetzt sei alles klar. Und plötzlich fällst du wieder über mich her. Was ist los? Was ist passiert? Habe ich was angestellt?«
»Du hast nichts angestellt«, sagte Marty verdrossen. »Es hat bloß keinen Zweck.«
»Dann hat also Mrs. Mack wieder auf dich eingeredet. Ich weiß, sie ist entschlossen, uns zu trennen. Aber warum denn, Marty? Was geht es sie an?«
Darauf brauchte Marty nicht zu antworten, beide kannten nur allzu gut ihre Gründe. Unwillig kickte Janet mit dem Absatz den Sand. »Fällt mir nicht ein, ihr kostbares Söhnchen auch nur anzuschauen. Albert ist ein so hervorragender Charakter!«
»Vielleicht nimmt die alte Dame an, dass du eine Schwäche für hervorragende Charaktere hast«, sagte Marty mit einem schiefen Lächeln. »Und vielleicht hat sie recht.«
»Marty...!«