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Riehls Roman, der erst nach seinem Tode erschienen ist, erzählt die Geschichte des Alfred Saß, der sich und sein Vermögen uneigennützig zum Wohle anderer einsetzt und am Schluss dafür belohnt wird.
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl
Inhalt:
Wilhelm Heinrich Riehl – Biografie und Bibliografie
Ein ganzer Mann
Erstes Buch. Das Museum im Haderturm.
Erstes Kapitel. Im Wächterstübchen.
Zweites Kapitel. Herrenturm und Haderturm.
Drittes Kapitel. Das Reklamebild.
Viertes Kapitel. Das Testament.
Fünftes Kapitel. Umkehr und Rückzug.
Sechstes Kapitel. Das Mädchen aus der Fremde.
Siebentes Kapitel. Der Direktor wider Willen
Zweites Buch. Freundschaft in des Lebens Not.
Erstes Kapitel. Im Wächterstübchen.
Zweites Kapitel. Du kannst, weil du sollst.
Drittes Kapitel. Der Zeitlose.
Viertes Kapitel. Wetterleuchten.
Fünftes Kapitel. Die Uebernahme.
Sechstes Kapitel. Vom Nordkap nach Athen.
Siebentes Kapitel. Der Ewige Jude.
Achtes Kapitel. Die Ehrendame.
Neuntes Kapitel. Enthüllung
Zehntes Kapitel. Die Gratulanten.
Elftes Kapitel. Kaspar in der Zange.
Zwölftes Kapitel. Weihnachten und Neujahr.
Drittes Buch. Das Glück des Lebens und die Liebe.
Erstes Kapitel. Im Wächterstübchen.
Zweites Kapitel. Widerspruch überall.
Drittes Kapitel. Die wandernden Komödianten.
Viertes Kapitel. Marie Armgard.
Fünftes Kapitel. Sedanfeier.
Sechstes Kapitel. Ein standesmäßig warmes Herz.
Siebentes Kapitel. Bekenntnisse.
Achtes Kapitel. Mein Besuch in Frankenfeld.
Ein ganzer Mann, W. H. Riehl
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849633967
www.jazzybee-verlag.de
Namhafter kulturhistorischer Schriftsteller, geb. 6. Mai 1823 in Biebrich a. Rh., gest. 16. Nov. 1897 in München, studierte in Marburg, Tübingen, Bonn und Gießen, redigierte seit 1846 mit Giehne die »Karlsruher Zeitung«, begründete dann mit Christ den »Badischen Landtagsboten« und gab, nachdem er zum Mitgliede der deutschen Nationalversammlung gewählt worden, 1848 bis 1851 die konservative »Nassauische allgemeine Zeitung« heraus, während er zugleich mit der musikalischen Leitung des Hoftheaters in Wiesbaden betraut war. Nachdem er 1851–53 bei der Redaktion der Augsburger Allgemeinen Zeitung tätig gewesen, folgte er 1854 einem Ruf als Professor der Staats- und Kameralwissenschaften nach München, wo er 1859 die Professur der Literaturgeschichte übernahm und 1862 Mitglied der Akademie der Wissenschaften ward. 1885 wurde er zum Direktor des bayrischen Nationalmuseums ernannt. Er schrieb: »Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik«, in 4 Bänden: Band 1: »Land und Leute« (Stuttg. 1853, 10. Aufl. 1899), Band 2: »Die bürgerliche Gesellschaft« (1851, 9. Aufl. 1897), Band 3: »Die Familie« (1855, 12. Aufl. 1904; Band 1–3 auch in Schulausgaben von Th. Matthias, Stuttg. 1895 bis 1896), Band 4: »Wanderbuch« (1869, 4. Aufl. 1903); »Die Pfälzer« (das. 1857, 2. Aufl. 1858); »Kulturstudien aus drei Jahrhunderten« (das. 1859, 6. Aufl. 1903); »Die deutsche Arbeit« (das. 1861, 3. Aufl. 1884); »Musikalische Charakterköpfe« (das. 1853–77, 3 Bde.; Band 1 u. 2 in 8. u. 7. Aufl. 1899); »Kulturgeschichtliche Novellen« (das. 1856, 5. Aufl. 1902); »Geschichten aus alter Zeit« (das. 1863–65, 2 Bde., u. ö.); »Neues Novellenbuch« (das. 1867, 3. Aufl. 1900); »Aus der Ecke, neue Novellen« (Bielef. 1875; 4. Aufl., Stuttg. 1898); »Am Feierabend«, 6 neue Novellen (Stuttg. 1880, 4. Aufl. 1902); »Lebensrätsel«, 5 Novellen (das. 1888, 4. Aufl. 1906), die letztern 6 Werke auch gesammelt als »Geschichten und Novellen« (das. 1898–1900, 7 Bde.); »Freie Vorträge« (das. 1873, 2. Sammlung 1885); »Kulturgeschichtliche Charakterköpfe, aus der Erinnerung gezeichnet« (das. 1891, 3. Aufl. 1899); »Religiöse Studien eines Weltkindes« (das. 1894, 5. Aufl. 1900) und eine Reihe kulturgeschichtlicher Abhandlungen in den Denkschriften der Münchener Akademie und der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Auch veröffentlichte er zwei Hefte Liederkompositionen u. d. T.: »Hausmusik« (Stuttg. 1856, 2. Aufl. 1859) und »Neue Lieder für das Haus« (Leipz. 1877). Unter Riehls Leitung erschien 1859–67 die »Bavaria«, eine umfassende geographisch-ethnographische Schilderung Bayerns in 5 Bänden. 1870–79 gab er das von Raumer begründete »Historische Taschenbuch« heraus. Nach seinem Tod erschien noch sein (einziger) Roman: »Ein ganzer Mann« (Stuttg. 1897, 4. Aufl. 1898). Vgl. Simonsfeld, Wilh. Heinr. R. als Kulturhistoriker (Münch. 1898). – Seine Tochter Helene machte sich als Landschaftsmalerin bekannt.
– – Sie lieben einen fröhlichen Gang durch Wald und Wiesen, über Berg und Thal. Die Natur ist nicht immer freundlich, aber sie ist doch immer – natürlich.
Ein erzählendes Buch lesen Sie gerne, wenn es Sie wie solch ein Gang in der freien Natur anmutet, – am liebsten, wenn Sie's sogar unter grünen Bäumen lesen möchten.
Aber auch in der engen Stube am trauten Winterabend oder an stillen Regentagen auf dem Lande nehmen Sie gerne einen Roman zur Hand, welcher Sie in gemütliche Stimmung versetzt und Ihnen zwischendurch ein behagliches Lächeln entlockt.
Sie suchen die Natur noch in der Kunst und vermögen sich noch an einer Sonate oder einem Quartett von Haydn oder Mozart herzinnig zu erquicken, wie nicht minder an einer Zeichnung von Schwind oder Richter.
Sie haben noch Sinn für eine Kunst, die mehr anregt als aufregt, für eine Kunst, die uns erwärmt, was doch etwas anderes ist als wenn es einem fortwährend heiß und kalt wird. Ich freue mich, Ihren Geschmack zu teilen.
Sie lesen ruhig und langsam, mit Pausen, das Gelesene überdenkend.
Sie erfreuen sich darum an wohlgegliederten Büchern, deren kleine und große Abschnitte für sich ein künstlerisch gerundetes Ganze sind und doch zur Einheit sich verweben. Es ist angenehm, wenn man ein Buch leicht weglegen kann und ebenso leicht wieder dazu zurückkehrt.
Die geschlossene Form in der Sonate hat ihren Reiz für Sie noch nicht verloren. Auch der Roman hat – gleich der ächten Novelle – seine Sonatenform.
Kurze Bücher, bei denen der Leser zuletzt bedauert, daß sie schon zu Ende, sind Ihnen angenehmer als lange, bei denen man sich quält, fertig zu werden.
Sie bewegen sich gerne in guter Gesellschaft, auch wenn Sie einen Roman lesen.
Sie rühmen es als ein besonderes Behagen, daß man sich bei einem fesselnden Roman einspinnen könne in die Zustände eines fremden Ortes, den wir nie besucht und in den Verkehr mit Menschen, die wir nie gesehen haben, daß wir mit diesen vertraut werden wie mit Freunden und zuletzt bedauern, wann der Verkehr zu Ende ist. Heitere Bilder, die Ihnen das Sonntagsgesicht der Menschen zeigen, sagen Ihnen mehr zu als Marterbilder, die uns all unsere Schlechtigkeit und Verkehrtheit grausam offen legen.
Man soll keinen Roman schreiben, den man vor seinen Kindern verstecken muß. So sagten Sie einmal. Darum braucht man doch noch lange keine Romane für Kinder zu schreiben.
Ein gesunder Roman, bei dessen Lektüre es dem Leser recht von Herzen wohl wird, dünkt Ihnen der zeitgemäßere. Denn solcher Bücher haben wir nur wenige und brauchten ihrer viele.
Sie begehren nicht politische, soziale, religiöse, ästhetische und andere Tendenzen in einer erzählenden Dichtung. Sie fordern nur, daß eine inhaltreiche Geschichte, bei der man sich etwas denken kann, schön und gut erzählt werde.
Sie sind noch jung; trotzdem weiß ich nicht, ob es selbst unter den alten Leuten noch viele gibt, die so köstlich altmodisch lesen und beurteilen wie Sie. Vielleicht erstehen solche Leser wieder unter der Jugend.
In Betracht Ihrer seltenen und seltsamen Gedanken vom Bücherlesen wage ich es, Ihnen meinen neuen Roman zu übersenden, hoffend, daß Sie ihn – – lesen werden, und nicht hinterdrein bereuen, ihn gelesen zu haben.
Die Stadtuhr auf dem Haderturm hatte heute früh um zehn Uhr zwölfmal geschlagen, um elf Uhr einmal, – um zwölf Uhr schlug sie gar nicht mehr.
Da sie auch weiterhin verstummte, so stieg der Ratsdiener Kaspar Zuckmeyer, welcher im Erdgeschoß des Turmes wohnte, am Nachmittag hinauf in das Stübchen des Turmwächters, um zu sehen, warum der Mann so lässig seines Dienstes walte. Denn die Uhr hatte kein Schlagwerk; der Wächter mußte vielmehr die Schläge jeder vollen Stunde mit eigener Hand an der Glocke angeben, zugleich zum Erweise seiner Wachsamkeit.
Mühselig hatte der Ratsdiener die oberste dunkle und steile Treppe erklommen und stand vor der Thür der Wächterstube, hoch oben, nahe der Turmspitze.
Heller Vogelgesang tönte ihm von innen entgegen; denn der Wächter hatte schon seit Jahren seine Einsamkeit durch eine ganze Hecke von Harzer Kanarienvögeln belebt.
Zuckmeyer klopfte kräftig an die Thüre: Niemand rief »herein!« nur die Vögel begannen zur Antwort lebhafter zu singen.
Als er die Thüre öffnete, fiel ihm der Abendsonnenschein durch das offene Fenster blendend entgegen, die roten und blauen Blumen durchleuchtend, welche dort standen, und warf einen hellen Schimmer in die Ecke, wo der Wächter – der alte Hans – im Lehnstuhle eingeschlummert lag – – entschlummert!
Denn als der Ratsdiener näher trat und den Schlafenden anrief und befühlte, fand er, daß sein alter Hausgenosse tot sei. Die Stadtuhr hatte aufgehört zu schlagen, als das Herz des Türmers zu schlagen aufgehört hatte. Und die Sonne strahlte so festlich, die Abendluft zog so belebend herein, die Blumen glühten und leuchteten, die Vögel sangen so vergnügt! Doch auch über dem Gesicht des Schläfers lag seliger Abendfriede: er war in Frieden heimgegangen.
Der Ratsdiener betrachtete den Toten eine Weile mildbewegt; dann durchrieselte ihn plötzlich ein Schauer, als er sah, wie eng sich hier Tod und Leben umschlang. Der Verstorbene hatte sich noch seinen Tisch gedeckt und auf dem Kochofen stand die erkaltete Suppe. Denn das Wächterstübchen war Küche, Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Neben dem Sessel lehnte das große Sprachrohr, mit welchem Hans »Feuer« auszurufen pflegte. Hatte er noch um Hilfe für sich rufen wollen, als ihn der Tod überraschte?
Wie einsam hatte er gelebt, wie einsam war er gestorben! Und doch nicht einsam. Er sah ja von seiner Stube hinab in die wimmelnde Stadt, hinaus in die weite Landschaft, und er hatte sich die Welt in seine Stube gezogen, indem er alle Wände mit kleinen Holzschnitten über und über beklebt hatte, die, aus Zeitungen und alten Kalendern ausgeschnitten, ihm Dutzende von Ereignissen, Oertlichkeiten und Personen stündlich vor Augen führten. Er war den Leuten so dankbar, wenn sie ihm solche Bildchen schenkten. Das wußte man drunten in der Stadt, und gute Menschen sammelten dergleichen für ihn und gaben die Bilder beim Ratsdiener ab, daß er dem Hans auf dem Turm wieder neue Gesellschaft bringe. Und Hans lebte so traulich und zufrieden mit seinen Vögeln und Blumen und Bildern, und wann er selber die Stunden schlug, dann wußte er, wie die Zeit zur Ewigkeit geht.
Dies alles flog dem Ratsdiener jetzt durch den Kopf: er sah den Lebendigen tot, und den Toten lebendig; – ein Grausen ergriff ihn. Der Gesang der Vögel gellte ihm wie ein Geisterchor in die Ohren. Er rief ihnen zu: »Seid stille; euer Herr ist tot!« Aber die Vögel antworteten auf diesen Zuruf, indem sie doppelt laut zwitscherten und schmetterten, und er erschrak vor seiner eigenen Stimme.
Den so friedlichen und doch so schauerlichen Ort in jäher Flucht verlassend, stürzte er die Treppen hinab und kam erst wieder zur Besinnung, als er in seiner Stube angelangt war.
Dann eilte er hinüber ins Rathaus, um dem Bürgermeister den plötzlichen Tod des Wächters zu melden.
»Der alte Hans war eine gute, treue Seele,« so schloß der Ratsdiener seine Meldung. »Gott gebe ihm die ewige Ruhe. Sein Tod thut mir wirklich leid. Allein« – hier wischte er sich eine Thräne aus dem Auge – »dieser Tod wird der Stadt noch nützlicher sein als es des Wächters Leben war. Jetzt muß der alte Haderturm doch endlich fallen. Ist der gute alte Hans nicht mehr, dann schlägt auch die Uhr nicht weiter, und wir können sie an einen andern Platz versetzen und mit einem eigenen Schlagwerk versehen. Ohne Uhr ist aber auch der Haderturm zu gar nichts mehr nütze und kann abgebrochen werden. Ich bin nicht abergläubisch. Allein zeigen nicht alte Häuser oft genug den baldigen Tod eines Inwohners an durch Krachen der Balken und Herabrieseln des Bewurfs? So hat auch der unerhört geschwinde Sterbfall des armen Hans das baldige Ende des Turmes angezeigt.«
»Ratsdiener, Ihr habt recht,« sagte der Bürgermeister. »Es kommt in der Politik überall nur darauf an, wie man die Sachen deutet, und gute Vorzeichen und ihre geschickte Deutung haben in den Römerzeiten manchmal eine halbe Armee aufgewogen. Der Haderturm muß fallen. Und der jähe Tod des Wächters soll unsre Partei stärken, er soll sie als ein neues Zeichen ermuntern, zur rasch entschlossenen That, daß endlich auch der Turm den jähen Todesstoß erhält.«
In den Urkunden, Akten und Büchern hieß der Haderturm eigentlich der »Herrenturm«, allein im Sprachgebrauch der ganzen Stadt Frankenfeld wurde er seit unvordenklichen Zeiten nur der Haderturm genannt.
Und nicht mit Unrecht. Denn seit seiner Erbauung bis auf den heutigen Tag hatten sich zahllose Geschichten von Streit und Hader an diesen Turm geknüpft.
Ein mächtiger, hoher Bau, verdankte er seinen Ursprung jenen blutigen Kämpfen zwischen Patriziern und Zünftlern, welche im 14. Jahrhundert so viele Städte Deutschlands durchtobten. Ungleich andern Städten jedoch hatten sie hier mit dem vollen Siege der patrizischen Geschlechter geendet. Um bei etwa erneutem Aufruhr von vornherein den besten Stützpunkt zu haben, erbauten die Patrizier dann den festen Turm, der mitten in die breite Hauptstraße und in die nächste Nähe des Rathauses gestellt, die ganze innere Stadt beherrschte und nach seinen siegreichen Erbauern der Herrenturm genannt wurde.
Das kleine Frankenfeld war damals noch Reichsstadt. Im folgenden Jahrhundert kam es unter landesherrliche Gewalt. Die trutzigen Bürger wollten sich anfangs den Verlust ihrer Freiheiten nicht so gutwillig gefallen lassen und lehnten sich, wo sie konnten, gegen den neuen Herren auf. Da erweiterte und verstärkte dieser den Herrenturm, legte eine ständige Besatzung hinein und machte ihn zum Zwing-Uri seiner nicht allzugetreuen Bürger.
Als dann später die Fürstengewalt immer stärker wurde und die Städter sich nicht mehr zu mucksen wagten, verlor zwar der Turm diese Bedeutung, allein ein Gegenstand des Streites blieb er doch immer, selbst als er in unserm Jahrhundert Eigentum der Stadt wurde. Die Bürger stritten sich jetzt über den Haderturm, wie sie früher vom Haderturme aus bestritten worden waren.
Der mächtige Bau, alle andern Gebäude der Stadt überragend, geräumig im Innern, an Lage und Gestalt fast dem »Altpörtel« in Speyer vergleichbar, hatte oberhalb des festen, gewölbten Erdgeschosses noch drei Stockwerke mit ansehnlichen Stuben und Kammern, über welchen dann ein gedeckter Umgang mit der Wächterstube den massiven Ausbau abschloß, der ganz oben von einem Zeltdache bekrönt war.
Zur Zeit unserer Geschichte war der Turm nur noch im Erdgeschosse von dem Ratsdiener bewohnt, und in der luftigen Höhe von dem Wächter. Die stattlichen Innenräume der drei Stockwerke dienten lediglich Mäusen, Ratten und Fledermäusen zum fröhlichen Tummelplatz, und unter dem Zeltdache nisteten die Dohlen..
Man schrieb 1869. Der deutsche Bund war versunken und das deutsche Reich noch nicht erstanden, Deutschland harrte großer Dinge, die sich erfüllen sollten, aber Niemand ahnte, daß sie so bald sich erfüllen würden. Einstweilen stritt man sich, wie zu aller Zeit, auch über kleine Dinge.
Seit mehreren Jahren ging eine heftige Bewegung durch die Frankenfelder Bürgerschaft: der Haderturm sollte abgebrochen werden. Die ganze Stadt war darüber in zwei Parteien gespalten, die sich recht gehässig befehdeten, und die »Turmfrage« hatte zuletzt den Frieden des geselligen Lebens völlig zerstört.
Jede der beiden Parteien trug einen Spitznamen, den ihr die Gegenpartei gegeben hatte. Doch das war nichts merkwürdiges; denn in der Stadt bekam überhaupt jeder Einzelne seinen Spitznamen, und die Stadt selbst erhielt einen solchen von den Nachbarorten. Wie man Darmstadt in Armstadt verwandelte und Schwalbach in Schmalbach, so hatte man Frankenfeld in Zankenfeld umgestaltet, wofür ja dann das hochragende Wahrzeichen des Haderturms ganz gut paßte. Kenner des deutschen Volkstums werden aus dieser Blüte der Spitznamen mit Recht schließen, daß Frankenfeld im rheinischen Mitteldeutschland liegt.
Die Freunde der Erhaltung des Turmes hießen die »Fledermäuse«, weil sie mit gleicher Liebe und Treue wie diese artigen Tierchen an dem alten Gemäuer hingen. Sie gaben aber ihren Gegnern den Spott zurück und nannten die Eiferer für den Abbruch, welche vorlängst auch schon die letzten malerischen Reste der alten Stadtmauer zerstört hatten, die »Mauerbrecher«. Dies war ein prophetisches Wort. Denn wenige Jahre später, als der Abbruch monumentaler Türme und Thore von Nürnberg einen Sturm der Entrüstung im ganzen gebildeten Deutschland hervorrief, hat Hermann Allmers den »Meistersängern von Nürnberg« die »Mauerbrecher von Nürnberg« in poetischer Satyre gegenübergestellt.
Die »Fledermäuse« in Frankenfeld wurden damals, wie auch anderswo, von den »Mauerbrechern« bedeutend überflügelt. Letztere hatten die Mehrheit im Rathause, bei den Bürgern, in der Presse, und die Regierung wollte ihnen nicht vor den Kopf stoßen, weil der Landtagsabgeordnete für Frankenfeld der hartköpfigste Mauerbrecher war. Ist doch damals auch anderswo gar manches Geschichtsdenkmal unsers Volkes politisch verschachert worden!
Die Mauerbrecher brachten in der That viele und vortreffliche Gründe für den Abbruch des Turmes vor, – wenigstens ganz dieselben, welche man auch an andern Orten hörte.
Der Turm, so sagten sie, stört den Verkehr, obgleich sehr wenig Verkehr zu sehen war und man auf der rechten und linken Seite mit zwei Heuwagen bequem um den Turm herumfahren konnte, während ein dritter Heuwagen durchs Thor mittendurch fuhr. Allein wir leben im Zeitalter des Verkehrs, und kein Mensch kann sagen, daß der Verkehr durch Türme gefördert werde.
Der Amtmann Schnaufer, ein eifriger Sonntagsreiter, war zwanzig Häuser vor dem Turme vom Pferd gefallen und behauptete, daß nur der Haderturm schuld daran gewesen sei, weil das Pferd vor seiner gespenstigen Erscheinung gescheut habe.
Der Turm warf abends seinen Schatten auf die Ratsapotheke, und der Apotheker, Herr Fink, erklärte, mehr Luft, mehr Licht seien die ersten Vorbedingungen zur »Assanierung« unserer Städte: der Turm müsse fallen aus Gründen der Hygiene. Statt seiner sollte – nach dem Vorschlag des Kattunfabrikanten Müller – ein kleiner Springbrunnen auf den Platz kommen, der seinen Schatten auf kein Haus, sondern nur aufs Straßenpflaster werfe. Man war bereits einig über einen Plan für denselben, der sich durch Neuheit auszeichnete: ein Meergott, auf einem Delphine reitend, bläst Wasser aus einem Muschelhorn. Dieser Gedanke hatte wenigstens durchaus nichts mittelalterliches, und gerade das Mittelalter war es, was den Stadtverordneten und Seifensieder Schröder – er sott Seife im großen – bei dem Haderturm am meisten ärgerte. »Weg mit dem Turme!« rief er. »Wir wollen keine Romantik, wir wollen Freiheit, Aufklärung, Neuzeit, Jetztzeit!« Beim Aussprechen des letzten Schlagwortes befiel ihn ein heftiges Niesen, und physiologische Sprachforscher behaupten, dieses schöne neue Wort lasse sich überhaupt besser ausniesen als aussprechen.
Weil alle übrigen reichsstädtischen Reste von Mauern, Türmen und Thoren Frankenfelds im letzten Jahrzehnt gefallen waren, so behaupteten die Mauerbrecher, der Haderturm könne doch jetzt unmöglich mehr allein stehen bleiben, er müsse verschwinden, damit man folgerecht sei und reinen Tisch mache. Die Fledermäuse aber sagten: umgekehrt, weil man so barbarisch gewesen, alle übrigen Denkmale der Väter zu zerstören, so müsse der einzige und schönste zur Zeit noch gerettete Rest, der stolze Herrenturm um so pietätvoller erhalten werden. So führte man die gleichen Thatsachen an, um völlig entgegengesetzte Folgerungen daraus zu ziehen, wie es auch sonst in Parteikämpfen nicht selten geschehen soll.
Am meisten schadete dem gotischen Bauwerk unsers Turmes jedoch der kleine Altan mit reizend durchbrochenem Steingeländer über dem Portal, der von Kennern für einen hochfeinen künstlerischen Schmuck erklärt wurde. Er hatte vordem sowohl zur Verteidigung des Portals gedient wie auch, um von dort herab das vor dem Rathaus versammelte Volk anzureden.
Der jetzt regierende Bürgermeister war anfangs schwankend gewesen, ob er zu den Fledermäusen oder zu den Mauerbrechern halten solle. Im Grunde gefiel ihm der alte Turm: hatte er ihn doch seit seiner früheren Jugend immer vor Augen gehabt, und was wir mit Kindesaugen oft und gern betrachtet haben, das bleibt uns auch später ins Herz gewachsen, als wäre es ein Stück von uns selber. So hatte der Bürgermeister unlängst den Entschluß gefaßt, dem Haderturm nach alter Sitte eine neue Weihe als Herrenturm zu geben, indem er am Geburtstage des Landesherrn den Altan über dem Portale bestieg, um von dort herab den zum Rathaus wallenden Festzug der Bürger mit feierlichen Worten zu begrüßen.
In dieser Rede war er aber zweimal stecken geblieben und hatte zuletzt aufgehört, nicht weil er fertig war, sondern weil er nicht weiter konnte.
Von Stund an verwandelte sich seine stille Neigung für den Turm in glühenden Haß. Es war ihm nun offenbar, daß der Haderturm zu gar nichts tauge, nicht einmal zu einer Volksrede. In der nächsten Ratssitzung warf er sein entscheidendes Wort für den Abbruch mit Leidenschaft in die Wagschale, wobei er jedoch keine Silbe von der Nichtsnutzigkeit des Altans sprach, wohl aber desto mehr von dem schweren Geld, welches die Erhaltung des alten Gemäuers zwecklos der Gemeinde koste.
Wenige Tage nachher erfolgte der jähe Tod des Turmwächters. Und nicht bloß der Ratsdiener, sondern auch andere Leute erkannten darin ein Vorzeichen, daß mit der letzten Stunde des Wächters auch des Turmes letzte Stunde geschlagen habe.
Am Nordwestrande der Stadt in schönster Sonnenlage breitete sich ein Kranz von Gärten, aus dem Thalgrunde zu den sanften Höhen ansteigend. Sie führten zusammen den alten Flurnamen »im Bangert« (Baumgarten). Seit den frühesten Zeiten hatten hier die wohlhabenden Bürger ihre Familiengärten besessen, die sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbten. Und in guten und bösen Tagen hatten sich hier die glücklichen Eigentümer – so nahe den engen Gassen des Städtchens – ländlicher Gemütlichkeit erfreut.
Viele dieser Gärten sahen denn auch heute noch altmodisch genug aus. Von Weißdornhecken umzäunt, bestanden sie zum größeren Teile aus Gemüse- und Obstpflanzungen, zum kleineren aus Blumenbeeten, die mit Buchs umrahmt waren. Halb verwahrlost, halb gepflegt konnten sie dem Auge eines Malers oder Poeten gefallen, während der Blick des Gärtners nur mit Mitleid auf ihnen ruhte. Ein jeder Garten hatte ein gemauertes altes Gartenhäuschen, welches so viel Raum bot, daß eine kleine Gesellschaft bei einfallendem Regen behaglich darin im Trockenen sitzen konnte. Diese Häuser wurden freilich fast nur noch zur Aufbewahrung von Gartengeräte benützt und waren baufällig und verwittert; die Großväter und Urgroßväter dagegen hatten sich in ihnen heiterer Geselligkeit erfreut, auch wenn es nicht regnete. An gar manchem Sommerabende waren da die Familien aus den Nachbargärten wechselnd zusammengekommen; eine jede brachte ihr Abendbrot in kalter Küche mit, der jeweilige Wirt spendete etliche Krüge Aepfelwein und wohl auch noch eine Flasche köstlichen Johannisbeerweines, der im Garten gewachsen war. Die Alten plauderten gemütlich, die Jungen schwärmten dazwischen für die »süße, heilige Natur«, und wann die Dämmerung hereinbrach, dann sangen alle zusammen, erhobenen Gemütes, Chorlieder von Hölty und Voß, von Miller und Claudius nach den schlichten Weisen des Meisters »im Volkston«, Johann Abraham Schulz.
Wie weit, weit weg liegt diese Zeit! Wir haben nur noch Sinn und Verständnis für das idyllische Behagen solch trauten Kleinlebens, wenn es uns im Stimmungsbilde der Vergangenheit vor die Seele tritt; es selber wieder lebendig zu machen und in uns zu erleben, vermögen nur die Wenigsten. Wir besitzen noch die alten Lieder »An die Zufriedenheit«, aber die Zufriedenheit besitzen wir nicht mehr.
Ein Einziger jener altmodischen Gärten, und zwar der größte und schönst gelegene, war neuerdings völlig umgestaltet worden. Er gehörte Herrn Alfred Saß, dem früheren Mitbesitzer, jetzt stillen Teilhaber der großen Maschinenfabrik »Hephästos«, deren rauchende Kamine sich vor dem Südende der Stadt erhoben.
Herr Saß hatte Geschmack und überflüssig viel Geld und Muße dazu, um seinem Geschmack zu huldigen. Die Weißdornhecke des Gartens war verschwunden, um einem kunstreich geschmiedeten Eisengitter mit vergoldeten Spitzen Platz zu machen, welches auf Granitwürfeln ruhte. Wer durch das monumentale Portal eintrat, den begrüßte ein kleiner Teich mit Springbrunnen, von Teppichbeeten aus gleichfarbigen Blumengruppen umgeben. Die ehemaligen Gemüseländereien waren in eine parkartige Anlage verwandelt. Das alte Gartenhäuschen war verschwunden; an seiner Stelle erhob sich ein Pavillon im zierlichsten modernen Rokokostil mit breit vorgelagerter Terrasse, deren Aufstieg rechts und links mit zierlichen Marmorfiguren geschmückt war. Von dieser Terrasse übersah man im Vordergrunde die ganze sanft ansteigende Gartenanlage und weiterhin die Stadt und das Thal und die Höhenzüge, welche den Hintergrund abschlossen.
Dort tafelte heute abend – es war am 25. Mai 1869 – eine äußerst fröhliche Gesellschaft.
Herr Saß hatte die Parteihäupter der »Mauerbrecher«, welche zugleich sämtlich Mitglieder des »Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs« waren, zu einem kleinen Gartenfeste geladen, wie er sich bescheiden ausdrückte. Er bewirtete seine Gäste mit Forellen und Pasteten und Braten und Hochheimer Domdechantei 1865er.
Das kleine Gartenfest sollte ein Jubelfest sein. Die »Fledermäuse« waren geschlagen, der Abbruch des alten Haderturms durch alle Instanzen bestätigt. Herr Saß wollte die Festesfreude seiner Freunde zugleich der ganzen Stadt sichtbar kundgeben. An den Bäumen des Gartens waren für den spätern Abend farbige Papierlaternen aufgehangen und zuletzt sollte ein Feuerwerk abgebrannt werden.
Doch bis dahin war noch geraume Zeit.
Nachdem die Siegesfreude sich überreich ausgebraust hatte, ergriff Herr Saß das Wort, um einen andern naheliegenden Gegenstand zur Sprache zu bringen. Er rief: »Verehrte Freunde! Wir stehen zusammen an der Spitze des ›Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs‹. Unser Verein, der wesentlich mitgewirkt hat, den Haderturm zu brechen, muß nun zeigen, daß die aufgeklärten Bürger Frankenfelds nicht nur zu zerstören, sondern auch aufzubauen wissen, und daß die von dem garstigen Turmungetüm befreite Stadt hiermit in eine neue Aera ihrer Entwickelung eingetreten ist. Ich schlage vor, daß wir ein großes Reklamebild von Frankenfeld anfertigen lassen, welches in den Wartsälen von tausend Bahnhöfen und in den Treppenhäusern von tausend Gasthöfen Deutschlands ausgehängt werden soll. Das Bild würde in der Mitte die Gesamtansicht der Stadt und in zehn kleinen Randzeichnungen die schönsten Einzelpartien von Stadt und Umgegend in Farbendruck darstellen. Am Fuße des Blattes steht gedruckter Text, der die Geschichte und Statistik ebenso kurz als lockend schildert. Ich habe darum heute schon den ersten Künstler Frankenfelds, Herrn Klodwig Stiefel, den hochberühmten Zeichenlehrer unsres Gymnasiums, hierher eingeladen« – (Herr Stiefel erhob sich und machte eine Verbeugung) –: »er wird die Photographien aller betreffenden Ansichten aufnehmen. Früher pflegte man dergleichen peinlich wahr zu zeichnen, wobei oft nichts effektvolles herauskam; die modernen Maler zeichnen nicht mehr nach der Natur, sie zwingen die Natur sich selbst abzuzeichnen. So wird auch unser Künstler die Sonne zwingen, daß sie unsre gute Stadt peinlich wahr zeichne, damit er selbst dann hinterher das Lichtbild in freiester Phantasie zu den lockendsten Effekten aufbessere und in Farbe setze.«
Wie anmutig lag Stadt und Gegend im Abendlicht vor den Beschauern, die nach den Worten des Herrn Saß minutenlang im Anblicke des Originals schwelgten, welches noch viel schöner auf dem Bilde wiedergeboren werden sollte!
»Auf der Anhöhe hinter der Pfarrkirche stehen fünf vereinzelte, ziemlich dürftige Tannenbäume,« bemerkte endlich der Ratsapotheker Fink.
»Ich werde sie zu einem Tannenwald verdichten!« rief Maler Stiefel.
»Aber das Schönste liegt fernab hinter den Tannen, das Gebirg mit der hohen Pyramide des Kreiselsteins,« fuhr der Apotheker fort.
»Nur schade, daß man' s im ganzen Stadtbilde nirgends sehen kann!« warf der alte Oberst Sickenwolf dazwischen, Oberst außer Dienst, der selbst bei Hochheimer Domdechantei seine gewohnte trockene Kritik nicht unterdrücken konnte.
»Allein man würde die stolze Gebirgskette sehen, wenn man sich in einem Lustballon tausend Fuß über unsern gegenwärtigen Standort erhöbe,« bemerkte eifrig der Bürgermeister Madenbach.
»Ich werde die ganze Kette samt dem Kreiselstein in zartester Luftperspektive auf dem Bilde anbringen,« rief der Maler begeistert. »Jeder Künstler hat das Recht, sich seinen Augenpunkt zu wählen wo er will. Ich werde Frankenfeld zur Gebirgsstadt machen.«
Der Oberst flüsterte vor sich hin, so »beiseite«, wie es in den Theaterweisungen heißt, wobei aber das ganze Haus die »beiseite« gesprochenen Worte muß hören können: »Man hat gesagt, auf den heutigen Reklamebildern pflegen die größten Lügen grün und gelb und braun und blau gemalt zu werden. Da nach einem bewunderten Dramatiker unserer Zeit das Ideal in Kunst und Leben die Lüge ist, so darf doch auf einem Farbendruck die Lüge mitunter auch das Ideal sein.« Dann erhob er seine Stimme höher und rief: »Mißverstehen Sie mich nicht, meine Freunde: jede Reklame ist Uebertreibung, und jeder Vernünftige weiß, daß er sie als solche zu nehmen hat. Wir leben und atmen in der Luft der Parteien. Auch Stadt gegen Stadt wird mehr und mehr wettstreitende Partei, und dieser Wettstreit führt dazu, daß zuletzt alle Wände an öffentlichen Orten mit den gemalten Reklamen aller Städte bedeckt sein werden. Man wird die – idealisierte Städtetopographie von ganz Deutschland sehr bequem beim Vorübergehen in Hausgängen und Wartesälen studieren können. Schelten wir die Partei, schelten wir die Reklame nicht: was wäre die Zukunftsmusik ohne die Reklame ihrer Bekenner?«
Die letzten Worte entfesselten einen Sturm, hier des Widerspruchs, dort des Widerspruchs gegen den Widerspruch. Bis dahin so friedlich verlaufen, drohte die ganze Jubelfeier in grimme Fehde sich aufzulösen.
Allein Herr Saß rief donnernd dazwischen: »Keinen Hader! Was kümmern uns hier die musikalischen Harmonien, welche alle Welt in Disharmonie versetzen. Keinen Hader! Wenden wir uns lieber zum Haderturm. Soll er auf dem Idealbilde der Stadt noch stehen bleiben?«
Der Bürgermeister und der Apotheker sprachen eifrig dawider; der Oberst hingegen meinte, wenn man den Turm weglasse, so sehe das aus, wie wenn sich Einer die Nase aus dem Gesicht geschnitten hätte, – er meine natürlich nur auf dem Bilde; denn in Wirklichkeit habe er ja immer für den Abbruch des Turmes gestimmt.
Es entspann sich ein lebhaftes Wortgefecht, welches zu dem Beschlusse führte, daß der Turm gemalt stehen bleiben solle für die Fremden, während er abgebrochen werde für die Einheimischen.
Man besprach hierauf die kleinen Randzeichnungen, welche das Mittelbild umrahmen sollten. Zuletzt zog Herr Saß den belehrenden Text aus der Tasche, welcher am Fuße des Bildes neben der Figur der »Francofeldia« – griechische Tracht mit Mauerkrone – abzudrucken sei.
Er begann zu lesen: »Frankenfeld, Stadt von 8913 Einwohnern« – Hier warf der Apotheker die Frage ein: »Soll die Summe nicht auf 10 000 abgerundet werden?« Allein der Oberst rief mit feierlich erhobener Stimme: »Heilig sei uns die Statistik! ihre Zahlen sind das Gewisseste auf Erden – sofern sie richtig sind.«
Und in der That blieben nun die 8913 Seelen stehen.
Ueber die weiteren statistischen Notizen einigte man sich rasch. Die Industrie Frankenfelds wurde hervorgehoben mit besonderer Betonung der Maschinenfabrik Hephästos und der zahlreichen Gerbereien, welche längs des die Hauptstraße durchströmenden Baches lagen.
Der Oberst meinte, diese Angabe könne doch etwas abstoßend wirken – auf den Fremdenverkehr. Das Getöse der Maschinen beleidige das Ohr, der Rauch der Kamine das Auge, und die Gerbereien die Nase. Man beschloß darum sich statt weiterer Aufzählung mit dem duftigen Worte »Industrieblüte« zu begnügen.
Mit gesperrten Lettern sollte des Schwefelbades gedacht werden; denn Frankenfeld war auch aufstrebender Kurort. Es hatte hierbei einen bedrohlichen Wettbewerber in dem benachbarten Städtchen Groß-Runenstein, welches eine viel stärkere Schwefelquelle zu besitzen behauptete und schon weit länger die Badegäste anzog.
Mehrere Stimmen forderten, man solle in der Reklame sagen, daß das Verhältnis vielmehr umgekehrt sei, allein Herr Saß rief: »Keine Polemik auf unserm friedlichen Bilderbogen! Wir müssen vornehm sein! Wir dürfen unsere Stadt rühmen: das ist kein Selbstlob, sondern Heimatliebe. Aber wir dürfen nicht streiten gegen unsere wettkämpfenden Nachbarn, und wären sie auch noch so neidisch und ihre Kuranstalten noch so jämmerlich. Hüllen wir uns in vornehmes Schweigen!«
Das »vornehme Schweigen« wurde genehmigt.
Um so kräftiger beschloß man sodann, die herrlichen schattenreichen Kuranlagen herauszustreichen, die hundertjährigen verschnittenen Hainbuchengänge, die Wandelbahn, welche aus dem halbverfallenen Kreuzgange der Klosterräume von St. Margareten hergerichtet war, das geborstene Chorgewölbe der Klosterkirche, unter dem die Kurkapelle ihre Ouverturen, Tänze und Potpourris spielte und die vereinzelt noch stehengebliebenen gotischen Pfeiler des Schiffes, zwischen welchen man vor zwei Jahren einen modernen Pavillon eingebaut hatte für ein Café-Restaurant, dessen Wirt nur kurgemäße Getränke und Speisen auftragen durfte. Die Heilquelle selbst aber sprudelte in der früheren Vorhalle der Kirche. Der Kaffeepavillon müsse dann als besonders merkwürdig hervorgehoben werden.
Hier widersprach Herr Blödel, der Gastwirt zur »Schwedischen Krone«. Eine gewöhnliche Kaffeeschenke, meinte er, gehöre doch nicht in das Reklamebild einer so berühmten Kur- und Reisestadt.
Der Oberst dagegen bemerkte: »Wenn wir den neuen Kaffeepavillon streichen, dann bleibt eben nur noch die Klosterruine und der auf Abbruch gestellte Haderturm dazu, und bei den Spaziergängen die zerfallene Burg Sonnenstein und das verwaiste und verwahrloste Rokokoschlößchen auf der Luisenhöhe – lauter Altertümer! Und wir wollen doch den lockenden Glanz des modernen Frankenfeld zeigen!«
Eifrig fiel Blödel ein: »Da nenne man vor allen Dingen unsere vortrefflichen Gasthöfe, mit jeglichem Komfort der Neuzeit ausgestattet: die ›Schwedische Krone‹, das ›Goldene Lamm‹, den ›Türkischen Kaiser‹.«
»Das sind ja lauter ganz altmodische Namen!« rief der Oberst. »Wollen Sie nicht, Herr Blödel, zur Einweihung der neuen, mit dem Fall des Haderturms beginnenden Aera Ihre ›Schwedische Krone‹ in ein ›Grand Hôtel-Royal‹ umtaufen?«
Blödel entgegnete erhobenen Tones: »Ich bin immer und überall für das Neueste; aber mein Gasthof hat den Ruhm, der älteste der Stadt zu sein, wie schon der Name beweist. Er stammt aus dem Dreißigjährigen Krieg, und Gustav Adolf war, sicherem Vernehmen nach, der erste Gast. Man könnte dies wohl in den Text aufnehmen.«
»Wir leben in einer wunderlichen Stadt,« bemerkte Herr Saß. »Das Alte ist bei uns das Neue – die Klosterruine wird zur hochmodernen Kuranstalt – und das Neueste ist das Alte, wobei ich nicht bloß an die ›Schwedische Krone‹, sondern weit mehr noch an das Museum des Herrn von Rohda denke. Fremde, auf welchen der Geist der ›Fledermäuse‹ ruht, nennen es sogar die größte Sehenswürdigkeit Frankenfelds, welche von Tausenden besichtigt wird, nur nicht von den Frankenfeldern selber. Sollen wir das Museum in den Text des Reklamebildes aufnehmen?«
Die meisten Stimmen sprachen dafür.
Dieses Museum war eine reiche Sammlung von Altertümern, die ihr Besitzer, Freiherr von Rohda, seit fünfundzwanzig Jahren mit ansehnlichen Mitteln, brennendem Eifer und feinem Spürsinn zusammen gebracht hatte. Es enthielt einzelne Stücke von hohem künstlerischem und geschichtlichem Wert und erfüllte das ganze große freiherrliche Haus. Obgleich Herr von Rohda höchst einsiedlerisch gelebt, hatte er doch den Besuch seiner Sammlung immer aufs freisinnigste gestattet. Auch nach außen hatte das Museum Ruf.
Aber der Freiherr war vor vierzehn Tagen gestorben, und seine einzige ledige Schwester, die ihm seit vielen Jahren hausgehalten hatte, galt für die unzweifelhafte Erbin des großen Vermögens samt dem Museum. Man fürchtete, daß letzteres jetzt der Stadt verloren gehen werde, zerstreut, verkauft.
Die Freunde des Herrn Saß fanden diese Aussicht höchst betrüblich: hätte doch der Text des Reklamebildes seines feinsten Glanzlichtes entbehrt ohne das Rohdasche Museum. Sie begeisterten sich mit einemmal für dasselbe, obgleich es noch Keiner von ihnen seines Besuches gewürdigt hatte.
Nur Herr Saß war andern Sinnes: »Seien wir froh, wenn uns der alte Plunder genommen wird. Es lebe die Gegenwart! Diese zahllosen Kunstaltertümer, welche man jetzt in Museen aufhäuft, ersticken nur die freie Kraftentfaltung unsrer lebenden Künstler.«
Und Oberst Sickenwolf ergänzte: »Die alten Griechen waren klüger als wir. Sie zerschlugen und verbrannten von Zeit zu Zeit die älteren Kunstwerke, damit die lebenden Künstler Luft gewönnen zu neuem Schaffen, eigenartig, selbstherrlich, unbeeinflußt durch den Bann verblichener Größen.«
Die ganze Gesellschaft war verblüfft über diese neue Kunde aus dem alten Hellas, die noch Keiner von ihnen vernommen hatte, aber der Oberst versicherte mit der treuherzigsten Miene, aus welcher doch der Schalk und Spötter deutlich genug hervorlugte, die Griechen hätten es wirklich so gehalten, er habe es gedruckt gelesen – im Feuilleton einer Wiener Zeitung.
»Machen wir es den Griechen nach,« so schloß er pathetisch, »lassen wir das Rohdasche Museum fahren, wohin es will, und gründen wir in Frankenfeld eine neue Kunst auf neuem Boden!«
Hier aber fand der Oberst wie Herr Saß den stärksten Widerspruch. Die Andern riefen, man müsse das Museum der Stadt erhalten. Freilich wußte Keiner anzugeben, wie dies geschehen solle; denn die mutmaßliche Erbin war Allen ein Rätsel. Keiner kannte sie näher, sie lebte ebenso einsam und unnahbar wie ihr verstorbener Bruder gethan. Man geriet in lärmenden Streit über Dinge, die man nicht wußte, über Personen, die man nicht kannte und über Pläne, die man in die Luft baute.
Zuletzt gebot der Bürgermeister Friede. »Wir sind ja doch zusammengekommen, um den Fall des Haderturmes zu feiern, der die Bürgerschaft so lange in Hader versetzt hat, und nun machen wir uns aus dem Museum wieder einen neuen Haderturm!«
Herr Saß ergriff den günstigen Augenblick und ließ Champagner kommen und bewirkte durch den schäumenden Wein, der so manchmal die Köpfe im Kreise dreht, daß die Gedanken der Streitenden im Kreislauf wieder auf den ursprünglichen Zweck ihrer Zusammenkunft zurückkamen. Sie entsannen sich, daß sie ja eigentlich ein Fest feierten. Darum jubelten sie zuletzt wieder statt zu streiten und fielen sich gar in die Arme aus heller Freude über den errungenen Sieg, über den Fall des Haderturmes.
Der aufsteigende Mond beleuchtete die rührende Scene. Herr Saß befahl, daß man die farbigen Laternen anzünde und sich zum Abbrennen des Feuerwerks rüste. Hinter dem Gitter hatte sich schon ein ganzer Schwarm von Buben und Mädchen versammelt, des seltenen Schauspiels harrend.
Da stürmte plötzlich der Notar Feininger den Gartenweg herauf zu der fröhlichen Gesellschaft und rief: »Triumph! Ein großes Glück ward unsrer Stadt zu teil! Es lebe der selige Freiherr von Rohda!« – und ergriff ein Glas Champagner und leerte es auf einen Zug.
Dann fuhr er fort: »Das Testament des Freiherrn wurde heute nachmittag eröffnet. Der Mann war weit reicher als wir Alle glaubten. Seine hinterlassenen Kapitalien betragen rund 800 000 Gulden. Hiervon erbt seine Schwester Amalie 500 000 Gulden nebst dem Herrenhause, dem Park und allen sonstigen Liegenschaften.«
Ein leises Beifallsgemurmel erhob sich: »Das ist brüderlich, wenn er seine Schwester so reich bedenkt.«
»Zum zweiten!« rief nun der Notar, »100 000 Gulden werden an zwei alte Diener des Hauses und an zwei wohlthätige Stiftungen verteilt.«
»Das ist christlich!« rief der Bürgermeister unter steigendem Beifallsgemurmel.
Der Notar erhob seine Stimme zur höchsten Kraft: »Zum dritten! Freiherr von Rohda vermacht sein kostbares Museum der Stadt Frankenfeld zum ewigen Eigentum.«
Nun brachen Alle in stürmischen Beifall aus. »Ein edler Mann! der beste Bürger!« tönte es aus dem Kreise, und die Buben vor dem Gartengitter riefen Hoch und Hurrah!
Der Notar aber schrie mit sich überschlagender Stimme: »Zum vierten vermacht der hochherzige Verblichene die Barsumme von 200 000 Gulden gleichfalls unsrer Stadt mit der Bestimmung, daß die Zinsen zur Erhaltung und Mehrung des Museums verwendet werden sollen.«
Lautester Jubel. – »Wie großartig, wie patriotisch erscheint uns doch dieser wahrhaft adelige Herr nach seinem Tode! Wie manchmal haben wir ihn bei Lebzeiten verkannt!«
