Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - E-Book

Ein Gedicht zum Todestag E-Book

Sophie Lamé

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Beschreibung

In einem Karussell am Fuße des Eiffelturms wird eine Leiche gefunden – ein Mitglied der Pariser Unterwelt, wie sich schnell herausstellt. Doch haben es Kommissarin Victoire de Belfort und ihr Team wirklich mit einem Mord aus dem Milieu zu tun? Ein Gedicht, das bei dem Toten gefunden wird, gibt Rätsel auf. Als de Belfort kurz darauf zu einem Tatort nach La Défense gerufen wird, beginnt für die Ermittler ein Wettlauf gegen die Zeit, denn alles spricht dafür, dass ein Serienmörder Paris unsicher macht. Ein spannender Krimi vor der Kulisse einer wunderbaren Stadt.. - Kommissarin de Belforts erster Fall

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Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag

Paris-Krimi

Kommissarin de Belforts erster Fall

Imprint

Ein Gedicht zum Todestag Sophie Lamé published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de Copyright: © 2014 Sophie Lamé Umschlaggestaltung: Erik Kinting - www.buchlektorat.net Titelbild: © Sandro Götze - Fotolia.com All rights reserved

Zum Buch

So hat sich der Stadtstreicher Faruk seine ersten Tage in Paris nicht vorgestellt. Eigentlich ist er aus Marseille gekommen, um mehr Ruhe und Sicherheit zu finden. Und nun ist ausgerechnet er es, der unweit des Eiffelturms eine Leiche entdeckt. Kommissarin Victoire de Belfort und ihre Leute nehmen die Ermittlungen auf. Es handelt sich um einen Giftmord, da ist sich der liebenswert schrullige Gerichtsmediziner Docteur Dupin sicher. Doch was hat das rätselhafte Gedicht zu bedeuten, das bei dem Toten gefunden wird? Noch während das Team der Brigade Criminelle den ersten Hinweisen nachgeht, wird im Büroviertel La Défense erneut eine Leiche gefunden. Und wieder ein Gedicht! Verbindet die Toten ein Geheimnis? Und wird es noch weitere Opfer geben? Eine erste Spur führt in die Pariser Unterwelt. Doch dann entdeckt Inspektor Perrec eine sonderbare Website …

Die Autorin,

die unter dem Pseudonym Sophie Lamé schreibt, ist in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen. Nach Stationen in Paris und Süddeutschland lebt sie dort auch heute wieder. Die Stadt Paris ist für sie zweite Heimat wie auch unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Und wenn auch Handlungen und Personen frei erfunden sind – die Orte des Geschehens existieren wirklich.

Zuletzt erschienen ist ihr Paris-Roman Frühling im Oktober

Donnerstag

Pont Neuf, 1. Arrondissement

Von Notre Dame schlug es zwölf Mal. Mitternacht. Faruk Ghoul hob den Kopf zum nachtschwarzen Himmel und betrachtete die schmale Sichel des Mondes. Je länger er schaute, desto mehr Sterne sah er aus dem samtigen Dunkel aufblitzen. Als hätte ich sie mit meinem Blick aus der Tiefe des Universums geangelt, dachte Faruk und lächelte. Der Gedanke gefiel ihm, doch er würde ihn schön für sich behalten. Er wusste was passierte, wenn er ihn mit den anderen teilte. Lachen würden sie und ihn einen Möchtegern-Poeten oder gar einen Spinner nennen. Heute Abend jedoch hätte er ihn sogar laut hinausschreien können, denn er war allein. Nicht, dass ihm die Einsamkeit etwas ausmachte. Er freute sich, dass er einen gemütlichen Platz gefunden hatte, an dem er ungestört und ganz für sich war. Faruk streckte seine Glieder und sog genießerisch Luft ein. Die Nacht war angenehm mild und die Wärme des Sommertages auch jetzt, da die Sonne längst untergegangen war, noch deutlich zu spüren. So, als spiele sie noch mit dem lauen Wind zwischen den Häusern der Stadt. Wie ein Kind, das man am Abend eines langen, heißen Junitages vergebens nach drinnen ruft. Faruk liebte es, sich solche Vergleiche auszudenken. Was sollte man auch sonst den ganzen Tag tun?

Die gewaltigen und noch warmen Steine der Pont Neuf fühlten sich an seinem Rücken wunderbar an, und er schloss für einen Moment die Augen. Es war richtig gewesen, nach Paris zu kommen. Zum Glück hatte er nicht auf seine Kollegen gehört. Jean, Fabio, ja sogar sein bester Freund Djamal – sie alle hatten ihm abgeraten, aus Marseille wegzugehen.

„Was soll das?“, hatte Djamal ihn gefragt, als er ihm von seinem Vorhaben erzählt hatte. „Geht es dir nicht gut hier? Die Stadt ist bunt und lebendig, es ist warm und wir haben das Meer. Einen besseren Platz gibt es nirgends.“

Doch davon hatte Faruk nichts wissen wollen. Lange genug hatte er seinen Plan im Kopf hin und her geschoben und Vorteile gegen Nachteile abgewogen. Nein, in Marseille wollte er nicht alt werden und auch nicht sterben. Für seinen Geschmack starben in dieser Stadt am Mittelmeer zu viele Menschen. Und zwar ohne, dass sie die Chance gehabt hatten, alt zu werden.

„Mein Entschluss steht fest“, hatte er seinem Freund an einem verregneten Abend im April mitgeteilt.

„Das ist nicht dein Ernst! Komm schon, Kumpel, nur weil EINMAL schlechtes Wetter ist …"

„Nein, Djamal“, lachte Faruk, „das hat mit dem Regen nun wirklich nichts zu tun. Ich werde diese Stadt verlassen. Warte“, er hob beschwichtigend beide Hände als er sah, dass die Augen seines Freundes groß wurden und er zu einer seiner endlosen Reden anheben wollte. „Ich werde dir erklären, warum ich gehe. Ich bin nicht mehr der Jüngste und eines Tages werde ich ein alter Mann sein. Und Marseille und das Alter, das passt nicht zusammen. Es gibt zuviel Gewalt auf den Straßen und in all den Jahren, die ich nun schon hier lebe, ist es immer schlimmer geworden.“

Djamal schüttelte energisch den Kopf. „Das bildest du dir ein, glaub mir. Jede Stadt hat ihre Gefahren.“ Er schaute Faruk an und sah den Zweifel in dessen Augen.

„Also gut, ich gebe zu, dass es hier nicht gerade paradiesisch ist.“ Geräuschvoll zog er die Nase hoch. „Ich hatte ja selbst schon einmal ein Messer im Bauch“, er grinste schief, „war halb so schlimm.“

Faruk legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Früher waren es Messer und heute muss man sich davor fürchten, in den Lauf einer Kalaschnikow zu blicken. Nein, Djamal, ich bleibe dabei. Ich gehe nach Paris.“

Bereits einige Tage später hatte Faruk sein Hab und Gut gepackt, sein Gespartes gezählt und sich ein Zugticket gekauft. In der städtischen Notunterkunft, die er sonst nur im Winter aufsuchte, hatte er eine ausgiebige Dusche genommen und seine wenigen Klamotten in die Waschmaschine gestopft. Nachdem er Justine – eine der freiwilligen Helferinnen – von seinem Plan erzählt hatte, hatte sie ihn kurzerhand auf einen wackeligen Küchenstuhl gesetzt und ihm Kopfhaar und Bart gestutzt. „Damit du schön bist für Paris“, hatte sie gesagt und gelacht.

Und nun saß er also hier in einer gemütlichen Nische auf einer der schönsten Brücken der Stadt und schaute sich den Mond an. Plötzlich nahm er einen hellen Lichtstreif wahr, der sich wie ein Suchscheinwerfer über den Himmel bewegte. Wie der Strahl des Leuchtturms am Hafen von Marseille, dachte Faruk und stand auf, um besser sehen zu können. Ah, jetzt konnte er die Quelle des Lichts erkennen. Er ging die wenigen Schritte zur gegenüberliegenden Brüstung und legte beide Hände auf die warmen Steine. Der Eiffelturm! Wie wunderschön und stolz er dort stand. Seit Faruk aus dem Süden hierher gekommen war, hatte er das Wahrzeichen der Stadt immer nur aus der Ferne betrachtet.

„Am besten mache ich mich gleich auf den Weg“, sagte er laut und nickte entschlossen mit dem Kopf. Er konnte ohnehin nicht schlafen und nichts liebte er mehr, als nachts spazieren zu gehen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, wie er die anderen Obdachlosen oft nannte, trug er nur wenige Dinge bei sich. Ich reise gerne mit kleinem Gepäck, pflegte er zu sagen, wenn sie sich lautstark wunderten, dass er nichts als einen gefüllten Rucksack besaß. So hatte er es schon immer gehalten. Faruk hatte Prinzipien und, neben sauberer Kleidung und einem gepflegten Aussehen, war ihm die Ordnung in dem alten Wanderrucksack das Wichtigste. In ihn stopfte er nun also seine dünne Wolldecke, die Baguettereste vom Abendessen und eine angebrochene Flasche Wein mit Drehverschluss. Zu guter Letzt schnallte er seine rosafarbene Isomatte fest. Allah wusste, wie oft er dafür schon ausgelacht worden war. Aber sie war bequem, und als Obdachloser durfte man schließlich nicht wählerisch sein. Sollten sich die anderen ruhig darüber amüsieren, das hielt er aus. Als algerischer Einwanderer, der 1964 im Alter von acht Jahren nach Marseille gekommen war, hatte er wahrlich Schlimmeres erlebt, als wegen einer rosa Matte ausgelacht zu werden. Faruk schulterte seinen Rucksack und marschierte, den Eiffelturm vor Augen, entschlossen los. Er orientierte sich am Lauf der Seine und prägte sich all die herrlichen Gebäude ein, die ihm auf seinem Marsch begegneten. Die goldene Kuppel des Institut de France, das Musée d‘Orsay mit seiner riesigen Bahnhofsuhr und das langgestreckte Gebäude des Louvre auf der anderen Seite des Flusses. Seine Füße begannen schon zu schmerzen, als er schließlich die gewaltigen Streben des Eiffelturms vor sich aufragen sah. Faruk hatte das Gefühl, mit jedem weiteren Schritt zu schrumpfen wie eine dieser Comicfiguren, die er als Kind im Kino gesehen hatte. Was für ein unglaubliches Bauwerk. Er kam sich winzig vor und hob staunend den Kopf. Voller Ehrfurcht versuchte er, die Gesamtheit dieses Stahlkolosses zu erfassen. Ein seltsames Gemisch aus Ergriffenheit und leiser Furcht überkam ihn und er spürte, wie ein Schauer seinen Körper durchlief. „Es ist doch ein wenig unheimlich, sich mitten in der Nacht unter einem solchen Riesen aufzuhalten“, flüsterte er sich selbst zu. Um diese Zeit waren kaum Menschen an dem Ort, an dem es tagsüber von Touristen nur so wimmelte. Die gigantischen Stahlfüße der eisernen Dame, wie die Pariser den Eiffelturm gerne nannten, erschienen Faruk bedrohlich. Je länger er die Streben fixierte, desto unheimlicher wurde ihm zumute. Hatte sich dort drüben nicht gerade ein Schatten aus dem Dunkel gelöst? Faruk stand vor Anspannung ganz starr und lauschte auf die Geräusche, die ihn umgaben. Nein, da war nichts zu hören außer den Motorengeräuschen der wenigen Autos, die in dieser mondhellen Nacht auf der nahen Straße vorbeifuhren. Faruk kratzte sich nervös am Kinn und beschloss, sich lieber ein wenig abseits ein Plätzchen für seine Nachtruhe zu suchen. Er schaute sich um und entschied, den Pont d‘Iéna zu überqueren, der sich in Richtung Trocadéro über die Seine spannte. Hier konnte er den Eiffelturm aus der Ferne bestaunen und würde sicher ruhiger schlafen und auch besser träumen. Auf der Brücke kam ihm ein junger Mann entgegen, der ihn interessiert anblickte. Faruk lag schon ein höfliches Bonsoir auf den Lippen, als ihm auffiel, dass der Blick des Fremden etwas zu intensiv ausfiel. So senkte er nur die Augen und lief stumm an ihm vorbei. Auf der anderen Seite des Flusses angekommen, sah er zwei weitere Männer, die nicht weit von ihm entfernt in einem öffentlichen Toilettenhäuschen verschwanden. Während er mit großen Schritten geradeaus lief, betrachtete er den weitläufigen Platz unterhalb eines wuchtigen Gebäudes, das wohl der Trocadéro sein musste. Oder war dies nur der Name für die Grünfläche mit den Fontänen, die sich dazwischen erstreckte? Faruk wusste es nicht und es war ihm auch egal. Er besah sich die Wege, die in weiten Bögen zu den gewaltigen Mauern hinaufführten und den großzügig bemessenen Brunnen auf der gesamten Länge in ihre Mitte nahmen. In der Nähe einer hübsch angelegten Blumenrabatte, die von zierlichen Sträuchern begrenzt wurde, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Faruk schaute sich erstaunt um. Dieser Ort schien ein beliebter Treffpunkt zu sein, besonders für einsame Männer. Es dauerte eine Weile, bis Faruk begriff. So hatte eben jeder seine Vorlieben, dachte er und zuckte mit den Schultern. Er interessierte sich nicht für männliche Liebhaber, aber selbst wenn … Natürlich hatte dieser Platz einen gewissen Charme und der Anblick des Eiffelturms tat ein Übriges. „Für meinen Geschmack aber eindeutig zu einsam und fast schon unheimlich“, murmelte Faruk in die nächtliche Stille. Hier gab es keine Wohnhäuser, und weder Cafés noch Restaurants belebten diesen Ort. Er blieb stehen und kratzte sich ausgiebig am Kopf. Nein, als Schlafplatz kam diese Gegend wohl nicht infrage. Aber irgendwo musste sich doch eine Übernachtungsmöglichkeit finden lassen! Er war müde und die Füße taten ihm weh. Faruk ließ seinen Blick schweifen, bis seine Augen an einem auffälligen Gebilde hängen blieben. Keine zweihundert Meter von ihm entfernt stand ein Karussell. Seltsam, dachte er. So etwas kannte er sonst nur von Jahrmärkten. Nun ja, das war eben Paris. Kopfschüttelnd schob er die Gurte seines Rucksacks zurecht und machte sich auf den Weg. Als er bis auf wenige Meter herangekommen war, blieb er staunend stehen. Wie wunderschön es war! Faruk betrachtete das altertümlich anmutende Dach, das ihn an ein Zirkuszelt erinnerte. Eine Plane versperrte den Blick ins Innere, doch die aufwendig gearbeiteten Stufen ließen erahnen, dass es auch dort Nostalgisches zu bestaunen gab. Faruk umrundete das herrliche Spielzeug und heftete seine Augen fest auf die Plane. Wenn er Glück hatte, gab es irgendwo eine winzige Öffnung. Und dann würde er endlich einen Schlafplatz haben. Und was für einen! In aufgeregter Vorfreude rieb er sich die Hände und blieb wenig später abrupt stehen. Tatsächlich! Direkt vor ihm war ein kleiner Spalt zwischen den beigefarbenen Plastikbahnen zu erkennen. Er kletterte auf die unterste der rot bemalten Stufen, die sich um das Karussell zogen und berührte die Stelle vorsichtig. Und wirklich – die Plane gab dem leichten Druck nach. Faruk spähte in tiefes Schwarz. Er überlegte, ob er seine Taschenlampe aus dem Rucksack holen sollte, doch dann verwarf er die Idee. Schließlich wollte er keine Aufmerksamkeit erregen. „Geduld, Geduld“, flüsterte er und starrte weiter in das stockdunkle Innere. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Schwärze und mit einem Mal konnte er erste Konturen erkennen. Sein romantisches Herz hüpfte vor Freude. Kunstvoll verzierte Pferde und üppig geschmückte Kutschen in den phantasievollsten Formen nahmen vor seinen Augen Gestalt an. Wie schön musste dies alles erst bei Tageslicht aussehen. Und während er ins Dunkel blickte, war es ihm, als sähe er die Pferdchen und Kutschen vor sich, wie sie zur Musik ihre Runden drehten. Fast konnte er das glückliche Kinderlachen hören, das sie dabei begleitete. Genug jetzt, dachte er und riss sich aus seinen Gedanken. Ich bin müde und werde mir hier nun schnellstens ein bequemes Plätzchen suchen! Entschlossen tastete er sich zwischen mehreren Reihen von hölzernen Kutschen und Pferden voran. Nein, die sahen nicht gemütlich aus.

„Mist!“ Faruks Rucksack war an dem geschwungenen Rand einer Art Muschel hängen geblieben und er drehte sich danach um, um sich zu befreien. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln etwas wahr. Nanu, was war denn das? Das sah ja aus wie … Er machte ein paar vorsichtige Schritte und dann stand er direkt davor. Tatsächlich! Die Nachbildung eines Fesselballons! Der kleine Korb wurde von einem hübsch bemalten Ballon getragen, mit dem er durch dicke hölzerne Schnüre verbunden war. „Mein Nachtlager“, rief Faruk erfreut aus und machte sich an der kleinen Tür zu schaffen, um hineinzuklettern. „Verflixt, ist das dunkel hier drinnen“, fluchte er und stützte sich mit einer Hand an der Kante des Korbes ab. Irgendwo in diesem Ding musste es doch ein Bänkchen oder etwas Ähnliches geben. Faruk schnaufte und machte einen Schritt nach vorne.

Die Berührung traf ihn wie ein Stromstoß.

„Bleib ruhig“, ermahnte er sich selbst und versuchte, das Zittern zu kontrollieren, das sich plötzlich in seinem Körper ausgebreitet hatte. Er war gegen etwas gestoßen. Etwas Bewegliches, Weiches. Faruk atmete tief ein und versuchte seine Gedanken zu sortieren, die im ersten Erschrecken ordentlich durcheinander gewirbelt worden waren. „Kein Grund, in Panik zu verfallen“, beruhigte er sich leise murmelnd. „Das ist nun einmal ein begehrter Schlafplatz.“ Sein Schrecken wandelte sich erst in Enttäuschung und gleich darauf in Wut. Das durfte doch nicht wahr sein! Faruk schnaubte. „Zut alors!“ Er war wohl nicht der Einzige, der die Idee gehabt hatte, die Nacht in einem historischen Karussell zu verbringen. Es war ihm jemand zuvorgekommen. Aber so war es nun einmal, es nützte nichts und niemandem, einen Wutanfall zu bekommen. Er schielte auf die halb ausgestreckte Gestalt, deren Umrisse er mehr erahnte, als dass er sie erkennen konnte.

„Bin schon weg, schlaf weiter“, raunte er und wollte sich gerade umdrehen, als er plötzlich innehielt. Irgendetwas störte ihn. Faruk lauschte angestrengt. Nein, da war nichts. Noch einmal horchte er in die Dunkelheit …

Die Erkenntnis traf ihn wie ein greller Blitz. Nichts. Er hörte rein gar nichts. Kein Schnarchen, kein Murmeln, nicht einmal ein Atmen. Faruk stand wie erstarrt, während die Gedanken wild durch seinen Kopf rasten. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach wegzulaufen und hatte gleichzeitig das Gefühl, keinen einzigen seiner Muskeln bewegen zu können. Es war ihm, als würde dieser Zustand völliger Lähmung eine kleine Ewigkeit dauern. Doch dann kündigte ein zartes Kribbeln in Armen und Beinen an, dass Körper und Geist bereit waren, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Faruk gingen die Worte eines Koranverses durch den Kopf und eine Weile lang konzentrierte er sich auf sein Gebet. Er musste versuchen, wieder klar und logisch zu denken. Doch was sollte er nun als Erstes tun? Du musst von hier weg, sagte er sich und dann wurde seine innere Stimme noch etwas eindringlicher. Mach schon, Mann, bloß weg hier! Faruk stolperte die Stufen des Karussells hinunter und rannte wie ein Gehetzter den Weg entlang, der zum Trocadéro hinaufführte. Seine Lungen begannen bereits pfeifende Geräusche von sich zu geben, als er so abrupt stehenblieb, dass er auf dem Untergrund aus Kies und Sand ausrutschte. In seinem linken Knie spürte er einen heftigen Schmerz. „Verflucht“, brummte er und betastete vorsichtig sein Bein. Es war lange her, dass er so schnell gerannt war und noch dazu bergauf. Faruk hielt sich die Seite, die nun zu allem Überfluss auch noch unangenehm zu stechen begann. Nein, das brachte nichts, überlegte er. Dort oben am Ende des Weges gab es vielleicht einige Restaurants, aber die hatten um diese Uhrzeit sicher alle längst geschlossen. Wo sollte er an diesem gottverlassenen Ort denn jemanden finden? Er blickte zum Eiffelturm hinüber, dessen Silhouette sich dunkel und bedrohlich vom mondbeschienenen Himmel abhob.

„So ein Mist“, schrie Faruk dem Stahlkoloss entgegen. Vor Wut kamen ihm die Tränen und er bemerkte, wie ein verzweifeltes Kichern seine Kehle hinaufkroch. Seine ersten Tage in der Stadt des Lichts hatte er sich nun wirklich anders vorgestellt. „Schluss jetzt“, ermahnte er sich laut. „Reiß dich zusammen!“ Er wandte seinen Blick nach Osten, wo am Horizont bereits ein kleiner, helloranger Streifen zu erkennen war. Langsam und eindringlich sprach er ein weiteres Gebet und fühlte sich gleich darauf ruhiger. Allah war ihm schon immer eine wichtige Stütze gewesen, dachte Faruk voller Dankbarkeit. Doch was ich jetzt vor allen Dingen brauche, fügte er im Stillen noch hinzu, ist ein menschliches Wesen! Er wandte seinen Blick vom Himmel ab und schaute sich um. Etwa hundert Meter links von ihm nahm er den Umriss eines ovalen Gebäudes wahr. Natürlich! Faruk schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wie hatte er das nur vergessen können: Das Toilettenhäuschen! Der Treffpunkt der Homosexuellen! Hier würde er sicher jemanden finden, der ein Handy dabeihatte. Bitte, Allah, lass noch jemanden hier sein, bitte! Faruk fing an zu laufen und begann schon nach wenigen Sekunden laut zu schnaufen. Ich muss dringend etwas für meine Kondition tun, dachte er und schnappte gleich darauf vor Erleichterung nach Luft. Ein Mann trat hinter dem Klohäuschen hervor und schien für einen kurzen Moment in Faruks Richtung zu blicken. Der riss sofort beide Arme nach oben und begann sie über seinem Kopf zu bewegen wie ein Ertrinkender.

„Heee, hallo, Monsieur“, schrie er aus Leibeskräften. „Au secours, s´il vous plaît! Bitte, Monsieur, bitte warten Sie, ich brauche Ihre Hilfe!“

Der Mann blieb tatsächlich stehen und schaute scheinbar regungslos in seine Richtung. Und noch während Faruk auf ihn zu rannte, mischte sich ein anderes, seltsam nagendes Gefühl in seine Erleichterung. Was machte ihn eigentlich so sicher, dass von diesem Typen, dem er mit jedem Schritt näher kam, tatsächlich Hilfe zu erwarten war?

Avenue van Dyck, 8. Arrondissement

Kommissarin Victoire Eléonore de Belfort gähnte. Gerade noch war sie im Traum über eine wunderschöne Blumenwiese spaziert und nun saß sie schlaftrunken zwischen den durcheinandergeratenen Laken ihres Bettes und tastete nach dem Handy. Ihr Schlafzimmer lag in völliger Dunkelheit. Die schweren Brokatvorhänge vor den bodentiefen Doppelfenstern ließen nicht den kleinsten Schimmer des Mondlichtes eindringen, das draußen die Bäume des Parc Monceau versilberte. Vic, wie ihre Freunde sie nannten, hielt sich das bläulich leuchtende Viereck des Displays direkt vors Gesicht und blinzelte. Ein entgangener Anruf. Offenbar hatte sie so fest geschlafen, dass sie die Melodie ihres Ruftons als Teil ihres Traumes wahrgenommen hatte. Die Nummer sagte ihr nichts, aber es musste Loïc Perrec gewesen sein, der da gerade versucht hatte, sie zu erreichen. Sie seufzte tief und betrachtete resigniert die kleinen Zahlen, die ihr die Zeit anzeigten. Wer sonst sollte sie auch an einem Donnerstagmorgen um vier Uhr dreiundzwanzig anrufen? Offensichtlich hatte sie die Mobilnummer ihres Inspektors noch nicht zu den Telefonkontakten hinzugefügt. Der junge Bretone gehörte erst seit gut einer Woche zu ihrem Team. Er hatte einige Jahre in einer kleinen Dienststelle an der Côte d‘Armor gearbeitet und sich nach einer Weiterbildung an der École Nationale de Police in Saint-Malo für die höhere Beamtenlaufbahn im Polizeidienst qualifiziert.

„Ein äußerst intelligenter junger Mann“, war de Belforts Vorgesetzter, Monsieur le Préfet, voll des Lobes gewesen. „Meine uneingeschränkte Hochachtung vor jungen Menschen, die aus, wie soll ich sagen“, der Chef der Polizeibehörde hatte sich umständlich geräuspert, „die aus dem einfachen Volk kommen und sich aufgrund ihrer Intelligenz und einer großen Portion Ehrgeiz in die oberen gesellschaftlichen Ränge emporarbeiten.“ Während er sprach, hatte er eine fast militärische Haltung angenommen und ausgesehen, als wolle er in Kürze das Défilé der französischen Ehrenlegion abnehmen. De Belfort verstand sich sehr gut mit dem Präfekten, der, stolzer Repräsentant eines alten Pariser Adelsgeschlechtes, mit vollem Namen Édouard Philippe Charles de Montmirail hieß. Obwohl Éd, wie er in der Brigade genannt wurde sobald er außer Hörweite war, wie die personifizierte Definition für Großbürgertum daherkam, war er ein kompetenter und charakterstarker Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Am Quai des Orfèvres, dem Sitz der Brigade Criminelle, der Pariser Mordkommission, genoss er daher hohes Ansehen und das absolute Vertrauen seiner Mitarbeiter. De Belfort gähnte erneut. Während sie sich ihr linkes Auge rieb, drückte sie mit der anderen Hand die Taste, die sie mit Perrec verbinden würde.

„Guten Morgen, Madame le Commissaire“, vernahm sie kurz darauf die herzliche und ein wenig aufgeregte Stimme ihres Inspektors.

„Ich bin mir sehr sicher, dass er ganz und gar nicht gut ist, habe ich recht?“, entgegnete de Belfort, ohne sich lange mit einem Gruß aufzuhalten. „Sie werden mich nicht ohne Grund zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geklingelt haben.“

Kaum waren die Worte ausgesprochen, taten sie ihr auch schon leid. Ihr Inspektor konnte schließlich nichts dafür, dass es offensichtlich wieder einmal Zeit war, einen Mord aufzuklären. Und in den meisten aller Fälle geschahen derlei Dinge nun einmal nicht am Nachmittag. Noch weniger aber konnte er dafür, dass sie bereits mit einer geradezu unterirdisch schlechten Laune zu Bett gegangen war. Daran hatte Étienne Schuld, ihre große Liebe und zuverlässiger Quell für prickelndes Glücksgefühl und dunkelsten Herzschmerz. In welche Richtung der Kompass der Emotionen gestern Abend ausgeschlagen hatte, das hatte ihr Inspektor soeben zu spüren bekommen.

„Perrec, sind Sie noch dran?“, fragte sie und achtete darauf, ihre Stimme so freundlich und warm klingen zu lassen, wie es ihr unter den gegebenen Umständen eben möglich war.

„Ja, entschuldigen Sie, Commissaire, selbstverständlich, ich war kurz abgelenkt“, kam seine Antwort, nun eine winzige Spur kühler als zuvor. „Wir haben hier eine Leiche.“

De Belfort legte geistesgegenwärtig die Hand über den Lautsprecher des Telefons, bevor sie genervt einen Schwall Luft ausstieß. Sie verdrehte die Augen zur Decke und ihre Lippen formten ein stummes: Womit habe ich das bloß verdient? Dann führte sie ihr Handy zurück ans Ohr und sagte betont aufgeräumt:

„Hören Sie, lieber Perrec, Sie können davon ausgehen, dass ich nicht erwartet habe, mit diesem Anruf zu einem Frühstück in die Bar des Palais de Chaillot eingeladen zu werden.“ Sie musste über ihren Einfall selbst schmunzeln und fragte sich, wie sie nun gerade auf dieses Restaurant gekommen war, in dem sie seit Jahren nicht mehr gegessen hatte.

„Alors, Perrec“, sagte sie aufmunternd, „sagen Sie mir, wo!?“

„Trocadéro“, kam die zögerliche Antwort aus der Leitung und es klang fast wie eine Frage. „Aber was hat das mit Frühstück zu tun?“

De Belfort rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel. Das durfte alles nicht wahr sein. Sie erhob sich von ihrem Bett und lief im schwachen Licht des Handydisplays zum Fenster. Mit der freien Hand zog sie die schweren Vorhänge zurück und blickte zum Himmel, an dem der Vollmond groß und erstaunlich dreidimensional zu sehen war. Hatte Éd wirklich von eben diesem Loïc Perrec gesprochen, als er sich in nicht enden wollenden Lobeshymnen ergangen hatte? Sie betrachtete den Park, der nur ein paar Meter von ihrem Fenster entfernt lag. Der herrschaftliche, schmiedeeiserne Zaun, der ihn umgab, verlieh diesem grünen Fleckchen Paris eine ganz besondere Schönheit. Ihr Blick blieb in den silbrig glänzenden Baumkronen hängen, die sich sachte im Wind bewegten. Womöglich schlief sie noch und diese Szene war nur ein absurder Teil eines verworrenen Traumes.

„Madame? Hören Sie mich noch, Madame le Commissaire?“

De Belfort räusperte sich und hielt sich ihr Mobiltelefon direkt vor den Mund, bevor sie betont langsam zu sprechen begann. Perrec musste annehmen, dass sie ihn für einen kompletten Idioten hielt, aber momentan war sie von diesem Gedanken nicht allzu weit entfernt.

„Hören Sie Perrec, ich weiß, dass das Palais de Chaillot am Trocadéro ist. Die Erwähnung dieses Restaurants war ein Scherz. Das gleiche gilt für das Frühstück. Ein Scherz, Perrec! Ich verstehe ja Ihre Aufregung, schließlich ist das Ihr erster Toter. Aber nun konzentrieren Sie sich bitte und berichten mir, an welchem Ort Sie sich gerade befinden. Wo zum Teufel sind Sie?“

„Trocadéro“, wiederholte der Inspektor und nun klang er wie ein trotziges Kind. „Ich befinde mich im Jardin du Trocadéro und zwar direkt bei diesem historischen Karussell. Das kennen Sie doch sicher, Madame le Commissaire.“

Auch wenn es aufgrund der immer noch herrschenden Dunkelheit unerheblich war, so spürte de Belfort in diesem Moment, wie ihre Gesichtsfarbe in schneller Abfolge von einem tiefen Rot zu fahlem Bleich und wieder zurück wechselte.

„Entschuldigen Sie bitte, Perrec, ich dachte, ich meine, ich dachte, Sie hätten, ach, Himmel noch mal, ich bin einfach noch nicht richtig wach …"

„Schon gut, Madame le Commissaire“, kam seine Stimme ein wenig scheppernd durch den Lautsprecher. „Wir haben wohl aneinander vorbeigeredet. Ein Missverständnis, halb so schlimm.“

Er lachte fröhlich, doch de Belfort konnte die Unsicherheit heraushören, die sich dahinter verbarg.

„Nein, Inspektor, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte sie mit ernster Stimme, die kurz darauf einen weniger förmlichen Ton annahm. „Und nun geben Sie mir noch ein paar Minuten, ich bin gleich bei Ihnen.“

„Soll ich Ihnen einen Beamten schicken, der Sie mit dem Wagen abholt?“

„Non merci, das ist nicht nötig, ich nehme das Rad.“

Noch bevor ihr Mitarbeiter etwas erwidern konnte, drückte sie die Gespräch beenden-Taste ihres Handys und warf es hinter sich aufs Bett. Mit energischen Schritten ging sie zur Schlafzimmertür und trat in den stuckverzierten Flur, der ihre Wohnung auf einer Länge von elfeinhalb Metern durchzog. Hochherrschaftlich! Nobel! Königlich! Mit diesen oder ähnlichen Ausrufen bedachten ihre Freunde ihr Appartement, wenn sie es zum ersten Mal betraten. Was vor allem daran lag, dass sie selbst zumeist einen Bruchteil all der Quadratmeter bewohnten, die sie hier staunend und mit offenem Mund durchwanderten. Doch abgesehen von der Größe und der 1A-Lage direkt am Park, zeigte de Belforts Wohnung keinerlei Anzeichen großbürgerlicher Gesinnung. Die komplette Inneneinrichtung bestand aus alten, zum Teil deutlich abgenutzten Möbeln, die in kreativem und sehr gemütlichem Durcheinander die Zimmer füllten. Die Kommissarin liebte es, über die Antikmärkte in den Straßen von Paris zu wandern. Und mit den Schätzen, die sie dort entdeckte, hatte sie sich ihr Zuhause geschaffen.

Sie sprang unter die Dusche und zog kurz darauf in aller Eile Jeans und ein langärmeliges Poloshirt aus dem Schrank. Auf dem Weg zur Wohnungstür schnappte sie sich ihre Jacke und schlüpfte in die dunkelblauen Turnschuhe, während sie schon den Hausschlüssel von einem filigranen Brett gleich neben der Tür nestelte. Verflixt, jetzt hätte sie fast ihr Handy vergessen. Auf Zehenspitzen, damit die Nachbarn in der Wohnung unter ihr nicht aus den Betten fielen, rannte sie ins Schlafzimmer und zog das Telefon zwischen den Laken hervor. Kurz darauf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Aus einem kleinen Abstellraum in der großzügigen Eingangshalle des typisch pariserischen Haussmann‘schen Gebäudes zog sie ein weiß lackiertes Mountainbike hervor. Nur wenige Sekunden später trieb die Kommissarin ihr Rad mit kräftigen Tritten die nahezu menschenleere Avenue Hoche hinunter. Victoire de Belfort liebte diese Art der Fortbewegung. Und morgens um kurz vor fünf genoss sie sie ganz besonders. Sie spürte den angenehm kühlen Lufthauch auf ihrem Gesicht, während sie in rasantem Tempo die Avenue bis zur sternförmig angelegten Place Charles de Gaulle-Étoile entlangfuhr. Um diese Uhrzeit waren kaum Autos unterwegs und so schoss sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den Platz. Bevor sie in die Avenue Marceau einbog, warf sie den gewaltigen Mauern des Arc de Triomphe einen kurzen, bewundernden Blick zu. Sie folgte der Straße, überholte ein am Straßenrand dahinschleichendes Gefährt der Pariser Stadtreinigung und hob grinsend die Hand, als einer der dazugehörigen Männer ihr mit seinem giftgrünen Besen zuwinkte. Wenige Minuten später erreichte sie das Ufer der Seine und fuhr am Fluss entlang, der ihr im fahlen Licht des frühen Tages die Richtung wies. Nun war es nicht mehr weit. Das letzte Stück legte sie auf einem schmalen, von Platanen gesäumten Fußgängerweg zurück, der parallel zur Straße verlief. Zwischen den Blättern der Bäume sah sie bereits die zuckenden Blaulichter, die ihr anzeigten, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatte.

„Hé, Sie da! Sie dürfen hier nicht durchfahren!“

Der Uniformierte streckte der Kommissarin schon von weitem seinen Arm entgegen und näherte sich mit energischen, weit ausholenden Schritten. De Belfort hatte sich gerade das gelbe Absperrband über den Kopf gehoben und war im Begriff wieder auf ihr Fahrrad zu steigen, als sie erkannte, dass die Hand des Polizisten zum Halfter an seinem Gürtel glitt.

„Keine Panik, Kollege, die Knarre können Sie stecken lassen.“

Der Gendarm blieb stehen und blickte stirnrunzelnd auf die Gestalt, die sich ihm nun rasant auf einem weißen Mountainbike näherte und gleich darauf neben ihm zum Stehen kam. Eine attraktive Brünette schaute ihn freundlich an. Sie sah aus wie die französische Schauspielerin, die er erst vor ein paar Wochen in einem Kinofilm gesehen hatte. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht an den Namen erinnern und nahm sich vor, am Abend seine Frau danach zu fragen.

„Commissaire de Belfort“, stellte sich Victoire dem Beamten vor und nestelte ihren Dienstausweis aus der Innentasche ihrer Jeansjacke. „Bonjour.“

“Oh Pardon, Madame le Commissaire.” Der Beamte war sichtlich verlegen. „Ich hatte nicht erwartet, dass …"

„Schon gut, Sie haben ja nichts falsch gemacht, im Gegenteil. Zugegebenermaßen ist es ein wenig ungewöhnlich, dass der Kommissar mit dem Rad kommt.“

Und dann auch noch ein weiblicher, dachte de Belfort und lächelte dem Mann noch einmal zu. Sie schaute zum Karussell hinüber. Eine Ambulanz und ein Leichenwagen, dazu eine Menge lautlos blinkender Blaulichter und ernst aussehende Männer und Frauen, die professionell und routiniert ihren Job machten. Sie war am Tatort. Ein weiterer in der Reihe der vielen, unendlich vielen Tatorte, die sie in ihrer Laufbahn schon gesehen hatte. Und doch hat man jedes Mal wieder ein mulmiges Gefühl, dachte sie, als sie sich langsam näherte und die Umgebung konzentriert in sich aufnahm. Sicher, Tod und Grausamkeit gehörten zu ihrer täglichen Arbeit und mit der Zeit hatte sich tatsächlich eine gewisse Routine eingestellt. Doch der Anblick eines toten Menschen war für sie immer noch schwer zu ertragen. Worüber sie letztendlich froh war, denn zu einer abgestumpften Beamtin zu werden, das war nun wirklich nicht das, was sie anstrebte. De Belfort lehnte ihr Fahrrad an einen der schmalen Pfosten, die verhindern sollten, dass der Platz als Parkfläche genutzt wurde. Schon von weitem erkannte sie ihren Inspektor. Er trug, wie immer seit er in ihr Team gekommen war, seine Outdoor-Jacke. Das jeweils vorherrschende Wetter schien für den großgewachsenen jungen Mann mit den dunkelblonden Haaren und der kräftigen Statur dabei offensichtlich kaum eine Rolle zu spielen. Er trug sie auch bei schönstem Sonnenschein. Sie würde ihn bei Gelegenheit fragen, was es damit auf sich hatte. Vielleicht war sie sein Glücksbringer? Bretonen waren dafür bekannt, abergläubisch zu sein. Während sie zu ihm und all den anderen Personen, die ein Mord auf den Plan rief, hinüberging, warf sie einen Blick zum Palais de Chaillot hinauf. Das Gebäude aus den 1930er Jahren wirkte im diffusen Licht des nahen Morgens abweisend und bedrohlich. Dunkel blickten die riesigen Fenster auf den darunter liegenden Park und die gewaltigen Brunnen, deren Wasserspiele um diese Uhrzeit freilich ausgeschaltet waren. Die beiden Gebäudeteile, die den Platz umgaben, auf dem sich tagsüber Massen von Touristen um die beste Aussicht auf den Eiffelturm stritten, wirkten wie steinerne Wächter. Kalt hoben sie sich gegen den wolkenlosen Himmel ab, der bereits zarte Schimmer von Orange und Rosa erkennen ließ.

„Guten Morgen.“

De Belfort reichte ihrem Inspektor die Hand und drückte sie ein wenig länger als normal. Er verstand ihre Geste und nickte ihr freundlich zu. Dann wies er mit dem Kopf zu einem Karussell, das mit Hilfe zweier 1000 Watt Halogen-Einsatzscheinwerfer bis in die hintersten Winkel ausgeleuchtet wurde. Sie näherten sich der Ansammlung aus altertümlichen Holzpferden und geschwungenen Kutschen in Muschelform. Die Kommissarin spähte durch das Gewirr aus Stangen und Stäben, bis sie schließlich eine Gestalt inmitten dieses nostalgischen Kindertraumes ausmachen konnte. Mit verzerrtem Gesicht und in einer wahrlich unbequemen Position verrichtete Docteur Dupin, der Rechtsmediziner, seine Arbeit. Das Bild, das sich ihr bot, konnte skurriler nicht sein. Sie musste sich konzentrieren, um nicht laut aufzulachen. Sie hob ihren Handrücken vor den Mund und warf Perrec einen fragenden und zugleich amüsierten Blick zu.

„Was zum …?“

„Ersparen Sie sich bitte jeglichen Kommentar, Madame le Commissaire“, tönte die leicht gedämpft klingende Stimme des Pathologen an ihr Ohr. „Ich weiß selbst, wie unendlich lächerlich ich wohl aussehen muss. Geradezu demütigend lächerlich.“

Während Victoire de Belfort und Loïc Perrec noch auf den erstaunlich naturgetreu nachempfundenen Fesselballon starrten, aus dessen winzigem Einstieg die – mit den Fußspitzen nach oben – Beine des Gerichtsmediziners ragten, tauchte dessen Kopf wie in Zeitlupe am Rande des hölzernen Korbes auf. Unter Ächzen und mit kaum unterdrücktem Fluchen folgten gleich darauf die Hände, mit Hilfe derer sich Monsieur le Docteur in eine halbwegs aufrechte Position zu hieven versuchte. De Belfort blickte mit einem breiten Grinsen zu ihrem Inspektor hinüber und registrierte zufrieden, dass auch er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Sie war also nicht die Einzige, die inmitten dieses eigentlich so tragischen Szenarios für eine gewisse Situationskomik anfällig war. Doch schon im nächsten Augenblick rissen sich beide zusammen.

„Schießen Sie los, Docteur“, forderte die Kommissarin den Rechtsmediziner auf. „Sie wissen ja, was uns interessiert.“

„Und Sie wissen, was ich zu diesem Zeitpunkt und ohne vorherige Obduktion sagen kann“, erwiderte Docteur Dupin, der inzwischen aus dem Korb des altertümlichen Fesselballons herausgeklettert war. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. „Der Tote ist männlich, soviel war schon ohne viel Aufhebens erkennbar. Netterweise trug er seinen Ausweis bei sich, bevor er sich hat ermorden lassen. Er heißt Michel Souliac, ist 24 Jahre alt und kommt aus Trappes. Das liegt in der westlichen Banlieue, kein besonders edles Pflaster“, fügte er mit einem kurzen Seitenblick auf Loïc Perrec hinzu, von dem er wusste, dass er noch nicht lange in Paris lebte.

„Ich weiß“, entgegnete dieser. „2005 und auch 2013 war dort einiges los. Jugendkrawalle, brennende Autos und offene Gewalt auf den Straßen. Und noch heute gibt es in Trappes zumindest zwei polizeibekannte Gangs.“

De Belfort bedachte ihren neuen Mitarbeiter mit einem anerkennenden Seitenblick und machte sich im Geiste eine kleine Notiz: Engagiert, interessiert, hat seine Hausaufgaben gemacht.

„Sehr richtig“, holte sie der Gerichtsmediziner aus ihren Gedanken und nickte Perrec anerkennend zu. „Auf den ersten Blick kommt aber in diesem Falle keine Bandenkriminalität in Frage, wenn ich mir erlauben darf, meine Meinung kundzutun.“ Die Kommissarin unterdrückte ein Lächeln und schaute Docteur Dupin auffordernd an.

„Nur zu.“

Sie mochte diesen etwas schrulligen Doktor, der sie mit seinem grauen Haarkranz und der leicht untersetzten Figur an ihren Chemielehrer aus der Abiturklasse erinnerte.

Docteur Dupin stemmte beide Hände in die Hüften und bog seinen Oberkörper nach hinten, wobei er ein leidendes Stöhnen hören ließ.

„Diese Jungs gehen meist überaus brutal vor, wie Sie wissen. Sie benutzen Messer oder Schusswaffen, in letzter Zeit vor allem halbautomatische Waffen und sogar Maschinenpistolen.“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge und ließ seine Schultern kreisen. „Was diesen jungen Herrn hier betrifft“, er wies auf die Leiche, „sind die sichtbaren Verletzungen, na sagen wir mal, eher harmlos.“ Docteur Dupin räusperte sich umständlich, als er Perrecs fragenden Blick sah. „Sie deuten auf eine Schlägerei hin. Nicht übermäßig brutal, aber schmerzhaft.“

„Könnten Sie das bitte präzisieren?“, warf de Belfort ein.

„Aber gerne, Madame. Das Opfer hat einen ordentlichen Schlag auf die Nase bekommen, ein blaues Auge und ein handtellergroßes Hämatom auf der rechten Schulter. Wie von einem Schlag, ich kann es noch nicht genau sagen. Solche Blessuren sind nun wirklich untypisch für eine Abrechnung im Bandenmilieu. Das hat eher etwas von einer Jahrmarktschlägerei.“

Docteur Dupin kratzte sich am Hinterkopf und schmunzelte, so, als freue er sich über diesen gelungenen Vergleich. Dann wurde er wieder ernst.

„Selbstverständlich haben diese Verletzungen nicht zum Tode geführt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie dem Opfer nicht bereits einige Stunden zuvor beigebracht wurden. Und es gibt noch ein weiteres Indiz, dass wir es hier nicht mit Bandenkriminalität zu tun haben.“

Docteur Dupin legte eine Kunstpause ein, als müsse er bei seinen Zuhörern die Spannung steigern.

„Giftmorde kommen in dieser Szene nämlich eher selten vor.“

„Giftmorde? Es ist also eindeutig Mord? Und Sie tippen auf Gift? Ich hatte mich nämlich gerade gefragt, ob der Tote nicht eventuell einen Herzinfarkt erlitten haben könnte. Als direkte Folge der Schlägerei, das wäre doch denkbar. Der Angreifer gerät daraufhin in Panik und verfrachtet den Toten ins Karussell.“

De Belfort blickte den Gerichtsmediziner fragend an und nahm wahr, wie Perrec neben ihr ein kleines gebundenes Heft aus der Tasche zog und begann, sich Notizen zu machen.

„Ja, Madame, denkbar wäre das. Doch so wie es aussieht, ist dieser junge Mann hier“, er wies mit dem Kopf hinter sich, „vergiftet worden. Bei näherer Betrachtung sind die Hinweise recht eindeutig. Sehen Sie hier“, sein Finger schwebte über dem leicht geöffneten Mund der Leiche, „die Lippen weisen eine charakteristische blaue Verfärbung auf und an der Zunge haben wir eine, wenn auch nur schwach sichtbare, Geschwulstbildung.“

Er nahm seine silbern gefasste Nickelbrille ab und wischte mit dem Zeigefinger über die Gläser.

„Ich würde sagen, er ist seit vier bis sechs Stunden tot. Genaues aber, wie immer, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte.“

„Was macht Sie so sicher, dass es kein Suizid war? Der Mann mag in eine Schlägerei verwickelt gewesen sein, doch sein Tod muss damit nicht in unmittelbarer Verbindung stehen. Immerhin könnte er sich danach selbst das Leben genommen haben.“

Loïc Perrec schaute kurz von seinem Notizblock auf und ließ den Stift über dem Papier schweben, bereit, die Antwort schon zu notieren, noch während sie ausgesprochen wurde. Bevor er die Augen wieder senkte, fing er den zweifelnden Blick seiner Chefin auf.

Der Doktor wiegte den Kopf. „Ich kann es natürlich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es gibt Druckstellen an den Armen, die nicht zu den restlichen Verletzungen zu passen scheinen. Ich würde sagen, sie sind ihm später, womöglich kurz vor Eintritt des Todes, zugefügt worden. Als sei er festgehalten worden.“

Den letzten Satz hatte Docteur Dupin sehr leise ausgesprochen, so als grüble er beim Sprechen über die Wahrscheinlichkeit seiner Vermutung nach. Dann fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Aber, wie gesagt, ich muss ihn mir erst aus der Nähe betrachten. Und nun überlasse ich Ihnen das Feld, wenn Sie erlauben.“

Mit einem festen Händedruck verabschiedete er sich von der Kommissarin und ihrem Inspektor und stapfte zu seinem Auto, das außerhalb der Absperrungen geparkt war.

„Möchten Sie zuerst mit dem Typen sprechen, der ihn gefunden hat?“, fragte der junge Bretone. „Ein Obdachloser aus Marseille, der erst seit ein paar Tagen in Paris ist.“

Er zeigte quer über den Platz auf eine kleine Gruppe von Männern. Zwei Gendarmen unterhielten sich mit einem älteren Mann, der beide Hände fest um einen Kaffeebecher geschlossen hatte. Zu seinen Füßen stand ein alter Rucksack, an dem eine aufgerollte rosarote Isomatte festgeschnallt war.

„Macht einen intelligenten und nicht allzu verwahrlosten Eindruck“, präzisierte Perrec. „Aber er hat einen ganz schönen Schrecken bekommen, der Arme.“

„Die Stadt hat sich ihm ja auch weiß Gott nicht von ihrer besten Seite gezeigt, um ihn willkommen zu heißen“, murmelte de Belfort. „Um ihn kümmern wir uns später.“ Die Kommissarin berührte ihren neuen Mitarbeiter leicht an der Schulter.

„Bereit?“

Perrec nickte und kurz darauf zwängte er seine ein Meter neunzig lange Gestalt in die Enge des Miniatur-Ballonkorbes. Die Kommissarin gab dem Kollegen von der Spurensicherung, der einige Meter weiter den Boden untersuchte, ein kurzes Zeichen.

„Wir gehen jetzt da rein, venez, kommen Sie bitte“, rief sie ihm zu und drehte sich wieder zu ihrem Inspektor um.

„Ja, er wird hier dringend gebraucht“, kam es gedämpft aus dem Innern der Karussellfigur. „Ich habe nämlich etwas gefunden.“

Perrec hielt einen Zettel zwischen seinen behandschuhten Fingern und streckte ihn seiner Chefin entgegen. „Offensichtlich hat der Mörder seine Visitenkarte hinterlassen. Ein weiterer Beweis dafür, dass es sich hier nicht um die Tat einer kriminellen Gang handelt.“

„Was macht Sie so sicher?“ De Belfort beugte sich vor und nahm den kleinen Zettel entgegen. Während sie las, fuhr sie mit dem Finger über die Schrift. Nein, dieses Zeichen hatte keine Jugendbande hinterlassen, um sich die vermeintliche Heldentat auf die Fahnen zu schreiben. Vorurteile hin oder her, dachte die Kommissarin und verbot sich ein Schmunzeln. Ein Vierzeiler mit jambischem Versmaß passte nicht ins intellektuelle Repertoire von Mitgliedern einer Straßengang.

Völlig reglos stand er dort, auf der Anhöhe, dicht bei den mächtigen Mauern des Palais de Chaillot. Eine kleine Ewigkeit verharrte er nun schon so, ohne die geringste Bewegung. Doch dann, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, hob er langsam ein Fernglas vor die Augen. Die starken Gläser fingen für den Bruchteil einer Sekunde das Mondlicht ein, bevor sie auf die Szenerie gerichtet wurden, die sich einige hundert Meter weiter unten abspielte. Aufgeregt blinkende Blaulichter, ernste Gesichter, eine Bahre gleich neben dem Wagen eines Bestattungsinstitutes. Er bewegte das Glas ein wenig weiter nach rechts. Eine attraktive, dunkelhaarige Frau erschien in seinem Blickfeld und für einen kurzen Moment erschrak er über ihre plötzliche Nähe. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand und schien zu lesen.

Gestohlen hast, mit wilder GierNicht nur der Fremden Hab und GutDen Glauben, Liebe, nahmst Du mirUnd kommt der Tag, versiegt Dein Blut

Seine Lippen formten die Worte lautlos. Dann lächelte er, ließ das Fernglas sinken und stieg den Weg zur Avenue Paul Doumer hinauf.

Hinter dem Eiffelturm ging die Sonne auf.

Quai des Orfèvres, 1. Arrondissement

„Die Chefin schickt dich alleine da raus?“

Leutnant Sébastien Malbert schlug einen mitfühlenden Ton an, doch sein spöttischer Gesichtsausdruck sprach eine ganz andere Sprache. Grinsend lehnte er in seinem Bürostuhl, seine Beine lässig übereinandergeschlagen und auf dem kleinen Stahlcontainer ausgestreckt, der direkt neben seinem Schreibtisch stand. Teure Schuhe, dachte Perrec und musterte seinen Teamkollegen. Überhaupt schien Malbert einen anspruchsvollen Geschmack zu haben. Das Hemd zierte eine Stickerei, die auf ein bekanntes amerikanisches Label hinwies und seine Uhr mit dem extrabreiten Stahlarmband hatte sicher ihren Preis. Wie zum Beweis blitzten die Diamanten auf dem Ziffernblatt in der Sonne, als er sich mit der Hand durch die gegelten schwarzen Haare fuhr. Eine goldgeränderte Fliegerbrille der Marke Ray-Ban komplettierte das Outfit. Für Perrecs Geschmack etwas zu dick aufgetragen. Der Inspektor war kein Freund von zu schnellen Urteilen, was den Charakter seiner Mitmenschen anging. Dennoch hatte er sich schon ein Leben lang auf seinen Instinkt verlassen können, und was seinen Kollegen anbetraf, so hatte er sich in den letzten Tagen eine Meinung gebildet: Malbert war ein Angeber. Leidenschaftliches Engagement und herausragende Menschenkenntnis, das sind die Attribute, die unseren lieben Loïc in ganz besonderem Maße auszeichnen! Das hatte sein ehemaliger Vorgesetzter in der Dienststelle von Perros-Guirec in seiner Abschiedsrede für den scheidenden Leutnant Perrec geschmettert und dabei sein Glas erhoben. Perrec musste lächeln, als er daran dachte, und prompt deutete Sébastien Malbert die Regung seines Gesichtes falsch.

„Da lacht er, der Bretone!“ Mit einem Ruck stellte er beide Füße auf den Boden. „Lass es dir von einem Experten wie mir gesagt sein, Kumpel, die Banlieue ist nur was für die ganz Harten unter uns.“

Inzwischen hatten sich auch einige Beamte aus anderen Teams an ihren Tischen in dem spartanisch eingerichteten Großraumbüro eingefunden, dessen einziger Schmuck die altmodischen, bodentiefen Fenster waren, die die gesamte Längsseite des Raumes dominierten und den Blick zur Seine freigaben.

„Oh là là, la Banlieue!“ Als hätte Malbert ein Zauberwort ausgesprochen, machten sofort haarsträubende Schauergeschichten die Runde. Es entflammte ein regelrechter Wettstreit darüber, wer von ihnen da draußen, wie sie es nannten, die gefährlicheren Situationen gemeistert hatte. Nach einer Weile stand schließlich eine kleine und eher unscheinbar wirkende Polizistin auf und streckte beide Arme beschwichtigend in die Höhe.

„Nun lasst mal gut sein“, lachte sie. „So dramatisch ist die Lage dort nun auch wieder nicht.“ Sie ging zu Perrecs Schreibtisch und reichte ihm die Hand. „Ich bin Nathalie Martin“, sagte sie und schaute ihn aus dunklen, intelligenten Augen an. „Ich gehöre auch zum Team. Ich habe heute meinen ersten Tag nach dem Urlaub, deshalb sind wir uns noch nicht begegnet.“

Sie fuhr sich mit einer schnellen Handbewegung durch die kurzgeschnittenen dunkelblonden Locken.

„Keine Panik vor den Vorstädten, Kollege. Sicher gibt es in manchen Banlieues Quartiere, in denen man als Fremder, also gewissermaßen als Eindringling, nicht gerne gesehen ist. Aber wir wissen doch alle, dass man in unserem Job an jedem Ort aufmerksam sein muss. Also hören Sie nicht auf die Horrorgeschichten.“

Mit einem milde strafenden Lächeln schaute Nathalie in die Runde und wandte sich dann wieder dem Inspektor zu.

„In der Banlieue gibt es neben Dealern und Kleinkriminellen vor allem eines: Menschen, die dort wohnen und auch nicht freundlicher oder unfreundlicher sind als anderswo. Sie werden Ihre erste Nachbarschaftsbefragung meistern, dessen bin ich mir sicher.“

Sie zog sich einen Stuhl heran und fuhr mit leiserer Stimme fort.

„Sie wissen ja, dass Madame le Commissaire heute Morgen gleich vom Tatort aus in die Wohnung des Toten gefahren ist, nicht wahr? Es scheint dort niemand außer Michel Souliac zu wohnen. Laut Datenbank war unser Opfer nicht verheiratet und hatte keinerlei Familie in Paris. Einige Vorstrafen wegen Einbruchsdelikten. Sie schob ihre Haare hinters Ohr, die ihr kurz darauf wieder ins Gesicht fielen. „Aber das wird die Chefin uns heute Abend während unseres Meetings berichten. Wir machen davon jeden Tag zwei. Eines bei Dienstbeginn und ein weiteres abends. Heute Morgen muss es ausfallen, weil de Belfort gerade einen Termin beim Staatsanwalt hat. Und deshalb fahren Sie jetzt auch nach Trappes.“

Sie gab Perrec einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und ging zurück zu ihrem Schreibtisch, zog die oberste Schublade auf und fischte ein Karamellbonbon daraus hervor, das sie sofort aus der goldenen Verpackung wickelte. Malbert warf ihr einen Blick zu, der gleichermaßen Vergnügen und Missbilligung ausdrückte. Und es war ihm völlig egal, dass auch der Inspektor ihn gesehen hatte.

Einige Stunden später befand sich Loïc Perrec schon wieder auf dem Rückweg zum Quai des Orfèvres. Missmutig starrte er durch die schmutzigen Fenster des Vorortzuges, in den er vor gut zehn Minuten in Trappes eingestiegen war. Noch keinen Monat in Paris und schon schicken sie mich mitten in die Banlieue, dachte er und betrachtete die nicht enden wollenden Reihen von Hochhäusern, die in schneller Abfolge an seinem Auge vorbeizogen. Schäbige Balkone, auf denen Kühlschränke vor sich hin gammelten und Wäsche an Plastikleinen im Wind flatterte, folgten auf Miniaturgärten mit liebevoll bepflanzten Blumenkübeln und bunt gestrichenen Klappstühlen. Dank der ungeputzten Zugfenster lag über allem eine schmierige, graubraune Schicht. Perrec rümpfte die Nase. Er wandte den Kopf ab und fing den Blick einer jungen Frau auf, die ihn vom Platz schräg gegenüber beobachtete. Ertappt senkte sie die Augenlider und betrachtete scheinbar konzentriert ihre in einem grellen Neon lackierten Fingernägel.

„Pardon!“

Perrec zuckte erschrocken zusammen, denn sein Sitznachbar hatte sich schnaufend erhoben und beugte sich nun gefährlich nahe über ihn. Der wuchtige Mann legte die flache Hand auf den oberen Teil des Zugfensters und drückte es geräuschvoll zu.

„Es zieht“, präzisierte er und ließ sich mit einem Ächzen wieder auf den Sitz fallen. Loïc Perrec nickte ihm freundlich zu und fischte sein Notizheft aus einer der zahlreichen Taschen seiner Outdoor-Jacke. Bevor der Zug am Bahnhof Montparnasse in Paris ankam, wollte er alle Ergebnisse seiner Befragung, die er heute durchgeführt hatte, notiert haben. Sein Bleistift verharrte über der noch unbeschriebenen Seite. Viel herausgekommen war bei seinen Bemühungen nicht. Er schaute noch einmal zum Fenster hinaus, bevor er sich leise seufzend über das kleine Büchlein beugte.

Abweisende Fassaden in Grau und Beige hatten den Inspektor empfangen, als er an diesem Morgen die Adresse von Michel Souliac nach einigem Suchen endlich gefunden hatte. Der junge Bretone hatte sich unwohl gefühlt, als er durch die wenig belebten Straßen, vorbei an Hochhäusern und endlosen Reihen geparkter Autos, gelaufen war. Eine solche Gegend, bestehend aus nichts als Wohnsilos, die in den Himmel ragten, kannte er bisher nur aus Kriminalfilmen oder aus den Nachrichten. Doch das ungute Gefühl, das mit jedem Schritt deutlicher wurde, hatte sich vor allem aus seiner Orientierungslosigkeit gespeist, die ihn in dieser ihm völlig unbekannten Umgebung befiel. Angst hatte er dagegen keine empfunden. An einer Kreuzung war er schließlich stehengeblieben und hatte sich umgeschaut. Schnurgerade Straßen führten zu fast identisch aussehenden Häuserzeilen. Graue Pflastersteine, die den Weg zu den Eingängen wiesen, beschmierte Betonklötze, deren zum Teil offenstehende Metalltüren den Blick auf überquellende Mülltonnen freigaben, einige Quadratmeter Grünflache. Und nirgends ein Straßenschild. Nur eine Straßenlaterne, die sich schon bedenklich in Richtung Boden neigte und an die mit einem schweren Schloss ein Fahrrad gekettet war, das nur noch aus einem verrosteten Rahmen bestand.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Eine ältere Dame, die einen Einkaufstrolley hinter sich herzog, war neben Perrec stehengeblieben und hatte ihn freundlich angeschaut.

„Sieht alles gleich aus hier, nicht wahr?“

Sie hatte ihn angelächelt und unbeschwert drauflos geplaudert, so als würden sie beide sich bei einer Tasse Kaffee gegenübersitzen und nicht an einer unbelebten Straßenecke in einem der angeblich gefährlichsten Viertel der Pariser Banlieue stehen.

„Sie sehen mir nicht aus, als würden Sie hier öfter verkehren“, hatte sie festgestellt und sich mit der freien Hand die Nase gekratzt. „Bestimmt kommen Sie aus Paris, nicht wahr? Nun ja, da haben wir es hier nicht ganz so schön.“ Mit einer vagen Geste hatte sie auf die Straße hinter ihr gewiesen und ein meckerndes Lachen ausgestoßen. „Das hier sind nicht gerade die Champs-Elysées.“

„Eigentlich komme ich aus der Bretagne“, hatte Perrec sich auf das Gespräch eingelassen. „Ich bin noch nicht lange in Paris und Sie haben recht, hier in Trappes war ich noch nie. Und da Sie mich so freundlich gefragt haben: Ja, ich suche tatsächlich eine bestimmte Adresse. Kennen Sie die Rue …", er zögerte und kramte einen Zettel aus seiner Jackentasche. Kaum hatte er ihn entfaltet, beugte sich die Frau auch schon darüber und zwinkerte angestrengt, während sie las.

„Ah, Monsieur, Sie haben Glück, da haben Sie es nicht mehr weit. Nur noch ein Stück diese Straße hinunter und dann die nächste rechts.“

Perrecs Blick war ihrem ausgestreckten Arm gefolgt. Mit dem Zeigefinger hatte sie auf einen Punkt in etwa 50 Metern gedeutet.

„Merci Madame, merci beaucoup für Ihre Hilfe.“

„Aber gerne, aber gerne“, hatte sie erwidert und ihm noch einmal lächelnd zugenickt. Mit einem dankbaren Schmunzeln hatte Perrec ihr nachgeschaut, als sie mit energischen kleinen Schritten den holprigen Bürgersteig entlanglief und ihr bunter, rollender Einkaufskorb dabei kleine Hüpfer vollführte.

Kurz darauf hatte der Inspektor die Adresse schließlich gefunden und bei den direkten Nachbarn von Michel Souliac mit der Befragung begonnen.

Und nun, mehr als zwei Stunden später, hockte er in einem Vorortzug und brachte kaum drei vollständige Sätze zu Papier. Er las das Wenige, das er bereits geschrieben hatte erneut und setzte hinzu: Befragung der anwesenden Personen im Haus Nr. 116 ergab kaum Hinweise auf den Toten. Laut der Nachbarn ein Einzelgänger, der außer von einer etwa dreißigjährigen Person – er notierte rasch die Personenbeschreibung, die Souliacs direkte Nachbarin, Mademoiselle Hérault, ihm gegeben hatte – niemals Besuch bekam. Dann rief er sich das Gespräch mit der jungen Frau ins Gedächtnis zurück. Er hatte den Schrecken auf ihrem Gesicht gesehen, als er sie über den Grund für sein Kommen unterrichtet hatte. Doch sie hatte sich erstaunlich schnell gefangen und während der folgenden Unterhaltung betont lässig gewirkt. Zu lässig, wie Perrec nicht ohne Interesse registriert hatte.

„Das muss mindestens schon ein Vierteljahr her sein, dass ich ihn gesehen habe“, hatte sie sich zu erinnern versucht und dabei scheinbar gedankenverloren an einem Fleck auf ihrem T-Shirt gerieben, den der Inspektor für eingetrockneten Ketchup hielt. Er habe sich überhaupt nur sehr selten in der Wohnung aufgehalten, hatte sie eine Spur zu bereitwillig erzählt und mit einem fast entschuldigenden Lächeln hinzugefügt: „Was mir sehr recht war, so ist es einfach ruhiger. Im Haus ist schon genug Lärm.“

Wie auf Kommando war daraufhin in einem der Zimmer, die hinter der jungen Frau im Halbdunkel ihrer Wohnung lagen, die Tür aufgeflogen und mit einem dumpfen Schlag gegen eine der Wände gekracht. Begleitet von ohrenbetäubendem Geschrei war die Silhouette eines Kindes über den engen Flur gejagt und in einem weiteren Zimmer verschwunden. Die Puppe, die es hinter sich herzog – ein schlabberiges Etwas mit wild abstehenden Haaren aus gelber Wolle und unnatürlich langen Gliedmaßen – blieb in der Tür hängen und so dauerte es einen Moment, bis letztere mit lautem Knall ins Schloss gefallen war. Suzanne Hérault hatte genervt die Augen verdreht, aber Perrec hatte dennoch das nervöse Flattern ihres Blickes bemerkt. Als keine Sekunde später, mitten in die plötzlich eingetretene Stille, der Türschlüssel von der Erschütterung wie in Zeitlupe aus dem Schloss geglitten und mit einem scheppernden Geräusch auf dem Fliesenboden aufgeschlagen war, hatte Perrec sich fast in eine Szene aus einem Slapstick-Sketch versetzt gefühlt. Doch die leise Spannung, die von seinem Gegenüber ausging, war dennoch deutlich spürbar gewesen.

Er notierte die Essenz des Gespräches und ließ dann den Stift sinken. Die junge Frau hatte zu vehement den Eindruck erwecken wollen, dass sie ihren Nachbarn kaum gekannt hatte.

Der Inspektor versuchte, es sich in seinem Sitz ein wenig bequemer zu machen und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Der Zug verlor an Geschwindigkeit und der junge Inspektor erkannte die blauen Bahnhofsschilder von Meudon. Jetzt war es nicht mehr weit, er musste sich beeilen, wenn er seine Aufzeichnungen noch im Zug abschließen wollte. Menschen stiegen aus, andere ein, und aus den Augenwinkeln nahm Perrec etwas Rotes wahr. Während sein Bleistift über das Papier kratzte, erinnerte er sich an das Gespräch mit Monsieur Laguerre.

„Ja, ganz recht, Laguerre, Monsieur l´Inspecteur, wie der Krieg“, hatte der Alte gepoltert, nachdem Perrec sich ihm vorgestellt hatte. Genau wie die Nachbarin zuvor, hatte auch er den Polizisten nicht hereingebeten und der hatte nicht darauf bestanden. Bereits nach den ersten Sätzen hatte er festgestellt, dass der dreiundachtzigjährige ehemalige Malermeister nicht mehr besonders gut hörte und am liebsten mit seinen Kopfhörern Radiosendungen aus aller Welt lauschte. Hier war nicht viel zu erwarten gewesen. Auch er hatte seinen Nachbarn schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Doch diese Aussage war nicht wirklich etwas wert, denn Monsieur Laguerre verließ kaum noch seine vier Wände. Seine Enkelin, so hatte er ihm berichtet, versorgte ihn mit Lebensmitteln und kochte ab und an für ihn. Perrec ließ sich die Adresse der jungen Frau geben und verabschiedete sich. Als er in dem nur spärlich erhellten Flur fast schon die Treppe erreicht hatte, war ihm ein Gedanke durch den Kopf geschwirrt. Doch er war so diffus, dass er mit ihm nichts anfangen konnte.

Kein nennenswerter, geradezu nicht existenter Kontakt zu den Nachbarn, notierte Perrec in sein Notizbuch und klappte es zu. Nicht ungewöhnlich für einen solch anonymen Wohnblock, dachte er, aber dennoch störte ihn etwas. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier irgendetwas nicht stimmte.

Ein plötzlicher Schmerz riss den Inspektor aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. „Pardon.“ Die junge Frau in einem knallroten Trägerkleid, die vorhin neben ihm Platz genommen hatte und ihm nun gerade auf den Fuß trat, machte sich nicht einmal die Mühe, ihn während ihrer genuschelten Entschuldigung anzusehen. Mit beiden Händen zog sie am Griff des Klappfensters bis es endlich nachgab. „Verdammte Hitze hier drin“, fluchte sie und ließ sich wieder in ihren Sitz fallen.

Perrec war sich nicht sicher, ob sich das, was da im Innern seiner Kehle emporzusteigen versuchte, zu einem brüllenden Lachen oder einem Hustenanfall auswachsen würde. Beides galt es unbedingt zu vermeiden. Er presste die Handflächen aneinander und versuchte, sich zu konzentrieren. Bilder der bretonischen Küste tauchten vor seinem inneren Auge auf und er spürte, wie er sich beruhigte. Und noch etwas anderes spürte er. Heimweh.

Trappes en Yvelines, 30 Kilometer von Paris