Frühling im Oktober - Sophie Lamé - E-Book

Frühling im Oktober E-Book

Sophie Lamé

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Beschreibung

Als Helen von ihrem Chef für ein Jahr nach Paris geschickt wird, ahnt sie nicht, dass dieser Schritt in ein neues Leben eine wahre Kettenreaktion auslöst. Nicht nur für ihre Freundin Viviane, auch für den Journalisten Mike und für Klaus – einen an seiner tragischen Vergangenheit verzweifelnden Mann – beginnt mit der Reise in die Stadt der Liebe ein ganz besonderes Abenteuer. So, wie auch für die lebenslustige, aber ein wenig rätselhafte Charlotte nichts so bleiben wird, wie es war. Eine Geschichte über die Macht des Schicksals, die fantastisch verschlungenen Wege des Lebens und den Mut, die Chancen darin zu erkennen. Und eine wunderbare Liebeserklärung an Paris.

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Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Sophie Lamé

Frühling im Oktober

Ein Paris-Roman

Imprint

Frühling im Oktober Sophie Lamé Copyright: © 2014 Sophie Lamé All rights reserved ISBN: 978-3-7375-0624-3

Pour mes parents

La grande affaire et la seule qu´on doive avoir, c´est de vivre heureux. (Voltaire)

Die große Aufgabe und die einzige, die man haben sollte, ist glücklich zu leben.

Prolog

Ich stelle mir oft vor, wie es wäre von einem fernen Planeten auf unsere Erde zu blicken und alles wie durch ein riesiges Vergrößerungsglas zu sehen. Und genauso, wie man die rasante Drehung eines Tisch-Globus stoppt, indem man den Finger auf eine bestimmte Stelle legt, so würde ich mir Paris unter meine Weltenlupe holen.

Meine Stadt! Straßen und Plätze breiten sich vor meinen Augen aus. Ich erkenne Menschen, winzig klein wie Spielzeugfiguren. Sie streben ihren Zielen zu, während eine höhere Macht ganz Anderes mit ihnen vorhat. Sie spüren nicht das zarte Netz aus tausend kleinen Lichtpunkten, das sie umfängt. Und das einige von ihnen miteinander verbindet, lange bevor sie sich im Gewirr der Großstadt begegnen. Gespannt harre ich aus auf meinem Beobachterposten und sehe dem Schicksal zu, wie es seine Spur auslegt und sie kurz darauf wieder verwischt.

Meine eigenen Spuren erkenne ich nicht. Sie sind seit Jahren unter einer dicken Nebelschicht verborgen. Mein Leben begann, als ich 21 Jahre alt war. Am Ufer der Seine, nicht weit von Notre Dame. Frühling in Paris. Davor ist nichts als Dunkelheit. Ich überlasse es dem Schicksal, sie zu erhellen.

EINS

Bad Homburg. Montag, 27. Juni 2011

Goldene Sonnenstrahlen wärmten ihr Gesicht während sie in den grenzenlosen, tiefblauen Himmel blickte. Das Gras zwischen ihren Fingern war samtweich und duftete herrlich. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert. Eine kuschelweiche Decke aus Liebe und Geborgenheit hüllte sie ein und das intensive Glücksgefühl floss wie süßer Honig durch ihre Adern. Helen Thallinger schloss die Augen, doch der blaue Himmel war immer noch da und spannte sich über den raschelnden Blättern und dem Gezwitscher der Vögel. Leise Musik gesellte sich zu den Geräuschen der Natur. Wie wunderbar, dachte sie und breitete ihre Arme aus. Die Musik wurde lauter und vermischte sich mit dem Rauschen des Windes. Helen machte sich bereit, in den azurblauen Himmel zu schweben und, von den Klängen getragen, die Schönheit des Augenblicks von oben zu betrachten. Aaach … Schweben …

Das schrille Stakkato eines nervenzerreißenden Pieptons riss kreischend ein Loch in die Harmonien. Graue Nebelschwaden trübten den himmelblauen Horizont. Und dann … „auf der A5 zwischen Heidelberg und Schwetzingen vier Kilometer zähfließender Verkehr.“ Ruckartig schoss Helens Oberkörper in die Höhe. Mit wild klopfendem Herzen spürten ihre Gedanken den Bildern nach, die schon begannen, sich in Nichts aufzulösen. Sie hatte geträumt. Seufzend ließ sie sich zurück in die Kissen fallen. Sie hatte keine Lust aufzustehen. Doch ein Blick auf die leuchtenden Ziffern ihres Radioweckers verriet ihr, dass sie den Montagmorgen mit all seiner Routine nun nicht mehr länger warten lassen konnte. Mit einem erneuten Seufzer gab sie ihrem müden Körper einen Ruck und schwang die Beine über die Bettkante.

„So schnell können Träume zerplatzen“, murmelte Helen und brauchte drei Anläufe, um ihren rechten Fuß in den Hausschuh gleiten zu lassen. „In einer Sekunde noch berauscht vom Glücksgefühl und schon in der nächsten wieder auf der Matratze der Realität gelandet.“ Sie schmunzelte über ihre eigenen Worte und band ihre langen, haselnussbraunen Locken zu einem wuscheligen Knoten. Frisch geduscht tappte sie fünf Minuten später mit der Zahnbürste im Anschlag in die Küche, um schon einmal den Kaffee aufzusetzen. Zu geschäumter Milch reichte die Zeit nicht, aber dafür war auch kein Zucker mehr im Hause. Prima! Sie huschte zurück ins Bad, nahm unterwegs die gewaschenen und bei näherem Anfühlen auch noch nicht völlig getrockneten Nylons vom Wäscheständer und machte sich kurz darauf daran, die Kontaktlinsen in ihre noch müden und verquollenen Augen zu platzieren. Teebeutel halfen da, fiel ihr ein. Aber auch dafür war an diesem Morgen des letzten Montag im Juni keine Zeit. Was jetzt noch fehlte, war die Konfrontation mit dem Kleiderschrank. Ihre Lieblingsblusen waren wie immer im Wäschekorb, wo sie traurig und ineinander verschlungen lagen und auf ihre wohlverdiente Bügeleisen-Behandlung warteten. Seit Tagen! Ein verzweifelter und gehetzter Blick in den Schrank bestätigte das, was sie bereits geahnt hatte. Nichts drin! Zumindest nichts, das annähernd bürotauglich gewesen wäre. Aber vielleicht ginge ja doch die weiße Bluse mit den kurzen Ärmeln. Ihren von Natur aus braunen Teint würde das Weiß des Stoffes noch besser zur Geltung bringen. Davon ablenken, dass die Bluse gut und gerne eine Konfektionsgröße größer hätte sein dürfen, konnte sie dennoch nicht. Nicht auch das noch! Dieser Montagmorgen war wirklich zu knapp getaktet, um sich über Gewichtsprobleme oder die Süßigkeiten von gestern Abend Gedanken zu machen. Es half alles nichts, sie brauchte etwas zum Anziehen. Ihr Blick fiel auf den einzigen Stuhl im Schlafzimmer. Die Lehne diente als Ablageplatz für diverse Schichten mehr oder weniger knitterfreier Kleidungsstücke und Helen fragte sich, wie es möglich war, dass für dieses Sitzmöbel die Gesetze der Schwerkraft offensichtlich nicht galten. Zielsicher angelte sie sich eine halbwegs glatte dunkelblaue Jeans aus dem Stapel und entdeckte zwei Lagen darunter ihren neuen himbeerroten Pullunder. Die optimale Ergänzung zu einer zu eng gewordenen, aber gebügelten Bluse, freute sich Helen. Jetzt nur noch die passenden Schuhe. Wie gut, dass man wenigstens die mit wenig Aufwand ausgehbereit halten konnte. Auf Zehenspitzen, wegen der nicht parketttauglichen Absätze, flitzte sie in die Küche und schenkte sich eine Tasse aus ihrer geliebten italienischen Kaffeemaschine ein. Dann ging’s mit dem Becher zurück ins Bad, wo sie die letzten, alltäglichen Handgriffe erledigte. Make-up auftragen, Wimperntusche in dunkelbraun, ein wenig Rouge und zum Schluss braungoldener Lippenstift. Ein prüfender Blick in den Spiegel – und schon war Helen aus der Haustür.

Sie fuhr ihr Cabriolet aus der Garage und gab Gas. Ihr Arbeitsplatz war nur einige Kilometer von ihrer Wohnung entfernt und sie genoss die Fahrt durch die liebliche Taunuslandschaft. Das Auto, das ihr in einer Haarnadelkurve mit viel zu geringem Abstand entgegen kam, sah sie in allerletzter Minute. Mit erschrecktem Hupen wich Helen aus und brüllte ein wütendes „Connard!“ in ihren Rückspiegel. Es kam öfter vor, dass sie auf Französisch fluchte. Sie fand, dass es eleganter klang und sie fühlte sich dabei irgendwie frei, cool – Französisch eben. Das hätte schiefgehen können, dachte sie. Aber der linke Außenspiegel war dem Tode knapp entronnen und so legte sie die letzten Meter unbeschwert zurück. Eine Biegung noch und schon war das imposante Tor der Firma zu sehen, in der sie dafür sorgte, dass die dort produzierten Kosmetikartikel ihren Weg in deutsche und internationale Badezimmer fanden.

So schnell es auf ihren hohen Absätzen möglich war, hastete sie über den Parkplatz zum Eingangsportal von La Luna Cosmetics. Die dunkel getönten Glastüren schoben sich mit lautloser Eleganz auseinander und Helen betrat das mit hellgrauem Marmor ausgestattete Foyer. Besuchern fielen als erstes die riesigen, silbergrauen Buchstaben auf, die, durch indirektes Licht in Szene gesetzt, einen Halbmond bildeten.

„Guten Morgen!“ Heute saß Isabell am Empfang und auch sie schien keinen allzu gelungenen Start in den Tag gehabt zu haben. Die blonden Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht und schrien förmlich nach einem Kamm. Auch die Wahl ihrer Garderobe ließ zu wünschen übrig. Verdrossen schaute sie von ihrem Computerbildschirm auf und erwiderte den Gruß.

Laut klapperten Helens Absätze über den spiegelblanken Boden. Sie versenkte ihren Autoschlüssel in den Tiefen ihrer dunkelbraunen Wildledertasche und noch während sie ihre Bluse zurechtzupfte, war sie bei den Aufzügen angelangt. Fast geräuschlos öffneten sich die silberverspiegelten Türen. „Hi, guten Morgen.“ Andi war wie immer strahlend guter Laune und sah aus wie aus dem Ei gepellt. Bei dem ist bestimmt immer eine ganze Kollektion gebügelter Hemden griffbereit und wahrscheinlich auch noch nach Farben geordnet, dachte Helen und zog die Augenbrauen ein wenig nach oben. Schon wollte sie an ihm vorbei in den Fahrstuhl schlüpfen, doch ihr Kollege aus der PR-Abteilung, der immer ein kleines bisschen zu braun war, hatte andere Pläne. „Wie war dein Wochenende, meine Schöne, hattest du Spaß?“, begann er das Gespräch. Wie sie das hasste, wenn er das zu ihr sagte. Meine Schöne, äffte sie ihn lautlos nach, als er seinen stets leicht arroganten Blick an ihr vorbei zum Empfang und damit zu Isabell schweifen ließ. Bestimmt sagte er das zu allen weiblichen Wesen, die ihm über den Weg liefen. Wahrscheinlich war nicht einmal seine keifende, 85-jährige Nachbarin vor seinem ewig grinsenden Charme sicher. Aber es gab wahrlich Schlimmeres. Kaum hatte sie ihre Lippen geöffnet, um zu einer Antwort auf seine Frage anzusetzen, prasselte auch schon ein Hagelsturm von Worten auf sie nieder. Sie machte ihren Mund wieder zu und obwohl sie sich bemühte, nicht hinzuhören, flatterten Wortfetzen in ihren Gehörgang und gelangten irgendwie bis zum Gehirn.

„Wunderschön, traumhaft, erst frühstücken gewesen im Lumen, herrliche Cabriotour, Candlelight-Dinner, Champagner, Nachtisch mit allem drum und dran im Bett.“

„Hoppla!“ Helen horchte auf. Andi war bei den intimen Details angelangt und das war nichts, was sie an einem Montagmorgen ertragen konnte. An einem Dienstagmorgen übrigens ebenso wenig. Eigentlich nie, dachte sie grimmig und machte sich innerlich bereit, die Erzählorgie ihres Kollegen zu unterbrechen.

„Du, sorry, aber ich habe gleich einen Termin“, hauchte sie ihm mit einem entschuldigenden Lächeln entgegen. „Hab noch einen schönen Tag und bis demnächst.“

Sie machte einige Schritte nach rechts und schlug mit der flachen Hand energisch auf den “Aufzug kommt“-Knopf. Als die Türen sich auseinander schoben und den Blick auf ihr eigenes Spiegelbild freigaben, hatte Andi schon sein nächstes Opfer entdeckt und eilte mit einem säuselnden „Guten Morgen, meine Schöne“ auf die Kollegin aus dem Controlling zu, die erst seit ein paar Wochen im Unternehmen war. Mögen deine Ohren noch nicht ganz wach und deine Nerven stark sein, wünschte Helen der Neuen im Geiste. Sie trat in die Kabine und atmete erleichtert auf, als der Aufzug sich mit einem kaum merklichen Zittern in Bewegung setzte.

„Du musst nach Paris!“, schmetterte Helens Chef ihr auf dem Flur des 3. Stockes, Abteilung Marketing und PR, entgegen. Wie festgewachsen stand er dort und sein erwartungsvoller Blick war fest auf sie gerichtet. Er strahlte über sein pausbäckiges Gesicht und sah ein bisschen aus wie der Nikolaus, der sich schon darauf freut, seine Geschenke an die braven Kinder zu verteilen.

„Wer, ich?“ Helen schielte über die eigene Schulter, konnte aber sonst niemanden entdecken.

„Natürlich du!“, donnerte es ihr entgegen. „Wer sonst spricht in diesem Saftladen hier Französisch und außerdem kennst du dich dort aus, stimmt‘s nicht?“

„Doch. Schon. Aber…“ Nein, das klang deutlich zu verzagt und kleinlaut. „Das hört sich spannend an“, setzte Helen deshalb etwas lauter hinzu.

„Dann komm mit in mein Büro, ich erkläre dir, worum es geht.“

Etwas unsicher folgte sie ihrem Vorgesetzten Joachim Dollinger, genannt Joe, über den langen Flur. Erst vor vier Monaten war er aus München ins Rhein-Main-Gebiet gekommen, um bei La Luna Cosmetics die Leitung des Bereiches Marketing und PR zu übernehmen. Und offensichtlich war er bereits dabei, dem Unternehmen neuen Schwung zu geben. Ein Gewittersturm von Gedanken fegte durch Helens Kopf. Paris, das war ja unfassbar genial! Aber wann? Oh Gott, ihre ungebügelten Blusen! Konnte sie die Sprache überhaupt noch gut genug? Was war das da für ein riesiger Fleck auf dem Teppich? Sollte sie fliegen oder den TGV nehmen? Nahm sie ihre Möbel mit? Hatte ihr Chef beim Laufen immer schon so einen Linksdrall gehabt? Und was sollte sie da eigentlich?

„Kaffee?“

Die Frage von Lina, der ein Meter achtzig großen Assistentin ihres Chefs, riss sie aus ihren verworrenen Gedanken.

„Oh ja, gerne.“ Helen fühlte sich ein wenig betäubt, als sie sich auf den ihr angebotenen Stuhl sinken ließ. Sie mochte Joes Büro, es war so ganz anders als die übrigen Zimmer auf diesem Stockwerk. Es gab keine Werke moderner Künstler an der Wand, sondern ein paar selbstgemalte Bilder seiner siebenjährigen Tochter Marie. Scheinbar wahllos klebten sie auf den weißen Schiebetüren eines Sideboards, das die gesamte Raumlänge einnahm. Die Stühle waren bequem und weit entfernt vom Design der Kreationen aus Chrom und schwarzem Leder, auf denen man so weit nach hinten rutschte, dass man von seinem Gesprächspartner gerade eben noch die Gesichtszüge erkennen konnte. Auf dem Schreibtisch ihres Chefs prangte denn auch keine Designerlampe, sondern ein goldfarbenes Ungetüm mit grünem, rechteckig-gewölbtem Schirm. Nach eigenen Angaben hatte er es auf dem Londoner Portobello Market erstanden und war überzeugt, dass in dessen Lichtschein schon Queen Mum ihre Post gelesen hatte. Helens Blick huschte über die zum Teil bedenklich windschiefen Stapel von Papieren, über Visitenkarten, angeknabberte Bleistifte und diverse Produktfotos. Joe nahm ihr gegenüber Platz, und als sie beide ihre dampfenden Kaffeebecher in Händen hielten und die Süßstofftäfelchen darin versenkten, begann er endlich zu sprechen.

„Du weißt doch, Helen, die Niederlassung in Paris läuft nicht wie gewünscht. Die Werbung greift nicht richtig und unsere Produkte verkaufen sich nicht so gut wie erwartet. Die Konkurrenz der einheimischen Konzerne ist einfach zu groß.“

Er verlagerte sein Gewicht und presste kurz die Lippen zusammen. Es folgte eine Pause und nachdem Joachim Dollinger einmal bedächtig durchgeatmet hatte, ging sein bayerisches Temperament mit ihm durch. Er polterte: „Die damischen Franzosen, die damischen, nix kammer ihnen recht machen, nix ist gut genug für den französischen Markt, Herrgott nochamal, wenn das so weitergeht, geht bald gar nix mehr. Mir san kurz davor, den Laden in Frankreich dicht zu machen und wer is wieder schuld, ja wer?“ Joe legte eine weitere Pause ein, um Atem zu schöpfen und schlug wütend mit der flachen Hand auf die Armlehnen seines Sessels.

„Ich! Ich!“ Er stieß einen kurzen und fast ungläubigen Lacher aus. „Angeblich passt unsere Marketingstrategie nicht zu den Bedürfnissen des französischen Marktes, HA! Herrgott Zeiten, des is wieder typisch. Wir in der Zentrale, ja, mir san wieder die Bösen, wir sind unfähig, richtige Konzepte zu entwickeln, verstehen angeblich unser Geschäft nicht.“

Helens Chef war inzwischen halb von seinem Stuhl aufgestanden und stützte sich so hart auf dem Schreibtisch ab, dass es aussah, als wolle er sogleich mit einem Sprung drübersetzen. „Da könnt ich narrisch werden. Wer kann unsere Strategie nicht umsetzen, ja wer denn? Die doch, die depperten Kollegen in Paris, die depperten!“

Den letzten Satz hatte er herausgebrüllt und aus den Augenwinkeln sah Helen, dass die Tür sich einen Spalt geöffnet hatte und Lina einen besorgten Blick ins Büro warf. Schon gut, bedeutete Joe ihr mit einer beruhigenden Geste und setzte sich wieder in seinem Stuhl zurecht. Er räusperte sich kurz, und etwas verlegen ob seines Zornesausbruchs beschrieb er Helen ausführlich und sehr sachlich, was er sich zur Rettung der französischen Niederlassung ausgedacht hatte. Und welche Rolle sie in diesem Plan spielen sollte. Zwei Tassen Kaffee und anderthalb Stunden später war sie bis ins Detail informiert und noch immer etwas benommen: Zum ersten September würde sie nach Paris ziehen. Für mindestens ein Jahr!

ZWEI

Nahe Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

Verflucht, das wäre um ein Haar schiefgegangen. Michael Brinkmann, den seine Freunde Mike nannten, riss erschrocken das Lenkrad nach rechts und steuerte den schwarzen Volvo wieder auf seine Fahrspur. „Konzentrier dich gefälligst“, fauchte er und strich sich wütend die Haare aus der Stirn. Schon den ganzen Morgen war er so durcheinander. Konfus und verworren schwirrten Gedanken durch seinen Kopf und ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Die Landschaft flog an ihm vorbei wie ein Film-Abspann, den man zwar sah, aber dennoch nicht wirklich wahrnahm. Dabei war die Natur um ihn herum schön wie im Bilderbuch. Dunkelgrüne Wiesen zogen sich in sanften Hügeln bis zum Horizont, an dem bereits die ersten Ausläufer des Hochtaunus sichtbar wurden. Hätte er ein wenig genauer hingeschaut, er hätte bemerkt, wie intensiv die Farbe der Blätter war, die sich sachte im Wind bewegten und sich dabei von den morgendlichen Sonnenstrahlen wärmen ließen. Doch für all das hatte Mike keinen Blick. Nachdem er seine Schwester heute ausnahmsweise zu ihrer Arbeitsstelle in einer Werbeagentur in Bad Homburg gefahren hatte, war er nun auf dem Weg zum Frankfurter Adventure-Verlag. Er musste unbedingt diesen Auftrag für einen Artikel ergattern! Es ging um eine Reportage, die gemeinsam mit der französischen Tochtergesellschaft des Verlagshauses realisiert werden sollte. Wenn er die Informationen aus dem Vorgespräch richtig interpretiert hatte, würde er zu Recherchezwecken auch einige Zeit in Paris verbringen. Mike fand diese Vorstellung herrlich. Außerdem brauchte er den Job auch aus finanziellen Gründen. Zu lange schon dauerte die Durststrecke nun und bald würde sein Erspartes so zusammengeschmolzen sein, dass es zum Leben nicht mehr reichte. „Hätte der Junge mal was Anständiges gelernt!“, hörte er im Geiste seine Mutter schnaufen. „Ewig diese Ungewissheit, wann der nächste Auftrag von einem Verlag kommt, kein geregeltes Einkommen, da kann man doch kein Leben ´drauf aufbauen. Ich weiß gar nicht, von wem der Junge das hat, mir wäre das viel zu unsicher. Ach Gott, womit habe ich das bloß verdient, dass ich mir ständig solche Sorgen machen muss!“ Diesem mit fast schon bühnenreifer Gestik vorgetragenen Lamento folgte dann meist ein verzweifelter Seufzer und der gebrummte Kommentar seines Vaters: „Lass, Anneliese, er wollte es doch nicht anders, wollte nicht hören und dabei hatte ich schon die Lehrstelle klar gemacht, damals. Weißt du noch, der Karl von der Sparkasse hatte extra bei seinem Chef vorgesprochen!“

Trotz seiner Nervosität konnte sich Mike ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er an seine Eltern dachte. Endlos konnten sich die beiden über ihren beruflich so missratenen Sohn auslassen. Er liebte sie, aber sie würden nie verstehen können, warum er sich für eine Laufbahn als freier Journalist entschieden hatte. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob er nicht vielleicht adoptiert worden war. Im Gegensatz zu ihm waren seine Eltern so unglaublich pragmatisch und noch dazu absolute Kontrollfreaks. Alles in ihrem Leben war bis um die übernächste Ecke geplant und wurde mit akribischer Disziplin ausgeführt. Mike zog bedauernd die Augenbrauen hoch. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, ein neugieriger Mensch zu sein. Immer auf der Suche nach spannenden und kuriosen Geschichten, die darauf warteten, erzählt zu werden. Dabei gab es sie doch überall. Sie schlummerten in fernen Ländern und fremden Kulturen genauso wie in unmittelbarer Nachbarschaft. Manche sprangen einem geradezu ins Gesicht, zogen einen in ihren Bann und bettelten darum, erzählt zu werden. Mike erhöhte die Geschwindigkeit und schaltete in den fünften Gang. Warum sich darüber noch Gedanken machen? Er war erwachsen und lebte sein Leben, so wie er es sich ausgesucht hatte. Nun ja, dachte er und lachte bitter, einen wichtigen Teil davon hatte er sich ganz gewiss nicht selbst ausgesucht. Wer wählte schon ein auf ganzer Linie gescheitertes Liebesleben aus? Er weigerte sich zu akzeptieren, dass er die Verantwortung trug, dass Nicola sich von ihm getrennt hatte. Verdammtes Schicksal. Wütend drosselte Mike die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges wieder, weil sich ein alter Opel vor ihm exakt mit den vorgeschriebenen 80 km/h fortbewegte. Seit Nicola nicht mehr bei ihm war, fühlte er nichts als Traurigkeit. Und gleichzeitig wunderte er sich darüber, wie sehr ihn die Trennung beschäftigte und aus dem Tritt brachte. „Das muss doch irgendwann einmal wieder aufhören“, sagte er laut in die Stille seines Autos hinein und tippte auf einen Knopf am Lenkrad, um das Radio einzuschalten. Die melancholischen Moll-Töne eines klassischen Klavierkonzertes drangen in Mikes Bewusstsein. Er konzentrierte sich auf den Wagen vor ihm und warf dann einen kurzen Blick auf die vorüberziehende Landschaft. Obwohl die Sonne die Blätter der wunderbar alten Bäume in den unterschiedlichsten Grüntönen erstrahlen ließ, war in seinen Augen alles grau und trist, farblos und ohne jedes Leben. Seine Gedanken bewegten sich in Richtung Vergangenheit zurück, bis sie bei dem Tag ankamen, an dem Nicola ihm am Telefon gesagt hatte, dass sie länger in Costa Rica bleiben würde. Nach schier endlosen Erklärungsversuchen hatte sie ihm schließlich gestanden, dass sie sich dort in einen australischen Geologen verliebt hatte und nicht mehr zu ihm, Mike, zurückkommen würde. Er hatte den Hörer aufgelegt und in diesem Moment gewusst, dass nichts mehr einen Sinn machte. Als er erkannt hatte, was Nicolas Worte für ihn bedeuteten, gab es in Mikes Leben ein Vorher und ein Nachher. Von Glück zu Leere, von Energie zu zäher Langeweile und von verflogenen Stunden zu endlosen Minuten. Er lebte in der Zeit fünf nach Nicola. Fünf Wochen, drei Tage und vier Stunden, seit sich sein Dasein geändert hatte. Und dabei war alles schon geplant gewesen. Mike lachte bitter, als er realisierte, was ihm da gerade durch den Kopf ging. Er dachte schon wie seine Eltern! Doch genauso hatte er gefühlt, wie er sich nun eingestehen musste. In seinem Kopf war die Zukunft mit seiner Traumfrau bis ins Detail und bereits für mindestens drei Jahre im Voraus durchorganisiert gewesen. Und auch Nicola hatte die Parallelen erkannt.

„Du bist wie deine Mutter“, hatte sie ihm in einer ihrer letzten Streitereien vorgeworfen. „Du bist genau zu dem Spießbürger geworden, der du nie sein wolltest. Schau dich doch an, du mit deinen so verdammt exakten Vorstellungen von der Zukunft. Kein Wunder, dass du keine Aufträge mehr bekommst. Es könnte ja einer dabei sein, der von deinem betonierten Lebensweg abweicht und du deinen Kompass neu ausrichten musst. Mein Gott, Mike, du bist sogar schlimmer als deine Mutter, denn sie ist mit ihrem Leben zufrieden und es macht ihr nichts aus, dass es sie nicht interessiert, welche unentdeckten Schätze sich rechts und links des Weges befinden!“

Sie hatte sich umgedreht, die Wohnungstür hinter sich zugeknallt und war in ihr Apartment in München gefahren, um die Koffer für Costa Rica zu packen. Eine befreundete Redakteurin hatte ihr einen Auftrag für die Zeitschrift Globetrotter vermittelt. Sie sollte einen Bericht über die Unterschiede der Familientraditionen in Costa Ricas Land- und Stadtbevölkerung zusammenstellen. Er hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Ein kurzer Abschiedsgruß per SMS war das Letzte, was er von ihr gehört hatte, bevor sie nach Mittelamerika aufgebrochen war. Und vor fünf Wochen, drei Tagen und vier Stunden war sie dann ganz aus seinem Leben verschwunden. Und ein lehmverschmierter, abenteuerlustiger Australier hatte mit seinem charmanten Akzent und seiner bestimmt alles andere als spießigen Art seinen Platz eingenommen. Und ihn, Michael Brinkmann, Jahrgang 69 und hoch gelobter Absolvent der Henri Nannen Journalistenschule, aus seiner Lebenslaufbahn gekickt.

Ihre Worte hatten noch lange in seinem Kopf nachgehallt und er musste sich eingestehen, dass sie recht hatte. Er hatte sich verändert. Die Angst vor der Zukunft und sein Drang, alles bis ins letzte Detail zu planen, hatten ihn seiner Kreativität beraubt, seiner Neugier, der Liebe für alles Unbekannte. Wie hatte das nur geschehen können, fragte er sich, gab Gas und schaltete wütend in den vierten Gang. Es musste doch schon passiert sein, als er noch mit Nicola zusammen war – sie selbst hatte die Veränderung ja am deutlichsten gespürt. Aber jetzt war der falsche Zeitpunkt für solche Grübeleien. „Schluss jetzt mit den negativen Gedanken“, wies er sich selbst zurecht. „Du hast noch zehn Minuten bis zum Vorstellungsgespräch, also reiß dich gefälligst zusammen.“ Er durfte diese Chance nicht vermasseln, die sich in der letzten Woche unerwartet angekündigt hatte. Ein befreundeter Journalist hatte ihm den Tipp gegeben, dass der Adventure-Verlag in Frankfurt eine Artikelserie plante, für die noch freie Journalisten gesucht wurden. „Ist wohl mit ´ner Menge Recherchearbeit verbunden“, hatte Mikes Freund ihn damals vorgewarnt. Aber das hatte ihn nicht abgeschreckt. Er versprach sich davon sogar einen Vorteil, denn er hatte für den Redaktionsleiter des Verlages schon einmal ein Thema bearbeitet, für das umfangreiche Informationen hatten zusammengestellt werden müssen. Ich werde diesen Auftrag bekommen, machte Mike sich selbst Mut. Ich kann schreiben und ich will schreiben. Und ich werde verdammt noch mal alles daran setzen, wieder der Mensch zu werden, der neugierig auf die Zukunft ist, der Geschichten aufspürt und sie erzählt. Er atmete tief aus und fühlte sich schon ein wenig leichter, unbeschwerter, obgleich er sich nicht erklären konnte, woher diese minimale Veränderung plötzlich gekommen war. Aber darüber werde ich mir jetzt nicht auch noch den Kopf zerbrechen, dachte Mike und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Ohne dass er es bemerkt hatte, war die scheinbar endlose Natur von der Großstadt abgelöst worden. Bei Dunkelgelb überquerte er die Ampel am Riederwald und fädelte sich in die Spur Richtung Frankfurt-Ost ein. Die Hanauer Landstraße war sicher nicht der schönste Ort der Mainmetropole, aber hier konnte man das Alltagsleben einer Großstadt spüren, und das gefiel ihm. Auf der vierspurigen Straße war heute zum Glück wenig Verkehr und so ließ Mike seinen Gedanken wieder freien Lauf. Er liebte Frankfurt. Besonders in Sachsenhausen, seinem liebsten aller Stadtteile, waren die Straßen gesäumt von majestätischen Altbauten, in deren Erdgeschoss sich oft kleine Bistros, Gemüseläden oder Schuhgeschäfte befanden.

Früher waren er und Nicola an den Wochenenden einfach ziellos durch diese Straßen gezogen und hatten sich Geschichten zu den Häusern und deren Bewohnern ausgedacht. Es war ihm immer leicht gefallen, in seiner Phantasie Menschen mitsamt ihren Schicksalen zum Leben zu erwecken und Nicola dann davon zu erzählen, als wären sie ganz real und würden jeden Moment aus den Türen kommen oder die Köpfe zu den Fenstern herausstrecken. Es hatte ihn nur einen Blick in die Hofeinfahrt eines der schönen Gründerzeithäuser gekostet, und schon waren die Bewohner vor seinem geistigen Auge erschienen. Er sah ihre Geschichten förmlich vor sich.

Die alte Dame zum Beispiel, die schon seit ihrer Kindheit in dem Haus mit dem großen schmiedeeisernen Tor wohnte. Früher hatte immer das schwarze Fahrrad ihres Vaters im Hof gestanden. Damit war er jeden Tag zum Depot in der Textorstraße gefahren, um eine von damals fünf Straßenbahnen der Stadt von der Schweizer Straße bis an die Hauptwache und wieder zurück zu lenken. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Nach seiner Schicht war er zurück in die Gartenstraße geradelt, hatte den Drahtesel an der immer gleichen Stelle in den Hof an die Wand gelehnt und war in das Haus mit der Nummer 17 eingetreten. Drinnen hatte das Essen schon auf der befeuerten Herdplatte gedampft, und auf dem blank gescheuerten Holztisch standen die Teller, Gläser und ein großer Krug mit Wasser bereit. Nur sonntags gab es eine Flasche Bier für ihn. Dann hatte sich die Familie zusammen an den Tisch gesetzt und gegessen. Die kleine Tochter hatte dabei immer aus dem Fenster geschaut und die Vögel beobachtet, die auf der großen Kastanie, die vor dem Haus an der Straße stand, von Ast zu Ast hüpften. Und aus diesem Fenster schaute sie heute noch, 70 Jahre später. Die Vögel waren nicht mehr jene aus den 40er Jahren und auch das Fahrrad stand nicht mehr im Hof. Aber die Kastanie war dieselbe geblieben.

Mein Gott, wie hatte Nicola ihn für seine spontanen Geschichten bewundert. „Du bist der tollste Geschichtenerzähler, den ich kenne“, hatte sie gelacht und sich an ihn gekuschelt. Vorbei, dachte er. Und vorbei seitdem auch seine sprudelnde Vorstellungskraft. Versiegt wie eine ausgetrocknete Quelle. Oder war das schon viel früher passiert? Irgendwann im Laufe ihrer Beziehung musste es geschehen sein. Die gemeinsamen Spaziergänge waren selten geworden – und wenn sie doch noch einmal zusammen durch die Schweizer Straße in Sachsenhausen liefen, hatten die Häuser ihm nichts mehr zu erzählen. Sie erzählten ihm deshalb nichts, weil er seine Neugier verloren hatte. Und das galt für alle Bereiche seines Lebens und wohl auch für seine Beziehung. Inzwischen hatte er sich eingestanden, dass er es sich zu gemütlich gemacht hatte. Bequem eingerichtet in einem Alltag, den immer weniger Phantasie und immer mehr Routine ausmachte.

Gestern erst, bei einem Glas Wein in der kleinen Bar im Fuß des Eisernen Steges, hatte er es seinem besten Freund Thomas so erklärt: „Ich war einfach zu glücklich, um zu erkennen, dass mich dieser Zustand irgendwie passiv hat werden lassen. Ich wollte wohl, dass alles so wunderbar bleibt, wollte dieses verliebt schwerelose Gefühl für immer festhalten. Morgens mit einem angenehmen Kribbeln im Bauch aufwachen und den ganzen Tag über von einem Hochgefühl begleitet werden. Ich konnte nicht genug bekommen von dem Schauer, der mich durchlief, wenn ich nur an sie dachte.

„Sei mir nicht böse, mein Freund, aber du warst ja geradezu abhängig von Nicola!“

„Abhängig? Was soll das denn jetzt? Ich war doch nicht abhängig. Ich war zum ersten Mal richtig verliebt. Es hatte mich voll erwischt und ich wollte einfach, dass das so bleibt, verstehst du nicht?“

„Na ja, schon.“ Thomas hatte sich geräuspert und war auf seinem Barhocker in eine bequemere Position gerutscht. „Ihr wart sehr verliebt, das habe ich gesehen, aber von dir ist in dieser Zeit nicht viel übrig geblieben. Du hast dich nur noch und ausschließlich über Nicola definiert. Als hättest du dein “Ich“ irgendwo abgegeben. Da musste es dem Mädel ja irgendwann langweilig werden. Du hast gemacht, was sie wollte, warst begeistert von ihren Ideen, ihren Gedanken. Hast sie bewundert, wenn sie wieder einen genialen Auftrag an Land gezogen hat und davon geschwärmt, wie souverän sie ihre Interviews führt. Dich hast du dabei irgendwie aus den Augen verloren. Am Anfang eurer Beziehung vielleicht nicht, das mag sein, da wolltest du ihr schließlich noch imponieren. Aber irgendwann später hat sich für dich alles nur noch um sie gedreht. Sie war deine Daseinsberechtigung – du selbst kamst in dieser Beziehung gar nicht mehr vor.“

Mike dachte noch einmal über all das nach, was Thomas ihm gestern gesagt hatte. War er wirklich so abhängig von Nicola gewesen? So verliebt, dass er ganz und gar in ihr aufgegangen war und sich selbst verloren hatte? Wie seltsam, dachte er, ich hatte doch immer das Gefühl, dass diese Liebe mir so viel gibt, so unendlich viel Glück und Zufriedenheit. Hatte sie am Ende etwas in ihm blockiert? Er wünschte sich, mit Nicola noch einmal darüber reden zu können. Nur ein einziges Gespräch, um Dinge zu klären und Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Mit einem heftigen Kopfschütteln scheuchte Mike die Gedanken weg. Nicola war in einen anderen Mann verliebt. Fertig, Ende der Geschichte! Er musste versuchen, nach vorne zu schauen und darauf bauen, dass die Zukunft schöne Erlebnisse für ihn bereithielt. „Also los“, machte er sich selbst Mut. „Denk positiv und sei offen für Neues. Alles wird gut!“ Er hatte es laut und deutlich ausgesprochen, aber er spürte, dass er dennoch nicht daran glaubte.

Inzwischen war er die endlos scheinende Hanauer Landstraße einige Kilometer entlang gefahren und konnte bereits die gläserne Fassade des Verlagshauses erkennen. Er blinkte und lenkte sein Auto vorsichtig auf den Besucherparkplatz des Bürogebäudes. Chrom und Blech, wohin er auch schaute. Das hatte ihm noch gefehlt, dass er keinen Parkplatz fand und zu spät zum Gespräch kam. Herr Wolff, der Redaktionsleiter, wäre sicher begeistert. Ganz am Ende der Parkreihe zu seiner Rechten bewegte sich etwas. Dort fährt jemand raus, freute sich Mike. Er legte den Gang ein und fuhr im Schritttempo seinem Parkplatz entgegen. Allerdings dauerte es noch ein Weilchen, bis er sein Auto abstellen konnte, denn der Fahrer des ausparkenden Autos war offensichtlich nicht besonders geübt und kämpfte abwechselnd mit der Kupplung und den Abmessungen seines Gefährtes. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er es geschafft und steuerte seinen dunkelgrauen Mondeo mit einem erleichterten Lächeln an Mikes Auto vorbei. Dass sich solche Fahrkünstler aber auch immer die dicksten Wagen zulegen müssen, dachte er, parkte ein, stieg aus und schlug die Autotür zu. Er zupfte noch einmal kurz sein neues Jackett zurecht und machte sich auf den Weg zum Eingang.

DREI

Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

Die Tränen liefen Viviane über‘s Gesicht, als sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer überdimensionierten Handtasche fingerte. Ihre hohen Absätze klapperten über die Pflastersteine des Innenhofes, über den sie zu ihrer Wohnung in der Walter-Kolb-Straße, Altbau, 3. Stock, stolperte. Keine Gefahr, dass Chris ihr verheultes und Mascara-verschmiertes Gesicht sah, denn sein nagelneuer Geschäftswagen hatte nicht länger als unbedingt notwendig an der Straße vor der Hofeinfahrt geparkt. Kaum war die Beifahrertür ins Schloss gefallen, hatte er auch schon den Gang eingelegt, Gas gegeben und war auf dem Weg nach Hause, wo er den offensichtlich so langweiligen Abend mit ihr bestimmt schon bald abgehakt haben würde. Sie hastete die Treppe hoch und wie sie bereits befürchtet hatte, kamen ihr schon bald Schritte entgegen. Klar, dachte Viviane, wenn man aussieht, wie durch den Wolf gedreht, mit laufender Nase und geschwollenen Augen, kommt ganz sicher jemand aus den verborgenen Winkeln des Treppenhauses hervor. Aber was soll´s, sagte sie sich, schließlich war es kein attraktiver Nachbar, an dem sie sich mit beschämten Grinsen würde vorbei drücken müssen. Die gab es nämlich nur im Kino, in rosaroten Romanen und ab und zu auch mal im Traum. Einen gutaussehenden Mann, der, frisch getrennt und losgelöst von der Vergangenheit, offen für Neues und mit Persil gereinigter Seele in die Nachbarwohnung einzog. Und sich natürlich unsterblich verliebte, wahlweise mit Rosen, Rotwein und endloser Leidenschaft an der Tür klingelte und nichts anderes wollte, als den Abend mit der neuen Nachbarin, also mit ihr, Viviane Kohler, zu verbringen. Doch ihre Realität war nicht rosa, sondern grau und kam ihr soeben auf dem Treppenabsatz entgegen.

„Guten Abend Herr Kögel“, nuschelte Viviane zwischen zwei Schluchzern ihrem ungepflegten, ewig hustenden Nachbarn aus dem vierten Stock entgegen. Wie so oft zog in seiner Begleitung ein intensiver Geruch nach Bier durch das gesamte Treppenhaus. Aber er hatte ein freundliches Lächeln, das musste man ihm lassen. Viviane quetschte sich auf den schmalen Treppenstufen an ihm vorbei und trotz ihres Kummers legte sich unwillkürlich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. „Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid“, sagt sie leise und stolperte die letzten Stufen bis zu ihrem Apartment hinauf. Sie schloss auf, trat in den dunklen Flur und gab der Wohnungstür einen ordentlichen Stoß mit dem Fuß. Die war zu, dachte sie zerknirscht und stellte sich vor, dass bei Frau Schneidereit im Erdgeschoss die Gläser im Küchenschrank klirrten. Aber, mein Gott, es war ja noch nicht so spät. Sie lächelte bitter. Viertel vor zehn. Viel zu früh, um von einem Date schon wieder zurück zu sein. Sie ging in ihre gemütliche Wohnküche, die von einem riesigen Holztisch dominiert wurde. Ohne das Licht anzuknipsen, zog sie die Schublade des wunderbar altmodischen Vitrinenschrankes auf, den sie von ihrer Oma geerbt hatte. Wo waren denn bloß ihre Zigaretten? Ah, sie waren ganz nach hinten gerutscht und Viviane erinnerte sich daran, dass sie sie beim letzten Besuch ihrer Mutter dort vergraben hatte. Meine Güte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf, 38 Jahre und immer noch Angst, dass Mama sie beim Rauchen erwischte. Sie kramte eine Zigarette aus der Packung und fischte in der Schublade nach dem Feuerzeug. Sekunden später sog sie genüsslich den Rauch ein und wandte sich zum Fenster um. Wie still und friedlich es da draußen war. Die Geräusche des Tages waren irgendwo im diffusen Licht des Abends verschwunden, ihre Nachbarn schliefen an ihre Partner gekuschelt in ihren Betten oder waren mit Freunden in der Innenstadt unterwegs. Und sie stand mutterseelenallein in ihrer Küche und starrte aus dem Fenster. Vielleicht mache ich mir einfach zu viele Gedanken, beruhigte sie sich selbst. Vielleicht war Chris einfach nur müde gewesen oder ging nicht gerne lange aus. Aber nun hatte er schon zum zweiten Mal ein Treffen nach relativ kurzer Zeit plötzlich abgebrochen. War sie denn so langweilig, so gähnend einschläfernd, dass Männer unweigerlich die Flucht ergriffen? Mist, das Selbstmitleid war wohl hinter ihr durch den Türspalt gehuscht. Es war zum Verzweifeln. Sie konnte immer nur die begeistern, von denen sie partout nichts wollte. Und Chris, der hatte sie noch vor einigen Monaten dermaßen angebaggert, dass SIE die Flucht ergriffen hatte. In ihrer Lieblingsbar hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen und als ihre Freundin Katharina kurz auf die Toilette verschwunden war, hatte er sich von einem der Nachbartische erhoben und war zielstrebig auf sie zugekommen. Ob sie Feuer hätte, hatte er sie gefragt und sich vorgestellt. Zuerst wusste Viviane nicht so recht, wie sie auf ihn reagieren sollte und hatte wie immer die Coole gespielt. Zwei Stunden später saß er immer noch bei ihr. Inzwischen waren sie allerdings nicht mehr alleine. Sein Freund Karsten hatte sich dazugesellt und auch Katharina war irgendwann wieder an die Theke zurückgekehrt. Viel gelacht hatten sie und noch mehr getrunken. Allerdings war ihr aufgefallen, dass Chris nicht gerade das war, was man einen Intellektuellen nennt. Nein, schimpfte sie mit sich selbst, jetzt wurde sie ungerecht. Sie hatte den Abend genossen und sich attraktiv gefühlt. Mehr wollte sie gar nicht. Chris aber schon. Als Katharina und sie die Einladung zu einem weiteren Drink mit Blick auf die Uhr höflich aber bestimmt ablehnten, machte Chris erst Dackelaugen und dann die Fliege. Ihre Freundin und sie hatten darüber gelacht und die Köpfe in inniger Übereinstimmung zur der nicht mehr zu rettenden Spezies Mann geschüttelt. Nach diesem Abend hatten sich Vivianes Wege immer wieder mit denen von Chris gekreuzt, und an einer dieser Kreuzungen hatte sie einem Date zugestimmt. Wider Erwarten war ihr Treffen schön gewesen. Zu Beginn jedenfalls. Er hatte sie in ein kleines griechisches Lokal eingeladen, und nachdem sie sich einen Sepiasalat geteilt hatten, stürzten sie sich genussvoll auf Lammbraten und Souflaki. Sie hatten bereits die zweite Flasche Wein angebrochen, als sie ihn ein wenig über seine Hobbies ausgequetscht hatte und leider feststellen musste, dass da nicht viele waren. Aber sie verstanden sich gut und es hatte Momente gegeben, in denen sie sich ihm nahe fühlte. Doch dann wollte er mitten in der Unterhaltung urplötzlich bezahlen. Er hatte sie nach Hause gefahren und da war sie nun. Allein, abgeladen, abgehakt. Sie fühlte sich langweilig, farblos und fad. Wie eine wabernde Nebelschwade kam dieser altbekannte Gedanke auf sie zu und hüllte sie ein. Nicht schon wieder eine Niederlage, nicht schon wieder sie. Nun gab es keine Hoffnung mehr. Der Nebel wurde dichter, nahm ihr die Luft. Niemand würde sich je wirklich für sie interessieren können. Sie hatte offensichtlich etwas an sich, das Männer in die Flucht schlug. Vielleicht lag ein Fluch auf ihr? Ein schreckliches Vermächtnis, ein Erbe aus einem früheren Leben, in dem sie als traumschöner Vamp den Männern reihenweise den Kopf verdreht und sie dann ohne ein Lebenszeichen verlassen hatte. Oder Schlimmeres …

„Oh nein“, sagte Viviane laut und stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. Es gab ja doch Männer, die sich für sie interessierten. Die Falschen. Die Falschen – das war eine Horde gesichtsloser Personen, die sich allesamt dadurch auszeichneten, dass Viviane sich nicht für sie begeistern konnte. Sie zog an ihrer Zigarette und stützte ihre Ellenbogen auf die Fensterbank. Plötzlich merkte sie, dass sie wieder weinte. Dicke Tränen tropften aus ihren dunkelgrünen Augen und rannen über ihr Gesicht und dann den Hals hinab, bis sie im Kragen ihres Poloshirts versickerten und ein unangenehm feuchtkaltes Gefühl auslösten. Ihr wurde schlagartig klar, dass die Tränen nur deshalb so unaufhaltsam flossen, weil sie Angst hatte. Eine Angst, die sich wie ein dicker Ölteppich über ihre Seele wälzte und drohte, darauf haften zu bleiben. Angst, in diesem Leben niemanden mehr zu finden, der sie liebte und von ihr geliebt wurde. Gegenseitig, gleichermaßen, zur selben Zeit. Utopisch, unmöglich, hoffnungslos – ein weiterer Beweis dafür war heute Abend ganz frisch erbracht worden.

Konnte sie jetzt noch Helen anrufen? Nein, dazu war es nun doch schon ein bisschen zu spät. Und außerdem – sie würde doch nur wieder von einem gescheiterten Abend berichten können. Von ihrem Versagen und ihrer Unfähigkeit, ein männliches Lebewesen unter 75 von sich zu begeistern. Helen war da ganz anders. Sie hatte zwar auch noch nicht den Mann für´s Leben gefunden, aber immerhin sorgte sie selbst für die nötige Auswahl. Die Männer liefen ihr hinterher, als würde sie eine Duftmarke verströmen. Sie hatte eben einfach etwas Besonderes an sich. Viviane konnte sich nicht genau erklären, was es war, aber eines wusste sie genau: Sie selbst besaß es nicht! Sie schien viel eher etwas auszusenden, das die Herren der Schöpfung spätestens beim zweiten Date in die Flucht schlug. Und dabei war sie doch nicht einmal hässlich. Zumindest sagten das ihre Freundinnen. Mit ihren knapp ein Meter achtzig, den langen, dunkelbraunen Haaren und ihren schlanken Beinen hatte sie schon oft Komplimente für ihr Aussehen bekommen. Aber offensichtlich nützte all das nichts. Mit einem Seitenblick auf ihren Kühlschrank sagte sie in die Dämmerung hinein: „Warum ewig auf die Figur achten? Wenn mich die Männer mit 62 Kilo nicht attraktiv finden, kann ich diese Zahl getrost um 10 erhöhen.“ Viviane kicherte leise, als sie ihre Gauloise in der Spüle ausdrückte. Sie beschloss, Helen heute nicht mehr zu stören und stattdessen Tante Beas Lieblingsspruch zu beherzigen: Immer schön optimistisch bleiben und den Humor nicht verlieren.

Sie schälte sich aus ihrem beigen Regenmantel und lief über die alten Holzplanken in ihr weiß gefliestes Badezimmer. Mit immer noch etwas zittrigen Fingern pulte sie sich die Kontaktlinsen aus den Augen und putzte sich schnell die Zähne. Zum Abschminken hatte sie keine Lust mehr, sollten die Pickel nur kommen – egal. Das war so ähnlich wie mit den Kilos. Als Viviane sich ein paar Minuten später in ihr Bett kuschelte, wollte sich der Schlaf jedoch nicht einstellen. Die trüben Gedanken ließen sie einfach nicht los. Wann hat das eigentlich begonnen, das Problem mit den Männern, fragte sie sich und schob die Arme hinter ihren Kopf. Als Jugendliche hatte sie sich wohl gefühlt in ihrer Haut, und nicht im Traum wäre sie auf die Idee gekommen, dass die Jungs sie nicht attraktiv finden könnten. Sie hatte eine ganze Menge Verehrer gehabt und selbst Kati, das Nachbarsmädchen, mit dem sie ab und an durch die Straßen des verschlafenen Dorfes spazierte, in dem sie damals gewohnt hatte, war überzeugt, dass die Jungs der gesamten Klasse in sie, Viviane, verliebt waren. Sie lächelte, als sie sich selbst wieder als junges Mädchen sah. Es war so eine unbeschwerte Zeit gewesen, damals. Sie und ihre Freundinnen hatten einfach in den Tag hinein gelebt und sich keine Gedanken gemacht. Außer vielleicht über die nächste Mathearbeit oder die Puma-Turnschuhe, die ihre Eltern ganz sicher nicht kaufen würden. Auch die erste Liebe hatte Viviane, abgesehen von ein paar kleinen Kratzern auf der Seele, gut überstanden. Und dann waren aus den Jungs Männer geworden und die Abstände zwischen den Flirts wurden länger. Sicher, hin und wieder hatte es Lichtblicke gegeben und sie war eine Weile glücklich gewesen. Aber das Glück hatte sich jedes Mal schnell abgenutzt, war matt und glanzlos geworden und schließlich ganz verschwunden. Dann war sie ein paar Tage mit verheulten Augen und dem Herz voll Selbstmitleid durchs Leben gelaufen. Aber wenn sie es recht bedachte, hatte sie noch keinem ihrer Flirts oder einer ihrer Beziehungen richtig nachgetrauert. Der Schmerz war jedes Mal heftig, dauerte aber nur kurz. Und genauso würde es ihr mit Chris auch gehen. Vielleicht würde sie morgen noch etwas traurig sein, aber dann – vorbei. Schließlich hatten sie sich noch gar nicht richtig kennengelernt. Und was fand sie eigentlich an ihm? Sie musste zugeben, dass es ihr überhaupt nicht um Chris ging. Sie wollte einfach nur wieder einmal von einem attraktiven Mann ein wenig Bestätigung bekommen. Sich hofieren lassen wie eine Prinzessin. Wenn sie ganz ehrlich zu sich war, so hatte sie doch von Anfang an gewusst, dass dieser Typ gar nicht zu ihr passte. Was sollte sie schließlich mit einem Angeber, der den ganzen Abend nur von seinen sportlichen Erfolgen im Amateurfußball berichtete? Applaus, Applaus! Und dennoch war sie enttäuscht gewesen, weil er sich nicht Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Auf einmal sah sie alles ganz klar vor sich, hier in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Viviane, sagte sie sich, du bist eindeutig zu sehr abhängig von der Bestätigung anderer. Hör auf damit! Sie stopfte das Kopfkissen zurecht. „Es ist nichts verloren“, sprach sie sich selbst Mut zu. „Die große Liebe kommt und sie wird meine Seele berühren, mich glücklich machen.“ Meine Güte, gut dass dich keiner hören kann, dachte Viviane noch und dann war sie auch schon eingeschlafen.

VIER

Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

Das arme Mädchen. Zwar hatte sie schnell den Kopf wieder gesenkt, aber er hatte dennoch ihr tränenverschmiertes Gesicht erkennen können und ihr Schluchzen war noch zu hören, bis sie zwei Stockwerke weiter oben in ihrer Wohnung verschwand. Klaus Kögel zog langsam die Haustür hinter sich zu. Er ging das kurze Stück durch den Hof hinaus auf den von Straßenlampen aus den 50er Jahren beleuchteten Gehweg.

„N´Abend“, grüßte er den jungen Mann, der gerade die Tür eines Hauses am Ende der Straße aufstieß.

„Hallo“, erwiderte der Fremde ohne Aufzublicken.

Besser so, dachte Klaus, ich sehe ja wahrscheinlich auch wieder aus wie der letzte Mensch. Er war sich seiner Wirkung auf seine Umwelt wohl bewusst und dachte sich, dass er wohl genauso abweisend reagieren würde, wenn er sich selbst auf der Straße begegnet wäre. Bei dieser Vorstellung konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken, doch schon einige Sekunden später legte sich der für ihn so typische traurige Zug um seinen Mund. Was hatten die letzten zweieinhalb Jahre bloß aus ihm gemacht? Aber nein, es hatte ja schon viel früher begonnen. Wenn er dem Ursprung seiner Traurigkeit nachspüren wollte, dann müsste er viel weiter zurückdenken. In eine Zeit, die angefüllt war mit den Träumen von einer Zukunft als Star-Architekt, mit ganz genauen Vorstellungen davon, wie sein Haus einmal aussehen würde und welche Automarke in der blitzblanken Garage parken sollte. Und mit einer Frau, Karin, die ihm damals wie das berühmte Tüpfelchen auf dem i erschienen war. Er hatte sie in einer Vorlesung an der Universität kennengelernt und er wusste, dass seine Träumereien nun endlich Gestalt annehmen würden.

Karin war damals gerade erst aus einer kleinen Stadt in Norddeutschland nach Frankfurt gezogen. Nachdem ihre Eltern kurz nacheinander gestorben waren und sie weder Geschwister noch andere Familienangehörige hatte, wollte sie in einer fremden Stadt ganz neu anfangen. Sie hatte ihm das gleich bei ihrem ersten Treffen erzählt, und Klaus hatte sich einem Menschen noch nie so nahe und verbunden gefühlt. Er war bis über beide Ohren verliebt gewesen und gleichzeitig hatte er sich für sie verantwortlich gefühlt. Karin war für ihn wie eine Art Grundstein, die Basis für die Erfüllung all seiner Wünsche. Aber es war ganz anders gekommen. Ja, es war etwas geschehen und das Schlimmste war wohl, dass er nicht einmal wusste, was genau passiert war, damals, 1978, in Paris. Wahrscheinlich hatten ihn die Ereignisse deshalb nie losgelassen, weil das Ende der Geschichte fehlte. Ausgang ungewiss, dachte Klaus und zog den Reißverschluss seiner Jacke ein wenig weiter nach oben. In den ersten Wochen und Monaten nach Karins Verschwinden hatte sein Gehirn unablässig die Erinnerung neu sortiert. Es erfand mögliche und unmögliche Szenarien, baute komplexe Geschichten, ersann die abenteuerlichsten Begebenheiten, nur um kurz darauf alles zu verwerfen und auf eine einfache Erkenntnis zu reduzieren. Er war mit seiner Freundin in die Stadt der Liebe gefahren und ohne sie zurückgekehrt. So grausam einfach war das. Sein panischer Aktionismus bei dem Versuch, Karin zu finden, war einer bleiernen Stille gewichen. Er hatte sich zurückgezogen, kaum noch Kontakt zur Außenwelt gehabt. Seine Geschichte ging niemanden etwas an, er hatte nicht darüber reden wollen. Mit seinen Freunden, ja, das schon. Am Anfang. Doch irgendwann hatten auch die resigniert. Du willst dir ja nicht helfen lassen, Klaus, hatten sie gesagt. Und ermüdet von seinen ewig gleichen Reden hatten sie sich schließlich abgewendet. Auch die ursprüngliche Anteilnahme der Polizei hatte sich gewandelt und war einem mitleidigen, mitunter gar genervten Blick der Beamten gewichen, sobald er im Hauptkommissariat Frankfurt aufgetaucht war. Wenn er daran dachte, stieg heute noch ein Gefühl aus Scham und Verzweiflung in ihm auf. Er versuchte, den Gedanken zu vertreiben und strich sich mit zittriger Hand eine Haarsträhne zurück.

Irgendwie hatte er es geschafft, sein Studium zu beenden. Mit verbissenem Ehrgeiz hatte er sich in die Arbeitssuche gestürzt und schließlich eine Anstellung als Junior-Projektleiter in einem Architekturbüro ergattert. Das Berufsleben verlangte Klaus viel Kraft und Energie ab. Er ging ganz in seiner Aufgabe auf und die Wucht seines neuen Lebens drängte die Geschehnisse in Paris eine Weile lang in den Hintergrund. Und dann kam Brigitta. Mit einer erfrischenden Unbeschwertheit ausgestattet, war sie eines Tages ins Büro spaziert, um sich als neue Kollegin vorzustellen. Im Laufe der Zeit hatte sie, in kleinen Etappen und mit behutsamen Schritten, nach und nach Klaus´ Herz erobert. Schließlich hatte er sich ihr geöffnet und sie weinten gemeinsam über seine furchtbare Geschichte. Und als irgendwann die Pariser Polizeibehörde die knappe Nachricht schickte, dass im Fall der vermissten Karin Reinhardt aus Mangel an Hinweisen die Akte endgültig geschlossen werden sollte, war es Brigitta gewesen, die ihm Trost gegeben hatte. Sie hatten geheiratet und einen Sohn bekommen. Als dann noch in dem schönen Altbau, in dem Klaus seine Studentenbude bewohnt hatte, eine größere Wohnung frei geworden war, hatten sie zugegriffen. Das Leben war ohne große Höhen und Tiefen jeden Tag aufs Neue weitergegangen. Das Glück war doch noch zu ihm gekommen. Zumindest hatte Klaus diese Zeit so wahrgenommen und er war ganz sicher gewesen, sein Leben wieder im Griff zu haben. Nach allem, was passiert war. Aber dann, vor zweieinhalb Jahren, war seine Frau gestorben. Ihr gemeinsamer Sohn Oliver war zur Beerdigung aus Kanada angereist, wo er seit einigen Jahren lebte. Sie hatten viel geredet. Über die Zukunft und über die Vergangenheit. Irgendwann während dieser langen Gespräche musste es wohl passiert sein: Die dicke und undurchdringliche Masse, mit der Klaus Teile seiner Vergangenheit bedeckt hatte, begann sich zu bewegen, weil es unter ihr rumorte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie schließlich Risse bekam und aufbrach. Und alles, was lange verdrängt und längst vergessen schien, hatte sich aufs Neue einen Weg an die Oberfläche gebahnt. Seither stritten die Stimmen in seinem Kopf wieder: „Karin ist tot, Klaus, tot. Aber nein, Klaus, hätte man ihre Leiche dann nicht gefunden? Sie lebt, es kann nicht anders sein, sie lebt!“

Nie schienen diese verdammten Stimmen zur Ruhe kommen zu wollen. Sie hatten aus ihm den Mann gemacht, der er heute war.

Eine leere Plastiktüte wurde von einem stürmischer werdenden Wind über den Bürgersteig geweht und blieb an Klaus´ Hosenbein hängen. Verwirrt schaute er auf – wie aus einer kurzen Ohnmacht erwacht. Er hatte gar nicht gemerkt, wie weit er schon gelaufen war. Völlig in Gedanken versunken war ihm nicht einmal aufgefallen, dass es zu regnen begonnen hatte und nun war sein Mantel durchweicht und die nassen Haare hingen ihm strähnig in die gefurchte Stirn. Er schaute sich um und sah, dass er nicht weit vom Blauen Krug, einer kleinen Eckkneipe in Sachsenhausen, entfernt war. Der Regen war jetzt stärker geworden und er beschleunigte seine Schritte, die auf dem von Nässe glänzenden Kopfsteinpflaster lauter hallten, als es ihm lieb war. Er wich einem Radler aus, der den Bürgersteig dem holprigen Untergrund auf der Gartenstraße vorzog. Als er in die Schweizer Straße einbog, sah er schon von weitem die altmodische Laterne, die mit ihrem sanften Licht die Stufen zur Eingangstür des Blauen Krugs beleuchtete. Kurz darauf stieß Klaus die Tür der Kneipe auf und ein Gemisch aus Essensduft, Musik und lautem Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Klaus fühlte sich sofort wieder wohl in der Atmosphäre dieser Apfelweinwirtschaft. Dunkles, grobes Holz dominierte den Raum und die Bar, die aussah, als wäre seit den 50er Jahren nichts daran verändert worden, strahlte eine warme Gemütlichkeit aus. Auf dem Tresen stand eine ganze Armada von Bembeln, Krügen aus Steingut, aus denen der Apfelwein ausgeschenkt wurde. Die Zapfhähne der Binding-Brauerei und Schwarz-Weiß-Fotografien eines längst vergangenen Frankfurt komplettierten das Bild von der guten alten Zeit. Klaus sah sich nach einem freien Platz um und grüßte dabei den Wirt mit einem kurzen Kopfnicken. Der erwiderte den Gruß ohne dabei das blau karierte Handtuch beiseite zu legen, mit dem er gerade ein für die Region typisches „geripptes“ Apfelweinglas trocken rieb. Kaum hatte Klaus an einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke des Raumes Platz genommen, näherte sich auch schon Elsa, eine der Bedienungen des Kruges, mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen. Sie trug wie immer eine blumengemusterte Bluse zu einem altmodischen dunkelblauen Rock und erinnerte Klaus irgendwie an die „Mama Hesselbach“, eine der Figuren aus der sehr beliebten Spielfilmserie der 50er Jahre. Auch in seiner Jugend waren die Folgen noch oft im Fernsehen ausgestrahlt worden.

„Guten Abend, de Herr“, sagte Elsa in ihrem hessischen Dialekt und fuhr mit einem Wischlappen über den massiven Holztisch. „Ganz schö stermisch drauße, gelle! Was derfs dann sei? ´N sauer Gespritzde, wie immer?“