Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze - E-Book

Ein gefährliches Alter E-Book

Eva Ashinze

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  • Herausgeber: Orte Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Wer ist verantwortlich für Lucas Tod? Der fünfzehnjährige Luca T. wird tot auf dem Schulhof gefunden. Die gleichaltrige Nina gesteht die Tat. Aber bald ist klar: Sie kann es nicht gewesen sein. Weshalb die Lüge? Und wer ist tatsächlich verantwortlich für Lucas Tod? Moira van der Meer erhält den Auftrag, Nina rechtlich zur Seite zu stehen - und kann es natürlich nicht lassen, sich in die Ermittlungen einzumischen. Aber mit wem sie auch spricht: Alle scheinen etwas zu verheimlichen. Was Moira van der Meer schliesslich zutage fördert, ist mehr als erschütternd. Zeitgleich erfährt sie immer mehr darüber, was vor zwanzig Jahren mit ihrer eigenen Schwester passiert ist. Wird Moira diese Wahrheit verkraften? Oder zerbricht sie endgültig daran?

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Seitenzahl: 332

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Eva Ashinze

Ein gefährliches Alter

Moira van der Meer ermittelt

Eva Ashinze

Ein gefährliches Alter

Moira van der Meer ermittelt

Kriminalroman

orte Verlag

1. Auflage, 2019

© by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Umschlagbild: Verlagshaus Schwellbrunn, Carmen Wueest

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing GmbH, Dortmund, www.readbox.net

ISBN Buch: 978-3-85830-252-6

ISBN eBook: 978-3-85830-257-1

www.orteverlag.ch

1  Die Pausenklingel schrillt und wenig später füllt sich der Platz vor dem Oberstufenschulhaus St. Georgen mit Stimmengewirr. Jungen und Mädchen stehen in Grüppchen, manche verschwinden um die Ecke, suchen die Abgeschiedenheit. Es ist Anfang Oktober. Mathilda, Alisar und Nina lehnen an der Schulhausmauer und teilen sich eine Packung Süssigkeiten. Alisar erzählt, während sie aus den Augenwinkeln ein paar Jungs beobachtet, lebhaft von ihrer gestrigen Shoppingtour in Zürich. Mathilda isst Gummibärchen und hört zu oder tut jedenfalls als ob. Nina tippt etwas auf ihrem Handy, greift ohne den Blick zu heben wieder nach der Tüte mit Süssigkeiten in Mathildas Hand. Sie langt daneben, streift aus Versehen die Brust von Mathilda. Kevin Lüthi, der gerade vorbeigeht, bleibt stehen.

«Oh Mann, da würde ich auch gern mal hin fassen.» Kevin Lüthi grinst der errötenden Mathilda zu.

Kevin sieht ganz gut aus, er ist gross und gut gebaut, aber er hat einen unsympatischen Zug um den Mund und die Hosen sitzen immer etwas zu tief, die Aufschrift auf seinen Shirts ist zu auffällig und das Haar zu gestylt. Trotzdem stehen viele Mädchen auf ihn. Luana ist derart verknallt in ihn, dass sie sich heimlich jeden Tag aufs Neue seinen Namen in die linke Hand – die Herzhand – schreibt. Sie sitzt im Unterricht, starrt verträumt in ihre Hand, den Mund leicht geöffnet und sieht aus wie eine Bekloppte.

Kevin rechnet offenbar damit, dass Mathilda laut aufkreischt oder sauer wird, was er als Erfolg verbuchen könnte.

Nina kommt dem zuvor. «Du hast ja echt kleine Hände, Kevin», sagt sie. «Du weisst ja sicher, was man über Jungs mit kleinen Händen sagt.»

Nina und Alisar prusten los, Mathilda fällt etwas zögerlicher ein. Zwei Mädchen, die in der Nähe stehen und alles mitbekommen haben, beginnen ebenfalls zu lachen. Das Gelächter schallt über den Pausenplatz. Kevin wird rot und hasst Nina noch mehr dafür.

«Schlampe», knurrt er zwischen zusammengebissenen Zähnen und stampft davon. Das Gelächter folgt ihm.

Luca Tanner steht etwas weiter vorne bei der Mauer, die den Pausenhof begrenzt, er trägt einen grauen Kapuzenpulli, grau vor grauem Himmel. Er schaut sich nach der Quelle des Gelächters um, seine Augen bleiben einen Moment an Mathilda hängen. Sein glänzendes braunes Haar ist etwas länger und nach vorne gekämmt, wie es gerade angesagt ist, es fällt ihm ständig in die Augen. Mit einer ungeduldigen, aber eingeübten Handbewegung kämmt er es nach hinten. Dann wendet er sich wieder Sebastian zu, mit dem er sich gerade gebalgt hat wie ein junger Hund, den Mund zu einem weiten Lachen geöffnet.

2  «Was hast du heute bei ihrem Anblick empfunden?» James rückte seine Hornbrille zurecht und sah mich aufmerksam an.

«Dasselbe wie immer», sagte ich bockig. Irgendwie hatte ich heute keine Lust auf diese Unterhaltung. Ich hatte mehr Lust auf ein Glas Wein. Obwohl – darauf hatte ich immer Lust.

«Und das wäre?» James liess sich nicht beirren. Er war zu lange als Psychotherapeut tätig, als dass so eine kleine Verstimmung meinerseits ihn aus der Fassung hätte bringen können. Und er war auch schon zu lange mein Therapeut. Wir waren bereits vor einigen Jahren dazu übergegangen, uns zu duzen, so oft hatte ich mich in seinem Therapiezimmer aufgehalten. Eigentlich hatte ich die Sitzungen bei ihm schon längst einstellen wollen, aber jedes Mal, wenn ich mein Leben ohne Stützräder angegangen war, war etwas Folgenschweres passiert: Erinnerungen an meine spurlos verschwundene Schwester suchten mich heim; mein Vater, der meine Mutter, meine Schwester und mich vor einer halben Ewigkeit verlassen hatte und zurück nach Nigeria gegangen war, trat wieder in mein Leben, oder ein einst geliebter Mensch wurde getötet – irgendwas war immer. Im Moment nahm ich James Dienste in Anspruch, weil ich in unregelmässigen Abständen Norah Krüger im Gefängnis besuchte. Besuchen musste.

Norah hatte Jan Krüger, meine erste Liebe, geheiratet – und einige Jahre später hatte sie ihn ermorden lassen. Dafür hockte sie nun für ziemlich lange Zeit in Hindelbank, dem Frauengefängnis.

Norah war aber auch die beste Freundin meiner verschwundenen Schwester Maria gewesen. Maria war auf dem Weg zu Norah verschwunden und nie wieder aufgetaucht – weder tot noch lebendig. Das war nun über 25 Jahre her. Hier lag der Hund begraben. Norah behauptete, sie wüsste mehr über das Verschwinden von Maria. Sie hatte es zur Bedingung gemacht, dass ich sie regelmässig besuchte und so ihre Einsamkeit linderte. Im Gegenzug würde sie mir Stück für Stück Informationen zum Verbleib meiner Schwester liefern. Hindelbank, das bedeutete zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Ein ganzer Tag fiel diesen Besuchen zum Opfer, die bisher ziemlich ergebnislos verlaufen waren. Das Hauptthema von Norah war sie selber, und auf meine Schwester war sie lediglich am Rand zu sprechen gekommen. Bis heute.

«Wut. Ungeheure Wut empfinde ich», beantwortete ich James Frage.

«Nur Wut?», hakte James nach. Erst wollte ich die Frage als überflüssig abtun. Plötzlich hatte ich aber Norah vor Augen, wie sie da sass im Besucherzimmer, die langen, in Jeans gekleideten Beine übereinandergeschlagen, die blonden Haare im Nacken zusammengefasst, ein rosa Angorapullover unterstrich ihre Zartheit, die sich aber nicht in den blauen Augen widerspiegelte. Die waren hart, stählern.

«Wut. Und Hilflosigkeit», ergänzte ich.

«Du bist Norah ausgeliefert.»

Ich nickte und ballte dabei meine Hände unbewusst zu Fäusten.

«Hat sie dir heute etwas erzählt?»

Ich liess mein Gespräch mit Norah vor meinem inneren Auge Revue passieren. Die meiste Zeit redete Norah, beklagte ihre Einsamkeit, weinte.

«Aber jetzt zu dir», sagte Norah plötzlich. «Lenk mich ab, Moira. Erzähl mir etwas von deinem gutaussehenden Bekannten, von diesem Guido Béjart.» Sie zog die Silben genüsslich in die Länge. Ihre Augen waren nicht länger tränenverschleiert, sondern funkelten raubtierartig.

Ein flaues Gefühl beschlich mich. «Geht dich nichts an.» Meine Stimme war nur mehr ein raues Flüstern.

«Nein?» Norah musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem derart süssen Lächeln, dass ich ihr am liebsten mit der Faust ins Gesicht geschlagen hätte. «Bist du dir da ganz sicher, Moira?»

Ich hatte keine Wahl. Wollte ich etwas über den Verbleib meiner Schwester erfahren, musste ich spuren. Ich musste tun, was Norah verlangte. Norah genoss dieses Spiel, sie genoss die Macht, die sie über mich hatte.

«Du hasst mich, nicht wahr, Moira?», sagte Norah und zuckte neckisch mit den Schultern. «Kein Problem. Wir können gern hier abbrechen. Du brauchst nicht wiederzukommen.»

Ich lauschte ihren Worten mit gesenkten Augen. Ich brachte es nicht fertig, sie anzuschauen. Norah war eine feingliedrige Schönheit mit grossen blauen Augen. Aber im Innern, da war sie reines Gift. Narzisstisch und gleichzeitig ungemein bedürftig. Ihre Launen konnten von einer Minute zur anderen wechseln, mal schmeichelte sie, dann drohte sie.

«Aber wenn du nicht mehr kommst, dann wirst du dich dein Leben lang fragen, wo deine Schwester geblieben ist. Du wirst nie zur Ruhe kommen. Ist es nicht so, Moira?»

Ich schaute sie mit einem mörderischen Blick an.

Sie bedachte mich mit einem siegessicheren Lächeln. «Moira, Moira», ihre Stimme klang nun ganz sanft, «wir kennen uns wirklich schon eine Ewigkeit.»

James räusperte sich, und ich fand in die Gegenwart zurück. Ich war Norah ausgeliefert, wie James richtig erkannt hatte.

«Sie hat mir erzählt, dass Maria Drogen konsumiert hat. Ich wusste nicht einmal, dass sie gekifft hat. Den ganzen Rest – Speed, Kokain, sogar Heroin soll sie geraucht haben.»

«Glaubst du ihr?»

Ich zuckte mit den Schultern: «Es gibt keinen Grund, weswegen Norah mich deswegen belügen sollte.»

Ich dachte an die Szene zurück. Norah hatte ihr Haar nach hinten geworfen und wie nebenbei erwähnt, dass sie und meine Schwester verschiedene Drogen ausprobiert hatten. «Wir wollten eine andere Realität kennenlernen», hatte sie gesagt. «Fliehen. Unser Scheissleben vergessen. Such dir aus, was dir am besten passt. Alles trifft zu.»

Ich sah James an. «Sie haben zusammen experimentiert.»

«Was hat das in dir ausgelöst?»

Ich dachte an Norah, wie sie mir von den Drogen berichtet hatte. Wie sie mir die Gelegenheiten aufgezählt hatte, bei denen sie und Maria sich zugedröhnt hatten.

«Es hat mich traurig gemacht. Ich war – ich bin – Marias Schwester. Ich habe nichts gemerkt. Ich fühle mich schlecht. Schuldig. Ich bin nicht für sie da gewesen.»

«Trauer und ein schlechtes Gewissen. Und was noch?»

«Was meinst du?»

«Da ist doch noch etwas. Du hältst etwas zurück, Moira. Lass es raus.»

Ich zögerte. «Angst», flüsterte ich schliesslich. «Ich habe fürchterliche Angst.»

«Angst wovor?»

Ich schwieg eine Weile. Ich dachte wieder an Norah in ihrem rosa Pulli. Ich dachte an meine kleine Schwester mit ihrer dunklen Haut, den wilden Haaren und dem kindlichen Schmollmund. Ich dachte daran, dass in Marias Zimmer noch immer ihr zerschlissener Teddy aus Kindertagen auf dem Bett lag und darauf wartete, dass sie zurückkam. Meine Mutter hatte das Zimmer in den ganzen Jahren nicht angerührt.

«Maria war fünfzehn. Sie hatte kein Geld», sagte ich mit gesenktem Blick. «Von Taschengeld kann man sich nicht solche Mengen an Drogen kaufen.» Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich hob den Blick und sah James direkt an. Er schaute nicht weg. «Was hat Maria wohl als Gegenleistung für die Drogen geboten?»

3  Ich sass in einem bequemen Sessel, mir gegenüber Willy, der in seine Zeitung vertieft war. Willy Morgenroth ist mein Vermieter und ein Freund. Mit seinen 76 Jahren ist er noch immer rüstig, was er wohl nicht zuletzt den langen Spaziergängen mit Charlie, seinem treuen Golden Retriever, zu verdanken hat. Ich nippte am Rotwein, den Willy mir gebracht hatte und sah aus dem Fenster. Es war Mitte April und der Frühling war endlich voll im Gang. Im März hatte es nicht danach ausgesehen, es hatte noch einmal heftig geschneit, nachdem sich bereits die ersten Schneeglöckchen gezeigt hatten. Nun grünte alles. Ich kuschelte mich enger in meine Strickjacke. Ich war mehr als bereit für den Frühling. Es war ein harter Winter gewesen, in doppelter Hinsicht. Im Februar hatte die Temperatur sich vier Wochen lang unter dem Nullpunkt bewegt, selbst tagsüber. Hinzu kamen die sporadischen Besuche bei Norah, die an meinen Kräften zehrten. Ich seufzte und trank noch einen Schluck Wein. Willy hob den Kopf und musterte mich. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich nach den Besuchen im Gefängnis zu bemuttern. Er wusste, wie schwer das für mich war. Anstatt viele Worte darüber verlieren, kümmerte er sich um mein Wohlergehen, liess mich teuren Rotwein trinken. Wenn ich doch einmal reden wollte, dann hörte er zu.

Heute wollte ich nicht reden. Also hatte Willy eine seiner geliebten Jazz-Platten aufgelegt und den «Landboten», die Lokalzeitung von Winterthur und Umgebung, zur Hand genommen.

«Haben Sie von diesem Jungen gehört?» Willys Stimme liess Charlie hochschrecken, der zu unseren Füssen gedöst hatte.

Ich kraulte ihm beruhigend den Nacken. «Welcher Junge?»

«Dieser Fünfzehnjährige, der tot aufgefunden worden ist. Massive Kopfverletzungen.» Willy schüttelte bedauernd den Kopf. «Der arme Junge. In was für einer Welt wir leben …» Er brach ab und schüttelte noch einmal den Kopf.

Neugierig geworden streckte ich die Hand nach der Zeitung aus. Willy reichte sie mir. Luca T., ein fünfzehnjähriger Oberstufenschüler, war gestern am frühen Morgen tot auf dem Pausenplatz des Schulhauses St. Georgen aufgefunden worden. Sowohl Todesursache als auch allfällige Täterschaft war bislang unbekannt. Ich liess die Zeitung sinken. Willy hatte Recht. In was für einer Welt leben wir, wenn bereits Fünfzehnjährige getötet werden?

Kurz darauf ging ich zu mir nach oben. Es war ein langer Tag gewesen. Ich öffnete das Fenster in der Küche, setzte mich auf die Fensterbank und zündete mir eine Zigarette an. Ich legte den Kopf in den Nacken und liess kleine Rauchkringel emporsteigen. Ich dachte an den toten Jungen. Fünfzehn Jahre. So alt wie meine Schwester gewesen war, als sie spurlos verschwand. Fünfzehn Jahre. Ein gefährliches Alter.

4  «Vielen Dank», sagte die schüchterne junge Bedienung und schaute mich ungläubig an. Ich hatte den zu bezahlenden Betrag grosszügig aufgerundet. Zu grosszügig, wie mir jetzt schien. Aber egal. Mir war wohlig warm, und ich hatte gut gegessen. Ich erhob mich, schlüpfte in meinen Mantel und verliess das «Dimensione», ein kleines Restaurant am oberen Ende der Altstadt.

Zuvor hatte die Sonne geschienen, aber mittlerweile nieselte es. Ich sah zum Himmel hinauf, vereinzelte Tropfen trafen mich. Ich mag den April. Er ist wie mein Leben: Ich weiss nie, was mich im nächsten Moment erwartet. Ich zog eine Packung Zigaretten aus meiner Manteltasche. Missmutig beäugte ich sie. Nur noch eine übrig – schon wieder. Irgendwie war mir in letzter Zeit der Zigarettenkonsum etwas entglitten. Es war Frühling. Zeit, meine guten Vorsätze fürs neue Jahr endlich umzusetzen. Weniger Alkohol. Weniger Nikotin. Mehr Zeit für Musse im Alltag.

Ich zündete mir die Zigarette an. Morgen würde ich damit anfangen.

Kaum hatte ich den ersten Zug getan, läutete mein Handy. Ich seufzte, zog es aus der anderen Manteltasche.

«Ich … Hier ist Behrens am Apparat, Beatrice Behrens.» Nach diesem zögerlichen ersten Satz herrschte erst einmal Stille. Das war nicht ungewöhnlich. Einen Anwalt anzurufen, kostet Überwindung. Ich wartete.

«Meine Tochter. Ich brauche einen Anwalt für meine Tochter.» Frau Behrens klang verzweifelt.

Was die Tochter wohl ausgefressen hatte? Wieder wartete ich.

«Es geht um diesen Luca Tanner.»

Luca Tanner. Luca T. Der tote Junge. «Was ist mit ihm?», fragte ich vorsichtig.

«Meine Tochter. Nina. Sie sagt … Sie sagt, sie war es.» Frau Behrens Stimme brach. «Sie sagt, sie hat Luca umgebracht.» Nun schluchzte sie unterdrückt.

Ich biss mir auf die Lippen, überlegte. Der tote Luca. Die geständige Nina. Wahrscheinlich waren sie im selben Alter. Soviel ich mitbekommen hatte, war bislang noch kein Tatverdächtiger festgenommen worden. «Wo ist Nina?», fragte ich.

«Nina? Sie ist hier, bei mir. Ich weiss nicht, was ich … Ich …» Die Stimme verlor sich. Die Frau schien fix und fertig zu sein.

Ich fasste einen Entschluss. «Geben Sie mir Ihre Adresse», sagte ich. «Ich komme zu Ihnen.»

Frau Behrens schien erleichtert. Ich machte mit ihr ab, dass ich vorbeikommen und mir ein Bild von Nina und ihrer

Aussage machen würde. Danach würden wir entscheiden, wie weiter.

«Nina soll bleiben, wo sie ist», sagte ich. Dann legte ich auf.

Meine Zigarette war mittlerweile bis auf den Stummel abgebrannt. Ich warf sie weg, tastete nach einer neuen, erinnerte mich an die leere Packung. «Mist, verdammter», murmelte ich und meinte damit nicht nur die Zigaretten. Wie es schien, hatte ich mir soeben einen neuen Fall eingehandelt. Und was für einen. So viel zu etwas mehr Musse. Aber ich war nicht unglücklich über die Wendung, die mein Tag genommen hatte. Meine Neugier war geweckt. Und die Büroarbeit, die ich am Nachmittag hatte erledigen wollen, lief nicht weg.

Ich machte einen kurzen Abstecher zum Kiosk am Obertor und holte mir neue Zigaretten, bevor ich mich zu der Adresse begab, die Frau Behrens mir angegeben hatte: Friedensstrasse Nr. 1. Wie passend.

5  Mathilda schreibt einen letzten Satz ab, dann klappt sie das Heft zu.

«Fertig?», fragt Frau König lächelnd.

Mathilda nickt. Die Lehrer mögen Mathilda. Sie ist eine von den Ruhigen, eine, die keinen Ärger macht.

«Dann kannst du jetzt auch in die Pause gehen.»

Wieder nickt Mathilda.

Die Sonne blendet, als sie unten aus der Tür tritt. Sie bleibt einen Moment stehen, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. Es ist ein goldener Herbsttag und ausserordentlich warm für Oktober. Die Clique von Julia macht sich das gleich zunutze. Mit tiefsitzenden Jeans und bauchfreien Tops sitzen und liegen die Mädchen in möglichst vorteilhaften Posen auf der Mauer, räkeln sich träge im Sonnenschein. Ein paar Jungs stehen vor ihnen. Jedes Mal, wenn einer der Jungs etwas sagt, kreischen die Mädchen vor Lachen.

Mathilda rümpft angewidert die Nase. Suchend schaut sie sich nach Nina und Alisar um. Sie ist so froh, hat sie die beiden. Sie ist mit ihrer Mutter vor wenigen Monaten nach Winterthur gezogen. Die Mutter wollte in der Nähe ihrer Kirche sein, in der Nähe der Gemeinde.

«Ich gebe dir einen Keks für deine Gedanken.»

Mathilda schreckt auf. Vor ihr steht Luca, grinst sie verschmitzt an und hält ihr eine Packung Oreos hin. Mit der anderen Hand streicht er seine vorwitzigen Haare zurück.

«Du stehst seit fünf Minuten hier und starrst vor dich hin.»

«Oh.» Mathilda spürt, wie sie errötet. Schnell senkt sie den Kopf, damit ihre Haare das heisse Gesicht verdecken. Mathilda hat wundervolle Haare, eine rotgoldene lockige Mähne, die sich über ihren Rücken ergiesst. «Ich habe nachgedacht.»

«Was du nicht sagst.» Luca verspottet sie, aber es klingt liebevoll. Links hinter ihm kann Mathilda Kevin ausmachen und noch weiter hinten sieht sie endlich Nina und Alisar.

«Ich muss …», sagt Mathilda und geht um Luca herum.

«Und was ist mit dem Keks?»

Mathilda schüttelt den Kopf. Es hat ihr die Sprache verschlagen. Was für ein unbeholfener Trampel sie ist.

Sie sieht nicht, wie Luca ihr hinterherblickt, die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen geschürzt. Sie sieht nicht, wie Kevin sie über den Schulhof hinweg anschaut, Sehnsucht in den Augen.

6   «Du bist also Nina.»

Das Mädchen, das mir gegenüber sass, zeigte keine Regung. Sie war klein und ziemlich kurvig für ihre fünfzehn Jahre, mit dunklem, lockigem Haar, das sie zu einem losen Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie war nicht hübsch im klassischen Sinn – das Gesicht war zu rundlich, der Mund zu breit und das Kinn zu energisch. Aber sie hatte wunderbare Augen, grün-braun, mit langen Wimpern und hellwach.

«Ich will keine Anwältin», sagte Nina. Sie hatte eine angenehme tiefe Stimme, die sie älter klingen liess.

«Deine Mutter denkt aber, du brauchst eine.» Fünfzehn Jahre und Mord – bei dieser Kombination wäre ich als Mutter auch im Dreieck gesprungen.

Ich warf Frau Behrens, die im Türrahmen stand, einen Blick zu. Sie starrte ihre Tochter von der Seite her mit geröteten Augen an, knetete unablässig ein Papiertas//chentuch zwischen den Fingern.

«Es geht nicht um einen simplen Diebstahl», fügte ich hinzu.

Nina zuckte verstockt mit den Schultern. Sie schien sich der Tragweite der Situation nicht bewusst zu sein. Sie schien sich einzig über meine Anwesenheit zu ärgern. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, dann würden mich ganz andere Sorgen plagen.

«Rede mit mir. Erzähl mir, was passiert ist.»

Noch immer zog Nina es vor, mich zu ignorieren.

«Rede mit Frau van der Meer, Schätzchen. Bitte.» Frau Behrens griff nach Ninas Hand.

«Du willst also keine Hilfe, Nina», sagte ich.

Schweigen.

«Nina, bitte», flüsterte die Mutter.

Nina schüttelte ihre Hand unwillig ab.

Ich überlegte. Ich musste eine andere Strategie fahren. Ich beugte mich vor und musterte Nina mit zusammengekniffenen Augen, verharrte so, schwieg.

Irgendwann hielt Nina es nicht mehr aus. «Was ist?», fuhr sie mich wütend an.

Ich schwieg weiterhin.

Nina begann, an ihrem Pferdeschwanz zu nesteln, löste den Haargummi, arrangierte die Haare neu. Ihre Hände zittern leicht und es dauerte eine Weile, bis die Frisur sass. Ich hatte mich geirrt. Nina war nicht verärgert. Sie hatte Angst.

«Frau Behrens», wandte ich mich an die Mutter, eine wohl ganz gutaussehende Frau Ende vierzig, die sich nun aber in einem Zustand der totalen Auflösung befand. Die Haare waren zerzaust, die Kleidung sah aus, als wäre Frau Behrens in einen Sturm geraten, selbst die feinen Falten in ihrem Gesicht schienen in Unordnung geraten zu sein. «Frau Behrens, würden Sie uns einen Moment allein lassen?»

Beatrice Behrens schien unentschlossen.

Ich sah sie mit einem festen Blick an, zog die Augenbrauen hoch und machte mit dem Kinn eine kaum merkliche Bewegung Richtung Nina. Frau Behrens erhob sich, begab sich zögernd Richtung Tür. Es war ihr sichtlich nicht wohl dabei, ihre Tochter mit mir allein zu lassen. Wir befanden uns im Wohnzimmer einer gemütlichen, grosszügigen Altbauwohnung mit Blick auf den Garten. Wie ich den wenigen, wirren Sätzen entnehmen konnte, die Frau Behrens bei meinem Eintreffen von sich gegeben hatte, wohnten sie und Nina allein hier. Der Vater von Nina war vor einigen Jahren verstorben. «Herzinfarkt. Dabei war er noch so jung.»

Frau Behrens gab sich einen Ruck. «Ich bin in der Küche, Nina, ja? Du brauchst nur zu rufen.»

Nina reagierte nicht.

Beatrice Behrens seufzte schwer, dann verliess sie das Wohnzimmer. Als sie bereits unter der Tür stand, rief Nina ihr hinterher.

«Es tut mir Leid, Mama», rief sie.

Beatrice Behrens drehte sich um und suchte Ninas Blick. Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Ich schaute Nina an. Ihre Augen hatten noch immer diesen ängstlichen Ausdruck. Aber da war noch etwas Anderes. Nur was?

7  «Du sagst, du hast dich heimlich aus dem Haus geschlichen.»

Nina nickte. Sie schaute mich nicht an, sondern starrte auf ihre Fingernägel, kratze einen Rest lila Nagellack ab. Ich war dabei, mit ihr die folgenschwere Nacht durchzugehen.

«Wie hast du dich hinausgeschlichen?»

«Ist das wichtig?» Nina hatte einen betont gelangweilten Gesichtsausdruck aufgesetzt. «Ich meine – das ist doch nur ein blödes Detail.»

«Details sind wichtig.»

Sie zuckte mit den Schultern.

Ich wurde nicht schlau aus Nina. Einerseits wollte sie ein Geständnis ablegen, andererseits musste ich ihr jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Gut, ich war nicht die Polizei. Aber bevor sie den Ermittlern etwas erzählte, wollte ich die ganze Geschichte kennen. Ich musste wissen, womit ich es zu tun hatte.

«Mein Zimmer ist im Erdgeschoss. Ich kann durchs Fenster in den Garten klettern und von da …» Wieder zuckte Nina mit den Schultern, was wohl so viel hiess, wie von da an war es nur ein Katzensprung bis zum Schulhaus St. Georgen.

«Machst du das öfter?»

«Was?»

«Dich nachts hinausschleichen.»

«Manchmal.»

«Weshalb?»

Nina schaute mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. «Weshalb wohl? Denken Sie, ich beobachte die Einhörner, die um Mitternacht auf der Wiese des Münzparks grasen? Oh Mann.» Mit einer übertriebenen Geste langte sie sich an die Stirn.

Ich musste mich aufs Äusserste zusammenreissen, um ruhig zu bleiben. Blöde Göre. Sie hatte keine Ahnung, in was für einen Schlamassel sie sich manövriert hatte. Zudem war ihr Gehabe zu übertrieben, es wirkte aufgesetzt. Mit einer Hand tastete ich in meiner Tasche nach der Zigarettenpackung, zog sie hervor. Ich stand auf, ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Keine Ahnung, was Frau Behrens dazu sagen würde. Es musste einfach sein.

«Darf ich auch eine?»

Ich sah Nina erstaunt an. «Du bist erst fünfzehn. Du darfst nicht rauchen.»

«Ich darf eine Menge nicht.»

Nun war ich diejenige, die mit den Achseln zuckte. Was sollte ich hier den Aufpasser spielen. Ich hielt ihr die Packung hin. «Von mir aus.»

Nina nahm sich eine Zigarette. Dann schnellte ihr Blick zur Tür. «Sie sagen doch meiner Mutter nichts.»

Beinahe hätte ich gelacht. Frau Behrens würde sich momentan wahrscheinlich die glücklichste Frau nennen, wenn es nur darum ginge, dass ihre fünfzehnjährige Tochter heimlich rauchte. «Keine Angst. Deine Mutter erfährt nichts», sagte ich.

Nina war keine geübte Raucherin. Sie hielt die Zigarette wie einen Kugelschreiber und machte vorsichtige Züge. Trotzdem schien das Rauchen sie zu entspannen. Ich machte mir Gedanken über sie. Hinter der ganzen Fassade, dem taffen Auftreten und den lackierten Nägeln steckte ein kleines Mädchen, das sich keinen Ärger einhandeln wollte.

«Was hast du getan?» Ich sah Nina nicht an, sondern konzentrierte mich darauf, den Rauch zum Fenster hinaus zu blasen.

Nina paffte vor sich hin. «Ich habe Luca Tanner getötet», sagte sie.

«Bist du sicher», fragte ich.

«Ja.»

Ich drückte meine Zigarette vorsichtig am äusseren Fensterrahmen aus, schnippte den Stummel in den Garten. Ich drehte mich zu Nina. «Dann erzähl mir jetzt alles. Es ist ernst, Nina.» Diesmal schien ich den richtigen Ton getroffen zu haben.

Nina sah mich an und nickte. Dann begann sie zu reden.

Zwanzig Minuten später kannte ich die ganze Geschichte. Ich hatte nicht gewusst, welche Abgründe sich bereits in Fünfzehnjährigen auftun können. Ich konnte mich kaum an meine eigene Jugend erinnern. Diese war geprägt von dem einen Ereignis, das mich bis heute beschäftigt: Dem Verschwinden meiner kleinen Schwester. Alles andere liegt im Schatten. Vielleicht trafen mich Ninas Schilderungen deswegen mit voller Wucht. Ich hatte nicht das Gefühl, jemals fünfzehn Jahre alt gewesen zu sein. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Nina zeigte es mir.

8  Nina fläzt sich auf dem roten Sofa, blättert in einer Zeitschrift.

«Tatarata!» Alisar öffnet die Tür des angrenzenden Badezimmers und schiebt Mathilda vor sich her.

Die drei sind bei Alisar zu Hause. Sie ist die, die von den Eltern am meisten verwöhnt wird, dabei ist sie nicht einmal ein Einzelkind. Aber ihre Eltern haben einfach viel Kohle. Alisar hat ein riesiges Zimmer mit Fernseher und allem, was dazugehört. Sogar ein eigenes Badezimmer hat sie. Deswegen hängen die Mädchen auch am liebsten bei Alisar ab. Hier können sie tun und lassen, was sie wollen, und Alisars Eltern sind supernett. Alisar scheint einfach alles zu haben. Hübsch ist sie auch, mit den langen Beinen, dem dunklen Haar und den grossen Augen. Ein Wunder, dass Alisar trotzdem so normal ist. Nina und sie sind seit dem Kindergarten Freundinnen. Und vor ein paar Monaten ist Mathilda dazugestossen. Mathilda mir der weissen Porzellanhaut und dem verträumten Wesen. Mathilda, die nie schlecht von jemandem denkt, aber definitiv zwei linke Füsse hat. Nina hat Mathilda vom ersten Tag an unter die Fittiche genommen. Sie sind beide ohne Vater. Nina weiss, was das heisst.

«Na, was sagst du?», fragt Alisar in Richtung Nina. Alisar stemmt die Hände in die Hüften und betrachtet Mathilda von der Seite. Alisar mag, wen Nina mag. Sie ist die Unkomplizierteste von den dreien. Soeben hat sie Mathilda eingekleidet. Sie beide sind gleich gross.

«Du siehst einfach geil aus, Mathilda», meint Nina.

«Ist es nicht … » Mathilda nestelt an dem tiefen Ausschnitt. «Ich meine, sehe ich nicht irgendwie billig aus?»

«Du findest meine Klamotten billig?», fragt Alisar gespielt empört.

«Nein.» Mathildas Gesicht rötet sich vor Verlegenheit. «Aber du bist viel schmaler als ich. Ich sehe darin aus wie eine Presswurst»

«Du siehst gut aus, Mathilda», sagt Alisar. «Schön und sexy.»

«Aber für Halloween?», zweifelt Mathilda. «Sollten wir uns nicht verkleiden?»

Nina legt die Zeitschrift beiseite. Sie steht auf, geht zu Mathilda und nimmt sie bei den Händen. «Du bist verkleidet. Aschenputtel auf dem Weg zum Ball bist du», sagt sie liebevoll. Sie dreht sich mit Mathilda übermütig im Kreis. «Angle dir nur ja keinen Prinzen, hörst du? Du gehörst zu uns.» Sie dreht weiter und weiter.

«Stopp, Nina», kreischt Mathilda. «Hör auf!»

Nina lässt sich aufs Sofa fallen, reisst Mathilda mit sich. Lachend und kichernd liegen sie da, ein Knäuel aus Armen und Beinen, langen Haaren und zartblauem Stoff. Alisar betrachtet die beiden kopfschüttelnd.

Mathilda schaut auf die Uhr und ist plötzlich ernst. «Ich muss los. Meine Mutter kommt gleich nach Hause.» Die ganze Freude ist aus ihrem Gesicht gewichen.

9  Béjart, mein Bekannter bei der Kantonspolizei, ging nicht ans Telefon. Ich hinterliess eine Nachricht, bat um umgehenden Rückruf und legte auf. Frau Behrens sah mich an.

«Sind Sie sicher, dass das notwendig ist?», fragte sie. «Nina ist doch noch ein Kind …»

Ein Kind, das ein anderes Kind getötet hatte.

«Nina will ein Geständnis ablegen, Frau Behrens», sagte ich. «Ausserdem ist es sowieso besser, sie meldet sich freiwillig, anstatt …»

«Anstatt dass man sie irgendwann einfach holen kommt?» Frau Behrens schlug die Hände vors Gesicht. «Ach, Nina, wie bist du nur in so etwas hineingeraten.»

Nina presste die Lippen aufeinander. «Nicht weinen, Mama», sagte sie und strich ihrer Mutter unbeholfen über die Schulter. «Alles wird gut.»

Alles wird gut. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Wie naiv Fünfzehnjährige sein konnten. Naiv und fordernd, unschuldig und verschlagen. Dieses Wechselspiel gehört wohl zur Pubertät dazu. Teenager sind eine eigene Spezies und für mich unerforschtes Gebiet. Es gäbe sicher geeignetere Anwälte, die auf die Vertretung von Jugendlichen spezialisiert waren. Bevor ich Frau Behrens fragen konnte, wer mich empfohlen hatte, rief Béjart zurück. Ich machte Frau Behrens und Nina ein Zeichen und zog mich auf den Flur zurück, schloss die Tür zum Wohnzimmer.

«Wo brennt’s, van der Meer?»

Ich hasste es, wenn er mich bei meinem Nachnamen nannte. Und er wusste, dass ich es hasste. Deswegen machte es ihm so viel Spass.

Béjart und ich hatten uns vor einigen Jahren kennengelernt, als wir zusammen an einem Fall gearbeitet hatten. Wir hatten den Tod einer jungen Frau aufgeklärt. Eine düstere Geschichte. Unwillkürlich schauderte mich. Seither waren Béjart und ich befreundet. Irgendwie war da auch mehr zwischen uns, eine Spannung, ein Knistern, das wir aber beide zu ignorieren versuchten. Das Leben war kompliziert genug.

«Bist du allein?», fragte ich. Ich hörte Schritte, das Schlagen einer Tür.

«Jetzt bin ich’s.»

«Dann hör zu.» Ich erzählte ihm in groben Zügen von Nina und ihrem Geständnis. «Weisst du, wer für den Fall zuständig ist?»

«Du kannst dich an Koller wenden, er leitet das Ermittlungsteam.»

Koller war ein Kollege von Béjart, mit dem ich auch schon zu tun gehabt hatte. Ein anständiger Kerl.

«Wie ist sie so?»

«Was?» Ich war mit meinem Gedanken noch bei Koller gewesen.

«Was du von deiner Mandantin hältst?»

«Sie hat Angst», sagte ich. «Und sie lügt. Ich weiss nur noch nicht, in welchem Punkt.»

«Wie kommst du darauf?»

«Kleine Dinge. Als sie mir den Tathergang erzählt hat, hat sie ein paarmal leicht mit den Schultern gezuckt. So, als zweifle sie selbst an ihrer Geschichte.»

«Ist das alles?»

Ich überlegte. «Am Schluss hat sie gesagt: Ich bin froh, dass er tot ist.» Ich hielt inne.

«Und?», fragte Béjart ungeduldig.

«Dabei hat sie so komisch gelächelt. Ich meine, ein echtes, glückliches Lächeln war das nicht.»

«Vielleicht interpretierst du zu viel hinein. Vielleicht ist alles so passiert, wie sie gesagt hat.»

«Vielleicht», antwortete ich.

«Steht morgen Abend immer noch?», wechselte Béjart das Thema.

Seit einiger Zeit gingen wir ab und zu zusammen essen, immer in ein anderes Lokal. Wir frassen uns sozusagen durch die Winterthurer Gastronomie. Am nächsten Abend wollten wir der Pizzeria Don Camillo an der Steinberggasse einen Besuch abstatten. Ich bestätigte unsere Verabredung und legte auf.

Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Nina lag auf dem Sofa, den Kopf in den Schoss der Mutter gelegt. Sie weinte geräuschvoll, und ihre Schultern zuckten. Auch Frau Behrens liefen die Tränen über die Wangen. Nina wandte den Kopf, als sie mich hörte. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen verquollen, die Haare zerzaust. Sie sah nicht mehr aus wie ein Teenager. Sie sah aus wie ungefähr elf.

10  Zurück im Büro eröffnete ich eine Akte zu meinem neuesten Fall. Der Fall Luca Tanner. Dann rief ich Koller an. Wir vereinbarten einen Einvernahmetermin für den kommenden Nachmittag. Ich war nicht ganz ehrlich am Telefon und teilte Koller lediglich mit, meine Mandantin wolle eine Aussage zum Tod von Luca machen. Den Inhalt dieser Aussage – dass Nina sich selbst beschuldigte – behielt ich für mich. Das würde Koller noch früh genug erfahren.

Ich erledigte einige Dinge für andere Mandanten, schrieb Rechnungen und Mahnungen. Die schlechte Zahlungsmoral meiner Klienten versetzt mich immer wieder in Staunen. Wenn man schon eine Rechnung nicht bezahlt, dann vielleicht besser nicht die des Anwalts.

Ich hielt einen Schwatz mit meinem neuen Büronachbarn, einem jungen Immobilienmakler, der die Räumlichkeiten von seinem Vorgänger, einem freien Journalisten, übernommen hatte, und rauchte die eine oder andere Zigarette unter dem blühenden Magnolienbaum im kleinen Vorgarten. Draussen war es bereits dunkel, als ich endlich Schluss machte. Ich verliess meine Kanzlei, die an der Ecke Wülflinger-/Schaffhauserstrasse liegt. Der Kies knirschte unter meinen Füssen, als ich den Parkplatz hinter dem Haus überquerte. Ich blieb stehen. Dort, auf der anderen Seite der Bahngleise, steht der unverwechselbare Backsteinbau des Schulhauses St. Georgen. Ich verharrte einen Moment. Anstatt nach rechts in die Brunngasse abzubiegen, wandte ich mich nach links. Ich wollte mir den Ort, an dem Luca getötet worden war, genauer ansehen.

Es war unschwer zu erkennen, wo genau Luca gefunden worden war. Zahlreiche Blumen, kleine Plüschtiere und rote Grabkerzen waren links vom Haupteingang abgelegt worden, da, wo einer der steinernen Tischtennistische steht. Da, wo der Pausenplatz vom Bahnfussweg her wegen der Baustelle und den temporären Containern nicht einsehbar war. Ich näherte mich der Stelle zögerlich.

«Du bist für immer in unseren Herzen Luca» stand auf einem grossen Herz aus Karton. «Luca wir vermissen dich» las ich auf einem Stück Papier, das mit einer Kerze beschwert war. Ein Foto von Luca war an einen Topf mit violetten Primeln gelehnt. Er war ein hübscher Junge gewesen, braune Haare, helle Augen, offenes Gesicht. Er lachte breit, voller Leben. Dieses Leben war ausgelöscht worden, von einer Minute auf die andere. Wider Willen traten mir Tränen in die Augen, und ich musste schlucken. In diesem Moment vernahm ich ein paar Meter weit weg ein Geräusch. Es klang wie unterdrücktes Weinen. Ich wandte den Kopf, spähte in die Dunkelheit.

«Hallo?»

Keine Antwort, aber wieder hörte ich das Schluchzen, lauter diesmal. Ich machte ein paar Schritte und da, an die Rückseite des Baumstammes gelehnt, sass ein Mädchen. Es trug eine dunkle Jacke und umklammerte seine angezogenen Beine, das blasse Oval des Gesichts war gesenkt. Sollte ich es ansprechen? Oder liess man Trauernde nicht besser in Ruhe? Andererseits schien es dem Mädchen nicht gut zu gehen, es war kalt, es war spät und dunkel. Es sollte nicht allein hier sitzen. Wer wusste, was sich hier abends für Gestalten herumtrieben?

«Kann ich dir helfen?», fragte ich.

Ein Schluchzen war die Antwort, der Oberkörper des Mädchens schüttelte sich vor Kummer.

Ich ging noch näher, kauerte mich neben es hin. Eine Weile blieb ich einfach so, ohne mich zu rühren, ohne etwas zu sagen. Das Schluchzen verebbte, das Mädchen schniefte ein paar Mal.

«Hier.» Ich streckte ihm ein Taschentuch hin.

Zuerst reagierte es nicht, dann griff es nach dem Tuch, tupfte sich die Augen, schnäuzte geräuschvoll.

«Weinst du wegen Luca?», fragte ich.

Sie nickte.

«Wart ihr befreundet?»

«Ich … ja … wir …».

Ein erneuter Schluchzer war die Antwort. Vor lauter Schniefen und Weinen brachte das Mädchen keinen ganzen Satz zustande. Irgendwie musste ich es beruhigen. Aber zuerst musste ich meine Position verändern, ich war definitiv zu alt, um noch länger in der Hocke zu verharren. Mühevoll stand ich auf, unterdrückte ein Stöhnen.

«Wie heisst du?», fragte ich.

«Julia.» Sie schniefte.

«Komm», sagte ich. «Du kannst hier nicht allein bleiben. Ausserdem wirst du dich erkälten.» Ich hielt ihr die Hand hin. Julia ignorierte sie, doch nach einigem Zögern stand sie von allein auf. Sie war eher klein und sehr schlank, was durch die engen Jeans noch betont wurde. Lange braune Haare umrahmten ihr Gesicht. Normalerweise war sie sicherlich sehr hübsch, puppenhaft, mit grossen Augen und kleiner Nase. Im Moment allerdings waren diese Augen verschwollen und gerötet, schwarze Mascarastreifen zogen sich über die Wangen.

«Soll ich dich nach Hause bringen, Julia?»

Julia schüttelte den Kopf. «Ich bin kein kleines Kind mehr.» Sie klang abweisend. «Wer sind Sie überhaupt? Von unserer Schule sind Sie nicht, ich habe Sie noch nie hier gesehen.» Sie musterte mich misstrauisch. «Sind Sie verwandt mit Luca?» Sie sah mich zweifelnd an.

Mit meiner hellbraunen Haut und den krausen Haaren hatte ich so nichts mit Luca gemein. Ich schüttelte den Kopf. «Ich habe beruflich mit Lucas Tod zu tun. Ich bin Moira. Moira van der Meer.»

Wieder musterte sie mich. «Beruflich? Heisst das, Sie sind von der Polizei oder so? Ich hab mich schon gefragt, wann wir endlich befragt werden.»

Ich überlegte, was ich ihr sagen sollte und fing langsam an, über den Pausenhof zu gehen. Julia ging automatisch neben mir her. Dass ich Ninas Anwältin war, konnte und durfte ich ihr im Moment nicht verraten. Nina stand offiziell noch in keinem Zusammenhang mit Lucas Tod. «Nicht ganz», antwortete ich ausweichend und wechselte schnell das Thema. «Gibt es denn Vermutungen, was mit Luca passiert ist?»

«Alle mochten Luca. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Er war der Letzte, von dem man gedacht hätte, dass er umgebracht wird.» Wieder flossen die Tränen.

«Wie war er denn?»

«Er war …» Julia schniefte. «Er war der bestaussehende Typ des ganzen Schulhauses.» Sie deutete auf das St. Georgen. «Er war cool, ich meine, er stand über den ganzen Dingen, die für andere Jungs so wichtig sind. Blöde Sprüche und so, das hatte er nicht nötig. Er war … Er gab einem das Gefühl, einzigartig zu sein.»

«Dir auch?»

Julia gab keine Antwort, sah mich lediglich durch einen Tränenschleier an. «Er hat es einfach nicht verdient zu sterben, verstehen Sie? Er hat es nicht verdient!» Sie trat halbherzig gegen einen Betonpfeiler. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Julia eine Show abzog. Sie mochte tatsächlich um Luca trauern. Aber gleichzeitig genoss sie es, Aufmerksamkeit zu erhalten.

Mittlerweile waren wir bei der Theaterstrasse angelangt.

«Es gibt keine Gerüchte?»

Sie sah mich ausdruckslos an.

«Was glaubst du denn? Was ist deiner Meinung nach passiert?»

Julia stierte vor sich hin. «Keine Ahnung», sagte sie. «Irgendein Ausländer wahrscheinlich. Einer von diesen jungen Asylheinis; die sind doch alle nicht ganz sauber. Von uns war es auf jeden Fall keiner.»

«Von uns?»

Sie deutete mit dem Kinn zum Schulhaus. «Vom St. Georgen. Alle haben Luca gemocht, hab ich doch gesagt. Die Mädchen sind total auf ihn abgefahren, und die Jungs haben ihn bewundert.» Sie sah sich unruhig um. «Ich muss jetzt gehen. Meine Eltern warten sicher schon.» Auf einmal schien ihr die Uhrzeit bewusst zu werden.

«Nur eine Frage noch. Hatte Luca Feinde?»

«Feinde?» Julia zuckte mit den Schultern. «Nicht, dass ich wüsste.»

Ich wollte nachhaken, aber sie hatte sich bereits umgedreht.

«Ich muss jetzt wirklich gehen.»

«Pass auf dich auf, Julia», sagte ich.

Sie zeigte keine Reaktion.

Ich blieb einen Moment stehen. Das war eine merkwürdige Begegnung gewesen. Lucas Tod schien Julia mitzunehmen, sie trauerte. Aber da war noch etwas anderes an Julia, etwas Hartes, Selbstbezogenes, das ab und zu durchgeschimmert war. Ich dachte darüber nach, was Julia mir erzählt hatte. Er hatte keine Feinde gehabt. Alle hatten Luca gemocht. Das passte nicht zu dem, was Nina erzählt hatte. Es passte ganz und gar nicht.

11  «Ich bin nicht sicher, ob du an Halloween teilnehmen solltest.» Rosmarie Martin hat Mathilda den Rücken zugewandt und macht sich in der kleinen offenen Küche zu schaffen. «Das ist ein heidnischer Brauch. Und abends so lange unterwegs sein? Ich weiss nicht.»

«Ich gehe mit Nina und Alisar.»

Mathilda sitzt am Esstisch und betrachtet über die Theke hinweg den schmalen Rücken ihrer Mutter, sieht die rhythmischen Bewegungen, mit denen sie hingebungsvoll einen Kochtopf schrubbt. «Da ist doch nichts dabei. Wir gehen durchs Quartier, läuten an den Türen und fragen nach Süssigkeiten. Das ist nicht gottlos.»

Die Mutter stellt den Topf auf die Ablage, schweigt.

«Alle machen das», fügt Mathilda jämmerlich an.

«Wir sind aber nicht alle», sagt die Mutter.

Mathilda seufzt. Vor ihr liegt aufgeschlagen das Matheheft, mit einem Bleistift zeichnet sie abwesend kleine Figuren auf den Seitenrand. Einen Jungen im Kapuzenpulli. Ein Mädchen mit langen lockigen Haaren.

«Hast du gehört?» Die Mutter wendet sich ihr zu. Ihre Hände stecken in rosafarbenen Gummihandschuhen, Schaum tropft auf den Boden. «Wir sind nicht alle. Wir sind auserwählt. Gott hat uns auserwählt.» Ihre Augen haben wieder diesen entrückten Blick, den Mathilda so hasst.

«Ach Mama.» Mathilda schaut die Mutter unglücklich an, klingt aber zugleich ungeduldig. Weshalb kann ihre Mutter nicht einfach normal sein, so wie die Mutter von Alisar? Oder die von Nina? Wieso läuft sie die ganze Zeit in Röcken durch die Gegend und trägt das dünne, mit grau durchzogene Haar lang und offen, ohne erkennbare Frisur? Manchmal schämt sich Mathilda für ihre Mutter. Und dann fühlt sie sich schuldig, weil sie solche Gedanken hat. Früher war die Mutter nicht so extrem. Aber seit ihr Vater gegangen ist, ist es immer schlimmer geworden.