Ein Glas voller Zeit - Ilija Trojanow - E-Book

Ein Glas voller Zeit E-Book

Ilija Trojanow

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Beschreibung

Erleben Sie eine einzigartige literarische Reise durch die Welt des Weins und entdecken Sie neue Perspektiven auf Genuss und Zeit! Ilija Trojanow ist nicht nur literarischer Weltensammler, sondern auch ausgebildeter Sommelier. Die enge Freundschaft mit einem der führenden Riesling-Weinmacher diente als Inspiration für diese Liebeserklärung an den Wein. Was bedeutet es für unsere Kultur, Wein zu trinken? Wein zu trinken ist ein Dialog, antwortet Trojanow. Mit vielen Partnern. Mit der Zeit. Mit dem Boden. Mit einem Winzer oder einer Winzerin. Mit sich selbst und den unausgeloteten Rätseln des eigenen Geschmacks. Weingenuss ist eine höchst individuelle Erfahrung. Für Ilija Trojanow ist Wein eine Entschädigung für die Vertreibung aus dem Paradies. Ilija Trojanow sinniert über Zeit, Terroir, Natur und Kultur, über Kapital, Geschmack, Verkostung und Rausch. Auf poetische Weise nähert er sich dem Geheimnis des Weins.

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Seitenzahl: 119

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ilija Trojanow • Ein Glas voller Zeit

Ilija Trojanow

Ein Glas voller Zeit

Von einem Winzer und seinem Wein

Residenz Verlag

Für Reinhard

Inhalt

PROLOG

ZEIT

TERROIR

NATUR – KULTUR – KAPITAL

GESCHMACK

RAUSCH

GEORGIEN

VERKOSTEN

Als ich mich in mir verlor, fand ich den Weinkeller.

Nektar! Krüge und Krüge, und keiner, der trinkt.

LALLA, AUCH LAL DED GENANNT

(Kaschmir, 14. Jahrhundert)

PROLOG

Wein betört den Gaumen, Poesie die Gedanken.

Mehr an Unterscheidung wäre übergriffig. Aufgelesen, ausgelesen. Wir heben das Glas, wir greifen nach dem Buch, wir nehmen einen Schluck, wir gleiten die Zeilen entlang, es fließt in uns hinein, es mundet, es ist auggefällig, es stößt uns sauer auf, es verblüfft uns, wir vergleichen mit unseren Erinnerungen, wir halten inne, achten auf den Nachklang, öffnen den Mund und seufzen. Wie oft noch werde ich so etwas erleben?

Als näherten wir uns einem Menschen. Einem Liebhaber, einer Geliebten. Im Nachhinein, und mit Bedacht. Das Vergangene ist passé, aber wir können es trinken. Mit hellhörigem Gaumen, um den Klängen nachzuspüren – dem Klang des Schiefers, dem Klang der Zeit. Wenn wir uns ein Glas Wein einschenken, beginnen wir ein Gespräch. Mit der Zeit. Mit dem Boden. Mit einem Winzer, einer Winzerin. Mit uns selbst und den unauslotbaren Rätseln des eigenen Geschmacks.

Wenn wir sagen, dass ein Wein unseren Zuspruch findet, meinen wir eine bestimmte Flasche an einem Ort zu einem Zeitpunkt. Bei so einem Weingespräch spielt alles eine Rolle: das Ambiente, die Stimmung, die zerklüftete Landschaft des eigenen Gedächtnisses und die durch unser Leben geprägten Geschmacksknospen und Geruchssinne. Jeder Wein ist eine Momentaufnahme, sein Genuss eine einmalige Erfahrung. Jede Flasche ist ein Livekonzert.

Zu Beginn Aromen und Düfte. Wir verweilen unter Zitronen- und Aprikosenbäumen, inmitten pfeffriger oder modriger Noten. Der klingende Abgang hingegen, das Nachhallende, ist nicht von Assoziationen mit Obst, Gewürz oder Holz geprägt, sondern vom Staunen. Wir wandeln oder schweben durch Räume, durch Landschaften, die wir heraufbeschwören, je berauschender die Erfahrung, umso intensiver.

Wir trinken Wein aus vielen Gründen. Weil wir glücklich sind, weil wir traurig sind, weil wir einsam sind, weil wir Freunde zu Besuch haben; als Vorbereitung auf das Essen, als Begleitung zum Essen. Oder weil der Anblick der Flasche uns an etwas erinnert, was wir erneut erleben wollen. Manche dieser Gründe sind offensichtlich, andere unreflektiert. Etwa um eine Beziehung zu Sphären aufzubauen, die wir ansonsten kaum erreichen: zur Evolution, zu den tieferen Schichten unseres Seins, zur Natur – Letzteres eine Sehnsucht, die auf einem Missverständnis basiert. Wein ermöglicht keine Rückkehr zu einem ungetrübten Einklang mit der Natur, sondern ersetzt, was wir verloren haben. Eine Simulation, nachdem wir uns von der Natur entfremdet haben. Wein ist eine Entschädigung für die Vertreibung aus dem Paradies.

Niemand wird beim Weinbau die Rolle der Natur verleugnen. Schon wegen des Diktats des Wetters. Als dieses Buch entstand, wurden Weingüter in Deutschland durch einen späten Frost im April und in Niederösterreich von starken Regenfällen im Spätsommer in Mitleidenschaft gezogen. Trotzdem, ein Weinberg ist nicht reine Natur. Wer an der unteren Mosel die steilen, terrassenförmig angelegten Weinberge betrachtet, fühlt sich eher an ein Amphitheater erinnert, weswegen die Terrassen unter Denkmalschutz stehen. Auf der anderen Seite des Flusses wachsen Gräser und Gebüsch dicht aus den Spalten des erratischen Gesteins. Die Hänge zu beiden Seiten der Mosel haben wenig miteinander gemein. Je nach Blickrichtung dominiert Natur oder Kultur.

Wer zu Fuß die steilen Hänge hinabsteigt – nichts für schwache Nerven und wacklige Knie –, kann nachvollziehen, wie viel Beharrlichkeit es braucht, um diese Terrassen zu bewirtschaften, mit ihren Trockenmauern, die hunderte Jahre auf den buckligen Steinen haben. Selbst die Reben hier sind älter als die meisten Menschen, die ein Glas mit ihrem Saft heben.

Natur – Kultur ist keineswegs der einzige Widerspruch in der Welt des Weins. Man propagiert Laissez-faireund greift zugleich handfest in den Prozess ein. Man wirbt mit einer création de soi-même, korrigiert aber im Keller la fortune. Die Eigenart der Böden soll möglichst unverfälscht zum Gaumen gelangen, heißt es, aber nur durch Technik (etwa intelligentes Pressen) und Chemie (zum Beispiel Schwefel) wird die Subtilität eines Weinbergs schmeckbar. Wein ist seit je ein Balanceakt, zwischen Apollo und Dionysus, zwischen C6H12O6 → 2 C2H5OH + 2 CO2 und Metamorphose.

Die Entwicklung eines guten Weins ist so wenig vorhersehbar wie das Wetter oder die Aktienkurse. Selbst erfahrene Winzerinnen können nur ahnen, wie der aktuelle Jahrgang reifen wird. Ein Mysterium in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit erfolgreicher Erzeugnisse. Wein untergräbt manch eine Regel des Kapitals. Je ernster man ihn als Kulturwerk nimmt, desto weniger lässt er sich in Geschäftsmodelle und Businesspläne pressen. Wer mit Wein viel Geld verdienen will, muss ihm untreu werden. Die vielen Facetten der Unwägbarkeit bringen das Beste im Wein zum Vorschein.

In vino veritas – im Wein liegt die Wahrheit –, heißt es seit Römergedenken. Der Wein erfinde nichts, er schwatze es nur aus, behauptet Schiller im Wallenstein. Das Gegenteil ist plausibler. Im Wein ist Ambivalenz, Wandlung, Vielschichtigkeit. Ein Wein, den man im Keller nicht zurichtet, dem man Zeit gewährt, erfindet Geschichten, wird zu Münchhausen (ein Rosé), zur Scheherazade (natürlich Weißwein) oder zu Anansi (Rotwein). Nasreddin Hodscha hingegen ruft empört aus: „Was, im Wein soll die Wahrheit sein? Jaja, heutzutage muss einer schon sturzbetrunken sein, um mal die Wahrheit zu sagen.“

Ohne Wein kein Wort. Ohne Wort kein Wein! Eine symbiotische Beziehung. Die Zahl der trunkenen Gedichte ist Legion. Altherrenschwer oft, wie der einst beliebte Spruch „Wer nicht liebt Wein, Weiber und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang“ (irrtümlich Luther zugeschrieben). Auch vom Dichterfürsten Goethe: „Ohne Wein und ohne Weiber /hol’ der Teufel uns’re Leiber!“ Schon die alten Griechen erotisierten Wein aus männlicher Sicht: „Wo der Wein fehlt, / da ist der Himmel der Menschheit wüst und leer, / da stirbt der Reiz der Venus!“ (Euripides im 5. Jahrhundert vor Christus). Bis in unsere Zeit hinein, von der Lyra bis zur Klampfe: „Ich möchte Weintrinker sein / Mit Kumpanen abends vor der Sonne sitzen / und von Dingen reden, die wir gleich versteh’n, / harmlos und ganz einfach meinen Tag ausschwitzen / und nach Mädchen gucken, die vorübergeh’n./ Ich möchte Weintrinker sein!“ So Franz Josef Degenhardt.

Angesäuselt geht es vom bescheidenen, kleinen Lebensglück zur nationalen Glorie: „Deutsche Frauen, deutsche Treue, / Deutscher Wein und deutscher Sang / Sollen in der Welt behalten / Ihren alten schönen Klang, / Uns zu edler Tat begeistern / Unser ganzes Leben lang.“ Nun, die Zahl der Winzerinnen steigt, wie auch die der Sommelièren. Und Ingeborg Bachmann besang den Wein besser als viele männliche Dichter („Unter dem Weinstock im Traubenlicht / reift dein letztes Gesicht.“).

Welche Sprache ist dem Wein und unserem Genuss gemäß? Da Geruch und Geschmack der Sprache vorausgehen, erfinden wir Stanzen, die sich zu Klischees verfestigen. Die Vielfalt exzellenten Weins übersetzt sich selten in einen poetischen Vielklang. Es gibt mehr herausragende Rieslinge in Deutschland als betörende Beschreibungen von Rieslingweinen. Weswegen sich dieses Buch die Aufgabe gestellt hat, dem Wein poetisch auf die Schliche zu kommen. Kultivierte Sprache für kultischen Wein.

Nach dem Aufschlagen des Buches, nach dem Einschenken des Weins, folgt das Motto, der Trinkspruch. Zu anderen Anlässen ruft man Ahoi, Petri Heil oder Hals- und Beinbruch aus. Mit dem Glas in der Hand neigt man zur Sentenz, zur komprimierten Weisheit, zur Liebeserklärung, kurz: zur Poesie. Denn ohne Trinkspruch ist der Genuss schief gesegnet.

Wein spricht wie Poesie von Dingen, die wir gleich verstehen, und von Geheimnissen, die uns ewig verschlossen bleiben werden. Ein eingängig zugänglicher Genuss, der uns eine Zumundung reicht. Wir sollten dem Rätsel nicht mit grobem Enträtseln begegnen.

Es gilt, den Wein mit Worten zu paaren.

Dies ist ein Versuch. Der Versuch einer Liebeserklärung.

Der Herbst

Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen,

Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet,

Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet,

Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen.

Das Erdenrund ist so geschmükt, und selten lärmet

Der Schall durchs offne Feld, die Sonne wärmet

Den Tag des Herbstes mild, die Felder stehen

Als eine Aussicht weit, die Lüffwehen.

Die Zweig’ und Äste durch mit frohem Rauschen,

Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen,

Der ganze Sinn des hellen Bildes lebet

Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet.

FRIEDRICH HÖLDERLIN

ZEIT

Was trinken wir, wenn wir einen Schluck Wein zu uns nehmen? Zeit. Was schmecken wir? Geschichte. Hunderte Millionen Jahre Erdgeschichte, konzentriert im gegenwärtigen Moment. Mit jedem Schluck ziehen wir Vergangenes ins Augenblickliche. Pablo Neruda dichtete einst: „Nie hattest du Raum genug in einem Glase.“ Zeit ist hingegen reichlich vorhanden in jedem Glas. Wie keine andere menschliche Schöpfung übersetzt Wein die Unverständlichkeit von Zeit in die Sprache unseres Geschmacks.

Welche Zeit? Die versteinerte oder die zyklische? Der Kreislauf der Jahreszeiten, die saisonale Veränderung von Winterschlaf zu Erntedank? Oder die freien Rhythmen im Keller, das Zusammenspiel von Aktion und Geduld, von Eingreifen und Ruhenlassen? Oder die Dauer des Reifens, die Jahre der Lagerung und Erwartung, bis zu jenem Tag, an dem das Verkosten eines älteren Weins sich als Rückblick auf ein bestimmtes Jahr und als Sicht auf die Jahre seitdem erweist, auf den Pfad des Lebens zwischen dem Abfüllen anno dazumal und dem Dekantieren heute?

Von der Biografie zur Geologie. Vom Konkreten zur Abstraktion. Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, dass sich vor 400–450 Millionen Jahren im Devon zunächst Ton, Lehm, Sand, Plankton, Asche aus Meeresvulkanen und abgestorbene Korallen am Boden eines Urmeeres ablagerten und vor etwa 325 Millionen Jahren bei der Kollision der Urkontinente Gondwana und Laurussia, als die Sedimente gestaucht, gefaltet und unter Druck und Hitze umgewandelt wurden, eine Schieferstruktur entstand. Der Schiefer verwitterte und wurde zu jenem steinigen Erdboden, der den Riesling inmitten Deutschlands einzigartig macht. Böden sind Zeugen vergangener Epochen, geformt von den Kräften der Natur, den Launen des Wetters. Jeder Schluck Terrassenriesling gewährt eine sinnliche Ahnung von urzeitlichen Meeresablagerungen. Wir schmecken Mineralstoffe, die sich über Jahrmillionen in den Schichten des Schiefers abgelagert haben. Diese Zeittiefe ist keine intellektuelle Behauptung, sondern eine unmittelbare flüssige Erfahrung. Zeit ist bekanntlich fluide.

Das erste Glas: Der Weinberg erwacht aus seinem Winterschlaf. Die ersten Knospen brechen auf, zarte, grüne Triebe sprießen hervor. Licht und Luft sowie der Duft von frischer Erde und ersten Wildblumen. Die Trauben gedeihen auf Muschelkalk, der Boden ist reich an Meerestieren (im Stein Fossilien), das Festland kriecht aus dem Meer, so wie unsere Vorfahren, die Fische, vor Millionen von Jahren. Was wir schmecken, steht im Schatten unserer biogenetischen Evolution.

Das zweite Glas: Die Trauben aus Terrassenanbau, ein Echo keltischer Stimmen (Handel mit Etruskern, religiöse Rituale) und römischer Wege (im Boden findet sich manch eine Sesterze). Ein junger Wein aus alten Reben, manche so alt wie ein Methusalem, über Jahrzehnte hinweg an die spezifische Lage angepasst, die Wurzeln tief in den Schiefer gegraben. Im Winter ruhen die Rebstöcke in frostiger Stille, die kahlen Ranken strecken ihre knorrigen Finger gen Himmel, alles starr, die Terrassen, die steilen Hänge, die Decke aus Schnee und Eis. Der Wein schmeckt nach Kälte.

Das dritte Glas: Amphorenwein. So alt wie die Sesshaftigkeit. Als Nomaden sich in Siedler verwandelten, pflanzten sie die einst wilden Reben in Reihen an. In Georgien, vor achttausend Jahren. Beim nächsten Schluck tritt Siduri auf, die göttliche Schankwirtin, die erste heilige Winzerin und Weinhüterin (im Gilgamesch, dem ältesten Epos der Menschheit). Viele Ernten seitdem, viel Photosynthese, viel Entropie. Der Wind trägt den Duft vergorener Trauben durch das Alazani-Tal bis in den Spitzer Graben.

Pause: Die Zunge umspielt das Wort Wein, lateinisch vinum, aber der Wein mundet besser, wenn die Zunge sich auch an oinos (altgriechisch) versucht, einem Wanderwort aus dem mediterranen Raum, hereingeschlendert aus dem Osten, zunächst in georgischem Gewand als ghvino. Im Germanischen ein Neutrum, später bedauerlicherweise vermännlicht.

Das vierte Glas: Agiorgitiko, eine Rebsorte, die schon Aristoteles mundete: „Vergeblich klopft, wer ohne Wein ist, an der Musen Pforte.“ Bei den Persern wurden wichtige politische Fragen zweimal entschieden: einmal im Rausch und einmal nüchtern. So auch im Weinberg: Tiefe Verwurzelung trotzt der trockenen Hitze. Fülle und Reife vermitteln eine Essenz des Bodens und des Himmels.

Das fünfte Glas: Klosterwein. Den Zisterziensern ist die Idee des Bodens als elementare Basis des Weinbaus zu verdanken. Die Mönche vermischten Erde mit reinem Wasser, ließen die Mixtur ziehen und verkosteten sie. Im Mittelalter bewahrten und entwickelten Klöster das Wissen um den Weinbau. Zwar betrieben sie eine phänotypische Selektion der Reben, aber die Rebsorte war ihnen nicht so wichtig, sie konzentrierten sich lieber auf die Gesamtqualität ihrer Weine.

Das sechste Glas: Früh im Spätsommer geerntet, um einige Wochen früher als noch vor kurzem, weil es seit einigen Jahren sogar wärmer ist als vor der mittelalterlichen Eiszeit, der erste Jahrgang einer Rebsorte, die hierzulande früher nicht angebaut wurde. Oder die sich in einer neuen Qualität zeigt: früher – „sauer wie ein Wachauer“; heute – betörende Finesse. Überraschende Migration des Geschmacks. Klimawandel bedingt veränderte Zyklen.

In jedem Glas Wein verspielen sich die Moleküle zu Äonen – Geologie und Zivilisation, eine Symphonie, komponiert aus dem Stoff der Zeit. Die geologischen Einflüsse sind kosmopolitisch. Sand aus der Wüste Gobi vermengt sich mit Asche vom Vulkanausbruch in Maria Laach vor dreizehntausend Jahren. Eigentlich müsste man sich in die Erde hineinbohren, um einen Fleckenteppich geologischer Formation zu erkennen: blauer Schiefer neben schwarzem Schiefer neben rot-gelbem Quarzit. Was über der Erde gleichförmig erscheinen mag, ist unter dem Boden mannigfaltig. Die Weine zeugen von einer Vielfalt, die uns ansonsten verborgen bliebe (siehe die Fotografien im Mittelteil des Buches).

Zudem hinterlässt jede Jahreszeit Spuren im Wein – vom kühlen Frühling bis zum heißen Sommer, vom goldenen Herbst bis zum ruhigen Winter. Die Reifung des Weins ist eine stille Alchemie der Zeit. Im Dunkel des Kellers entfaltet sich das Potential des Jahrgangs. Chemische Prozesse lassen Aromen reifen und Komplexität entstehen. Die Jahre vergehen und der Wein wandelt sich, gewinnt an Tiefe und Charakter. Ein gelungener Wein ist das Ergebnis eines harmonischen Zusammenspiels all dieser Zeitläufe.

Ein Wein, der die Zeitläufe nicht widerspiegelt, ist ein scheintoter Wein.