Ein Glück in Gefahr - Patricia Vandenberg - E-Book

Ein Glück in Gefahr E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Nun gibt es eine Sonderausgabe – Dr. Norden Aktuell Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. »Warum bist du so nachdenklich, Daniel?«, fragte Fee Norden ihren Mann, dessen Blick schon minutenlang auf einem imaginären Punkt ruhte. Nun fuhr er sich mit der schmalen Hand über die Augen und sah Fee an. »Entschuldige, Liebes, ich habe über die kleine Attenberg nachgedacht. Organisch ist das Kind doch gesund. Ich komme nicht dahinter, was mit ihr los ist. Was war das für ein munteres Mädelchen! Wenn sie fünfzehn wäre, könnte man meinen, es wäre der erste Liebeskummer, aber schließlich ist sie erst zehn.« »Vielleicht ist es ein anderer Kummer«, sagte Fee. »Aber welcher denn? Ich habe sie gefragt. Sie schüttelt immer nur den Kopf, und früher war sie so zutraulich. Sie hat alles, was sich ein Kind nur wünschen kann. Ein schönes Zuhause, nette Eltern, bekommt jeden Wunsch erfüllt, nein, diesmal weiß ich wirklich nicht weiter.« »In der Schule geht auch alles glatt?«, fragte Fee. »Ihre Mutter ist sehr zufrieden. Denise ist die Beste in ihrer Klasse. Die Umschulung auf das Gymnasium hat ihr gar nichts ausgemacht.

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Dr. Norden Aktuell – 2 –

Ein Glück in Gefahr

Patricia Vandenberg

»Warum bist du so nachdenklich, Daniel?«, fragte Fee Norden ihren Mann, dessen Blick schon minutenlang auf einem imaginären Punkt ruhte.

Nun fuhr er sich mit der schmalen Hand über die Augen und sah Fee an.

»Entschuldige, Liebes, ich habe über die kleine Attenberg nachgedacht. Organisch ist das Kind doch gesund. Ich komme nicht dahinter, was mit ihr los ist. Was war das für ein munteres Mädelchen! Wenn sie fünfzehn wäre, könnte man meinen, es wäre der erste Liebeskummer, aber schließlich ist sie erst zehn.«

»Vielleicht ist es ein anderer Kummer«, sagte Fee.

»Aber welcher denn? Ich habe sie gefragt. Sie schüttelt immer nur den Kopf, und früher war sie so zutraulich. Sie hat alles, was sich ein Kind nur wünschen kann. Ein schönes Zuhause, nette Eltern, bekommt jeden Wunsch erfüllt, nein, diesmal weiß ich wirklich nicht weiter.«

»In der Schule geht auch alles glatt?«, fragte Fee.

»Ihre Mutter ist sehr zufrieden. Denise ist die Beste in ihrer Klasse. Die Umschulung auf das Gymnasium hat ihr gar nichts ausgemacht. Ich rätsele herum, Fee.«

»Erzähle doch mal, inwiefern Denise so verändert ist«, bat Fee.

»Sie hat ohne jeden ersichtlichen Grund zwei Kilo abgenommen, und kräftig war sie ohnehin nie. Dann ihr Blick! Das ganze Gesichtchen besteht nur aus großen blicklosen Augen, so kommt es mir jedenfalls vor. Außerdem ist sie neuerdings so verschlossen. Frau Attenberg weiß dafür auch keine Erklärung.«

Fee dachte auch nach. »Könnte es nicht, dass Denise von einem Mann belästigt worden ist?«

»Aber das würde sie doch sagen.«

»Sie könnte einen solchen Schock bekommen haben, dass sie es eben nicht sagen kann, aber das ist freilich nur eine Vermutung. Natürlich kann auch etwas anderes dahinterstecken. Manche Mädchen verändern sich, wenn die Pubertät beginnt.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es sicher nicht. Sie ist aufgeklärt. Wir haben uns über die Funktionen während der Entwicklung unterhalten. Sie hat da ganz natürlich und offen reagiert. Es liegt schon länger zurück. Es muss etwas anderes sein, und ich muss dahinterkommen. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn ich eine versteckte Krankheit nicht erkannt hätte.«

»Die Ehe der Attenbergs ist doch intakt?«, fragte Fee. Daniel sah sie erstaunt an. »Ich habe nichts Nachteiliges gehört, und Frau Attenberg macht nicht den Eindruck, als wäre sie unglücklich. Ihre einzige Sorge ist das Kind. So, Feelein, jetzt muss dein Mann wieder in die Praxis. Pass du schön auf dich auf, und lass dich von Danny nicht tyrannisieren.«

»Er ist ja so lieb, seit ihm ganz klar ist, dass er nun bald ein Geschwisterchen bekommt«, sagte Fee. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass solch kleines Kind das schon begreifen kann.«

»Du hast es ihm ja auch sehr lieb klargemacht«, sagte Daniel zärtlich. Fee bekam einen langen Kuss, dann schaute er schnell noch mal zu Danny ins Zimmer, der während des Spielens auf seinem weichen Fell eingeschlafen war, was ihm neuerdings anscheinend sehr gut gefiel.

»Er ist in letzter Zeit ziemlich gewachsen«, stellte Daniel fest. »Das sieht man erst richtig, wenn er so liegt.«

Er war stolz auf seinen bildhübschen kleinen Sohn. Sie waren glückliche Eltern und hatten ein gesundes, glückliches Kind, das in einer Atmosphäre völliger Harmonie heranwachsen konnte.

Ob die kleine Denise vielleicht doch darunter litt, ein Einzelkind zu sein? Immer wieder musste Dr. Daniel Norden über das Kind nachdenken, doch in der Praxis beschäftigte ihn dann ein anderer Fall.

Loni Enderle, die sich als Arzthelferin ganz perfekt eingearbeitet hatte, deutete auf eine Karteikarte, die sie schon bereitgelegt hatte. Dr. Norden las den Namen und runzelte die Stirn.

»Sie ist ganz mies beieinander«, sagte Loni.

»Sollte doch schon vor Monaten zum Nachschauen kommen«, sagte Daniel. »Na, dann herein mit ihr.«

Hanni Schwartz war eine junge Frau, erst Anfang zwanzig, aber zehn Jahre hätte man ihr jetzt bestimmt mehr gegeben. Ihre Gesichtsfarbe war fahl und der Mund schmerzhaft verzogen. Sie schleppte das rechte Bein nach.

Wegen dieses Beines war sie vor ein paar Monaten bei Dr. Norden in Behandlung gewesen. Sie war bei Glatteis gestürzt und hatte sich vor allem das Knie entsetzlich verletzt.

Dieses Knie sah jetzt aus wie ein blauer Klumpen. Dr. Norden war entsetzt.

»Mein Gott, warum kommen Sie denn erst jetzt, Frau Schwartz?«, fragte er.

Sie begann zu schluchzen. »Ich konnte vorher nicht kommen, Herr Doktor. Meine Mutter war krank geworden und ich musste ins Allgäu zu ihr, um sie zu pflegen.«

»Und da war kein Arzt, der auch mal nach Ihrem Bein schauen konnte?«, fragte Dr. Norden.

»Da hätt’ ich dann doch einen Krankenschein gebraucht, und ich wollte nicht, dass Sie denken, dass ich von Ihnen nichts mehr wissen wollte.«

»Du liebe Güte«, seufzte er, »lieber schleppt sie sich mit diesen Schmerzen herum.« Vorsichtig befühlte er das Knie. Sie stöhnte und gab Schmerzenslaute von sich, was ihm durchaus verständlich war.

»Ja, liebe Frau Schwartz, da werden wir Sie wohl ins Krankenhaus bringen müssen«, sagte er.

»Nein, o nein«, rief sie abwehrend. »Können Sie das nicht machen?«

»Nein, es muss geröntgt werden. Mit Salben und Einbinden kann ich Ihnen da jetzt nicht mehr helfen.«

»Aber mein Mann ist schon sauer, weil ich so lange fort war, und die Kleine kann ich doch ins Krankenhaus nicht mitnehmen.«

»Dann wird sich Ihre Schwiegermutter mal um das Kind kümmern«, sagte Dr. Norden. »Sie tut das doch sicher gern.«

»Das schon, aber mit dem Hin und Her tut man dem Kind doch auch keinen Gefallen.«

»Wenn Sie vor lauter Schmerzen nicht mehr gehen und sitzen können, tun Sie Ihrer kleinen Karin erst recht keinen Gefallen«, sagte Dr. Norden. »Ihr Mann wird das einsehen.«

»Ja, das tut er schon, aber er hat nicht eingesehen, dass sich meine Mutter geweigert hat, in ein Krankenhaus zu gehen. Und dann musste es doch sein. Sie ist ein Pflegefall, und ich habe es nicht mehr geschafft. Ich konnte sie allein doch nicht heben, und jetzt ist sie auch noch böse mit mir.«

»Hat sie denn nicht gesehen, wie schlimm Ihr Knie ist?«

»Das schon, aber wenn man sich selbst nicht rühren kann, kommt einem alles andere nicht so schlimm vor.«

Und wenn ein blühender junger Mensch durch Nachlässigkeit möglicherweise ein Bein verlieren könnte, ist das nicht schlimm, ging es Dr. Norden durch den Sinn, aber das Schlimmste wollte er doch von sich weisen.

»Ich muss ernsthaft darauf bestehen, dass Sie sofort in die Klinik gebracht werden, Frau Schwartz«, sagte er energisch. »Ich werde mit Ihrem Mann sprechen. Ist er jetzt im Geschäft?«

Hanni Schwartz sah ihn ängstlich an. »Bitte, Herr Doktor, hat es denn nicht noch bis morgen Zeit? Ich sage es ihm selbst.«

»Nicht eine Stunde wird jetzt noch gewartet«, erklärte Dr. Norden streng. »Ich kann es nicht verantworten. Es hätte längst etwas getan werden müssen. Ich rufe meinen Kollegen an und bringe Sie gleich zur Behnisch-Klinik, Karin ist doch jetzt bei Ihrer Schwiegermutter?«

Hanni Schwartz nickte unter Tränen. »Ist es denn wirklich so schlimm, Herr Doktor?«, fragte sie wieder.

»Ja, leider, und ich sage das nicht gern, Frau Schwartz. Ich sage es nur, damit Sie nicht mehr zögern. Ich kenne Ihre Schwiegermutter, sie wird Verständnis haben.« Mehr Verständnis als die eigene Mutter, dachte er, denn selbst eine kranke Frau hätte sehen müssen, wie mühsam sich Hannelore Schwartz vorwärts schleppte.

Jetzt nahm er Loni die unangenehme Aufgabe, die wartenden Patienten zu vertrösten, selbst ab.

»Ich muss eine Patientin in die Klinik bringen«, sagte er ins Wartezimmer hinein. »Ich bitte um Ihr Verständnis.«

Man hatte es. »Immer höflich, immer freundlich«, sagte eine Stimme. »Für unseren Doktor sind wir keine Nummern.«

»Ja, der Dr. Norden, den muss man gern haben«, sagte Frau Schneller, die in ihrem Rentnerinnendasein viel Zeit hatte und gern hier saß, um Unterhaltung zu haben. »Früher hatte ich einen Arzt, der war so was von unfreundlich! Wenn was Außergewöhnliches dazwischenkam, fing man gleich zu zittern an. Hab’ ich doch aus Versehen mal zweimal geklingelt, da hat mich seine Hilfe gleich angefaucht, als wär das ein Verbrechen. Aber Dr. Norden hat auch immer so nette Damen im Büro. Molly war ja einmalig, aber die Loni Enderle wird die zweite Molly. Jeder braucht halt ein bisschen Zeit, um sich einzugewöhnen.«

Sie sagte es entschuldigend, denn anfangs hatte sie der Molly nachgetrauert, die jetzt manchmal noch aushilfsweise einsprang, sonst aber für ihre Familie sorgte.

Jedenfalls bekam Dr. Norden von niemand einen Vorwurf zu hören, als er bald zurückkam. Die Behnisch-Klinik lag nicht weit entfernt. Dr. Dieter Behnisch war sein Freund seit vielen Jahren, sie hatten zusammen studiert. Wenn Daniel ihm Patienten brachte, war er immer zu helfen bereit, mochte seine Privatklinik auch noch so voll belegt sein. Im Fall von Hanni Schwartz hatte er auch sofort festgestellt, dass schnellste Hilfe geboten war.

Dr. Norden fertigte zwei Patienten ab, dann rief er Frau Schwartz an, Hannis Schwiegermutter, die auch zu seinen Patientinnen zählte. Frau Schneller wartete gern. Sie war sogar bereit, andere vorzulassen.

»Das habe ich mir schon gedacht«, war Frau Schwartzes Antwort, als er ihr sagte, dass er Hanni in die Klinik gebracht hate. »Hat sich ja auch schamlos ausnützen lassen, das arme Ding, die Geschwister haben sich nicht um die Mutter gekümmert. Meinem Sohn sag’ ich es schon selbst, Herr Doktor, da brauchen Sie sich nicht zu bemühen, und mit der Kleinen komme ich in den nächsten Tagen auch mal vorbei. Jetzt geht es ja wieder, aber sie war ja kaum zum Wiedererkennen, als Hanni gestern mit ihr zurückkam. Hanni, hab ich gesagt, jetzt gehst du sofort zu Dr. Norden. Und recht hab ich gehabt.«

Sie war redselig, aber eine tüchtige, nette Frau, und man konnte sie nicht kurz und bündig abfertigen. Sie meinte es gut mit ihrer Schwiegertochter. Wahrscheinlich würde sie die kleine Enkelin verwöhnen, als wenn das Kind unter gespannten Verhältnissen leiden musste.

Dr. Norden kannte diese Verhältnisse. Hanni Schwartz stammte aus einer reichen Bauernfamilie und hatte eine schöne Mitgift bekommen. Dass sie mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter in einem hübschen Häuschen leben konnte, war dieser Mitgift zu verdanken, aber man verlangte von ihr dafür auch Dankbarkeit, wie sich nun mal wieder in krasser Form erwiesen hatte. Ja, der Dr. Norden hatte mehrere Sorgenkinder in seiner Praxis, aber die wussten halt, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Er war keiner von denen, die nur dicke Honorare kassieren wollten, und deshalb darauf bedacht waren, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Patienten abzufertigen. Bei ihm ging es selten hektisch zu. Da musste schon etwas ganz Besonderes passieren, wie an diesem Tag nun zum zweiten Mal. Und da geriet sogar er in Aufregung.

Frau Attenberg rief an. Schluchzend sagte sie ihm, dass sie von der Schule benachrichtigt worden sei, dass Denise dort nicht angekommen wäre.

»Aber ich habe sie zur Schule gefahren«, sagte sie erregt. »Ich habe früher mit der Lehrerin verabredet, dass sie mich benachrichtigen soll, wenn etwas mit Denise ist, und nun hat sie mir gesagt, dass das Kind nicht zum Unterricht erschienen ist. Ich bin völlig fertig mit den Nerven, Herr Doktor.«

»Haben Sie die Polizei verständigt?«, fragte er. »Nein, ich habe mit meinem Mann telefoniert, und er ist der Meinung, dass sie entführt worden ist. Er will die Polizei nicht einschalten. Aber Denise geht mit keinem Fremden. Ich weiß es. Ich habe Angst, weil sie doch so verändert war!«

Im Wartezimmer saß nur noch Frau Schneller, und Dr. Norden fragte sie, ob sie am nächsten Tag wiederkommen könnte.

»Ich habe noch einen ganz dringenden Fall«, sagte er entschuldigend. »Es tut mir leid, weil Sie so geduldig gewartet haben, Frau Schneller.«

»Macht nichts, Herr Doktor, ich komme gerne morgen wieder. Ist ja auch gleich, ob ich die Spritze heute oder morgen bekomme.«

»Loni, rufen Sie bitte meine Frau an«, sagte er dann hastig. »Ich komme später. Ich muss jetzt zu Frau Attenberg.«

Von dem Verschwinden des Kindes sagte er nichts. Sollte Denise wirklich entführt worden sein, war möglicherweise größte Vorsicht geboten. Raimund Attenberg war ein reicher Juwelier, und Entführungen häuften sich in letzter Zeit. All dies ging Daniel Norden durch den Kopf, während er zu Frau Attenberg fuhr.

*

Die Attenbergs bewohnten einen Bungalow in einer exclusiven Villengegend. Man konnte nicht sagen, dass das Haus übertrieben kostspielig wirkte.

Daniel Norden war schon oft hier gewesen. Es war ein Haus, in dem man sich wohl fühlen konnte, in dem ein Kind froh heranwachsen konnte.

Gisela Attenberg sah erschreckend elend aus. Sie war kaum fähig, ein Wort über die Lippen zu bringen, soviel hatte sie schon geweint. Ihr Gesicht war verquollen, ihre Hände eiskalt und sie zitterte am ganzen Körper.

Daniel gab ihr Kreislauftropfen, aber es würde wohl einige Zeit dauern, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte.

»Mein Mann wird gleich hier sein«, stammelte sie.

»Haben Sie schon etwas gehört?«, fragte Daniel. Sie schüttelte nur den Kopf und begann wieder zu weinen, fast lautlos, deshalb doppelt erschütternd.

»Kinder in diesem Alter kommen manchmal auf dumme Ideen«, versuchte er zu trösten.

»Denise nicht.«

»Vielleicht hatte sie Angst vor einer Klassenarbeit, das gibt es selbst bei den klügsten Kindern«, meinte Daniel.

»Sie haben keine geschrieben. Heute nicht«, sagte Gisela Attenberg stockend. »Und sie hatte auch immer gute Noten, obgleich sie doch so merkwürdig war in letzter Zeit.«

»Und Sie können sich auch nicht erklären, warum sie so merkwürdig war?«

»Nein, ich verstehe es nicht. Es ist uns ein Rätsel.«

»Mir allerdings auch«, sagte Daniel Norden. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Gestatten Sie mir eine Frage, Frau Attenberg. Hat es in Ihrer Ehe Differenzen gegeben?«

»Aber nein! Es gibt überhaupt nichts, was anders wäre als früher, nur Denise ist anders geworden. Sie ist doch zu jung, als dass da ein Junge dahinterstecken könnte.« Sie stöhnte auf. »Wo bleibt denn nur mein Mann?«

*

Raimund Attenberg besaß einen Wohnblock im teuersten Geschäftsviertel, und in diesem befand sich auch das Juweliergeschäft, in dessen Auslagen man die kostspieligen Juwelen bewundern konnte.

Abgesichert hatte er sich nach allen Seiten. Die Alarmanlage war direkt mit der Polizei verbunden. Er selbst war kein ängstlicher Mann, doch an diesem Vormittag war für ihn die Welt aus den Fugen geraten, denn sein einziges Kind, seine Tochter Denise, war seine wertvollster Besitz.

Leslie Holden, seine Geschäftsführerin, hatte ihn nie so erregt gesehen.

»Reg dich doch nicht so auf, Rai«, sagte sie. »Vielleicht bummelt Denise nur herum.«

»Nein, das tut sie nicht.«

Er sah Leslie vorwurfsvoll an. In einem hübschen Umstandskleid sah sie sehr attraktiv aus, und obgleich sie allen Grund hatte, sich auch manche Sorgen zu machen, zauberte sie ein aufmunterndes Lächeln um ihren schönen Mund.

»Wenn jemand anruft, sag, dass ich in einer halben Stunde zu erreichen bin«, sagte er. »Falls es um Erpressung geht, misch dich um Himmels willen nicht ein. Am besten würde es sein, wir machen den Laden dicht. Ich möchte nicht, dass dir auch noch was passiert.«

»Ich passe schon auf«, sagte sie. Dann begleitete sie ihn zur Tür. Sie legte die Hand auf seine Schulter und blickte zu ihm auf. »Alles Gute, Rai«, sagte sie.

Er lief zu seinem Wagen. Keiner von beiden merkte, dass sie von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet wurden.

Raimund Attenberg war so nervös, dass er den schweren Wagen nicht gleich in Gang brachte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er dann endlich startete, doch schon an der nächsten großen Kreuzung passierte das Unglück. Sicher war er nicht allein schuld, weil der Kombiwagen noch bei Rot über dieKreuzung geschossen war, aber er war auch nicht konzentriert genug gewesen.

Es krachte, und der Verkehr kam zum Stehen. Und schon wenige Minuten später heulten die Sirenen der Streifenwagen.

*

Das kleine Mädchen im grünen Lodenumhang, der mit grünrotkariertem Schottenstoff gefüttert war, stand noch immer auf der dem Juweliergeschäft gegenüberliegenden Straßenseite. Die kleinen Hände bohrten sich in die Taschen. Die Lippen waren fest zusammengepresst, aber die Augen waren starr und fast blicklos auf die Eingangstür des Juweliergeschäftes gerichtet, durch die Leslie Holden jetzt hinaustrat, um sie sorgfältig abzuschließen.

Denise hatte schon vorher alles genau beobachtet. Stunden stand sie schon hier, und man musste es dem hektischen Getriebe zuschreiben, dass niemand das Kind beachtet hatte.

Sie hatte gesehen, wie diese dunkelhaarige Frau ihren Vater vorhin zur Tür begleitet hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass sie die beiden zusammen sah. Zweimal war diese Frau, diese Leslie, auch schon bei ihnen im Hause gewesen, aber das lag schon ein paar Monate zurück.

Die Mami war freundlich zu ihr gewesen, und später hatte sie Denise erklärt, dass dies die neue Geschäftsführerin sei.

Von geschäftlichen Dingen verstand Denise noch nichts. Sie mochte diese kaltglitzernden Steine nicht leiden, die so schrecklich viel Geld kosteten, und sie verstand nicht, dass man so viel Geld dafür ausgeben konnte, wo doch so viele Menschen hungerten und froren.

Denise war eine aufmerksame Schülerin, und sie ging auch gerne in die Kirche. Sie nahm es sich sehr zu Herzen, wenn von den hungernden Kindern in den Entwicklungsländern gesprochen wurde, und verschiedentlich hatte sie ihren Vater auch gefragt, warum sich denn manche Leute so teure Sachen kaufen könnten und andere nicht mal das Nötigste.

»Das war immer so und wird immer so sein, mein Kleines«, hatte er erwidert. »Du brauchst nicht zu darben, und mein Geschäft ist so wie jedes andere auch. Sei froh, dass es uns gutgeht.«

Was hatte der Papi damals noch gesagt? Wir spenden für die Armen. Wir können nichts dafür, wenn es nicht zu denen gelangt, die es am nötigsten brauchen.

Andere Eltern sagten das auch, das hatte Denise aus Gesprächen erfahren, und sie fand sich damit ab.

Mit Leslie jedoch konnte sie sich nicht abfinden. Vor allem nicht seit jenem Abend, als sie mit ihrem Papi auf der Terrasse gestanden hatte. Denise war zu Bett geschickt worden. In den unteren Räumen des Hauses fand eine Party statt.