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Die Mondberührte Jess will sich von ihrer unkontrollierbaren Magie befreien, um einen Platz in der Gemeinschaft zu finden, von der sie gefürchtet wird. Als ein Piratenschiff in ihrer Heimatstadt anlegt, trifft sie Ambrose, einen Piraten auf der Flucht vor dem Strang und auf der Suche nach Rache. Sein einziges Ziel: den Mörder seiner Mutter zu finden und zu richten – selbst wenn er dabei zugrunde geht. Ambrose will Jess helfen, ihre Magie zu bannen, während er seine Rachepläne verfolgt. Doch je mehr Zeit die beiden Außenseiter miteinander verbringen, desto mehr verändert sich ihr Gefühl von Zugehörigkeit und Selbstbestimmung. Denn Jess ist mehr als die Bedrohung, die alle in ihr sehen, und Ambrose ist mehr als seine blutige Vergangenheit, die ihn heimsucht.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Erste Auflage, 16.05.2025
© 2025 Mina Bekker
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat:
Ricarda Seidl, Lektorat Schreibklauberei (@lektorat_schreibklauberei)
Korrektorat:
Linda Sieber, Lektorat ZwischenWelten (@zwischenwelten_lektorat)
Buchsatz:
Mina Bekker
Cover & Umschlagdesign:
Mina Bekker mit einer Illustration von Adam Wright (https://www.instagram.com/wrightheship) und Grafiken von Adobe Stock
Kapitelzierden & Szenentrenner:
Adobe Stock
Mina Bekker
Mina Bekker c/o WirFinden.es
Naß und Halle GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Für jene außerhalb des Kreises.
Die Einsamen und die Ungewollten.
Für jene in den Schatten, deren Wege nie leicht waren,
die sich mit Klauen und Zähnen ins Licht kämpfen.
Nehmt Raum ein.
Ungefragt. Unbeirrt.
Ihr seid nicht allein.
Scátha – Schattensaat 1 Die »Ein Hauch von Schicksal« - Trilogie:
Mondhexe & Piratenblut – Schattensaat 2
Blutwerk & Hexensturm – Schattensaat 3
Vath’riv-ani-Stolz & Sh’ra-ani-Zorn – Schattensaat 4
Ein Hauch von Schicksal – Mondhexe und Piratenblut erzählt von Freundschaft, Liebe und von der Kraft, die ein Mensch dem anderen geben kann, um sich gegen das Schicksal aufzulehnen.
Trotzdem ist diese Geschichte dem Genre Dark Fantasy zuzuordnen und spricht auch schmerzhafte, düstere und brutale Themen an.
Um dir zu helfen, achtsam mit dir selbst umzugehen, findest du auf der nächsten Seite eine Liste der Content Notes, die ich nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt habe.
Sollte dir ein Thema fehlen, kontaktiere mich bitte unter [email protected].
Wenn du keine Content Notes brauchst oder lesen möchtest, kannst du direkt in die Geschichte von Ambrose und Jess eintauchen.
- Ableistische Sprache: »dämlich«, »Narr«, »dumm«, »blöde Kuh«
- Alkohol und Alkoholmissbrauch
- Beleidigungen (u.a. Bastard als Bezeichnung für ein außerhalb der Ehe geborenes Kind)
- Blut und Blutopfer für Ritual
- Bodyhorror (entstelltes Monster)
- Drogenkonsum, auch unfreiwillig (Einatmen von Rauch mit darauffolgendem Rauschzustand)
- Enge
- Ehebruch
- Festnageln an den Händen an einer Wand (impliziert)
- Essstörung: Nahrungsverweigerung
- Ertrinken (erwähnt)
- Gewalt: impliziert. Explizit: Vater verprügelt Sohn als »Erziehungsmaßnahme«, bedroht ihn, quält ihn psychisch
- Höhe
- Kauterisieren von Wunden
- Leichen
- Mobbing
- Nadeln
- PTBS-Symptome wie Dissoziation, Appetitverlust, Brainfog
- Rauchen
- Slutshaming: Angriffe auf (weibliche) sexuelle Selbstbestimmung durch das Problematisieren von promiskuitivem Verhalten sowie Sexualisierung von Freundschaft
- Spinnenähnliche Monster
- Stechen mit Nadel für Blutritual
- Suizidgedanken
- Tod von Elternteilen (erwähnt)
- Todesstrafe durch Erhängen (nicht explizit) und Verbrennen (in Rückblenden durch die Charaktere erlebt)
- Übergriffiges Verhalten
- Verbrennen von Menschen (erwähnt)
- Amputation (impliziert, einer Figur fehlt ein Finger)
20 Jahre nach den Geschehnissen in Scátha – Schattensaat 1
Ambrose
Im kalten Nordwind schaukelten die Körper von drei aufgeknüpften Männern sanft hin und her. Krähen saßen auf ihren Schultern und pickten ihnen das Fleisch von den Knochen.
Wenn das mal kein beschissenes Omen ist.
Ambrose starrte durch das Fernrohr die baumelnden Toten an, während sein Vater die Nerissa auf den Hafen von Sylvarheim zusteuerte.
Ein Hafen wie jeder andere in Elunestris. Schäbige Matrosenherbergen aus grauem Stein drängten sich aneinander, als setzte ihnen diese Scheißkälte genauso zu wie Ambrose. Ein Wechselhaus, das auch als Festung durchginge, bei all den Schießscharten und mit der Kanone auf dem Dach, bot Händlern und Fischern die Möglichkeit, ihre Waren direkt umzuschlagen. Ein Bordell in grellem Rot – das war mal was anderes –, Tavernen …
Ambrose hielt inne, da er etwas entdeckte, das noch grausamer war als die Gehenkten. Die hatten ihr Leiden wenigstens hinter sich.
An die Außenwand einer Taverne, mit Sicht aufs Meer, war ein Mann genagelt. Über ihm hing ein Schild, auf das in blutroter Schrift das Wort Dieb geschmiert war. Erst dachte Ambrose, der Mann wäre tot, doch dann zuckte sein Kopf nach oben. Er riss an seinen Händen, verzog den Mund zu einem Schrei, den Ambrose nicht hörte. Schnell steckte er das Fernrohr ein.
»Ettirsfold. Land von Schnee und Blut«, murmelte er und blies sich in die hohlen Hände, um seine Finger zu wärmen. Es nutzte nichts, also klemmte er sie unter die Achseln und lehnte sich an die Reling, starrte in die spritzende Gischt und stellte sich vor, wie es wäre, zu springen und zu ersaufen.
Der Geruch nach Salz und Eis hing in der Luft. Es war mitten im Hochsonnenmond, doch hier im Norden gab es keinen richtigen Sommer. Auch wenn die bittere Todeskälte des Eismeeres nun hinter ihnen lag, und, der Göttin Brydva sei Dank, der schneidende Wind nachließ, war es für Ambrose nicht warm genug. Er hasste Ettirsfold schon jetzt.
Und als hätte Brydva beschlossen, seinen Tag noch beschissener zu machen, bekam er Gesellschaft. Verne, der Ambrose die ganze Überfahrt lang auf die Nerven gegangen war, trat neben ihn und kaute auf einem Stück Dörrfleisch herum, das er in seinen dreckigen Fingern hielt. Er deutete mit dem Daumen auf die Körper der Banditen. »Grausamer Tod, das.«
Ambrose nickte und wünschte sich, der Pirat würde mit dem Fleisch aus seiner Reichweite verschwinden, doch Verne riss mit den Zähnen noch ein Stück ab und kaute mit offenem Mund. »Die ham se langsam gehenkt, das sieht man dran, dass ihr Genick nich gebrochen is. Kennste den Unterschied zu den Galgen mit Falltür, die wir in Drak’Vale haben?«
»Aye«, sagte Ambrose leise. »Ich war dabei, als sie deinen Bruder gehenkt haben, weißt du noch?« Verpiss dich endlich.
Verne ignorierte seinen Seitenhieb. »Sie stellen dich auf ’nen Karren und zwingen dich mit gezogenen Schwertern Schritt für Schritt nach vorn, bis du den Rand erreichst und dann trittst du ins Leere.«
Ambrose schloss die Augen. Seine Gedanken wanderten von dem Szenario, in dem er ins kalte Meerwasser sprang, zu einem, in dem er Verne über die Reling schubste. Er grinste.
Verne war es anscheinend egal, ob Ambrose ihm zuhörte oder nicht, denn er brabbelte weiter. »Hab mal gehört, dass man nochmal abspritzt, bevor man sich vollpisst und dann langsam verreckt.«
»Dann spritzt du ja wenigstens einmal im Leben ab.« Ambroses Grinsen wurde breiter und er zählte innerlich bis fünf. So lange dauerte es normalerweise, bis Verne die Botschaften in Ambroses Worten kapierte.
»Du kleiner Wichser.« Verne packte ihn am Kragen seines viel zu dünnen Mantels und zwang ihn, sich umzudrehen und ihn anzuschauen. »Sag das nochmal, O’Sullivan, und ich hau dir eine rein.« Er presste ihn gegen die Reling und starrte Ambrose finster an.
Der sah seine Chance herannahen, seine Frustration an Verne auslassen zu können. »Das mit dem Vollpissen klappt bei dir ja auch ohne Galgen, du armseliger Säufer.«
Greif mich an. Bitte, gib mir ’nen Grund.
»Musst nich denken, dass ich dir dein hübsches Gesicht nich zu Brei schlag, wenn du weiter so unverschämt zu mir bist, Kapitänssöhnchen.« Verne hob die Faust. Er war Ambrose so nah, dass er die geplatzten Äderchen in seinen Augen sehen und seinen Schnapsatem riechen konnte.
Endlich.
»Lass ihn in Ruhe.« Ambroses kleine Schwester Anita drängte sich zwischen die beiden Männer und lehnte sich an ihren Bruder.
Er legte einen Arm um sie.
Schade.
»Es is seine beschissene Schuld, dass wir in dieses kalte Drecksland fliehen müssen, und wenn wir ihm nicht den Arsch gerettet hätten, würd er jetzt in Rouvakoula am Galgen verfaulen.«
»Es ist nicht seine Schuld.« Anita verteidigte ihn, obwohl sie es besser wissen sollte. »Er hat das getan, was Vater hätte tun sollen.«
Wie kaltblütig. Wann war seine kleine Schwester so geworden? Sie starrte diesem Drecksack von Pirat ins Gesicht, so eisig wie der allgegenwärtige Nordwind.
»Euer Vater weiß, wann man kämpft und wann nicht, und wenn Ambrose das nich rafft, hängt er irgendwann.« Verne schlug Ambrose auf den Rücken. »Nichts für ungut, aber du solltest nicht so ein Arschloch zu den wenigen Leuten aus der Crew sein, die euch noch treu sind. Und du …« Mit einem leicht angewiderten Blick musterte er Anita und wieder spannte Ambrose sich an.
Wehe.
»Als ich in deinem Alter war, war ich nich so frech zu Älteren. Kinder sollten wissen, wo ihr Platz ist.« Verne zog die Nase hoch und spuckte über die Reling. »Du bist viel zu vorlaut.«
»Mein Vater hatte in meinem Alter schon vier Schiffe gekapert und du kriegst mit …« Sie musterte ihn. »Wie alt bist du? Fünfzig? Na ja, jedenfalls kriegst du immer noch nix auf die Reihe. Das hat gar nichts mit dem Alter zu tun. Sondern ob man was drauf hat. Und du hast nix drauf.«
Unter Anitas herablassendem Blick trat Verne den Rückzug an. Dass eine Dreizehnjährige ihn in Grund und Boden starren konnte, sprach wirklich nicht für ihn.
»Danke, Annie. Das wär nicht gut gegangen.«
Aber es hätte so gutgetan.
Anita hielt Ambrose einen Apfel hin und lächelte ihn müde an. »Du solltest mal was essen.«
»Hab keinen Hunger.« Angestrengt sog er die eiskalte Luft ein. Da seine Frustration hochgekocht war, ohne sich entladen zu können, erstickte er jetzt daran.
Anita legte ihre Hand auf seine, die die Reling umklammerte. »Atme. Es ist alles in Ordnung, wirklich.«
Gar nichts war in Ordnung. In letzter Zeit verlor er oft den Bezug zum echten Leben. Er fand sich plötzlich an Orten wieder, ohne sich zu erinnern, wie er dort hingekommen war, starrte stundenlang gegen die Wand, bis ihn jemand aus seiner Lethargie weckte. Meist war es Anita, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, auf ihn aufzupassen. Etwas, das eine kleine Schwester sich nicht aufbürden sollte.
Es sollte andersherum sein.
Versager.
Selbst Anitas Hand auf seiner konnte die Bilder nicht aufhalten. Er spürte die glitschigen Gedärme zwischen seinen Fingern. Roch das Blut. Verzerrt kroch das Wimmern des Mannes, den er getötet hatte, in seinem Hirn herum. Befriedigung, sein Rachedurst gestillt. Dann Entsetzen, als er dem Sterbenden ins Gesicht geblickt hatte. Es war nicht Riven gewesen, nicht sein Bruder, der verzweifelt um sein Leben kämpfte, sondern ein Fremder. Ein Fremder in der Uniform des Roten Regiments, der Armee der Krone von Elyndareth. Es hatte den Falschen getroffen und doch war einer der Mörder seiner Mutter durch seine Hand verreckt und das war richtig so.
Riven wird bezahlen, und wenn’s das Letzte ist, was ich tu.
Den Gedanken wiederholte er wie ein Gebet, seit Ettirsfolds Küste in Sicht gekommen war, obwohl diese Sehnsucht sich anfühlte wie Verrat an seiner Familie. Seiner Crew, die ihn vor dem Strang bewahrt hatte. Trotzdem war er so gewillt, sein beschissenes Leben wegzuwerfen, wenn er nur Riven mit ins Grab nehmen könnte.
Anita ahnte davon nichts. »Spürst du, dass es wärmer wird?« Sie hielt eine Hand in den Wind.
»Nay. Ich frier mir die Eier ab.«
»Wenn wir an Land sind, wird es wärmer sein. Das Klima in Ettirsfold ist unberechenbar. Nachts friert es, tagsüber kanns richtig warm werden, aber nur noch bis zum Ahnenmond, dann wird es immer und überall kalt sein. Und dann kommen die Stürme.«
»Klingt ja großartig.« Wären sie bloß in wärmere Gefilde geflohen.
»Ambrose. Der Käpt’n will mit dir sprechen.« Lysander, ein ehemaliger Roter, der seit Ambroses zwölftem Lebensjahr mit ihnen segelte, trat an seine Seite. »Er hat beschissene Laune, lass ihn nicht warten.«
Ambrose wusste immer noch nicht, was er von Lysander halten sollte. Er war in den letzten zehn Jahren kaum gealtert, sein jugendlicher Charme und die hellen Augen konnten die Leute bezirzen und er diente seinem Käpt’n treu ergeben. Ambrose traute ihm trotzdem nicht. Konnte man sich auf einen Mann verlassen, der lieber die Seiten wechselte, als zu sterben? Andererseits … Lysander war noch hier, im Gegensatz zu anderen.
»Es sind wirklich nur die Schlimmsten von uns übrig, oder, Anita?«
»Das stimmt nicht. Die Schlimmsten haben uns verraten, diejenigen, die noch da sind, sind unsere Familie.«
Was für eine Scheiße.
Mit einem Seufzen und einem letzten Blick auf die verschneiten Berge in der Ferne stieß sich Ambrose von der Reling ab, um dem Befehl des Kapitäns Folge zu leisten. Er starrte auf die geteerten Planken und seine schwarzen, abgewetzten Stiefel, ging langsam Richtung Steuerrad und bereitete sich auf eine weitere Konfrontation vor. Er vermied es, dem Käpt’n in die Augen zu blicken, denn der schien im Blick seines Sohnes immer Provokation zu sehen.
Vielleicht hatte er nicht unrecht.
Erst als es sich nicht mehr vermeiden ließ, blickte Ambrose seinem Vater ins Gesicht. »Was?«
»Ist dir klar, wie das hier laufen wird?« Joseph umklammerte das Ruder, blickte zwischen der Küste und seinem Sohn hin und her, und nichts deutete darauf hin, dass er mit seinen Kindern einen Verlust teilte. Weder mit Ambrose noch mit Anita hatte er auch nur ein Wort darüber gesprochen, seit die Kapitäne des Flammenden Rates ihnen die Hilfe – und Rache für den Mord an ihrer Mutter, der Geliebten des Käpt’ns – verweigert hatten. Es war, als wäre der letzte Monat nicht passiert.
»Aye, Käpt’n, ist klar.«
»Wiederhol es.«
Ambrose widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Diese verfluchten Machtspielchen. »Anita und ich besuchen diese beschissene Angeber-Akademie, wir halten uns–«
»Falsch.« Sein Vater presste die Lippen zusammen. Sein Missfallen war fast körperlich spürbar. Er schaute seinen Sohn allerdings nie anders an, darum war Ambrose nicht sicher, was genau dieses Missfallen hervorrief: seine letzte Äußerung, oder einfach die Tatsache, dass er am Leben war.
»Ich halte mich von Ärger fern, tu was mir gesagt wird und halte den Kopf unten.«
»Aye, Sohn, genau das wirst du, sonst Gnade dir die Göttin.«
Üblicherweise wäre diese Unterhaltung der größte Anreiz dafür, sich Ärger zu suchen und darin zu baden, aber zu seinem Leidwesen musste Ambrose zugeben, dass er verdammt müde war. Nur der Gedanke an Rache hielt ihn noch aufrecht und er hatte keine Kraft für die Kämpfe mit seinem Vater.
»Du tust nichts, was ich dir nicht befehle. Du besuchst diese Akademie und bleibst ansonsten auf dem Schiff. Wir haben der Piraterie, den Vath’riv-ani und vor allem Elyndareth den Rücken gekehrt, wir sind völlig normal und niemand wird wegen dir einen Grund haben, zu glauben, dass es anders wäre, ist das klar? Wir wollen brave Sylvarheimer Bürger werden, denn nur Sylvarheim kann uns vor dem bösen Roten Regiment beschützen.«
»Aye, Käpt’n.«
»Du kannst gehen.« Joseph blickte über ihn hinweg auf die Küste.
Hatte sein Vater ihm Hausarrest verpasst?! »Danke«, murmelte er, damit er wenigstens das letzte Wort hatte. Er wanderte zurück zu seinem Platz an der Reling, um darauf zu warten, dass sie anlegten und aus dieser Scheißkälte rauskamen.
Varian, ein alter Haudegen, der Käpt’n O’Sullivan schon länger diente, als Ambrose lebte, wartete dort auf ihn und bot ihm einen Rauchstängel an.
»Is das Weidenrauch?« Ein Funke Hoffnung erfüllte Ambrose, obwohl er seit der Nacht, in der er den Offizier ausgeweidet hatte, nichts von der Droge geraucht hatte, und eigentlich nicht vorhatte, wieder damit anzufangen. Aber ein Hauch Vergessen …
»Nay. Nur Tabak aus Drak’Vale.« Varian schickte sich an, den Rauchstängel zurück in seine Manteltasche zu schieben.
»Egal, gib her.« Mit einem Seufzen steckte Ambrose ihn an.
Der Rauch kratzte im Hals und schmeckte nach bitterem Kraut und Erde, nach Heimatund der flirrenden Hitze an den Stränden Drak’Vales an der Flammenküste. Statt ihn zu trösten, verschlimmerte der Geschmack sein Heimweh.
Er blies den Rauch aus und schnippte den Rauchstängel ins Meer. »Glaub, das Kraut war alt.« Er hustete und spuckte über die Reling.
»Klar.« Varian schmunzelte. »Hat er dich in die Mangel genommen?«
»Nicht so schlimm, wie er könnte. Ich hab Hausarrest, kannst du dir das vorstellen?«
»Vielleicht wirds dir guttun, hier mal zur Ruhe zu kommen, Junge. War ’ne harte Zeit.«
Immer wieder sagten sie das zu ihm. Komm zur Ruhe. Doch der Schmerz brannte unter der Oberfläche, hielt ihn nachts wach und vernebelte ihm bei Tag die Gedanken.
»Weiß ich nicht«, murmelte er mit Blick auf die Menschen, die sich im Hafen tummelten, der immer näherkam. Sylvarheim. Sein neues Zuhause.
Er bildete sich ein, die Schreie des festgenagelten Mannes zu hören.
»Lass deinen Vater ’ne neue Crew zusammensammeln und dann kümmern wir uns um Riven. Dieses Kaff, Vorrenswacht, ist sieben Tage und Nächte zu Pferd von Sylvarheim entfernt und Riven hat keine Ahnung, dass wir hier sind. Wir werden ihn finden und er wird bezahlen, verlass dich drauf.«
»Riven ist nicht mehr dort. Er hat davon gefaselt, dass er zum Jäger ausgebildet wird, und Vorrenswacht ist zu nah an der Grenze zu Elyndareth, da gibts keine Jäger.«
»Wir spüren ihn auf, egal wo er sich verkriecht. Man tötet keine von uns und kommt davon.«
Bei Varians Worten zog sich Ambroses Herz zusammen und wieder konnte er kaum atmen. Er schloss die Augen, verdrängte die Bilder von Flammen, die Echos der Schreie seiner Mutter, die ihn ständig heimsuchten. »Denkst du, Vater wird hier Leute finden, die mit Vath’riv-ani gemeinsame Sache machen?«
»Na, zumindest hängen sie uns – und vor allem dich – nicht sofort auf. Wir müssen nehmen, was wir kriegen. Diese Jägerfürsten von Ettirsfold liegen doch ständig im Krieg miteinander. Scharmützel hier, Gemetzel da. Wo, wenn nicht hier, werden wir ’ne Crew finden, die dich nicht an das Rote Regiment verkauft, einfach nur um dich hängen zu sehen? Solange der Flammende Rat mit Elyndareth verbündet ist, bist du Freiwild.«
»Wir vertrauen schon wieder auf andere, darauf, dass die Ettirsfolder uns dulden, obwohl die Vath’riv-ani mit Elyndareth verbündet sind. In Rouvakoula haben wir auf den Rat vertraut, und sie haben uns fallen lassen.«
»Ettirsfold ist wie ’ne alte, bockige Witwe. Die Leute hier hassen Elyndareth mehr als alles andere. Dein Vater wird ihnen seine Geschichte auftischen, deinen Anteil daran verschweigen und wir werden wie die Opfer einer furchtbaren Intrige von Elyndareth und dem Flammenden Rat aussehen. Das wird genügen. Außerdem werden wir nicht sehr lange von der Gnade der Sylvarheimer abhängig sein. Der hiesige Jägerfürst ist alt und tatterig, früher oder später wird jemand anderes das Ruder in der Hand haben.« Varian blickte über seine Schulter in Richtung des Käpt’ns. »Jeder Weg nach Hause führt durch die Gebiete des Roten Regiments. Es gibt kein Zurück. Also bauen wir uns hier was auf. Es gibt nichts Leichteres, als in einer zwiegespaltenen Gemeinschaft noch mehr Unfrieden zu stiften. Wirst sehen, bald hat dein Vater hier das Kommando.« Varian blies den Rauch aus und seufzte schwer.
Das wird alles echt immer beschissener.
Joseph brüllte Befehle übers Deck, damit die Crew sich zum Anlegen bereitmachte.
Ambrose wollte ihnen helfen, aber Varian hielt ihn zurück. Aus eisgrauen Augen blickte er ihn an, sein Griff fest wie ein Schraubstock. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber: Tu, was er dir sagt. Nur dein Vater kann dir jetzt noch den Arsch retten, und wenn wir es hier verkacken, ist dir der Strang sicher, denn dann gibt es keinen Ort mehr, wohin wir fliehen können.«
Ambrose
Karge Wege, karge Bäume, karges Land. Alles in Sylvarheim war grau, dunkelgrün und schwarz und es war viel zu kalt.
Ambrose wusste, er sollte dankbar dafür sein, dass dieser Jägerfürst, der so alt aussah, als falle er gleich tot von seinem Sessel, sie hierbleiben ließ, doch es fiel ihm so unfassbar schwer. Er widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten, denn die Worte seines Vaters, halbe Lügen, halbe Wahrheiten, gingen ihm nicht aus dem Kopf.
Fanatiker des Roten Regiments haben meine Navigatorin … meine Frau … verbrannt, weil sie eine Mondberührte war. Die Kapitäne des Flammenden Rates verweigern uns unsere Rache und zahlen keine Wiedergutmachung für den Verlust. Ich breche mit den Piraten, mit Elyndareth, und erbitte Schutz und Zuflucht für meine Familie und meine Crew.
Der Alte hatte Joseph seine geheuchelte Unterwürfigkeit abgekauft und ihnen erlaubt, zu bleiben. Blieb zu hoffen, dass die übrigen Bewohner der Küstenstadt genauso ein weiches Herz hatten wie Fürst Ashford.
Die Straßen mit grauem Kopfsteinpflaster waren wie leergefegt, als hätte der auffrischende Wind alle Menschen vertrieben. In den Häusern brannten Kerzen hinter bunten Fensterscheiben und vereinzelt schallten Hammerschläge durch die Straßen. Der Himmel, der bei ihrer Ankunft noch blau gewesen war, zog zu. Bald schluckte das Zwielicht die Seitengässchen, in denen flackernde Straßenlaternen verzweifelt gegen den aufkommenden Sturm kämpften.
Die ersten Tropfen fielen, als Ambrose an einem Gasthaus vorbeiging. Über dem Eingang klapperte ein großes Schild im Wind. Auf grünem Grund war eine silberne Karaffe abgebildet, aus der vier silberne Sterne in einen Kelch fielen. Silberkelch.
Durch die hell erleuchteten Fenster schallten Gelächter und leise Musik. Kurz blieb er stehen, doch der Regen wurde rasch stärker und durchnässte ihn innerhalb weniger Herzschläge. Er sollte zurück zum Schiff, bevor sein Vater merkte, dass er abgehauen war.
Ambrose hatte auf See schon viele Stürme überstanden. Wellen, doppelt und dreifach so hoch wie das Schiff, und Wellentäler, tief wie bodenlose Gräber. Vor seiner Heimat Drak’Vale lag allerdings die Simmersee, ein Flachmeer, das den Stürmen die Kraft nahm, bevor sie auf die Küste trafen. Darum überraschten ihn die Schnelligkeit und die Heftigkeit, mit der das Unwetter über den Hafen hereinbrach. Darum also waren die Straßen verlassen und die Häuser und Läden verschlossen, sogar die Fenster einer Taverne mit dem klangvollen Namen DerBlutige Knochen waren dunkel gewesen. Auf der Suche nach Ablenkung war Ambrose entgangen, dass Ystris wohl beschlossen hatte, heute die Welt untergehen zu lassen. Es blitzte und donnerte Schlag auf Schlag, und das Meer war so aufgewühlt, als wollte Brydva den Hafen verschlingen.
Am Kai kämpfte ein einsamer Fischer mit seinem Boot, riss am Tau, doch Wind und Wellen ließen nicht zu, dass er es ordentlich vertäuen konnte. Das Boot riss ihn mit sich. Er schlitterte über die Holzplanken auf das tobende Wasser zu. Ohne nachzudenken, schoss Ambrose auf ihn zu und packte das Tau.
»Ich habs grad noch an Land geschafft!«, brüllte der Mann ihm ins Ohr. »Beschissene Blitzstürme!« Sie hatten selbst zu zweit nicht genug Kraft, dem Ozean das Boot wieder zu entreißen. Das Tau schnitt Ambrose in die Hände und der Regen nahm ihm die Sicht.
»Wir müssen loslassen, sonst landen wir im Meer und ersaufen!«, brüllte er zurück. Auch wenn er sich genau das heute Morgen noch gewünscht hatte, hing er mit einem Mal doch ziemlich an seinem Leben.
Für Rache sterben, aye. Aber nicht als Fischfutter für Brydvas Kreaturen.
Er ließ los und der Mann stolperte wieder vorwärts, er schien nicht gewillt zu sein, das Fischerboot der Meeresgöttin zu überlassen. Ambrose fluchte, packte ihn von hinten um die Hüfte, riss den Dolch aus der Dolchscheide in seinem Stiefel und schnitt das Tau durch.
Besser ohne Boot als ohne Leben.
***
»Scheiße, ohne dich wär ich draufgegangen, ich schulde dir ein Bier. Geht auf mich.« Sie hatten in der einzigen offenen Taverne Schutz vor dem Sturm gesucht, in dem es nun nicht einmal mehr möglich war, den Hafen zu durchqueren, ohne Gefahr zu laufen, von einer Sturmbö in die Wellen gepeitscht zu werden. Ambrose sparte sich eine Antwort. Seine Hände bluteten vom Seilbrand, ihm war kalt, er war nass und jetzt saß er in dieser Spelunke fest, in der es nach ranzigem Fleisch, altem Schweiß und verdorbenem Fisch stank.
Keine gute Tat bleibt ohne Strafe.
Er blickte sich im Schankraum um. Dunkle Wände, verziert mit hässlichen Gemälden von Fischerbooten und barbusigen Wasserfrauen. Eine geschmacklose Skulptur der Göttin Brydva, die nackt und breitbeinig auf einem Wal ritt.
Was für ein Drecksloch.
Die harte Bank quietschte, als er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte. »Ich will nix. Kann dich doch nicht einfach draufgehen lassen.«
Trotzdem stellte der alte Wirt jedem einen Humpen vor die Nase. Er hatte strähniges, graues Haar und mehr Leberflecken als Zähne. Der Schnapsgestank, der von ihm ausging, verriet, dass er wohl sein eigener bester Kunde war, und er wankte, als wäre er auf hoher See. »Wohl bekomms. Hätt nich gedacht, dass bei dem Scheißwetter heute jemand vors Loch geht.« Glucksend entfernte er sich und wischte sich die Hände an seiner fleckigen Hose ab.
Der Fischer schien Ambroses Abscheu zu spüren. Die von Lachfältchen umrandeten Augen blitzten belustigt. »Keine Sorge. Das hier ist ’n Drecksloch, aber das Bier ist wirklich gut.« Er trank einen Schluck und blickte nach draußen, wo die Nerissa im Hafen lag und stoisch dem Sturm trotzte. »Das is ’n Piratenschiff.« Die Stimme des Fischers gab nicht preis, was er davon hielt.
Ambrose zog es wieder vor, zu schweigen, und brummte nur einen unverständlichen Laut.
»Ich bin erst vor ’n paar Tagen wieder hier angekommen, bin bis zum Frühling bei meiner Alten hier in Sylvarheim, sonst reise ich herum, fahr mal hier mit und mal dort, ich war schon überall.« Er hielt den Blick nach wie vor auf die halb beschlagene Scheibe gerichtet. »Bevor ich hierher zurückkam, war ich in Rouvakoula, an der Flammenküste.«
Ambrose gefror das Blut in den Adern. Er gab sich größte Mühe, desinteressiert zu wirken. »Und? Scheißwetter hier im Vergleich zu dort, oder?« Heiser lachte er auf. In seinen Ohren klang sein Lachen falsch und aufgesetzt, doch seinem Gegenüber schien das nicht aufzufallen.
»Aye, schon. Weißt du, seit es heut Morgen hier ankam, denk ich drüber nach, warum mir das Schiff überhaupt auffällt.«
Ambrose trank einen großen Schluck von seinem Bier, um zu verbergen, dass ihm der Arsch auf Grundeis ging.
Wenn er es weiß? Wenn er weiß, wer ich bin?
Dann hätte er doch sicher schon irgendwas gesagt, oder? Dann würde er Ambrose kein Bier ausgeben, oder doch? Wollte er ihn einlullen und später abstechen?
»Das is die Nerissa. Ein Schiff von den Vath’riv-ani, diesen Bastarden, die im Namen der Krone von Elyndareth die Ozeane plündern. Und jetzt kommt das Interessante an dieser ganzen Geschichte: Das Rote Regiment sucht dieses Schiff. Überall in Rouvakoula schreien sie es von den Dächern. Jemand hat mächtig Scheiße gebaut. Schon dämlich, sich ausgerechnet in der Piratenhauptstadt mit den Roten anzulegen. Da will wohl jemand unbedingt am Galgen enden.«
Ambrose starrte den Mann an. Keiner seiner Gedanken war hilfreich. Nur Rauschen. Nur Panik. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
»Morgen werd ich mich mal hier umhören, ob einer weiß, wem das Schiff gehört. Hast du ’ne Ahnung? Wir könnten halbe-halbe machen.«
Ambrose schluckte schwer, sein Hals war wie zugeschnürt, schnell trank er noch einen Schluck. Entweder verarschte der Kerl ihn, oder er wusste wirklich nicht, wer Ambrose war. »Ettirsfold liefert doch gar nicht an Elyndareth aus«, stieß er hervor und hoffte, dass das Rauschen in seinem Kopf innerhalb der nächsten Herzschläge einen hilfreichen Einfall produzieren würde.
»Schon richtig, aber ich hab gehört, dass nicht nur die Roten die Nerissa haben wollen.«
»Wer will sie denn noch haben?« Unglaublich, dass er überhaupt noch sprechen konnte, so schnell wie sein Herz gegen seine Brust hämmerte. Wer wohl?
»So ’n Bursche aus Ettirsfold, hab ich gehört. Keine Ahnung, wer das is. Er hat sich in Rouvakoula am Hafen umgehört und wollt wissen, ob wer weiß, wo die Nerissa hin is.«
»Und wusste es jemand?« Ambrose klammerte sich an dem Humpen fest und hielt die Luft an.
»Nee, diese Bastarde sind bei Nacht und Nebel verschwunden, keiner hat sie gesehen. Aber ich hab sie gefunden, überleg mal, wie groß die Chance ist! Und wer der Bursche ist, der sie sucht, das lässt sich ja leicht rausfinden, niemand ist so gut vernetzt wie die Ettirsfolder Fischer.« Er grinste und leerte sein Bier.
Warum suchte Riven nach ihnen? Er hatte, was er wollte. Ambroses Mutter war tot, die Geliebte ihres gemeinsamen Vaters ermordet und die Ehre von Joseph O’Sullivans erster Frau, Rivens Mutter, wiederhergestellt. Was bei allen Göttern wollte er noch?
Was würde ich tun, wenn ein Mordversuch auf mich fehlgeschlagen wäre?
Ich würde mich rächen wollen.
Riven war ein böser Mistkerl, hinterhältig und durchtrieben, aber auch ein verdammter Gockel. Er ließ immer andere seine Drecksarbeit machen. Wenn Riven rausbekam, dass sie hier in Sylvarheim waren, würde er alles daransetzen, dass die Ettirsfolder Ambrose verkauften. Das musste er verhindern.
Ambrose traf eine Entscheidung und mit dieser Entscheidung verschwand die Angst. Handeln. Sich von Ärger fernhalten, das würde er wieder machen, sobald er diese Gefahr beseitigt hatte.
»Klingt doch nach ’nem Plan. Aber weißt du was? Du kannst das Ganze abkürzen. Schneller an dein Gold kommen.« Auch wenn sich sein Lächeln wie eine Fratze anfühlte, veränderte sich nichts am Verhalten des Fischers.
Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte der Mann ihn. »Aye? Und wie?«
»Indem du mit mir kommst. Ich will darüber nicht hier reden, es soll sonst keiner mitkriegen.« Der Schankraum war leer. Aber die Gier im Blick des Fischers verriet Ambrose, was er wissen musste. Der Mann würde mit ihm gehen.
Der Sturm war weitergezogen, doch der Regen prasselte dicht und fein wie Bindfäden auf Sylvarheim nieder. »Komm.« Er winkte dem Fischer zu, ging mit ihm hinunter zum Kai in die Schatten der Nerissa.
»Wo gehen wir hin?«
»Dorthin, wo uns keiner sieht.« Ambrose fuhr herum, seinen Dolch in der Hand und packte den Mann an der Schulter. Er hielt ihm das Messer an die Kehle und drängte ihn bis zum Rand des Kais. Unter ihnen plätscherten die Wellen so unschuldig, als hätte nicht eben noch ein Sturm fast den Hafen zerrissen. »Wer weiß noch, dass das Schiff gesucht wird?«
Der Fischer starrte die Klinge an, dann blickte er Ambrose an und seine Augen weiteten sich. »Dich suchen sie!«
»Antworte mir!«, sagte Ambrose, seine Stimme kalt und fest, obwohl er kaum klar denken konnte.
»Niemand«, keuchte der Mann. Er machte nicht einmal den Versuch, sich zu befreien. »Wirklich, niemand, ich war der Einzige aus Ettirsfold in Rouvakoula, ich schwöre es bei–«
Ambrose schnitt ihm die Kehle durch. Er konnte es nicht riskieren, den Mann leben zu lassen. Das warme Blut spritzte ihm ins Gesicht.
Mit aufgerissenen Augen starrte der Fischer ihn an, brabbelte sinnleere Worte, die der Regen fortspülte, wie das Blut, das schaumig von seinen Lippen rann. Er grapschte nach der klaffenden Wunde in seiner Kehle, stierte Ambrose an, als könnte er nicht glauben, dass er wirklich gerade verblutete.
»Sieht so aus, als hätte Ystris beschlossen, dass du heute stirbst. Und als hätte Brydva beschlossen, dass die See dich bekommt.« Ambrose stieß ihn in die Wellen. »Tut mir leid«, hauchte er. Die Schwärze von Brydvas Reich verschluckte den Fischer sofort.
Schuld und Reue löschten das Rauschen in Ambroses Kopf aus, es herrschte anklagende Stille. Er hatte Menschen im Kampf getötet. Um sich selbst zu schützen, und seine Familie, seine Crew. Aber hilflose, ahnungslose Menschen zu töten?
Ich sinke immer tiefer.
Den Letzten hab ich aus Rache getötet.
Und diesen? Weil ich Angst hab. Feige bin.
»Für dich, Brydva. Ein Leben.« Ambrose schnitt sich mit dem Dolch in die Hand und ließ sein Blut ins Wasser rinnen, um das Opfer zu besiegeln, damit die Göttin den toten Körper nicht wieder an Land spülen würde. »Und mein Blut. Das kennst du ja schon.«
***
»Wir müssen das Schiff aus dem Hafen wegbringen. Und der Name muss weg.« Tropfnass und frierend trat er in die Kapitänskajüte, ohne zu klopfen, ohne nachzudenken.
Joseph saß, wie meist, wenn sie nicht segelten, an seinem Schreibtisch, der einen Großteil des Raumes einnahm, rauchte und blätterte in seinem Logbuch.
Ohne seinem Vater eine Chance zum Antworten zu geben, redete Ambrose weiter. »Ich hab im Hafen ’nen Fischer getroffen. Er kannte die Nerissa aus Rouvakoula. Riven hat die Fischer dort ausgefragt. Er sucht uns. Mich.«
Ausdruckslos nahm sein Vater die Information auf. Ambrose wusste, wie es ablief. Eine Verfehlung wurde nicht sofort geahndet, wenn er etwas tat, was seinem Vater Nutzen brachte. Darum würde Joseph über seinen Ungehorsam hinwegsehen. Er würde ihn irgendwann aus dem Nichts dafür büßen lassen, aber heute käme er davon.
Joseph schürzte die Lippen. »Wir brauchen ’nen anderen Anlegeplatz.« Vage deutete er zum Fenster in seinem Rücken. »Ich werd mich drum kümmern. Varian soll den Fischer erledigen.«
Ambrose schüttelte den Kopf. »Der Fischer wird uns keine Probleme machen.« Er sah die aufgerissenen Augen des Mannes vor sich. Schuld, kalt wie Eis, ließ ihn erschaudern.
Joseph hob eine Augenbraue. »Da hast du ja mal was richtig gemacht. Sag der Crew, sie sollen Augen und Ohren offenhalten, ob noch jemand das Schiff erkennt. Und wenn das so ist …«
»Dann bringen wir sie zum Schweigen.«
Jess
Das schwarze Schiff lag drohend im Hafen, als wäre es direkt aus der Totenwelt Murra Erabys hergesegelt, um die Lebensgeister der Bewohner Sylvarheims einzusammeln. Im Spätsommerwind knatterten die gerefften dunkelroten Segel, Möwen umkreisten das Krähennest und krakeelten durch den Hafen, wie um die Ankunft der Fremden anzukündigen.
Jess konnte keinen Namen am Bug entdecken, was ihre Neugierde nur noch anfachte. Sie lag auf dem Dach der Lagerhalle in der Nähe des Kais und drückte sich gegen die von der Sonne aufgewärmten Schieferschindeln, um das Entladen des Schiffes zu beobachten. Es waren allesamt finster dreinblickende Männer und Frauen, viele von ihnen trugen dunkle Tätowierungen an Armen und Beinen, alle von ihnen waren bewaffnet und hatten raue Gesichter. Jess hatte Menschen wie sie im Hafen der Kristallstadt gesehen – wo sie in den Käfigen vor sich hin starben, weil sie Piraten waren.
Piraten! Die letzten wirklich freien Menschen in Elunestris.
Sie grinste verstohlen und presste ihren Ring an die Lippen. Ein Schiff im Sturm, ein alter Siegelring, den sie als Kind von ihrem Vater bekommen hatte und den sie seitdem hütete wie einen Schatz. Die Ankunft der Piraten brachte die lang ersehnte Abwechslung und vielleicht eine Chance …
Das Rauschen der Wellen verschluckte die Worte, die sich die Arbeitenden zuriefen, doch sie hatte genug gehört, um zu wissen, dass sie Rovarisch sprachen.
Flammenküstler, also.
Noch einige Herzschläge beobachtete Jess die Neuankömmlinge, dann riss sie sich von dem Anblick los, schob sich über das Dach zurück an die Rückseite des Gebäudes und ließ sich über den Rand gleiten. Ihre Füße fanden die Risse im Mauerwerk und sie kletterte hinab, ohne ein Geräusch zu verursachen, doch der weite Ärmel ihrer Bluse verfing sich an einem Nagel. Sie bemerkte es zu spät, riss ein Loch in den Stoff und verfluchte ihre Gedankenlosigkeit. Hoffentlich schaffte sie es, ungesehen an der Rückseite des Silberkelchs in ihr Zimmer zu klettern und sich umzuziehen, damit ihre Mutter nicht merkte, dass sie verbotenerweise am Hafen gewesen war. Sie klopfte sich den Staub von der Hose und lief durch die gewundenen Kopfsteinpflasterstraßen, hatte ihre Bluse und den Riss bald vergessen.
Piraten in Sylvarheim! Vielleicht hatten sie Mondberührte an Bord.
***
Ein Tisch draußen vorm Silberkelch, der Taverne von Jessas Familie, war besetzt. Der Jäger Olfar saß dort mit seinem Lehrling Tjark, der mit Jess die Akademie der hohen Künste Nordstern besuchte. Die beiden hohen Künste waren Töten und Überleben, jedoch klang Akademie der hohen Künste besser, denn den Schein zu wahren, war die heimliche dritte Kunst in Sylvarheim. Jeder konnte Nordstern besuchen und die Grundlagen des Kämpfens lernen, oder Kräuterkunde und Sprachen und andere nützliche Dinge, weshalb Jess dort eingeschrieben war. Nur die Besten konnten Jägeranwärter werden, denn die Jäger von Nordstern waren seit Generationen die besten im ganzen Norden.
Diese Zeiten sind allerdings vorbei.
Olfar war den Jägern wohl eher beigetreten, weil es großzügigen Sold und ständige Gelage gab, und ob Tjark ein guter Jäger war, würde sich zeigen.
»Na, war die Jagd erfolgreich?« Jess stieg über Olfars am Boden liegenden Streitkolben und Tjarks Bogen. »Könnt ihr eure Waffen woanders hinlegen?«
Olfar ignorierte ihre Frage und beugte sich über die Würfelschale, die zwischen ihm und Tjark stand.
»Ich räum sie gleich weg, Jessa. Die Frosthyäne ist verschwunden, bevor wir sie erwischen konnten, aber wir haben Urtes Überreste gefunden«, verkündete Tjark fröhlich. Er nickte zu dem mit schwarzem Blut verkrusteten Jutesack zu seinen Füßen.
Aye, die Blütezeit der Sylvarheimer Jäger war definitiv vorbei. Jess rümpfte die Nase. »Findet ihr nicht, es wäre angemessener, nicht hier zu sitzen und zu würfeln, sondern ihn zu Pelkam zu bringen, damit er die Einäscherung vorbereiten kann?«
»Wir sind durstig und haben Hunger. Außerdem hat Urtes Frau uns nicht im Voraus dafür bezahlen wollen, ihn zu suchen, also scheint es ihr nicht so wichtig zu sein«, brummte Olfar, der fast so breit wie hoch war und als Jäger nicht viel taugte, weil er viel lieber Musik machte und feierte. Kein Wunder also, dass das Viech entkommen war.
Jess nahm es mit ihren eigenen Pflichten auch nicht immer ganz genau, weder im Silberkelch noch in der Akademie. Aber Frosthyänen waren eine Gefahr für alle, das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Olfar reckte sich, um an Jess vorbeizuschauen. »Wo bleibt unser Bier?«
Ihre Cousine Ivaine trug ein Tablett mit Schalen voll Eintopf und Humpen, aus denen das dunkle Bier schwappte. Sie strauchelte und ihre Last geriet in Schieflage, wie ein Schiff auf stürmischer See. Jess nahm es ihr aus den Händen und stellte es auf einem freien Tisch ab. »Sie haben Urtes Überreste in einem Sack dabei. Es ist nicht viel von ihm übrig«, murmelte sie.
Ivaine verzog angewidert das Gesicht. »Warum bringen sie ihn nicht zu Pelkam?«
»Der Totensalber ist mit dem armen Tropf beschäftigt, den sie gestern am Rostigen Anker angenagelt haben. Schlechter Zeitpunkt, so kurz vor ’nem Sturm da festgenagelt zu werden. Aber der hat Glück, dass er’s hinter sich hat und verblutet ist, statt in der Sturmklamm zu landen«, knurrte Olfar. Dann gluckste er. »Vielleicht is er aber auch ersoffen, so wie’s runtergepisst hat.« Das Glucksen erstarb, als er sich mit verkniffenem Gesicht an Jess wandte. »Und jetzt halt dich ran, Mädchen, ich bin am Verhungern.«
Jess zögerte einen Moment, doch dann schluckte sie die Erwiderung hinunter, die ihr auf der Zunge lag.
Sauf weniger und mach deine Arbeit richtig, du fauler Wicht.
Sie atmete tief durch. Es sind Gäste, hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Also überging sie seine Frechheit, schob die Würfelschale beiseite und stellte ihm eine Schüssel mit Eintopf vor die Nase. Der Duft nach Gemüse und Kräutern ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Ich war am Hafen«, erzählte sie Ivaine.
»Und, hast du sie gesehen? Sind es wirklich Piraten?« Ivaine reichte Tjark sein Bier. »Sind sie aus Arathúul?«
»Natürlich sind sie Piraten«, knurrte Olfar, bevor Jess antworten konnte. »Aber keine aus Arathúul, nay, definitiv nich. Schwarzes Schiff mit roten Segeln, das sind Vath’riv-ani. Das sind die schlimmsten Hunde, die’s gibt. Und das Schiff hat keinen Namen am Bug. Wir sollten mit Fürst Ashford sprechen, ich kann nich fassen, dass er sie bleiben lässt.« Olfar wischte sich den Bierschaum aus dem Bart.
Jess schnappte sich ein Tablett, um die leeren Gläser am Nebentisch abzuräumen. »Wenn Ashford das entschieden hat, ist es entschieden.« Ashford war der Jägerfürst, der Kopf des Rates, das Herz der Gemeinschaft, aber Jessas Nan sagte immer, er wäre nur ein alter Feigling. Sie balancierte das volle Tablett auf der Hüfte. »Er wird seine Gründe haben, sonst hätte er sie sicher fortgejagt. Wer das Eismeer durchquert, hat ’nen guten Grund und flieht vor irgendwas da draußen. Ettirsfold ist Hafen und Heimat für alle, die Schutz suchen. Sie haben unsere Gesetze nicht gebrochen.«
»Noch nicht. Es sollen Schattenschlächter an Bord sein. O’Hickey wird sich nicht die Arbeit wegnehmen lassen, und wir auch nicht.« Olfar nickte zu seinem Streitkolben, den Tjark an die Hauswand gelehnt hatte.
»Also mal ehrlich …« Jess schloss den Mund schnell wieder, bevor ihr Mundwerk sie in Schwierigkeiten bringen würde.
Der Blick, den Olfar ihr zuwarf, sprach Bände. »Hast du was zu sagen?« Er lehnte sich vor und griff nach seinem Humpen, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Ihre Mondmagie reagierte heftig auf den Zorn, den er ausstrahlte, fuhr als heiße Woge durch ihren Körper und in ihren Kopf. Durch den Schmerz sah sie Sternchen, kurz schien die Welt zu schwanken. O nein, nicht jetzt!
Sie stellte das Tablett mit den Gläsern wieder auf dem Nebentisch ab. Ihr Sichtfeld verengte sich und ihr zog sich die Kehle zu, bis sie fast nicht mehr atmen konnte. Olfars überhebliches Glotzen, wie er in seinem Stuhl lümmelte und davon sprach, dass andere ihm die Arbeit wegnehmen könnten, die er nicht mal erledigte … Es war lächerlich und sie durfte es nicht aussprechen.
»Ihr solltet euch nicht schon aufregen, bevor ihr wisst, was die Leute wollen, das ist alles.« Sie wischte den Nachbartisch ab und wich seinem Blick aus.
»Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen, Jess.« Eine leise Warnung schwang in seinen Worten mit. »Meiner Meinung nach könnten wir den Piraten einfach zeigen, was in den Jägern von Sylvarheim steckt.«
Jess wollte sich nicht einfach geschlagen geben und drängte die Mondmagie zurück in die Ecken ihres Bewusstseins, damit sie wieder atmen konnte. »Ihr wisst doch gar nicht, ob sie hier sind, um zu jagen. Wir könnten das machen, was wir immer mit Reisenden machen. Sie willkommen heißen und vielleicht ein Fest feiern?«
Ivaine lächelte sie hoffnungsvoll an. »Vielleicht ist ja ein hübscher junger Mann dabei.« Sie seufzte verträumt. Als Jess laut auflachte, versteckte Ivaine ihr hochrotes Gesicht hinter ihrem Tablett.
Olfar brummte etwas Schlechtgelauntes und hinter seinem Rücken verdrehte Ivaine die Augen. Das würde sie allerdings nie tun, wenn jemand außer Jess sie dabei sah.
Tjark grinste Jess an. »Sind euch die jungen Männer, die schon hier sind, nicht hübsch genug? Muss ich um dich kämpfen, Jessa?«
Jess gab ihm einen Klaps an den Hinterkopf. »Immer mit der Ruhe, Großer, niemand muss hier um mich kämpfen.«
»Und wann gehst du dann offiziell mit mir aus? Wie oft soll ich noch fragen?« Er packte sie am Arm, als sie an ihm vorbeigehen wollte, und hielt sie fest. »Im Ernst, Jessa, wie oft noch?«
»Gar nicht mehr, Tjark, denn das wird nicht passieren«, sagte sie und entwand ihm ihr Handgelenk. Sie hatten sich ein paar Mal geküsst und seitdem dachte er, Jess wäre ihm verfallen. Das war sie aber nicht, nicht wirklich jedenfalls. Er war nett und hübsch und küsste gut, aber er war auch ein wenig aufdringlich und viel zu dreist. Je öfter er sie drängen wollte, offiziellmit ihm auszugehen, desto weniger wollte sie.
»Bevor wir hier Feste feiern, steht der Kampf um den Frostthronan. Vorher wird der Fürst sich um nichts anderes kümmern, also beruhigt euch«, grummelte Olfar.
Der Kampf um den Frostthron. Jess wollte nicht daran erinnert werden, denn dann bekam sie sofort schlechte Laune.
Seit einigen Jahren wurde der Kampf um den Frostthron veranstaltet, damit die Städte Sylvarheim, Thal’dor, die Nebelwacht und Grimslund darauf verzichteten, einander in den dunklen Tagen im Winter vor Langeweile den Schädel einzuschlagen. Es gab nicht wirklich einen Thron, aber die Gewinner führten sich immer auf, als wären sie in den Adelsstand erhoben worden, wenigstens für ein Jahr.
Nicht, dass Jess jemals in diesen Genuss käme, denn sie würde nicht teilnehmen. Niemand wollte sie als Partnerin, weil sie vor drei Jahren mit einem Magieausbruch den halben Kampfplatz in Schutt und Asche gelegt hatte. Und es waren Menschen verletzt worden.
»Jess! Wo bleibst du, verdammt nochmal? Ich warte seit einer halben Ewigkeit auf dich.« Von drinnen rief Jessas Mutter nach ihr und siedend heiß fiel ihr ein, dass sie schon vor über einer Stunde hätte zu Hause sein sollen.
»Komm endlich, und bring die leeren Gläser mit!«
Mist, das wird wieder Ärger geben. Zu allem Überfluss fiel ihr auch jetzt erst wieder ihre Bluse ein. Nun war es zu spät, ihre Mutter hatte sie gesehen, und sie musste durch die Vordertür. Jess schenkte Tjark ein halbherziges Lächeln und folgte ihrer Cousine ins Innere der Taverne.
Als sie die Terrasse hinter sich gelassen hatten, stemmte Ivaine die Hände in die Hüften und hielt Jess auf. »Warum lässt du Tjark so zappeln?«
»Ich lasse ihn nicht zappeln. Ich will nicht mit ihm ausgehen.«
»Aber er ist ein netter Kerl. Und oh, bei Ystris, hast du seinen Hintern gesehen? Und diese Locken.« Ivaine seufzte theatralisch. »Und er wird Jäger!«
»Vielleicht solltest du mit ihm ausgehen?« Jess grinste sie an.
»Aber er will nur dich. Und es ist ja nicht so, als hätten wir hier die große Auswahl. Er ist klug, hübsch und seine Familie hat Gold. Und immerhin habt ihr euch ja schon geküsst.«
Überrascht schüttelte Jess den Kopf. »Na und? Er wusste, dass das einfach nur ein Kuss war und nicht mehr. Also beruhig dich. Und wer weiß, wer an Bord des Piratenschiffs ist.« Es sollte ein Scherz sein, um Ivaine ein bisschen zu ärgern, denn sie war sehr altmodisch, was das anging.
Doch Ivaine nickte und zog die von Sommersprossen übersäte Nase kraus. »Da hast du recht, das weiß man wirklich nicht.« Sie löste das Band, das ihr Haar zurückhielt, und fuhr sich durch die rötlich-blonde Lockenmähne, die alle Kinder und Enkelkinder von Eldoria McAllistor hatten. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel neben der Tür und musterte Jess. »Du solltest dein Haar öfter offen tragen. Bei Svigins Segen, es ist ein Jammer, dass ich nicht dein Haar hab, so ’ne Verschwendung, echt.«
Der für ihre Familie typische rötliche Schimmer kam nur in der Sonne durch, denn das dunkle Haar von Jessas Mutter hatte sich gegen das rote ihres Vaters durchgesetzt. Genau wie sich auch ihre Mutter gegen ihren Vater immer durchgesetzt hatte. Ein schmerzhafter Stich ging durch ihr Herz, wie jedes Mal, wenn sie an ihren Vater dachte. »Und du hast Sommersprossen und glaub mir, ich würd ziemlich viel dafür geben, welche zu haben.«
Und dafür, nicht mondberührt zu sein, scheißegal, wie mein Haar aussieht.
Ihre Cousine trat wieder nach draußen, um die nächste Bestellung aufzunehmen, denn die Terrasse füllte sich.
»Wo ist das Tablett mit den leeren Gläsern?«, rief Virelle ihr von hinter der Theke zu.
Jess lehnte sich nach hinten und blickte nach draußen, wo das Tablett einsam auf dem leeren Tisch stand. »Hab ich vergessen. Ich hole es.« Wieder regte sich ihre Mondmagie, fing die Schwingungen aus Ungeduld und Traurigkeit auf. Seit das Schiff am Horizont aufgetaucht war, hing eine bedrückende, bleierne Düsternis über der Taverne Silberkelch, denn Virelle mochte Piraten nicht. Die Mondmagie war kaum im Zaum zu halten. Immer wieder erhaschte Jess einen kurzen Einblick in die Gefühle der Menschen um sie herum, und nichts davon fühlte sich gut an.
»Lass. Ich bring den Jägern sowieso gleich ihren Nachtisch, dann kann ich das auch selbst machen. Hast du wieder den Kopf in den Wolken?« Ihre Mutter hackte auf die Ylvasbeeren ein, als wären die Früchte dafür verantwortlich, dass ihre Tochter so zerstreut war.
»Nay. Aye. Irgendwie schon.« Sie setzte sich an den Tresen, hinter dem bereits kleingeschnittene Herzfrüchte bereitstanden, die Virelle fürs Mittagsgeschäft mit frischem Lachs braten würde.
»Ma, Olfar sagte, da im Hafen sind wirklich Piraten.« Jess lehnte sich über den Tresen, nahm sich eine Herzfrucht und biss hinein. Der süß-scharfe Geschmack erinnerte sie immer an ihre Kindheit, von der ihr nicht mehr als schemenhafte Erinnerungen geblieben waren. Aber sie war glücklich gewesen.
Die Augen ihrer Mutter blitzten verärgert auf. »Wenn es Piraten sind, solltest du dich von ihnen fernhalten. Und wieso isst du jetzt? Ich brauch dich gleich in der Küche. Ivaine hat alles allein vorbereitet.«
»Tut mir leid, ich hab die Zeit vergessen.«
Virelle schabte die Ylvasbeeren in die geschlagene Sahne und antwortete nicht.
»Vielleicht haben die Piraten jemand Mondberührten dabei.« Jess wich dem Blick ihrer Mutter aus.
»Ach, Jessa.« Virelle legte das Messer beiseite und strich Jess eine der dunkelroten Strähnen aus den Augen. »Dass die Mondberührten mal darauf angewiesen sein würden, mit Piraten zu segeln …« Bekümmert schüttelte sie den Kopf.
Früher waren Mondberührte verehrt worden, dann gejagt und getötet und schließlich wurden sie von Elyndareth kollektiv begnadigt. Die Verehrung, die sie vor den Blutroten Nächten genossen hatten, wurde ihnen allerdings nicht mehr entgegengebracht. Deshalb segelten sie mit Piraten und schlugen sich in den Wäldern als Banditen durch. Jess war in einer besonderen Position und das wusste sie, jedoch wurde erwartet, dass sie so tat, als wäre sie normal. All das las sie für einen Augenblick in den Augen ihrer Mutter.
Doch Virelle trauerte oder grübelte nie lange, denn dafür war kein Platz und keine Zeit, wie sie selbst immer sagte. Den harten Zug um ihren Mund hatte sie nicht immer gehabt, aber Jess erinnerte sich genau daran, seit wann ihre Mutter öfter schwieg, als dass sie lachte. Als die Glutklingen, eine Splittergruppe des Roten Regiments, in Elunestris eingefallen waren und ihren Vater und viele andere Mondberührte hingerichtet hatten.
»Hast du heute schon meditiert?« Virelle musterte sie mit einem dieser Blicke, bei denen Jess am liebsten die Augen verdreht hätte. Wenn es um Jessas Macht und ihren Umgang damit ging, war Virelle absolut unnachgiebig. Sie wollte, dass Jess täglich meditierte, um einen möglichst ausgeglichenenGemütszustand zu erreichen, und natürlich hatte sie das heute noch nicht getan. Denn wenn sie meditierte, wurde sie nur noch nervöser, und außerdem nervte das Herumsitzen. Ihre Mutter hatte dafür aber nicht viel Verständnis.
»Ich habs vergessen.« Das war gelogen. Sie hatte keine Lust, immer wieder zu scheitern, sich der Magie zu öffnen und von der Energie der Welt ringsum überwältigt zu werden. Dass die Präsenzen der Menschen ständig an ihr zerrten, reichte völlig. Ihr graute vor den Vollmonden, wenn ihre Magie sich neu auffüllte, vor den Schmerzen und der furchtbaren Erinnerung an den Tod ihres Vaters.
»Wie kannst du das immer wieder vergessen? Man sollte meinen, dass die Magieausbrüche etwas sind, was du vermeiden willst?«
Jetzt verdrehte Jess die Augen doch. »Warum schenkt Ystris mir diese Gabe, ohne mir Kontrolle darüber zu geben?«
Ihre Mutter kniff die Augen zusammen und drohte ihr mit dem Messer. »Weil die Götter uns nie einfach etwas schenken, alles hat einen Preis.« Hack. Wieder sauste die Klinge auf die kleinen, rosafarbenen Ylvasbeeren nieder.
Jess schüttelte nur leicht den Kopf, statt zu antworten, und steckte eine weitere Herzfrucht in den Mund. Sie wollte diese Macht nicht, doch sie musste damit klarkommen und fast alle um sie herum wollten ihr vorschreiben, wie sie das zu tun hatte. Anstrengend.
»Jetzt lass das Kind doch mal in Ruhe.« Jessas Großmutter Eldoria polterte durch die Tür im hinteren Teil des Gastraumes, die in den Garten hinausführte. Sie trug ein Joch mit zwei Eimern daran und verspritzte Wasser. »Solange ihr niemand zeigen kann, wie sie die Magie richtig beherrscht, bringt es nichts, damit herumzuspielen.« In ihrem faltigen Gesicht blitzten ihre Augen, grün wie Jessas eigene, voller Intelligenz und Schalk. »Sonst fliegt am Ende noch etwas oder, Ystris bewahre, jemand in die Luft.« Das lange hellrote Haar war von grauen Strähnen durchzogen, doch sie trug das Joch aufrecht wie eine junge Frau.
Jess half ihr, die Last abzustellen, und schleppte einen der Eimer hinter den Tresen in die Küche.
Eldoria folgte ihr mit dem anderen. »Sind ein paar gutaussehende Piratenburschen dabei? Oder Piratenfräuleins?«
»Nana!« Jess schlug sich in gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. Dann lehnte sie sich vor und flüsterte: »Aye, den einen oder die andere hab ich sehen können.«
»Das sind die wichtigen Fragen, nicht, ob sie Mondberührte an Bord haben.« Ihre Großmutter lachte heiser. Auch wenn Jess über die Bemerkung schmunzeln musste, konnte sie nicht ganz zustimmen. Wieder einmal stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie ihre Macht loswerden könnte, beim Turnier teilnahm, und vielleicht sogar gewann.
Niemand würde mehr Angst vor ihr haben. Niemand sie mehr auf diese wachsame Art mustern. Sie würde herausfinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, und ihren Platz in Sylvarheim finden, statt wie jetzt zwischen Pflicht und Flucht hin und her zu schwingen wie das Pendel der großen Standuhr im Eingangsbereich des Silberkelchs. Erneut seufzte sie.
Man wird ja wohl noch träumen dürfen.
Jess hielt ihre Großmutter am Ärmel fest und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, Nana.«
Mit einem Zwinkern schob Eldoria Jess zurück in den Gastraum.
Jessas Mutter beobachtete die beiden mit leicht zusammengekniffenen Augen und würde sicher gleich wieder wegen irgendwas schimpfen. Aber auf Eldoria war Verlass.
»Wenn diese Piraten oder Schlächter oder wer auch immer sie sind, früher oder später hier aufschlagen, finden wir schon heraus, ob jemand unter ihnen ist, von dem Jess lernen kann. Und wenn nicht, bleibt sie eben, wie sie ist, und das ist völlig in Ordnung so.« Eldoria schnappte sich den Mopp, um das Wasser aufzuwischen, das sie im Gastraum verteilt hatte.
»Natürlich, du suchst dir wieder den Weg des geringsten Widerstandes«, murmelte Virelle.
Jess wünschte sich, sie könnte die Empfindungen der Mondmagie einfach einschließen, damit sie das Zerren und Reißen der Gefühle um sich herum nicht spüren musste. Ein Hauch Traurigkeit erfüllte sie, und ihr entging der Blick nicht, den Eldoria ihrer Schwiegertochter zuwarf.
Während Jess überlegte, wie sie ihre Mutter besänftigen könnte, traten ein Mann und eine Frau durch die Tür, die, so wie sie aussahen, zur Crew des Piratenschiffs gehörten. Der Mann war etwas untersetzt, sein kurzgeschnittenes Haar von grauen Strähnen durchzogen und sein Bart am Kinn spitz gezwirbelt. Er trug ein schwarzes Leinenhemd, eine zerschlissene Hose, die in groben Stiefeln steckte, und an seinem Gürtel hing ein Säbel. Jess zählte auf die Schnelle außerdem mindestens drei Messer und eine Pistole. Die Frau hatte ihr langes, schwarzes Haar hochgebunden und trug praktische, schwarze Reisekleidung aus leichten Stoffen von der Flammenküste. Wahrscheinlich würden sie sich hier in Ettirsfold den Hintern abfrieren. Über ihr halbes Gesicht und den Hals zog sich eine Brandnarbe. Auch sie war stark bewaffnet: Dolche, zwei Säbel, eine Pistole.
Im Gegensatz zu ihrem Äußeren strahlten die beiden allerdings Freundlichkeit und Ruhe aus. Charmant lächelte der Mann in die Runde und trat zum Tresen. Er tippte sich gegen die Stirn. »Brydva zum Gruße«, sagte er und Jessas Herz machte einen Hüpfer. Die Göttin Brydva war die Göttin der See, Trunkenheit und Lust, und die Beschützerin der Piraten!
Sie schob sich etwas näher zu ihm, damit sie ihn genauer betrachten konnte. War er ehrlich so charmant? Oder war es eine List? Sofort malte sie sich alle möglichen Szenarien aus, wie diese Begegnung weitergehen könnte. Vielleicht würden sie den Silberkelch kapern? Sie zog eine Schnute. Was sollten Piraten mit einer Kneipe anfangen?
Konzentrier dich.
»Wo gibt es hier etwas Kräftiges zu Trinken und was Ordentliches zu essen?«
»Da seid Ihr hier richtig«, antwortete Virelle und machte eine ausladende Geste mit dem Arm. »Im Silberkelch gibts McAllistor-Elixiere und McKenzie-Eintopf. Ich koch den Eintopf selbst und meine Schwiegermutter setzt die Elixiere an, es gibt an der ganzen Küste keine besseren.« Sie winkte den Piraten heran, ganz die professionelle Tavernen-Wirtin, doch ihre Präsenz verriet ihre Abscheu. »Kommt rein. Wie viele Plätze braucht Ihr? Wie ist Euer Name?«
»Fünf, unsere Begleiter kommen gleich. Man nennt mich Varian, das ist meine Frau Eirawen.« Der Mann warf Jess einen Blick zu. »Und wer bist du, Rotschopf? Mir ist, als hätt ich dieses Flammenhaar heut am Hafen gesehen. Kletterst du öfter hier auf den Dächern herum?«
Jess nickte. »Aye, erwischt, das war dann wohl ich. Ich heiße Jess.« Sie spürte den wachsamen Blick ihrer Mutter.
»Jessa, ich denke du solltest jetzt nach oben gehen und lernen.«
Das hieß: Verzieh dich und halt dich von den Piraten fern, und darüber, dass du am Hafen rumhängst, reden wir noch.
Jess dachte gar nicht daran. Nicht, bevor sie nicht wenigstens kurz mit dem Mann gesprochen hatte. »Entschuldigt bitte«, sprach sie Varian an. »Seid ihr wirklich Piraten?«
Er grinste breit. »Aye, Jess, das sind wir. Verrats aber nicht weiter.« Er lachte und schnippte ihr eine Münze zu. Jess fing sie auf und betrachtete sie.
»Mit der kannst du hier nicht bezahlen, das ist ’ne Goldmünze von der Flammenküste. Aus einem richtigen Piratenschatz.«
»Glaub ihm kein Wort. Varian erzählt immerzu Geschichten und nur die Hälfte ist wahr.« Eirawen lachte und ging zu Varian, wobei sie Jess kurz musterte und leicht lächelte. Auch von ihr ging keine Gefahr aus, wie Varians Präsenz war auch ihre getragen von Ruhe und Zuversicht.
Ein dritter Pirat duckte sich unter dem Türsturz durch und eine Welle von Kälte sickerte unaufhaltsam in Jess hinein. Er richtete sich auf, ließ den Blick durch den Raum schweifen, und verzog den Mund, als hätte er eine Jauchegrube betreten. Dieser Mann war ein Pirat, einer von der Sorte, vor denen die Männer draußen am Tisch Angst hatten. Sein Mantel war ebenso zerschlissen wie die Kleidung der anderen beiden, und auch wenn er ganz in schwarz gekleidet war, war es die Dunkelheit, die seine Augen ausstrahlten, vor der Jess erschauderte und zurückwich.
»Jessa, geh jetzt«, fauchte ihre Mutter und packte sie am Arm. Doch Jess konnte sich nicht rühren.
Dem Piraten folgten ein junger Mann in Jessas Alter und ein jüngeres Mädchen. Eindeutig Geschwister und ähnlich gekleidet wie Varian. Leichte, weite Kleidung in Schwarz und Dunkelrot.
Vath’riv-ani.
Sie waren dem älteren Piraten wie aus dem Gesicht geschnitten, groß, dunkle Augen, dunkles, langes Haar, doch strahlten sie nichts von seiner Feindseligkeit aus. Das Mädchen war ebenso stark bewaffnet wie die anderen. Ihre wachsame Anspannung, die durch die Mondmagie in Jess hineinsickerte, verursachte Jess einen Knoten im Magen. Doch so schnell, wie das Gefühl aufgekommen war, verging es wieder.
Ihr Bruder jedoch war es, von dem Jess den Blick nicht abwenden konnte. Da war kein Hauch einer Präsenz, nicht mal eine Winzigkeit davon. Er war im Pulsieren der Präsenzen der anderen wie ein Felsen aus Nichts.
Sein Blick huschte unstet durch die Taverne.
Jess fielen als Erstes seine Augen auf – umrandet von schwarzen Linien, die mit geschickter Hand aufgetragen waren, makellos und präzise. Als Zweites bemerkte sie seine Narben. Neben seinem linken Auge war eine frische, ein fingerdicker Schnitt, und über die Oberlippe bis zur Wange lief eine weitere. Er trug einen kleinen, schwarzen Nasenring im rechten Nasenflügel. Ein Verband war um seine linke Hand gewickelt und er bewegte immer wieder die Finger, als würde er unter seiner ruhigen Fassade nur darauf warten, eine seiner Waffen zu ziehen. Unter dem dunklen Mantel mit silbernen Knöpfen blitzte ein Säbel hervor, und Jess würde alle ihre Heilsalben darauf verwetten, dass er noch mehr Waffen trug, die sie nicht sehen konnte.
Ihre Mutter zog wieder an ihr, als der ältere Pirat auf sie zukam, und Jess riss den Blick von dem jüngeren Piraten los. Der Blick des Älteren drang in sie ein, ohne dass sie sich davor schützen konnte. Also tat Jess, was sie immer tat, wenn sie Angst bekam.
Sie stellte sich der Angst. »Dovar Vahlin.« Sie hoffte, dass sie die rovarische Grußformel nicht aus Versehen falsch aussprach und ihn gerade beleidigt hatte. Bei seinem Blick konnte man das nicht wissen. »Seid Ihr der Kapitän des Piratenschiffs?« Sie schüttelte die Hand ihrer Mutter ab und trat einen Schritt vor, um auch körperlich gegen den Blick standzuhalten.
Er nickte. Seine tätowierte Hand lag auf dem Griff seines Säbels und das lange, schwarze Haar war im Nacken zusammengebunden, sodass auch die Tätowierungen auf seinem Hals sichtbar waren.
Jessas Herz schlug ihr bis zum Hals. »Habt Ihr Mondberührte an Bord?«
Seine Augen weiteten sich ein wenig, gerade so viel, dass Jess es wahrnehmen konnte.