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In Scátha findest du Götter, eine Heldin mit flexibler Moral, Tattoomagie und Bodyhorror (und garantiert keine Romance) Dies ist die Geschichte einer Frau, die dem Ruf der Dunkelheit folgt – und dabei alles riskiert. Eine Reise, die dich in die tiefsten Schatten führt, ohne Gewissheit auf Erlösung. Erträgst du den Blick in deine eigenen Abgründe? Wie weit würdest du gehen, um die zu retten, die du liebst? - “Ich habe dein Herz gesehen. Es ist hässlich und nicht halb so gut, wie du glaubst.” Syllias Verlobter Vilem liegt im Sterben und die Götter hören ihr nicht zu, wie verzweifelt sie auch um Hilfe fleht. Nur eine antwortet auf ihre Gebete: Scátha, die in Ungnade gefallene Göttin der Toten. Eine alte Piratenlegende erzählt, dass Scátha demjenigen, der sie aus ihrem Gefängnis befreit, einen Wunsch erfüllt. Also folgt Syllia Scáthas Ruf und rettet Vilems Leben. Doch die Gunst der Göttin hat einen hohen Preis. Während Syllia immer tiefer in die Dunkelheit stürzt und Scátha ihren Geist vergiftet, wächst auch die Bedrohung für ihre Heimat Elunestris. Durch Scáthas Befreiung öffnet Syllia die Pforten zur Totenwelt Murra Erabys und bringt alle, die sie liebt, in Gefahr. Gib acht. Du wirst nie wieder heil sein, wenn du Scátha in die Nähe deines Herzens lässt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
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© 2024 Mina Bekker
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat
Lily Magdalen, Lektorat Papiervogel (@lektorat_papiervogel)
Korrektorat
Linda Sieber, Lektorat ZwischenWelten (@zwischenwelten_lektorat)
Buchsatz E-Book
Yola Stahl, Yola Stahl Design (@yola.stahl_design)
Buchsatz Taschenbuch & Hardcover
Mina Bekker mit InDesign
Cover & Umschlagdesign
Mina Bekker mit einer Illustration von Adam Wright (@wrightheship)
Illustrationen
Adam Wright (@wrightheship)
Kapitelzierden & Szenentrenner
Mina Bekker & Adobe Stock
Mina Bekker
c/o WirFinden.Es
Naß und Halle GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für jene, die mit ihrer Dunkelheit kämpfen.
Für jene, die ihren Frieden gefunden und
für jene, die den Kampf verloren haben.
Solltest du zu den Menschen gehören, die in Büchern keine Content Notes brauchen oder lesen möchten, kannst du auf Seite 11 in die Geschichte von Syllia und Scátha eintauchen.
Für alle anderen:
In Scátha – Schattensaat 1 werden schwierige Themen behandelt, und da ich dich bestmöglich dabei unterstützen möchte, auf dich zu achten, findest du auf der folgenden Seite eine Liste mit Content Notes. Diese habe ich nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt.
Sollte dir ein Thema auffallen, das hier nicht aufgeführt ist, kontaktiere mich bitte unter [email protected].
Allgemeines
Ein Wunsch wird zum Fluch, Found Family, Piraten, Antiheldin, Enemies to Friends (Aus Feinden werden Freunde), dunkle Prophezeiung, Casual Queerness, Tattoo-Magie, rivalisierende Clans, gleichgültige Götter, mittelalterliches Fantasysetting, Mondmagie, die Mentorin, Friends to Enemies (Freunde werden zu Feinden)
Rauchen, Selbsttötung (erwähnt), Krieg (erwähnt), Streit der Eltern, Alkoholkonsum und -missbrauch der Mutter, erlebte Vernachlässigung durch die Mutter, Enge, Erstickungsgefühle, Schwindelgefühle, Ausgrenzung und Vertreibung einer Person durch eine Gemeinschaft, Bindungstrauma (impliziert), Essen, Krankheit eines geliebten Menschen (die dieser übersteht), Seuche (erwähnt), Sturm auf See, Angst zu ertrinken (erwähnt), Tieropfer für ein Ritual, Menstruationsblut (erwähnt), Trinken von Blut, Blindheit, Verlassenwerden von der eigenen Mutter, Würmer (erwähnt), Angriff durch ein wildes Tier, Schwangerschaftswunsch (erwähnt), Eifersucht, Scherben im Mund (im Traum), Geruch nach Aas, Bodyhorror, Drogenkonsum (erwähnt), Selbstzweifel, Betäubung mithilfe einer Droge, Verurteilung einer unschuldigen Person, Lügen, Auspeitschen, Todesstrafe, Machtmissbrauch, Depression (impliziert), Fliegen auf offenen Wunden, Ersticken, Mord, Überfall und Raub durch eine Gruppe, Prostitution (erwähnt), Käfer, Ausgrenzung, Erbrechen, Einnässen, Leichen, Entfernen von Augen, Nadeln.
Runa und Syllia warfen ihre Bücher ins Gras und setzten sich vor der alten Frau, die im Schatten ihrer Hütte auf einer Bank hockte, auf den Boden.
»Erwa! Erzähl uns von den Göttern!« Wie immer bettelten die Mädchen die alte Erwa um eine Geschichte an, und wie immer würdigte sie die beiden keines Blickes.
Sie verengte die Augen und kniff die Lippen zusammen, was ihr umso mehr das Aussehen einer wilden, wütenden Piratin verlieh, doch um ihre Mundwinkel zuckte es. Sie pellte Erbsenschoten und tat so, als wäre ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihre Arbeit gerichtet.
»Hat euch die gute Willa heut nicht schon genug über die Götter erzählt?« Zahnlos grinsend schob sie sich eine Erbse in den Mund und warf die Schale in einen Eimer. »Hier. Ich weiß ja, dass ihr immer Hunger habt.« Sie hielt jedem der Mädchen eine Erbse hin, und gierig rissen ihr die beiden das Gemüse aus den knorrigen Händen.
»Willa lässt immer das Ende weg!« Runa kaute und redete gleichzeitig. Sie nahm eine Erbsenschote aus der Schüssel, pellte sie und warf ihrer Freundin Syllia einen schiefen Blick zu. »Außerdem ist sie böse geworden, als Syllia gefragt hat, warum Willa uns das andere Ende verschweigt. Das gruselige, das ihr auf euren Piratenschiffen erzählt.«
Syllia schnaubte und schob die Unterlippe vor. »Ja! Sie hat gar nicht mehr aufgehört, sich aufzuregen! Sie sagte, dass du uns mit deinen Piratengeschichten und Legenden die Köpfe verdrehst und dass du Lügen erzählst, die die große Mutter Ystris in den Dreck ziehen! Sie hat uns verboten, Zeit mit dir zu verbringen.«
»Also sind wir sofort nach dem Unterricht zu dir gekommen!« Beide Mädchen hoben den Blick, um die tätowierte, alte Frau genauestens zu mustern. Unterschiedlicher hätten sie nicht sein können: die eine forsch, die andere schüchtern. Doch wie aus einem Mund fragten sie: »Erwa, lügst du uns an?«
»Ihr naseweisen Gören. Natürlich nicht. Ich hätte wissen müssen, dass ihr Zicklein zu Willa rennt und mich verratet. Ihr dürft ihr nicht sagen, worüber wir hier reden. Und in Brydvas Namen, hört auf mit diesem Piratengeschwätz!« Ihr entfuhr ein Knurren, als sie ihr Holzbein von sich streckte und sich den Oberschenkel massierte. »Es wird schon genug über mich getratscht in diesem Nest.«
»Weil die Leute hier Piraten nicht leiden können und du zu den gefährlichsten Piraten in Elunestris gehört hast?«
»Wo hast du denn diesen Unsinn schon wieder her, Runa?«
Runa zählte die Beweise für ihre Vermutung an den Fingern ab: »Glawar, der Schmied, meinte, du seist eine vertrocknete alte Vath’riv-ani-Hexe, und ich weiß, dass auch Willa Vath’riv-ani-Piraten nicht leiden kann, und als ich bei Lesra Brot für Willa geholt hab, sagte sie, dass ihr Piraten euch volltätowieren würdet, damit ihr wie die Mondberührten ausseht, obwohl ihr nicht mal magische Kräfte habt!«
»Ruhe jetzt, red nicht so einen Unsinn.« Missmutig strich Erwa über die Tätowierungen auf ihrer runzligen Haut. »Wenn ihr nichts als Klatsch verbreiten wollt, könnt ihr auch wieder nach Hause gehn. Ich hab Arbeit.«
»Erbsen essen und in der Sonne sitzen? So eine Arbeit will ich später auch mal haben.« Runa grinste sie an. »Bitte erzähl uns eine Geschichte! Eine von den Göttern! Die von Scátha und dem Hagerblyt!«
Erwa stützte sich auf ihren Stock, als sie sich von der Bank erhob, und verdrehte die Augen zum Himmel. »O ihr Götter, kann eine alte Frau nicht in Frieden auf den Tod warten?« Als die Götter keine Antwort schickten, seufzte sie und musterte die beiden eindringlich. »Na gut. Kommt rein.« Sie schlurfte ins Innere der Hütte.
Die Mädchen sammelten ihre Sachen vom Boden auf und folgten ihr in ihr kühles, düsteres Zuhause.
»Gut, ihr Nervensägen. Aber damit ihr versteht, warum Willa euch nicht das wahre Ende erzählt, sondern jenes, durch das die Menschen weniger Angst vor Scátha haben sollen, will ich am Anfang beginnen. Ganz am Anfang, noch bevor die Götter unter uns wandelten, noch bevor der Krieg in Elunestris ausbrach. Als nichts war, außer das Sternenlicht und Ystris … die Große Mutter.« Sie spie die letzten beiden Worte aus wie einen Fluch und wies mit einem knorrigen Finger zur Tür. »Schließ die Tür, Syllia, und du, Runa, gib mir meine Pfeife. Und unterbrecht mich nicht, sonst setzt es was.« Bei ihren letzten Worten ruhte ihr Blick auf Runa, die herausfordernd die Augen verengte und die Arme verschränkte. Erwa streckte die Hand aus. »Los.«
Runa reagierte nicht, sondern starrte die Piratin nur grinsend an, bis Syllia sie mit dem Ellenbogen stupste. »Jetzt sei nicht so, sonst erzählt sie uns nie was.«
Endlich fuhr Runa mit dem Finger über ihre Lippen, tat so, als würde sie ihren Mund mit einem unsichtbaren Schlüssel absperren und diesen in Erwas ausgestreckte Handfläche legen.
»Na bitte.«
Die beiden lächelten einander an.
»Altes, garstiges Weib«, murmelte Runa.
»Junges, wildes Gemüse«, knurrte Erwa und stopfte in aller Ruhe ihre Pfeife. Als sie den Tabak mit dem glimmenden Kienspan aus dem Kamin ansteckte, umhüllte sie würziger Pfeifenrauch und verlieh dem Zwielicht der Hütte einen noch mystischeren Anschein.
Die alte Frau räusperte sich und machte es sich in ihrem Schaukelstuhl bequem. »Als die Zeit begann, als es nichts gab außer Dunkelheit, war da nur Ystris, die Mutter allen Lebens. Sie schuf Elunestris, weil die Liebe, die sie in sich trug, so unermesslich groß war, dass sie ein Heim brauchte, wo sie gedeihen konnte. Sie schuf die Menschen, die Berge, die Flüsse, eben alles, was es in Elunestris gibt. Sie liebte ihre Schöpfung. Merkt euch das, denn das wird noch wichtig. Damit ihre Schöpfung sicher und gut versorgt war, gebar sie die Götter und wies ihnen ihre Aufgaben zu.« Erwa holte tief Luft. »Die Götter waren Brydva, die Göttin der See. Sankt Jorwyn, der Gott der Reisen …«
»Ja, Erwa, wir kennen die Götter, immer musst du alles in die Länge ziehen!«
»Ihr seid wie die Pest, ihr habt keine Ahnung davon, wie man eine Geschichte richtig erzählt, und doch quakt ihr mir immer wieder dazwischen!« Erwa verdrehte die Augen. »Wie gut, dass Ystris mich mit Geduld gesegnet hat. Los, Syllia, gib mir den Kienspan, mir ist die Pfeife ausgegangen … Wo war ich?«
»Ystris gebärt Scátha und gibt ihr die Aufgabe!«
Erwa nickte langsam und lehnte sich vor. »Aye, so ist es. Als Letzte gebar Ystris Scátha, die Göttin des Totenreiches, deren Aufgabe es war, die Geister der Verstorbenen durch die Spiegelpforte in das Reich der Schatten, Murra Erabys, zu begleiten.
Jahrtausendelang gedieh die Schöpfung und die Götter kümmerten sich um ihre Schutzbefohlenen. Manche, wie Brydva, Sankt Jorwyn und Scátha, wandelten unter den Menschen und diese gaben ihnen Beinamen. So wurde Brydva die Göttin der See, Lust und Trunkenheit sowie Schutzheilige der Piraten. Jorwyn wurde der Gott des Ehebruchs und des unverhofften Aufbruchs, warum, das könnt ihr euch denken. Scátha bekam den Beinamen Hüterin der Wälder, denn sie liebte es, mit ihren Raben durch die Wälder zu streifen.
Man sagt, dass Raben und Krähenvögel Botschaften von Elunestris nach Murra Erabys übermitteln können, stellt euch vor …« Für einen Moment verlor sich Erwas Blick in den Schatten ihrer Hütte und die Mädchen schwiegen vor Ehrfurcht.
Dann schüttelte die Alte kurz den Kopf. »Schön wäre es, nicht wahr? Nun, wie dem auch sei. Wenn Scátha durch die Wälder wanderte, gab sie dann und wann den unscheinbaren Blumen, die im Schatten wuchsen, von ihrer Macht, damit sie heilen – oder eben töten – konnten.
Immer öfter gerieten die Götter in Streit über diese Ausflüge, denn Ystris verbot ihnen, sich den Menschen in Elunestris zu zeigen, und vor allem verbot sie, dass sich die Götter in die Belange der Menschen einmischten. Zu oft zerstörte Jorwyn eine Ehe, weil er den Ehemann oder die Ehefrau verführte, zu oft stürzte sich ein verzweifelter Pirat ins Meer, weil Brydva ihn mit in ihr Bett nahm und ihm den Verstand verwirrte.« Erwa kicherte heiser, doch wurde schnell wieder ernst.
»Nur Scátha blieb vom Zorn der Ystris verschont, denn sie tat ihre Pflicht und mischte sich nicht ein, hielt sich von den Menschen fern … Bis etwas geschah, und was war das, Mädchen?« Im Zwielicht der Kaminflammen wirkten Erwas Falten wie tiefe Krater in ihrem Gesicht.
Runa schwieg, doch Syllia hob den Kopf und suchte in den Schatten Erwas Blick. »Sie trifft den Mann, in den sie sich verlieben wird. Er wird ihr wichtiger werden als ihre Pflicht«, hauchte Syllia und erschauderte.
Erwa nickte langsam. »Aye. Ihre Liebe würde ihr Untergang sein. Eines Tages lernte sie auf einem ihrer Spaziergänge den Jäger Nilas kennen. Er war schlau und geduldig, interessiert und höflich, und so entschied sich Scátha, ihn an ihrem Wissen über die Macht der Kräuter teilhaben zu lassen, um den Menschen zu helfen, Krankheiten und Leiden zu lindern.
Sie hielt ihre Liebe geheim, denn Ystris durfte nicht wissen, was Scátha fühlte. Stellt euch vor, eine Göttin und ein Mensch! Ystris hätte das niemals zugelassen.
Jahrelang wahrte Scátha ihr Geheimnis und liebte Nilas aus der Ferne, doch dann kam der Krieg zwischen den Völkern des Nordens und den Seefahrern der Flammenküste. Viele Menschen starben. Scátha, ganz ihrer Aufgabe verschrieben, führte die Geister der Verstorbenen durch die Spiegelpforte nach Murra Erabys, tat ergeben ihre Pflicht.
Bis zu dem Tage, an dem Nilas im Kampf schwer verwundet wurde. Scátha wusste, dass es Zeit war, seinen Geist zu überführen. Sie weigerte sich, zu stark war ihr Schmerz über den Verlust.
War Ystris über das Einmischen ihrer anderen Kinder schon erbost gewesen, so verlor sie über die Pflichtverletzung ihrer Jüngsten fast den Verstand. Denkt euch, die ach so pflichtbewusste Scátha, die immer tat, was von ihr verlangt wurde, verweigerte sich, in dieser Zeit von Schwert und Tod!
Sie zerstörte am Ende sogar die Spiegelpforte, damit es keine Möglichkeit mehr gäbe, die Toten heimzuführen. Sechs Scherben des Spiegels gingen auf Elunestris nieder und durch sie drangen die Geister der Toten nach Elunestris ein.
Sie können in unserer Welt nicht existieren. Sie werden zu üblen, verdrehten Gebilden aus Schatten und Angst.« Erwa hielt inne und blies langsam Rauch aus ihren Nasenlöchern. »Vath’na-tról. Diese Wesen jagten und töteten die Menschen, die Ystris so liebte. Scátha warf ihrer Mutter vor, ihre Schöpfung mehr zu lieben als ihre wahren Kinder, die Götter. Sie schwor, die Schöpfung so leiden zu lassen, wie sie selbst litt.
Als Ystris erkannte, dass sich Scátha gegen sie und Elunestris gewandt hatte, beschloss sie, ihre Tochter aufzuhalten, und rief die übrigen Götter zu Hilfe. Diese aber amüsierten sich über den Streit und verweigerten Ystris ihre Unterstützung.
Die Götter, müsst ihr wissen, sind launisch und zänkisch. Vor Langeweile und Vergnügungssucht würden sie alles tun, um ihr eintöniges Dasein interessanter zu gestalten. Ein Streit zwischen der Muttergöttin und der Göttin der Toten kam ihnen gerade recht.
In ihrer Verzweiflung entschied Ystris, die Macht des Mondes mit auserwählten Menschen zu teilen, und so schuf sie die Mondberührten. Sie waren mächtige Hexen und Hexer, die mit der Magie des Mondes die wütenden Vath’na-tról bekämpften und die Schäden, die Scátha und ihre Brut in der Welt der Menschen anrichteten, heilten.
Doch selbst die reine Magie des Mondes war nicht genug, um die Tról aufzuhalten. Darum schuf Ystris aus der Glut ihres Zorns und dem kalten Mondlicht die Feuerglaswaffen. Diese überließ sie den sechs stärksten Mondberührten.« Erwa hielt inne. »Wisst ihr, welches Opfer Ystris von ihren stärksten Jüngerinnen verlangte?«
Die Mädchen schüttelten die Köpfe.
Spöttisch verzog Erwa die Lippen. »Das sieht Willa ähnlich. Alles, was ihre geliebte Ystris in einem schlechten Licht zeigen könnte, ignoriert sie einfach.
Als sich die Kämpfe zogen und die Vath’na-tról immer zahlreicher wurden, befahl Ystris den sechs stärksten Mondberührten, ihre Magie zu opfern, um Scátha aufzuhalten. Mit ihren Feuerglaswaffen versiegelten sie die Scherben der Spiegelpforte. Dank der Mondmagie strahlten die Scherbenpforten überall in ganz Elunestris wie helle Leitsterne und führten die Geister der Toten heim, und das tun sie heute noch.
Wir Lebenden nehmen sie nicht wahr, die Toten aber finden dank ihrer nun ganz ohne Scáthas Führung heim. Die Mondberührten, die ihre Magie dafür hergaben, die Pforten zu schließen, nennen wir Pfortenwächterinnen. Sie trugen Sorge dafür, dass die Toten dort blieben, wo sie hingehörten, und dort in Frieden die Ewigkeit verbringen konnten, und brachten mit ihren Feuerglaswaffen die übriggebliebenen Vath’na-tról zur Strecke.
Die übrigen Mondberührten schlossen sich zusammen, um Scátha zu finden und aufzuhalten. Als Ystris ihnen befahl, ebenfalls ihre Kräfte zu opfern und Scátha zu bestrafen, zögerten sie keinen Augenblick. Mit ihrer Macht bannten sie Scátha für ihren Ungehorsam in einen Berg. Der Berg befand sich in der Nähe des Dorfes, in dem Nilas zu Hause war, der wegen Scáthas Ungehorsam seinen eigenen Tod überlebte. Und wo liegt dieses unscheinbare Dörfchen?«
»Es ist Sonnenfall«, flüsterte Runa in die Stille der Hütte.
»Aye, und der Berg ist der Hagerblyt, der hier an der Küste über der Bucht thront. In Fels gebannt musste Scátha zusehen, wie Nilas alt wurde und schließlich starb. Aus Dankbarkeit über das Opfer der Mondberührten versprach Ystris, die erschöpfte Mondmagie mit jedem Vollmond zu erneuern, und schuf so die neue Generation der Mondberührten, die bis heute die Magie, die Ystris ihnen geschenkt hat, einsetzen, um Gutes zu tun und den Menschen zu helfen.
In den Legenden, die Willa erzählt, endet die Geschichte damit, dass Scátha ihre Strafe akzeptiert. Manche Mondberührten gehen sogar so weit, sie einfach nicht mehr zu erwähnen, als wäre eine Göttin, die in einen Berg gebannt ist, nicht weiter der Rede wert. Auf den Schiffen der Vath’riv-ani erzählt man sich anderes, meine Kinder.« Erwa schwieg kurz und kostete den Moment aus, um sich absolut sicher zu sein, dass sie die volle Aufmerksamkeit der Mädchen hatte.
Syllia hatte die Augen geschlossen und die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, und sogar Runa schwieg andächtig und hielt den Atem an.
Schließlich beugte sich Erwa vor und flüsterte: »Scátha ist nicht machtlos und sicher nicht demütig und voller Schuldgefühle. Wahnsinnig vor Schmerz, aye! Wild vor Wut! Sollte sie je entkommen, wird sie Rache nehmen an ihrer verräterischen Mutter, an den Mondberührten und an jedem in Elunestris. Sie streckt die ihr verbliebene Macht aus, um in die Träume der Menschen zu fassen und diejenigen zu finden, die bereit sind, ihr zuzuhören und ihr zu helfen. Sprich die richtigen Worte, führe das richtige Ritual am Hagerblyt durch, hilf der Göttin – und Scátha erfüllt dir einen Wunsch …« Hier hielt Erwa wieder inne. »Hört mir gut zu, Mädchen. Manche Legenden sind nicht nur Legenden. Darum, und nur darum, plage ich mich mit euch herum. Ihr müsst euch vom Hagerblyt fernhalten und von Scátha und von denen, die sie anbeten. Es gibt nicht mehr sehr viele, die der Göttin der Toten die Treue halten, doch wenn ihr einen von ihnen trefft, traut ihm nicht. Glaubt diesen Menschen nicht ein Wort von dem, was sie versprechen. Willa will euch nur beschützen, indem sie euch nicht erzählt, dass Scátha dort noch lauert. Sie glaubt, dass man das Böse am einfachsten bekämpft, indem man es verleugnet. Ich halte euch aber für schlau genug, um das alles zu verstehen.«
Der Blick in ihren wässrigen Augen ruhte auf den Mädchen und für einen Moment hörte man in der Hütte nichts als das Knacken der Holzscheite im Kamin.
»Bleibt weg vom Hagerblyt, haltet euch von Scátha fern. Was auch immer ihr euch davon versprecht, sie um Hilfe zu bitten, sie wird einen Preis dafür verlangen. Ihr werdet nie wieder heil sein, wenn ihr Scátha in die Nähe eures Herzens lasst.«
In der nächtlichen Stille ihrer Kammer lauschte Syllia auf die Geräusche der Nacht. Ihre Eltern stritten leise, doch sie hörte genug. Ihr Vater, flehend. Ihre Mutter, lallend, höhnisch. Sie war wieder betrunken.
Um nicht weiter zuhören zu müssen, zog sich Syllia ihr Kissen über den Kopf und ließ zu, dass Erwas düstere Legende noch einmal vor ihrem inneren Auge vorbeizog, dachte an Scátha und ihr Schicksal. Sie wusste, sie sollte Angst vor der Totengöttin haben, doch sie beide hatten Mütter, die sie enttäuscht hatten. Syllia sank in einen unruhigen Schlaf, begleitet von den gedämpften Worten ihrer Mutter, die sie nicht hören musste, um zu wissen, wie boshaft sie waren.
Komm zum Hagerblyt.
Eine Stimme donnerte durch die Dunkelheit, in der Syllia verzweifelt versuchte, sich zu bewegen. Um sie herum war nichts als kalter, scharfkantiger Stein. Der Brustkorb war zu eingeengt, um tief zu atmen, doch sie konnte gerade genug nach Luft schnappen, um nicht zu ersticken. Sie lag auf den Knien, den Kopf vornübergebeugt starrte sie durch den Fels hinab aufs Meer und sah und hörte alles.
Sie vernahm das Wispern der Matrosen am Strand vor Sonnenfall, die sich die Legende von Scátha zuflüsterten. Scátha, ein Name der nicht mehr mit Ehrfurcht genannt, sondern nur noch heimlich geraunt wurde. Der Fels drückte und schnitt Syllia jedes Mal, wenn sie versuchte, sich zu bewegen.
Das bin nicht ich, wurde Syllia klar. Sie sah, fühlte, hörte alles, was Scátha nach ihrer Bestrafung erlebt hatte.
Ihr Fluch war es, in Stein gebannt Ystris’ Schöpfung zuzuschauen, und wie einst Scátha sah Syllia, wie die Mondberührten alles dafür taten, die Göttin zu vergessen. Die neuen Mondberührten benutzten ihre erste Magie unter der Anleitung der ersten Mondberührten dazu, Scáthas Zeichen von Wandteppichen zu brennen und aus den Mosaiken des Tempels zu sprengen.
Ihr Symbol war ihr eigenes Antlitz, mit der Krone aus Geweih. Aus Augen und Mund strömte Blut, das in einem Becher aufgefangen wurde, als Zeichen für das ewige Leben, das sie den Geistern der Toten in Murra Erabys schenkte.
Keines ihrer Göttinnensymbole wurde verschont, sie vernichteten sie, brannten sie aus. Doch das war nicht das Schlimmste für Scátha. Sie hätte alles aufgegeben für Nilas.
Er wusste nicht, dass sie ihn nicht verlassen hatte. Sie sah ihn trauern, sah ihn an ihrem Lieblingsplatz im Wald, wo er jeden Abend auf sie wartete – bis er nicht mehr kam. Wie gern hätte sie ihm zugerufen, in welcher Lage sie sich befand. Mit jedem Schlag, den ihr verzweifeltes Herz gegen den kalten Fels des Hagerblyt hämmerte, vergingen Jahrzehnte in Elunestris und mit jedem Schlag ihres sehnenden Herzens vergaß Nilas sie ein wenig mehr.
Schließlich starb er, und während das Leben ihn verließ, fasste Scátha einen Entschluss und Syllia spürte ihren Hass. Die Grenze zwischen Frau und Göttin verschwamm. Syllia wusste nicht mehr, wo sie aufhörte und Scátha begann.
Ihr werdet alle bezahlen.
Komm zum Hagerblyt!
Schreiend wachte Syllia auf, befreite sich aus den Decken und stürzte in die Stube, wo ihre Mutter am Tisch saß, den Kopf auf die Arme gebettet. Die leere Weinflasche stand neben ihr, die Hand ruhte noch am halbvollen Glas. Sie hechtete an ihrer Mutter vorbei. Hier war keine Hilfe zu erwarten.
Runa. Sie musste zu Runa, sofort. Und dann zu Erwa. Die Alte hatte recht! Die Göttin war im Berg! Wie konnten die Bewohner Sonnenfalls dieses Übel dort hausen lassen? Was, wenn jemand die Göttin hörte und zu ihr ging?!
Syllia rannte barfuß auf die Straße, vor Angst wimmernd. Sie brüllte ihre Angst in die Nacht und rief Ystris um Hilfe an.
Runa stürzte aus der Seitenstraße, in der Willas Hütte stand, sie war ebenso barfüßig und im Nachthemd. Auch sie weinte. Bevor Syllia ihre Freundin erreichen konnte, packte ihr Vater sie.
»In Ystris’ Namen, was ist los mit dir?« Er hielt sie fest, doch Syllia wehrte sich.
Erwa. Sie musste zu Erwa. In den umliegenden Häusern wurden Lampen entzündet, ihr Geschrei weckte sicher die ganze Straße, doch es war Syllia egal. Jemand musste sie warnen. »Erwa hat mir die Wahrheit über Scátha erzählt«, schluchzte Syllia, doch die Menschen um sie herum hörten nicht zu. Murren und böse Worte, jemand fuhr Vytar, ihren Vater, an, er solle seine hysterische Tochter unter Kontrolle bringen.
»Scátha ist im Hagerblyt! Sie wird uns alle umbringen«, schrie Syllia ihm entgegen. Die sonst so sanften und gutmütigen Augen ihres Vaters weiteten sich.
»Was redet sie da?« Lesra, die Frau des Bäckers Perrin, stemmte die Arme in die Hüften. »Runa brabbelt ebenso wirres Zeug.«
Runas Meisterin, die mondberührte Willa, saß mit der weinenden Runa im Arm auf der Straße und streichelte ihr Haar.
»Was ist los?« Eine Stimme, dunkel wie der Donnerhall, wehte über Syllia hinweg.
»Sie reden wirr«, rief Lesra dem Dorfältesten Kohen Schildwacht zu, der mit großen Schritten herbeihastete. Knorrig und groß wie ein Baum beugte sich der alte Mann ihr entgegen.
»Sie sagten, dass Erwa ihnen erzählt habe, dass Scátha im Hagerblyt hause und auf Rache sinne.«
Jemand packte Kohen am Arm und zog ihn von Syllia weg. »Dieses alte Piratenweib hat unseren Kindern genügend Lügen eingeflüstert.« War das der Schmied? Syllia drehte sich der Kopf. Sie musste mit Kohen reden, er würde wissen, was zu tun war.
Doch niemand hörte auf sie.
Lesra, die eben noch ihren Rücken gestreichelt hatte, ließ von ihr ab und richtete sich auf. »Du hast recht. Es wird Zeit, dass Erwa hier verschwindet.«
Andere Stimmen wurden laut, riefen zustimmend, aufwiegelnd. Niemand achtete mehr auf Syllia. Nur ihr Vater war noch an ihrer Seite und hielt sie, doch sie wollte sich nicht beruhigen.
»Sie dürfen Erwa nichts tun, Vater!«
Der Duft von Sommerkorn umwehte sie, sanfte Hände griffen nach ihren Schultern. »Ravenna?«
Die Mutter ihres Freundes Vilem war gekommen, ihre wunderschönen, hellblauen Augen zogen Syllia an wie das Licht die Motte. Ihre eigene Mutter war ihr nicht zu Hilfe geeilt, aber diese Frau, die so viel mehr wie eine Mutter war, wenn sie auch nicht von ihrem Blut war.
Endlich konnte Syllia aufstehen. Was auch immer sie so in Panik versetzt hatte, es war vorüber. Auch Runa hatte aufgehört zu schreien. Sie war plötzlich an Syllias Seite, blickte sie aus verquollenen Augen an. »Ich hab geträumt … ich war im Berg. Ich war sie!«, flüsterte Runa ihr erstickt zu.
»Ich auch«, stieß Syllia hervor und klammerte sich an Runas Hand.
Ravennas sanfte Hände auf ihren Schultern gaben ihr Kraft und sie ließ sich von ihr in die Arme nehmen. »Still, mein Kind. Es wird alles gut.«
Das Geschrei der Dorfbewohner kam wieder näher. Sie hatten Erwa in ihrer Mitte, der Schmied Glawar und der Bäcker Perrin hatten sie zwischen sich genommen und zerrten sie fort von ihrem Zuhause. Um Erwas Mundwinkel lag derselbe verkniffene Zug wie immer, als die Männer sie an Syllia und Runa vorbeizerrten. »Dieses alte Hexenweib wird euch keine Angst mehr machen«, knurrte Glawar den Mädchen zu.
Runa ließ Syllia los und trat ihnen in den Weg. »Nein! Lasst sie in Ruhe! Sie hat nichts falsch gemacht!«
Hilfesuchend blickte Runa zu Syllia, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie wollte nichts sehnlicher, als den Kopf in Ravennas Armen zu verbergen und von ihr gehalten zu werden. Die Sicherheit einer Mutter zu spüren. Wenn sie jetzt losließe, müsste sie sich wieder allein ihren Ängsten stellen, dem Traum und der Nacht, dem, was die Gemeinschaft Erwa antat, weil sich Syllia nicht im Griff hatte. Also schüttelte sie nur leicht den Kopf. »Lasst Erwa in Frieden.« Ihre Stimme war brüchig, fast fragend. Sie war nicht so stark wie Runa.
Und wieder hörte niemand auf sie.
»Geh aus dem Weg!« Glawar schob Runa mit einem seiner von der Schmiedearbeit gestärkten Arme unsanft aus dem Weg.
Bevor er Erwa fortzerrte, schaute die alte Piratin Syllia in die Augen. Dort war keine Bosheit oder Wut. Es spielte sogar ein kleines Lächeln um Erwas Lippen.
Später wusste Syllia nicht mehr, ob sie es sich eingebildet hatte oder nicht, aber sie hätte schwören können, dass Erwa ihr etwas zuflüsterte, bevor Glawar und Perrin sie aus Syllias Blickfeld zerrten.
Gib acht!
Die Menschen in den Legenden der Mondberührten wenden sich stets an die guten Götter. So werden sie zu jenen, die an Lagerfeuern besungen werden und deren Geschichten man den Kindern schon in ihren Wiegen erzählt. Helden, Retter und Befreier.
Doch was, wenn die guten Götter nicht zuhören? Was, wenn sich eines dieser Kinder dann an die dunklen Geschichten erinnert, an jene, die schon die Kleinsten ängstigen und den Alten eine Lehre sein sollen? Was, wenn ein verzweifeltes Herz nicht anders kann, als Zuflucht in der Dunkelheit zu suchen?
Dies ist eine solche Geschichte.
Früher konnte Syllia bereits in der Nacht, bevor sie mit Vilem in die Kristallstadt reiste, nicht schlafen. All die fremden Menschen, die Gerüche, die großen Schiffe im Hafen! Das Sonnenlicht brach sich in den gläsernen Kuppeln des Kristallpalastes, der mit tausenden und abertausenden Edelsteinen verziert war. Es malte bunte Muster auf das Kopfsteinpflaster und tauchte die Hauptstadt in magisches, unwirkliches Licht.
Jedes Mal genossen die beiden Verliebten die Freiheit, fort von den wachsamen Augen der Dorfgemeinschaft in Sonnenfall. Syllia liebte es, sich an Vilems Schulter zu lehnen und vor sich hin zu träumen, wenn sie neben ihm auf dem Kutschbock saß und er ihre beiden Pferde über die gewundenen Pfade zur Hauptstadt lenkte.
Er hatte immer alles im Griff und strahlte eine Ruhe aus, die Syllia nichts als Zuversicht und Sicherheit vermittelte. Keine Banditen würden sie überfallen, kein Regenguss konnte sie überraschen.
Mit sicherem Blick wusste Vilem das Wetter zu deuten und trieb die Pferde zur Hast an, oder ahnte, dass die Sonne noch lange scheinen würde und sie sich daher Zeit lassen konnten. Wie sehr hatte sich Syllia darauf gefreut, seine Frau zu werden.
Dann war alles anders gekommen.
Heute war Syllia zum ersten Mal ohne Vilem zum Markt unterwegs und nichts kam dem Glanz nahe, den die Hauptstadt in ihrer Erinnerung gehabt hatte. Es war, als wäre der Himmel weniger blau, die Sonne weniger warm und überhaupt das Leben weniger lebenswert ohne ihn.
Als die Mondberührte Willa sie losschickte, um Vorräte auf dem Markt zu kaufen, hätte sie am liebsten abgelehnt, um weiter an Vilems Bett sitzen zu können und die Wand anzustarren. Doch jemand hatte gehen müssen, denn Willa brauchte Kräuter und andere Vorräte, um Vilems Krankheit zu behandeln. Nicht, dass ihre Magie oder Tränke bisher viel genutzt hätten.
Auch wenn Syllia wusste, dass sie den beiden Mondberührten keine Hilfe war, was Vilems Leiden anging, und sie meist nur im Weg herumstand, wollte sie nicht fort von ihm. Und seit sie fort war, konnte sie nur daran denken, wie das Fieber ihn quälte, wie der Schmerz in seinem Körper jede Kraft aus ihm trieb. All ihre Träume zerbrachen, und wo einmal Vorfreude und Sehnen nach der Zukunft gewesen waren, war nun nichts als Leere. Ystris, die Große Mutter, die Größte aller Göttinnen, sie hatte keins von Syllias Gebeten erhört.
Hier war sie nun und verfluchte sich selbst dafür, so schlecht ohne Vilem zurechtzukommen.
Auf dem Weg zur Stadt war der Wagen mehr als einmal auf den schlammigen, schlecht befestigten Straßen stecken geblieben und nur mit größter Kraftanstrengung und sehr viel Fluchen war es ihr gelungen, die Pferde dazu zu bewegen, ihn wieder auf den Weg zu ziehen. Ihr Kleid war ruiniert, sie war verschwitzt und schlecht gelaunt, denn es schien, als hätten sich die Gottheiten gegen sie verschworen. Der Mann, der den Stall vor dem Tor zum Marktviertel führte, hatte versucht, sie übers Ohr zu hauen. Er hatte behauptet, Syllias Kutsche sei breiter als zulässig, weshalb er fast den doppelten Preis dafür verlangt hatte, dass sie die Pferde und die Kutsche bei ihm lassen konnte. Sie leistete einiges an Überzeugungsarbeit, um nicht schon fast ihr ganzes Gold ausgeben zu müssen, bevor sie den Markt überhaupt betreten hatte.
Alles in allem konnte der Tag nur besser werden.
Syllia murmelte einen unterdrückten Fluch und schob sich durch die Menge, die durch das Tor zum Händlerviertel strömte. Sie ließ sich mitreißen, denn alle Menschen um sie herum hatten dasselbe Ziel: den Marktplatz. Hier war die Luft stickiger als am Hafen und man spürte deutlich, dass es in der Nacht und am Morgen heftig geregnet hatte. Es war schwül und windstill und roch nach Menschen und Abwasser. Widerlich.
Als sie die Stände mit Lebensmitteln und Weinbränden von der Flammenküste hinter sich gelassen hatte, kam die Bude des Kräuterhändlers in Sicht. Der zahnlose Umma grinste zu Syllia herauf, als sie sich unter den Kräuterbündeln hindurchduckte, die am Dach des Standes hingen.
Er blickte suchend in die Menge hinter ihr und sein Lächeln verblasste etwas. »Wo ist dein Mann, kleine Syllia?« Er hustete röchelnd, sprang dann aber für sein Alter äußerst behände von seinem Schemel auf und deutete eine Verbeugung an. »Und wo ist die hübsche Willa? Hab die Gute schon lange nicht mehr gesehen.«
Syllia verzog das Gesicht. Er war mindestens doppelt so alt wie Willa, und selbst Willa war verglichen mit Syllia nicht mehr jung.
»Willa ist zu Hause bei Vilem. Er ist sehr krank.«
Umma zuckte vor ihr zurück, als hätte er Angst, sich anzustecken. »Ist es wieder die schwarze Seuche?«
Syllia schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Die schwarze Seuche hatte vor Jahren viele Leben in Calglow gekostet.
»Hat damals Vilems Ma dahingerafft, was? Wie hieß sie noch?«
»Ravenna.« Syllias Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie an Vilems Mutter dachte, doch Umma bemerkte nicht, dass er ihr wehtat.
»O ja, die wunderbare Ravenna, und so viele, viele andere …« Er klang nicht halb so traurig darüber, wie seine Worte glauben ließen. »Bist du sicher, dass es nicht die schwarze Seuche ist?« Er wich noch weiter vor ihr zurück, bis sie erneut den Kopf schüttelte, diesmal heftiger.
»Ja, Umma. Die Mondberührten können die Seuche heilen. Was Vilem hat, ist was anderes. Ich brauche Kräuter von dir, zwei Fässer Kraut und vier Flaschen Sonnenmet. Meine Kutsche steht bei Sundam, vor dem Nordtor.« Sie hielt ihm die Liste hin. »Willa sagt, du sollst diesmal nicht die Heilkräuter mit Unkraut strecken, sonst kommt sie nächstes Mal persönlich hier vorbei und lässt dich deine eigene Medizin kosten.«
Grummelnd führte der alte Nordmann Willas Bestellung aus und schickte seine Knechte mit den Waren zu ihrer Kutsche. Er zählte Syllias Münzen zweimal nach. Als hätte sie jemals jemanden betrogen.
Das Gewühl auf den Hauptstraßen des Kristallmarktes war fast undurchdringlich. Sie würde es nur mit Not noch vor Sonnenuntergang zurück nach Hause schaffen, doch wenn sie sich hier durchkämpfen musste, würde es noch länger dauern. Also schlüpfte sie unter Ummas Zeltplane hindurch, um einen anderen Weg zum Tor zu finden. Im hinteren Bereich war der Markt weniger überfüllt, denn hier wurden hauptsächlich Waren zum Ausbessern der Handelsschiffe verkauft, und die lieferten die Händler direkt an die Werften.
Umso mehr wunderte Syllia der Stand, der in eine Ecke neben einigen Kisten mit Netzen und Segeltuch gedrängt war. Violette und silberne Stoffbahnen spannten sich über das Holzgestell, schwer und kostbar, und so fehl am Platz an dieser abgelegenen Stelle des Marktes.
Die Verkäuferin, eine Frau mit langem, hellem Haar, das sie entgegen der aktuellen Mode einfach offen trug, fixierte Syllia und schenkte ihr ein warmes Lächeln, als hätte sie nur auf sie gewartet.
Syllia schaute sich um, denn sie war sich sicher, dass das Lächeln nicht ihr galt, doch außer ihr achtete niemand auf den Stand, also trat sie näher.
»Ich grüße dich.« Die Frau neigte respektvoll den Kopf. »Ich habe genau, was du suchst.« Sie breitete die Arme über ihren Waren aus, die mehr als merkwürdig waren. Nichts von den Dingen war intakt oder brauchbar, weder schön noch wertvoll. Es war Müll.
Ein Spielzeugsegelschiff mit zerbrochenem Mast, ein Kelch mit einem Sprung, eine grünlich angelaufene Brosche, ein Stapel mit Büchern, verlottert und befleckt. Kein Wunder, dass niemand dem Stand einen zweiten Blick schenkte. Egal wie teuer die Dekoration eines Standes war, wenn man nur kaputte Waren verkaufte, wurde man in der Kristallstadt nicht reich.
»Ich grüße Euch auch, aber mir scheint, Ihr verwechselt mich. Ich kann Eure Waren nicht brauchen, tut mir leid.«
Syllia wollte sich schon wieder abwenden, da wurde das Lächeln auf dem Gesicht der Frau breiter. »O nein, ich sagte nicht, dass du meine Waren brauchst. Aber ich habe, was du suchst.«
War diese Frau eine Jahrmarkthellseherin und hatte sich im Tag geirrt? Das Fest des Mondes zu Ehren von Ystris war erst in einer Woche. Syllia hatte letztes Jahr zusammen mit Vilem einfach zum Spaß das Zelt einer der Wahrsagerinnen besucht und sie hatte den beiden fünf Kinder und Wohlstand vorausgesagt. Sie hatten sich noch tagelang darüber amüsiert.
Die Angehörigen dieser Zunft waren allesamt Halsabschneider und Schauspieler. Nur die Mondberührten waren dazu fähig, die Magie, die Ystris ihnen geschenkt hatte, zu nutzen, und sie nutzten sie nicht, um auf Jahrmärkten mit schwammigen Zukunftsvisionen Gold zu verdienen.
Aber jetzt war Vilem weit weg und krank und Syllia hatte keine Geduld für diese Spielchen. Sie wollte vor Einbruch der Nacht auf dem Rückweg sein. »Jeder sucht etwas. Aber das, was ich suche, habt Ihr nicht.« Sie drehte sich weg und wollte den lächerlichen Stand hinter sich lassen, doch die Verkäuferin gab nicht auf.
»Du hast einen Wunsch.«
Syllia blieb stehen.
»Du suchst Heilung, die die Mondberührten dir nicht geben können. Ich kenne einen Weg.«
Syllia starrte sie mit offenem Mund an und trat widerwillig näher. »Woher wisst Ihr das?«
Das Lächeln der Frau verblasste, doch der Anblick ihrer klaren, strahlend blauen Augen hielten Syllia gefangen. »Die Antwort würdest du nicht glauben und sie würde dir nicht gefallen, also zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Ist es nicht viel wichtiger, dass dir endlich jemand hilft, nachdem Ystris, die Große Mutter, dir nie zuhört?«
Syllia blickte sich um, auf der Suche nach einem Beweis dafür, dass sich jemand auf ihre Kosten amüsierte. Doch wie vorher ging das Treiben auf dem Markt weiter, die Händler boten brüllend ihre Waren feil und stritten lautstark mit ihren Kunden um die Preise. Ihre Hand zuckte zu dem Anhänger, den Vilem ihr zur Verlobung geschnitzt hatte. Ein verschlungener Knoten aus Nachtweide, das Symbol Ystris’. Woher wusste diese Fremde von Syllias bösen Gedanken, die sie nicht einmal vor sich selbst zugab? Dass sie in den dunklen Stunden, in denen sie nachts wach lag, die Große Mutter verfluchte?
Ystrishört nicht zu.
»Wer seid Ihr, woher wisst Ihr davon?«
War das Mitleid im Blick der Frau? Syllia dachte an Vilem, wie er zu Hause im Bett lag und litt. Grund genug, Ystris zu verfluchen, die Große Mutter, die ihre Kinder so im Stich ließ.
Die Frau nickte langsam, als hätte sie Syllias Gedanken gelesen. »Du suchst einen Ausweg, und ich kann ihn dir anbieten. Du kennst den Ort bereits. Das Einzige, was dir fehlt, sind die Worte für das Ritual.«
Die Frau nahm ein schäbiges Büchlein aus dem Stapel auf dem Tisch und hielt es Syllia hin.
Ohne dass sie etwas erklärte oder sagte, wusste Syllia genau, was sie da vor sich sah, denn sie hatte es einst im Traum gesehen, in der Nacht, in der man Erwa vertrieben hatte.
Das Symbol der Göttin, das die Mondberührten und die Gläubigen aus allen Büchern getilgt und von allen Wandteppichen gebrannt hatten. Sie hatten es aus den Steinmosaiken in den Tempeln geschlagen und verboten, es zu reproduzieren. Eine Frau mit schwarzen, blutenden Augen und einer Krone aus Geweih. Auf ihrer Stirn ein umgedrehter Mond. Aus ihrem geöffneten Mund floss eine Flüssigkeit in einen Becher.
Ein Sinnbild für das unsterbliche Leben, das den Toten nur eine geben konnte, bevor sie für immer gebannt und vergessen werden sollte.
Scátha.
Dieses Buch sollte es nicht geben. Syllia packte es und barg es an ihrer Brust, voller Angst, jemand könnte sehen, was die Frau ihr anbot. »Ist es echt?« Ihr Herz raste. Wenn es echt war, konnte sie … Nein. Sie gestattete sich nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.
Die Frau nickte nur. »Das ist es, und es ist deine letzte Hoffnung.«
Einige Tage später …
Das schummrige Licht der vielen Kerzen in Vilems Schlafzimmer reichte nicht aus, um die Schatten zu vertreiben. Schon seit Stunden berieten sich Runa und ihre Meisterin Willa leise im Zimmer nebenan und Syllia saß an Vilems Bett.
Seine klamme Hand hatte jegliche Kraft verloren und es war Syllia, die sich an ihm festklammerte, als wäre sie es, die Rettung brauchte. Sein eingefallenes Gesicht glich nicht mehr dem Mann, in den sie sich verliebt hatte, doch sie liebte es umso mehr. Sie liebte jede Falte auf der Stirn, sie liebte die zitternden Lippen.
Ich würde alles für dich tun, Liebster.
Und wieder betete sie, obwohl sie wusste, dass Ystris sie nicht hörte. Seit Tagen hatte er nichts gegessen und das Wasser, das sie ihm mühsam einflößte, erbrach er zu großen Teilen wieder. Die Krankheit nahm ihm unaufhaltsam das Leben und Syllia den Glauben.
Wieder dachte Syllia an das Buch, das zu Hause unter ihrem Kopfkissen lag. Wieder fragte sie sich, wie lange sie noch warten könnte. Jede Nacht träumte sie von Scátha, der schönen, schwarzen Göttin in fließenden Gewändern. Die Geweihkrone thronte auf einem Haupt voll üppigem, schwarzem Haar und es war, als flüstere sie auch in wachen, stillen Stunden.
Komm zum Hagerblyt.
Syllia küsste Vilems Fingerknöchel. »Bitte, bleib bei mir.«
Sie schrak auf, als Runa hinter sie trat. Das lange, kastanienbraune Haar hing ihr bis zur Hüfte, durchwoben von kleinen Zöpfchen mit bunten Perlen. Ihr Gesicht, ein Gesicht, das Syllia fast so sehr liebte wie Vilems, war von Kummer und Müdigkeit gezeichnet.
»Wir können nichts mehr tun, Syllia. Wir sind am Ende mit unserer Macht.«
So einfach. So einfach fällte ihre beste Freundin das Todesurteil über ihren Verlobten.
Es war, als hätten sich die Nacht und die See selbst vorgenommen, Syllia daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen. Der Sturm brüllte und tobte, warf ihr kleines Boot auf dunklen Wellen hin und her und spritzte eiskalte Gischt in ihr Gesicht. Dunkler und kälter hätte die Nacht nicht sein können, und die See nicht stürmischer.
Drohend ragte der Hagerblyt vor ihr in den Nachthimmel empor. Seine schwarze Silhouette verschlang das spärliche Sternenlicht, das nicht von Wolken verdeckt war.
Die Leute ignorierten den Hagerblyt, taten so, als gäbe es ihn nicht. So wie sie Scátha verleugneten, so wie sie Erwa oder Syllias Mutter oder andere in Ungnade Gefallene nicht erwähnten.
Man wandte sich von dem ab, was nicht sein durfte, man betete zu Ystris und verhielt sich unauffällig.
Es schickte sich nicht, Wünsche zu haben, die man sich nicht durch harte Arbeit oder Gebete an Ystris erfüllen konnte. Und wenn Ystris nicht zuhörte, schlug man sich diese Wünsche besser aus dem Kopf, denn wer wollte schon dem Unerreichbaren nachhängen?
Gib acht. Du wirst nie wieder heil sein, wenn du Scátha in die Nähe deines Herzens lässt.
Erwas Warnung trug Syllia im Herzen, gleich neben der Sehnsucht, mit Vilem alt zu werden.
Das Wasser schwappte in ihr Boot und durchnässte ihr Kleid. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie schneller gerudert. Doch ihre Arme zitterten vor Anstrengung und die glitschigen Ruder drohten ihren froststarren Fingern zu entgleiten. Vom Ufer aus hatte die Meerenge zwischen Sonnenfall und dem Hagerblyt nicht so breit ausgesehen.
»Ystris, steh mir bei!«
Wie ironisch, dass sie ausgerechnet Ystris um Hilfe bat, wie eine Ertrinkende, die nach Atem rang. Sie sank ins Nichts, kämpft um ihr Leben, obwohl sie längst nicht mehr wusste, wo sich die rettende Wasseroberfläche befand.
Ihr Leben lang war Syllia brav gewesen. Sie hatte auf all die Menschen gehört, die ihr nah waren und die immer beteuerten, dass sie Syllia schützen wollten. Immer hieß es, sie sei zu naiv, dass das Böse in dieser Welt sie zu leicht verführen könne. Also hatte Syllia zu Ystris gebetet, immerzu.
Zwanzig Sommer lang lebte sie ihr Leben im Einklang mit dem Mond, doch es war nun an der Zeit, dass sie ihre eigenen Wege fand.
Mit einem dumpfen Knirschen setzte ihr Boot auf dem Sand auf, als sie endlich die winzige Bucht zwischen den Felsen erreichte. Syllia dankte der Meeresgöttin Brydva dafür, dass sie heil angekommen war, und warf eine Silbermünze ins Wasser. Endlich war sie der feuchten, schwankenden Todesfalle entkommen und spürte wieder festen Boden unter den Füßen. Als sie mit zittrigen Knien am Ufer stand und ihre eiskalten Finger bewegte, um wieder Gefühl darin zu bekommen, warf sie den aufgewühlten Wassern einen finsteren Blick zu. Sie hasste das Meer. Die grausige, schwarze Tiefe machte ihr Angst, denn man wusste nie, was dort unten lauerte.
Mühsam zog sie das Boot weiter auf den Strand und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass sie später damit zurückfahren musste.
Denk nur an das, was vor dir liegt.
Der Wind war zwischen den scharfen Felsen weit weniger heftig als auf See, doch noch immer peitschte er ihr die Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, ins Gesicht. Sie klammerte sich an dem Tuch fest, das sie um ihre Schultern geschlungen hatte, um ihr Bündel vor Nässe zu schützen. Umsonst – sie war nass bis auf die Knochen. Stirnrunzelnd schaute sie zu den Klippen empor und entdeckte den gewundenen Pfad, der sich durch die Felsen schlängelte und ins Innere der Insel führte.
Was, wenn das eine ganz schlechte Idee war? Noch könnte sie umkehren. Vielleicht würde Ystris sie beim nächsten Vollmond erhören?
Syllia fluchte und drückte sich kurz an den feuchten Felsen, um zu verschnaufen. Wenn sie jetzt nicht handelte, heute Nacht, würde Vilem den nächsten Vollmond nicht erleben. Es konnte nach einem tugendhaften Leben nicht sein, dass die Götter ihr den Mann nahmen, den sie liebte. Das war nicht gerecht. Sie blickte zurück zum anderen Ufer, wo Sonnenfall am Rande des Meeres lag und alle den Schlaf der Gerechten schliefen.
»Ich hab immer getan, was ihr von mir wolltet.«
Hatte es ihr genützt? Syllia fluchte erneut.
Sie hatte gewartet bis Neumond, denn Neumond war die Zeit Scáthas. Sie hatte jede Nacht damit verbracht, in dem Büchlein zu lesen und die Worte zu lernen, Scáthas Flüstern im Herzen.
Es war gefährlich. Doch es wäre erst recht gefährlich, es nicht zu versuchen; diese Gelegenheit verstreichen zu lassen. Ihr Vater sagte immer, man müsse dankbar sein für das, was man bekam, und nicht mehr verlangen, als einem zustand.
Nein.
Ihr Leben lang hatte sie gehorcht und es hatte nichts genützt.
»Du schuldest mir ein glückliches Leben, Ystris!« Ein letztes, verzweifeltes Gebet flüsterte Syllia in den Wind und wartete.
Natürlich. Nichts. Also wandte sie sich dem Weg zu, der sie zu Scátha und zu ihrem Schicksal führen würde.
Ein Vogelküken oder eine andere unbefleckte, junge Kreatur.
Vom Mond geküsstes Rosenwasser, vermischt mit deinen Tränen.
Der Dolch, mit dem dein Vater deine Nabelschnur durchtrennte.
Dein Mondblut.
Ein Kristallbecher vom Altar der Ystris.
Würde sie darüber nachdenken, was sie da durch die Nacht trug, würde sie umkehren. Sie durfte nur an Vilem denken, an die Schreie in der Nacht, wenn sich sein von Krämpfen gemarterter Körper aufbäumte und er Ystris um Gnade anflehte.
Der Weg stieg steil an und ihre Lunge brannte bei jedem Atemzug. Wenn doch nur der Mond den Weg erhellt hätte! Doch auf unheiligen Wegen leuchtete der Mond nicht.
Mehr als einmal glitt Syllia auf dem glitschigen Stein aus. Ihre Knie unter dem regennassen Kleid mussten schon blutig sein. Auch ihre Hände bluteten, denn der scharfkantige Stein schnitt ihr die Finger und Handflächen auf. Doch für die Liebe blutete man gern, oder nicht? Wenn nicht für die Liebe, wofür dann?
Als sie sich über die letzte Klippe zog, blieb sie atemlos liegen. Sie schob das Bündel mit den Zutaten für das Ritual von sich, rollte sich auf den Rücken und schnappte nach Luft. Hier war sie dem Himmel so nah, doch von der Schönheit der Nacht sah sie nichts. Keine Sterne, kein Licht. Nur Regen, fernes Donnergrollen und das Seufzen des Windes in den Felsspalten.
Es war kalt und Syllia hatte Angst vor dem Sturm, dem sie hier oben schutzlos ausgeliefert war, aber vor allem vor der Sünde, die sie begehen würde. Das Schluchzen, das von ihren Lippen floh, riss der Wind fort. Einen Augenblick lang blieb sie liegen, um Atem zu schöpfen. Der kalte Regen auf ihrem Gesicht fühlte sich an wie feine Nadelstiche und das Gefühl befreite ihren Geist von der Angst. Sie stellte sich vor, wie ihr Leben sein würde, wenn sie Vilem erst vor der Krankheit, die ihn verzehrte, gerettet hätte.
Getröstet von warmen Zukunftsvisionen erhob sich Syllia, als sie wieder ruhig atmen konnte, und überwand den Rest des Weges.
Dort, zwischen den scharfkantigen Wänden einer niedrigen Höhle, war Scáthas Altar. Ein Felsen, geformt wie ein flaches Becken aus dunklem Stein. Der Stein strahlte ein eigentümliches Licht aus. Nicht warm wie Feuerschein und nicht kühl und klar wie Mondlicht. Es war ein krankes Licht, wie eine sterbende Laterne im Sturm.
Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Syllia dem Becken und lauschte. Das Heulen des Windes war im Schutze der Höhle nur noch schwach zu vernehmen, und es war still, bis auf das Tropfen des Wassers in der Dunkelheit der Felswände.
Vorsichtig öffnete Syllia ihr Bündel und verteilte alle Dinge, die sie für das Ritual brauchte, auf dem Rand des steinernen Beckens. Als Letztes löste sie die Schnüre ihres Mieders und griff in ihr Kleid, wo, geborgen an ihrer Brust, das kleine Vögelchen hockte, das seine Lebenskraft für Vilem opfern würde.
Das Küken, vor Kälte apathisch und schwach, obwohl Syllia es in ein Wolltuch gebettet hatte, atmete flach und presste die kleinen Augen zusammen, als spürte es, dass es seinem Schicksal nicht entkommen konnte.
Syllia strich ihm mit dem Finger über den flaumigen Kopf. »Es tut mir leid. Wir alle können unserem Schicksal nicht entfliehen, kleiner Freund.« Bevor das Mitleid mit dem kleinen Wesen sie übermannen konnte, straffte sie die Schultern und schritt zur Tat. Sie setzte das Küken in das Becken und befolgte die einzelnen Schritte des Rituals haargenau so, wie sie im Buch aufgeschrieben waren.
Das unschuldige Leben – genommen mit dem Dolch, der einst das Band von Mutter und Tochter durchtrennte. Das Mondblut – vermischt mit dem Blut der unschuldigen Kreatur, die starb, damit Vilem leben würde. Syllia führte den Becher an die Lippen und stürzte das Blut hinunter, vergoss dann die Tränen, vermischt mit dem mondgeküssten Rosenwasser, über den schwarzen Altar. Dabei murmelte sie die Beschwörungsformel, deren Worte ihr schwer von den Lippen gingen, obwohl sie sie auswendig gelernt hatte. Es war die Alte Sprache, die schon lange niemand mehr in Elunestris beherrschte. Als sie die Zauberformel jetzt sprach, waren die Worte mehr als nur ein Spruch. Sie spürte die Magie, die in ihnen lag.
Ed ramdal, grourd rusda, grourd altra, zu’undrin en tisrja ikmabid.
Als die letzte Silbe ihre Lippen verließ und der letzte Tropfen der Tränen den Altar berührte, hielt Syllia den Atem an und wartete.
Sie hatte erwartet, dass der Sturm nun seinen vernichtenden Höhepunkt erreichen würde. Dass der Berg aufbrechen und sich die Göttin in den Himmel erheben würde, mit ihrer Krone aus Sternen und Geweih.
Doch nichts geschah. Die Welt war so schwarz und kalt wie zuvor, der Sturm tobte gleichgültig über sie hinweg und die Federn des toten Kükens zitterten im schwachen Wind.
Benommen wandte sich Syllia ab und trat aus der Höhle in den Regen, der nun heftiger fiel als zuvor. Sie war gescheitert. Das Geschwätz der Frau auf dem Markt war tatsächlich nichts anderes gewesen als das: wirres Geschwätz. Das Buch nichts als nutzloser Tand. Und dafür hatte sie den letzten Rest ihres Goldes hergegeben!
Sie starrte auf den Weg, der vor ihr in der Finsternis lag, nur erhellt vom blassen Licht des Altars hinter ihr. Syllias Lippen zitterten vor Kälte und Fassungslosigkeit. Sie ließ ihr Tuch los und sah ihm zu, wie es im Wind davonflatterte. Die Finger der anderen Hand krampften sich immer noch um den gestohlenen Becher der Ystris. Sie ließ ihn fallen, stieg darüber hinweg. Sie wischte sich den Regen aus den Augen und näherte sich dem gewundenen Pfad, der sie zurück zu ihrem Boot bringen würde. Und wieder lag der Weg im Dunkel, doch nun gab es keine Hoffnung mehr auf Rettung aus dieser Dunkelheit.
Keinen Ausweg mehr. Keinen Wunsch. Niemanden, der die Last von ihr nahm.
Syllia fühlte den Regen kaum, die blutenden Hände und Knie schmerzten nicht mehr und sie überwand jeden Felsvorsprung und jedes Hindernis mit Leichtigkeit. Es störte sie nicht, dass sie rutschte und schlitterte, dass sie kaum die Hand vor Augen sah, von den Abgründen am Rand des Berges nicht zu reden. In Trance stieg sie den Berg hinab, völlig durchnässt und zu Tode erschöpft. Sie war gescheitert. Sie hatte umsonst gestohlen und getötet, dieses widerliche Ritual durchgeführt, Blut getrunken.
Vilem würde sterben. Diese Legenden waren nichts als Ammenmärchen gewesen, um Kinder zu ängstigen. Obwohl sie sich so sehr wünschte zu weinen, verließ keine Träne ihre brennenden Augen. Es gab keine Rettung, endgültig.
Erwa hatte recht behalten, als sie die Mädchen damals in ihrer schummrigen Hütte vor Scátha gewarnt hatte.
»Du wirst nie wieder heil sein, wenn du Scátha in die Nähe deines Herzens lässt.«
»Aber warum, Erwa?«
»Weil du dein Herz an sinnlose Wünsche hängst, und es dann in Stücke springt, wenn sie sich nicht erfüllen.«
Sonnenstrahlen tanzten warm über Syllias Gesicht, kitzelten sie sanft aus dem Schlaf. Seufzend räkelte sie sich zwischen den Laken. Diese wunderbaren Sekunden, während man aufwachte! Nicht wissend, wer man war, welche Probleme einen plagten und was einem noch bevorstand.
Doch wie jeden Morgen sickerten die Sorgen und Nöte in Syllias Bewusstsein und ihr wohliges Seufzen wurde zu einem enttäuschten Aufstöhnen. Die Erinnerung an die Nacht war trüb wie ein Traum. Sie setzte sich auf und rieb sich die brennenden Augen, dann stand sie auf, um das Fenster zu öffnen.
Es war nicht so warm in der Hütte, wie sie gehofft hatte, als die Sonne sie so frech geweckt hatte, und sie hüllte ihre Decke um sich, als sie ans Fenster trat. Nichts erinnerte an den Sturm, der in der Nacht getobt hatte, außer ein paar Pfützen auf dem Boden vor dem Haus. Doch als sie an sich hinabsah und ihre Hände betrachtete, waren sie blutig und wund.
Kein Traum also. Sie hatte es wirklich getan.
»Verdammt nochmal, ich bin eine Närrin«, schalt sie sich selbst.
Sie wusch sich schnell und zog sich um. Als sie ihre beschmutzte Kleidung zusammenräumte, fielen ein paar Federn des unschuldigen, kleinen Kükens zu Boden. Syllia hob eine davon auf, ein Beweis dafür, was sie getan hatte.
Und immer noch wollten keine Tränen kommen. Sie weigerte sich. Sie konnte nicht. Sie musste weitermachen. Ihr ruiniertes Kleid würde sie am Abend verbrennen. Die Wunden würden heilen und sie würde vergessen, was sie getan hatte. Sie musste sich damit abfinden, dass sie allein war, dass Ystris sie nicht hörte und Scátha sie nicht hörte, und vor allem würde sie sich nie wieder etwas wünschen.
Sie zog das Büchlein unter ihrem Kopfkissen hervor und blätterte darin. Jetzt, da sie so darüber nachdachte, fand sie die ganze Sache immer absurder. Sie schniefte, wischte sich hastig über die schmerzenden Augen, und ein bitteres Lachen entfuhr ihr.
Natürlich hatte sich die Frau an diesem merkwürdigen Stand über sie lustig gemacht. Jeder – jeder – trug irgendeinen geheimen, verzweifelten Wunsch in sich. Jeder wäre auf diese alberne Geschichte hereingefallen, die Hoffnung weckte, wo nichts als Verzweiflung lauerte. Die Frau hätte jeden einzelnen Menschen auf dem Markt ansprechen können und hätte ins Schwarze getroffen, denn so waren die Menschen nun mal. Sie taten fromm und heilig, doch hatten die Herzen voller verbotener Wünsche.
Wahrscheinlich lachte sich die Frau tot darüber, wenn sie sich vorstellte, wie sehr Syllia gehofft hatte, Vilem retten zu können, und wie verzweifelt sie sein würde, wenn sie merken würde, dass alles nur ein gemeiner Witz gewesen war.
Sie krallte die Hände in den Ledereinband und wünschte sich die Kraft, das Buch einfach in der Luft zu zerreißen.
Was für eine grauenvolle Verlobte ich bin. Ich hätte bei Vilem sein sollen, an seinem Bett wachen. Beten.
Sie war sich sicher, dass Runa die vergangene Nacht bei ihm verbracht hatte, um auf ihn achtzugeben, doch Syllia war, verblendet und naiv wie sie war, auf große Abenteuerfahrt gegangen. Das würde aufhören.
Von nun an würde sie sich auf das Familienerbe konzentrieren und jede Münze, die ihre Eltern gespart hatten, entweder für ein Heilmittel für Vilem oder für die Wiederaufnahme des Geschäfts der Familie ausgeben. Keine Träumereien mehr.
Träumereien bringen keinen Wohlstand und Wünsche keinen Frieden.
Sie schnürte mit geübten Bewegungen ihr Mieder und band das Haar zu einem lockeren Zopf. Dass ihr Kleid ruiniert war, bedauerte sie sehr, doch sie besaß noch andere. Der Verlust des Goldes für das Buch schmerzte sie mehr.
»Selbstsüchtig«, flüsterte sie und zitierte damit ihre eigene Mutter. So hatte sie Syllia immer genannt und obwohl Syllia alles dafür getan hatte, ihr zu beweisen, dass sie so nicht war, schien sie am Ende recht behalten zu haben.
Ihre Familie hatte zu den wohlhabenderen Leuten in Sonnenfall gehört, denn in jungen Jahren, bevor ihre Mutter das Heil am Boden von Flaschen gesucht hatte, waren ihre Eltern Töpfer gewesen und hatten wunderschönes Geschirr angefertigt, das sogar am Königshof im Kristallpalast benutzt worden war. Doch dann war ihre Mutter eines Tages mitten in der Nacht fortgegangen und ihr Vater langsam erblindet. Wieder hatten sich die Gebete nicht ausgezahlt, ihre Kindheit war vorbei gewesen und die Sorgen hatten sie zu erdrücken gedroht. Von heute auf morgen. Einfach so. Wer wollte behaupten, die Götter seien gerecht?
Die Ersparnisse aus dieser guten Zeit würden nicht mehr ewig reichen, und Syllia verschleuderte das Gold ihres Vaters für nutzlosen Tand, weil sie vor lauter Verzweiflung an Legenden glaubte, die nichts waren als an den Haaren herbeigezogene Lügen.
»Syllia?« Ihr Vater rief sie aus der Stube. Verdammt.
Hastig stopfte sie das Buch unter die mit Stroh gefüllte Matratze und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie hatte verschlafen und er hatte allein aufstehen müssen.
Als sie durch den Vorhang trat, der ihren Schlafbereich vom Wohnbereich trennte, saß ihr Vater bereits angezogen am Tisch. Sein Hemd war falsch geknöpft, was jedoch nicht an seiner Blindheit lag, sondern Folge seines fortgeschrittenen Alters war. Er brauchte sie immer dringender. In den Händen hielt er die Augenbinde, mit der er seine Augen bedeckte.
»Du bist spät heimgekommen.« Seine blinden Pupillen blickten in ihre Richtung, ohne sie sehen zu können.
»Ja, Vater.« Rasch durchquerte sie das Zimmer und nahm ihm die Binde aus den Händen. Er verhedderte den Stoff immer in seinem langen, grauen Haar und riss es sich büschelweise heraus, darum half sie ihm, seine Augen zu bedecken. Es war nicht gerecht, dass ein Mann, der – wie der Rest der Familie, wohlgemerkt – stets den zehnten Teil seines Verdienstes für Ystris an den Orden der Mondberührten in der Kristallstadt gespendet hatte, nun fast hilflos war.
»Was ist mit dir, Kind?«
Wie gern hätte sie ihm alles erzählt. Was sie bedrückte, was sie quälte, ihre Ängste um Vilem, ihr Hadern mit der Göttin, dass sie vom Glauben abgefallen war, dass sie gesündigt hatte. Doch was hätte es geändert? Er hätte sich nur Sorgen gemacht, sie wahrscheinlich dafür gescholten, dass sie am Berg gewesen war, und helfen konnte er ihr schon gar nicht.
Also stand sie nur hinter ihm, die Hände an der Augenbinde, und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sanft griff er nach ihren Händen und hielt sie fest.
»Rede mit mir.«
Syllia befreite sich von seinem Griff und ging vor ihm in die Hocke, um ihm das Hemd richtig zu knöpfen, immer noch auf der Suche nach den richtigen Worten.