Ein Haus jenseits der Welt - Georgi Danailov - E-Book

Ein Haus jenseits der Welt E-Book

Georgi Danailov

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Beschreibung

Das Buch erzählt die Geschichte einer mehr als zwanzig Jahre währenden Flucht. Was den Autor Ende der 1970er Jahre aus dem tristen Sofia in das entlegene Rhodopen-Dorf Kovacevica treibt, ist Sehnsucht - Sehnsucht nach Einsamkeit und Ursprünglichkeit. Schon bei seiner abenteuerlichen ersten Fahrt in das vom Sozialismus vergessene Dörfchen wird klar, dass sich zu dieser Sehnsucht auch Liebe zu den Bergen, den Bäumen und dem silbern glänzenden Bächlein unter der schwindelerregend hohen Feldsteinbrücke gesellt. Dieses auf den ersten Blick so enge Dorf gibt Anlass, Globales zu betrachten und zu philosophieren: über den Unsinn großer Hunde und den Sinn des Todes, die Schönheit der Berge und der Pomakenjungfern oder gar über das tragische Verschwinden von Dorfkneipen.

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GEORGI DANAILOV • EIN HAUS JENSEITS DER WELT

GEORGI DANAILOV

Ein Haus jenseits der Welt

Aus dem BulgarischenvonInes Sebesta

Überarbeitete Ausgabe. Erste Ausgabe im Wieser Verlag,Klagenfurt/Celovec 2007.

wtb 19

A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12Tel. + 43(0)463 37036, Fax + 43(0)463 [email protected]

Copyright © dieser Ausgabe 2017 bei Wieser Verlag GmbH,Klagenfurt/CelovecAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Josef G. PichlerISBN 978-3-99047-034-3

Der Autor dankt allen Freunden, die ihn beider Arbeit an diesem Buch unterstützt haben,insbesondere Frau Peni Bird aus Chicago.

Inhalt

Die große Übersiedlung

Murat kommt

Die Mohammedaner

Der Joška

Lebe wohl, Großvater Kiro

Die Legenden

Die Häuser

Das Feuer

Der Hund Bari

Keine Menschen, sondern Bestien

Der Fall

Dem Ende zu

Wir haben einander lange angesehenund dabei keinen Überdruss empfunden,die Berge und ich.Li Bo (8. Jahrhundert)

Dieses Buch ist die Geschichte einer großartigen Flucht. Eines Abenteuers, das sich wirklich ereignet hat, eines Erlebnisses, das noch immer nicht abgeschlossen ist. In Wirklichkeit ist das Scheitern dieser Flucht bereits zu spüren, im Prinzip ist es schon von Anfang an vorhersehbar gewesen, aber da es nichts Grausames hat, sollte es mit einem Lächeln begrüßt werden. Die Wurzel von allem liegt natürlich in der Kindheit. Ob mich damals die Illustration eines abendlichen Winterwaldes mit einem einsam leuchtenden Fenster nachhaltig beeindruckt hatte oder ob es an einer Weihnachtskarte lag, einem naivsüßen Bild, das die grausamen Künstler der Gegenwart mit seinem Schnee, den Kiefern und der eingeschneiten Berghütte entrüsten würde – ich kann mich nicht mehr daran erinnern, und dennoch hatte jene Zeit in mir eine Spur hinterlassen, hatte sich jene Darstellung in meiner Seele verankert, sodass ich jedes Mal, wenn ich ein ähnliches Bild im Gebirge erblickte, eine Gänsehaut bekam und ein sanftes Rufen in mir spürte, mit den Jahren immer trauriger und leiser werdend. Das war es, wonach ich mich sehnte. Das Licht eines einsamen Fensters in einem verschneiten nächtlichen Wald und ein Kaminfeuer. So einfach, so leicht realisierbar und dabei doch so entgleitend und aus dem Blick schwindend. Immerhin, es musste versucht werden.

– Ich will mir ein Haus in den Rhodopen kaufen.

– Wir auch – sagten meine Freunde.

– Ich werde mir aber wirklich ein Haus in den Rhodopen kaufen.

– Wir wirklich auch …

Und dann fragte der Mathematiker unternehmungslustig:

– Wann fahren wir los? Ich weiß, wo welche verkauft werden.

– Na zum Beispiel am Samstag!

– Einverstanden – sagte er.

So kam es, dass der Traum an einem Samstagmorgen begann. Wir, der Mathematiker Vlado, mein Sohn und ich, machten uns mit dem alten Renault sehr früh auf den Weg. Schnell wie wir fuhren, erreichten wir schon bald das Städtchen am Fuße des Gebirges. Da wir vor lauter Eile nicht gefrühstückt hatten, beschlossen wir, in einer der bereits geöffneten Gastwirtschaften einzukehren. Der Gastraum war voll von Leuten, die grau und mürrisch an den Tischen saßen und Mentha* tranken. Es war acht Uhr morgens! Der Mathematiker war sehr angenehm überrascht. Ich kannte ihn gut genug, um eine unerbittliche Miene aufzusetzen.

Keinerlei Mentha! Wir haben noch einen weiten Weg und Geschäftliches vor uns. Rhodopenhäuser unter Fichten, Tannen und Kiefern warten auf uns, genau wie wohlwollende Verkäufer, auf Türschwellen sitzend und unablässig preisend: Alte Häuser zu verkaufen, solide, gut erhaltene Häuser zu verkaufen!

Was für ein Quatsch! Es erwies sich, dass in diesem Teil des Gebirges schon lange keine Häuser mehr zum Verkauf standen, weder alte noch neue, und hätte man doch noch eines aufgespürt, so wollten sie viel Geld dafür. Wir erblassten. Nachdem wir den Abend über versucht hatten, uns mit Rotwein zu trösten, verbrachten wir die Nacht in Čepelare.

– Wo sind sie denn, deine Häuser? – fragte ich zornig.

– Sie sind schon aufgekauft. Ehe wir uns angeschickt haben …

Am darauffolgenden Morgen hatten wir keine Idee, welchen Weg wir einschlagen sollten. Genau in dem Moment, als wir uns miss-mutig zum Auto begaben, kreuzte unerwartet das Schicksal unseren Weg. Ein alter Bekannter, der als Künstler beim Film arbeitete.

– Was treibt euch denn her?

– So und so.

– Ernsthaft?

– Klar.

– Also – sagte er, – wenn ihr bis hierher gekommen seid, um Häuser zu suchen, heißt das, euch ist die Entfernung bis Sofia eigentlich egal.

– Sie ist uns völlig egal!

– Dann verrate ich euch jetzt etwas, auf der anderen Seite des Gebirges nämlich, im Westen, da gibt es ein Dorf wie im Märchen – ein Dorf aus Häusern mit mehreren Etagen, und alle sind sie käuflich.

– Wie denn das?

– Na einfach so!

Fünf Minuten später flog der Renault über den Asphalt, dass die Reifen wieherten. So freudig, ja geradezu glücklich, wie wir waren, achteten wir überhaupt nicht auf die schwarzen Wolken, das Donnern und den Platzregen, der sich plötzlich auf uns ergoss und unser kleines Auto in Strudeln und Wasserfällen zu ertränken drohte. Pfützen wurden zu Seen. Unter den Rädern schossen Geysire hervor, neben der Straße trat irgendein Fluss über die Ufer, die Scheibenwischer kapitulierten im Kampf gegen die Wassermassen. Wir bewegten uns wie blind vorwärts, hoffend, es möge außer uns nicht noch andere Verrückte auf der Chaussee geben. Schließlich stoppte der Regen unvermittelt, die Wolken rissen auf, der Himmel färbte sich blau, und vor uns erstrahlten die Gipfel des Pirin. Herr im Himmel, welcher Trank hat dich verzaubert, als du diese Gegend schufst! Auf die Frage nach dem Getränk hatte der Mathematiker eine passende Antwort parat, er kam aber nicht dazu, sie auszusprechen, denn in diesem Moment erreichten wir das Ende einer Kolonne von Autos, Lastwagen und Bussen, die verzweifelt angehalten hatten. Ein Erdrutsch. Werden sie es beräumen? Klar werden sie es beräumen, kann gar nicht sein, dass sie es nicht beräumen. Ob bis zum Abend? Frühestens. Sie haben gerade Bulldozer angefordert, doch die Bulldozer waren wohl schon an einem anderen Ort im Einsatz, und damit man sie herbringen kann, müssen sie auf Hänger geladen werden, und Hänger stehen bei den Armisten, und der Kommandeur der Einheit – wer weiß, wo der gerade ist. Heut ist doch Sonntag, und er, wenngleich auch Offizier, ist ja auch nur ein Mensch, wo doch heut Sonntag ist …

Es war Sonntag. Und morgen war Montag, der Tag, an dem sowohl ich als auch Vlado zur Arbeit mussten, selbst mein Sohn musste zur Schule, und so scheiterte das Ganze sozusagen direkt vor unseren Augen. Das im Wald leuchtende Fenster erlosch mit einem Mal. Ich weiß nicht, wie die darauffolgende Woche verging. Nur an diese Erwartung kann ich mich erinnern. Mein Chef liebte es zu sagen: »Das Leben ist Warten, Danailov, das Leben ist Warten.« Natürlich sagte er das immer nur dann, wenn er zu einem Termin verspätet erschien. Endlich war Freitag. Wie sich herausstellte, hatte Vlado am Wochenende etwas anderes zu tun. Mit ernster Miene trug er uns auf, für ihn mitzuschauen, was sich unseren Augen bietet, und auch für ihn ein Haus auszusuchen.

– Ohne mich fahrt ihr nirgendwohin – sagte meine Frau entschieden. – Wer weiß, was für ein Haus ihr kauft!

Im Grunde genommen bedeutete das nichts anderes, als dass sie unsere verschrobene Idee guthieß. Welche Freude, wenn in der Familie Einigkeit herrscht!

Die Straße, die zu dem geheimnisvollen Dorf führte, begann im Tal des Flusses Mesta anzusteigen, sich zu winden, zu schlängeln, zu erweitern, sich plötzlich zu senken, einzufallen, sich scheinbar zwischen Felsen zu verlieren, um an anderer Stelle wieder hervorzukommen. Nach einer Biegung tauchte vor uns ein großes Dorf mit einer weißen Moschee auf. Die Häuser waren aus Stein, abgesägte Würfel, unverputzt, grob, stabil und roh. Von überall stürzten scharenweise Kinder herbei. Sie versammelten sich um unser Auto, schrien und bewarfen uns mit Steinchen und Stöcken. Plötzlich stöhnte meine Frau überrascht auf. Im Damensattel auf einem weißen Pferd sitzend, kam eine Jungfrau in einer wunderschönen Tracht auf uns zugeritten. Sie trug ein weißes Tuch um den Kopf, Pluderhosen und gestrickte weiße Strümpfe, die verblüffend schöne Ornamente zierten. Ihr Kleid und die Schürze schimmerten in so wunderbaren bunten Farben und sie selbst saß so schmuck und mit solch einer Würde im Sattel, dass es überhaupt keinen Zweifel gab – sie war eine Erscheinung, umso mehr, da sich ihre einzigartige Anmut inmitten schlammiger Pfützen, Kuhfladen und überall herumkullernder Ziegenkötel bewegte.

– Hast du sie gesehen? – fragte meine Frau begeistert.

– Ich habe sie gesehen! – erwiderte ich, und während ich mich umdrehte, um noch einen Blick auf diese Schönheit zu werfen, rumpelte der Renault dermaßen durch ein Schlagloch, dass wir uns alle an seinem Dach die Köpfe stießen. Och! Hätten wir gewusst, wie harmlos es im Gegensatz zu dem war, was uns noch bevorstand, wir wären wahrscheinlich niemals an unser Ziel gelangt und es gäbe heute nichts zu erzählen. Um es geradeheraus zu sagen – hinter dem Dorf gab es gar keine Straße mehr. Nur einen breiten, steinigen Weg, der hinauf in die Berge führte. Links davon gähnte eine Schlucht, in deren Tiefe silbern das Wasser eines schmalen Flusses glänzte, auf der anderen Seite beugten sich steile Hänge zu uns herunter.

– Entschuldigung, kann man da mit dem Auto hinauffahren?

– Nun ja, können kann man schon. Mit den Wagen der Genossenschaft geht es jedenfalls.

– Und wir, ob wir es auch schaffen?

Eine schlüssige Antwort auf diese Frage blieb aus. Ich legte den Gang ein, und wir fuhren los. An verschiedenen Stellen war der Weg von tiefen Spurrinnen durchzogen. Die Räder des Renault standen zu eng und er selbst lag zu niedrig, als dass er sich darin hätte bewegen können. Sobald ich mit den linksseitigen Rädern in einer der Rinnen fuhr, sackten die rechten in den Schlamm und der Fahrzeugboden begann auf dem Boden entlangzuschaben. Wenn ich es umgekehrt versuchte – das gleiche Übel. Neben den Rinnen war nicht genug Platz, sodass wir uns mal in der linken, mal in der rechten Spur gespreizt bewegen mussten. Manchmal klappte das, manchmal nicht. Dann sanken wir ein. Uns so voranpflügend, sahen wir irgendwann plötzlich diesen verräterischen Stein vor uns auftauchen. Der Fahrzeugboden wölbte sich knirschend unter unseren Füßen, und der Wagen knarrte jämmerlich und anklagend. Gute Autos haben eine Seele. Noch ein bisschen, noch ein Stück, komm, Liebes! Ich achtete darauf, nicht mit dem Auspuff hängen zu bleiben, denn er war unser schwacher Punkt. Er liebte es, uns zu überraschen, indem er völlig unverhofft abfiel oder auf der Erde schleifte, begleitet von unausstehlichem Geknatter und Geknalle … Wo der Weg trocken war, kamen wir so recht und schlecht voran, doch in den Kuhlen mit den Pfützen wurden wir von hämisch grinsenden Schlammmonstern empfangen, die feinsten rutschigen Modder zusammengemischt hatten. Die Räder rutschten, drehten durch, das Hinterteil drohte zu versacken, gelblichbraune Spritzer deckten uns zu. Eines war klar: Saßen wir erst einmal im Schlamm fest, was Gott verhüten möge, gab es kein Entrinnen mehr. Wieder und wieder gab ich Gas, warf mich nach vorn in Richtung Morast. Als wir über einen abgerundeten Felsbrocken schrammten, krampfte sich mein Herz zusammen. Ich erhob mich von meinem Sitz, als könnte ich dem Auto helfen, und dann sah ich ihn vor mir, den sogenannten Richtplatz – jenen Abschnitt, den wir niemals würden überwinden können. Jemand hatte den Weg umgegraben, regelrecht aufgewühlt; Steine ragten empor, überall Schlamm, Pfützen, Löcher, und als würde das noch nicht genügen, lagen auch noch Stämme abgesägter Kiefern herum. Ich spürte, wie die Räder sich hilflos auf der Stelle zu drehen begannen, wie der Wagen allmählich zum Stehen kam und in den Modder sackte. Bis hierher also! Doch dann bemerkte ich, dass wir allmählich, allmählich wieder an Fahrt gewannen. Verdutzt in den Rückspiegel blickend, sah ich ein paar kräftige junge Burschen, die uns anschoben. Ob der Herrgott sie uns geschickt hatte oder Allah, wer weiß?

– Wenn ihr dieses Stück hier geschafft habt, seid ihr quasi schon da!

Sie lachten. Der Schlamm der durchdrehenden Räder hatte sie bis oben vollgespritzt, doch das schien sie nicht sonderlich zu interessieren.

– Mensch, gibt es denn keine Hoffnung, dass diese Straße mal gemacht wird?

– Wir werden sie schon machen, kann gar nicht sein, dass wir sie nicht machen, sehr unwahrscheinlich, dass wir sie bis zum Herbst nicht schon fertig haben. Weiter oben ist sie auch schon gut, die Straße. Ist nur hier so, dass sie schlecht ist.

Das machte Hoffnung. Die Leute arbeiteten also an der Straße, und gerade als sie dabei waren, sich etwas auszuruhen, waren wir vor ihren Augen im Schlamm versackt.

– Und ihr, wo kommt ihr denn her?

– Wir sind aus Sofia.

– Aus Sofia! Und ausgerechnet hier hat euch euer Ausflug hergeführt!

– Wir kommen, um uns ein Haus zu kaufen.

Sie musterten uns aufmerksam.

– Ein Haus?

– Man sagt, oben im Dorf stehen welche zum Verkauf.

– Gut möglich, dass es solche gibt. Sind ja nur die Leute, die verschwunden sind; die Häuser sind geblieben.

Wir bedankten uns und brachen auf, und dabei blieb uns die große Verwunderung nicht verborgen, in der wir unsere Retter zurückließen. Die wollen sich hier ein Haus kaufen?

Weiter oben war die Straße vielleicht in ihren Augen gut, für den Renault war sie hingegen eine wahre Prüfung im Fach automobiler Alpinismus. Wirklich, es gab keinen Schlamm mehr, dafür schrammte der Wagen an manchen Stellen direkt über Felsen! Wir überquerten eine hohe, eine schwindelerregend hohe Feldsteinbrücke, unter der ein aufgewühlter Bach brodelte. Dann fuhren wir in einen Mischwald von Kiefer, Buche und Haselnuss. Vom Dorf keine Spur. Eine Kurve, noch eine, und immer noch nichts davon zu sehen. Plötzlich schien es, als öffne sich der Wald, das Gebirge veränderte sich vor unseren Augen, verbreiterte sich, stieg eindrucksvoll an – und wahrhaftig, an einem der Hänge zeigten sich die steinernen Dächer des Dorfes. Von Weitem sah es aus, als würde es sich in die Felsen hineinducken, als schmiege es sich zwischen sie, als verschmelze es mit deren Grau. Hoch oben, mit ein paar einsamen Häuschen beginnend, wurde das Dorf zum Fluss hin breiter, so als hätte Gott selbst die Häuser in seine Hände genommen und den Hang hinuntergestreut. Und über all dem erhob sich ein Glockenturm, weiß und schlank. Wir verstummten, und der Renault begann sich scheu dem Ort zu nähern, der unser Leben verändern sollte, der von nun an so viel von unserem Dasein beherrschen und sowohl unserer Freude als auch unserer Trauer Obdach bieten sollte.

Meine Frau war es, die die schicksalhaften Worte aussprach. Wir hatten am Anfang des Dorfes angehalten. Sie sah durch das Wagenfenster über das ehrwürdige Kopfsteinpflaster hinweg zu einem weißen Erker über ihrem Kopf hinauf und sagte:

– Ich werde dieses Dorf nicht eher verlassen, bevor du nicht eines der Häuser gekauft hast.

Glücklich rieb ich mir die Hände.

Nachdem der alte Lehrer ein paar Kartoffelschnipsel in die Pfanne gegeben hatte, stellte er sie auf den mit bronzener Farbe gestrichenen Herd. Während er die Stückchen mit der Gabel hin und her stupste, lächelte er uns zu. Er war ein Mann um die siebzig, sorgsam frisiert, ausgesprochen sauber und ordentlich gekleidet, gelassen und gutmütig. Man hatte uns gesagt: »Wenn ihr ins Dorf kommt, dann sucht niemand anderen auf als den Lehrer. Er wird euch unterweisen und hilfreich sein.« So hatten wir es auch getan. Und der Lehrer hatte also beschlossen, uns erst einmal mit gebratenen Kartoffeln zu bewirten. Das Dorf sei berühmt für seine Kartoffeln, und gebratene Kartoffeln seien sein Leibgericht. So weit, so gut. Weniger gut jedoch war, dass er jeweils nur fünf, sechs Schnipsel zum Braten in die Pfanne gab und diese danach äußerst bedächtig in eine Schüssel sammelte, ehe er wieder fünf, sechs Schnipsel hineinlegte. Tief beunruhigt rechnete ich mir aus, dass wir ungefähr gegen Abend mit dem Mittagessen beginnen würden. Wie beiläufig erwähnte ich, manche Leute würden ihre Kartoffeln in einem größeren Gefäß frittieren, zum Beispiel einem Kochtopf, sie gäben dazu viel Öl hinein, warteten, bis es heiß sei, und schütteten dann zwei Handvoll Kartoffeln auf einmal hinein. Seiner guten Erziehung gemäß zeigte der Lehrer reges Interesse für die vorgeschlagene Technik und sagte, er werde sie irgendwann einmal testen. Währenddessen fuhr er fort, mit der Gabel den Schnipseln in der Pfanne nachzujagen. Von Geburt an Neurastheniker, steigere ich mich manchmal derart in Wutanfälle hinein, dass es mich schüttelt. Eigentlich vergesse ich diese Anfälle schnell wieder, aber ehrlich, sobald ich an die bratenden Kartoffelschnipsel denke, zieht sich mir noch heute der Magen zusammen. Dieser Mensch schien es noch nie in seinem Leben eilig gehabt zu haben. Er redete auch recht langsam und bediente sich dabei eines schönen, klaren Bulgarisch. Vierzig Jahre lang habe er unterrichtet, seine Schrift sei die eines Meisters der Schönschrift. Auch sein Zimmer strahlte vor Sauberkeit, wenngleich es etwas schief war. Man merkte es daran, dass alles, was auf den Holzboden fiel, darauf entlangkullerte, ja selbst das Öl floss auf der einen Seite der Pfanne zusammen, was zur Folge hatte, dass es noch weniger Kartoffeln gelang, darin zu brutzeln. Wir wiederholten mehrmals, es eilig zu haben, da wir noch ein geeignetes Haus finden und kaufen wollten, und dass wir es vorzögen, dass dieses Haus einen noch lebenden Besitzer habe, der darin bis zu seinem Lebensende wohnen bleiben sollte.

– Es gibt so einen alten Mann – sagte der Lehrer.

– Na dann los, bring uns zu ihm!

– Lasst uns erst einmal zu Mittag essen, und dann werde ich euch hinbringen.

Und so lernten wir als Erstes über den Lehrer, dass er dem Wort Eile eine völlig andere Bedeutung beimaß als wir. Schon bald sollte uns klar werden, dass dieser Begriff in der ganzen Gegend anders ausgelegt wurde. Hier gab es eine Ordnung, die es unbedingt einzuhalten galt, wie viel Zeit es auch kostete, und danach konnte, wer wollte, wieder loshetzen. Nur später.

Der Lehrer gehörte zu jenen Menschen, die langsam einen Entschluss fassen; dafür war dieser dann unumstößlich und duldete keinerlei Abänderungen.

– Ich hatte zu damaliger Zeit eine Schreibmaschine »Hermes Babi« – sagte er.

Da wir uns bereits etwas angefreundet hatten, wagte ich den Versuch, ihn zu verbessern.

– Das heißt »Hermes Beyby«! So spricht man es auf Englisch aus.

Der alte Lehrer schaute mich etwas ungläubig an.

– Ich habe Französisch gelernt. Also wie »Hermes Beyby«?

– Ja, genau.

– Beyby, Beyby – wiederholte er nachdenklich.

– Eigentlich bedeutet das kleines Kind. Schreibmaschine kleines Kind.

– Soso.

Einige Monate später teilte er mir von Neuem mit:

– Damals hatte ich eine Schreibmaschine »Hermes Babi«!

– Beyby!

Er nickte zustimmend. Nach einer gewissen Zeit hörte ich ihn wieder sagen:

»Ich hatte mal eine Schreibmaschine …«

Das war weniger Sklerose als Hartnäckigkeit und Konservatismus. Fünfzig Jahre lang war sich dieser Lehrer sicher gewesen, eine Schreibmaschine »Hermes Babi« zu besitzen, und plötzlich kam irgendein Sofioter daher und wollte ihm frech das Seine aufoktroyieren …

Nachdem die Kartoffeln endlich gebraten und gegessen waren, zog sich der Lehrer ein noch saubereres Hemd und noch gebügeltere Hosen an, und wir gingen los ins Dorf. Natürlich wünschten wir zuerst besagtes Haus mit dem alten Mann zu sehen. Unterwegs kamen wir an einigen eingefallenen Gebäuden vorbei, an einzeln aufragenden Steinmauern und an noch gut erhaltenen Gebäuden. Wo sich die kleine Straße unter ein Haus duckte, sodass es selbst einen Tunnel bildete, bogen wir rechts ab und gingen auf dem Kopfsteinpflaster hinunter bis zum Ende des Dorfes. Der Lehrer blieb vor einer großen Holzpforte stehen, die von den Mauern eines intakten Gebäudes eingefasst war. Von draußen machte das Ganze keinen sehr einladenden Eindruck. Die Pforte hatte ein kleines Loch, und aus dem kleinen Loch baumelte ein schmutziger Faden. Unser Führer zog daran, worauf sich einer der Torflügel öffnete. Wir fanden uns in einem weiträumigen überdachten Hof wieder, an den ein Garten grenzte.

– Hej, Baj* Kiro – rief der Lehrer. – Bist du zu Haus?

Über unseren Köpfen meldete sich jemand.

– Bist du da oben? Ich bring dir ein paar Leute.

Die Antwort war undeutlich, klang aber zustimmend. Nachdem wir einige Holzstufen hochgestiegen waren, hielt ich verblüfft inne. Wir waren in einer großen überdachten Veranda rausgekommen, an deren einer Seite sich eine schön gemauerte Feuerstelle, vergleichbar mit den heutigen Kaminen, befand. Etwas seitlich davon stand ein großer Backofen zum Brotbacken. Auf der gegenüberliegenden Seite waren die Zimmer. Eine meisterlich gezimmerte Holzbank schmiegte sich an die Wand, und auf ihr saß ein alter, bärtiger Mensch mit einer Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Er stützte sich mit beiden Händen auf einen Krückstock und schaute vor sich hin, als sei ihm völlig gleichgültig, wer wir waren und was wir wollten.

– Grüß dich, Baj Kiro, wie geht’s?

– G-üß dich, Schulmeister!

Baj Kiro sprach das »r« französisch aus.

– Die Leute hier sind aus Sofia, sie sind gekommen, um sich ein Haus zu kaufen, aber sie wollen eins mit Eigentümer, der darin wohnen bleibt, und sie würden immer dann kommen, wenn sie Zeit haben.

– Freilich, schön, schön – sagte Baj Kiro.

Ich schaute mir diese endlose Veranda an. Es schien, als sei sie der Hauptteil des Hauses und die Zimmer ihre Ergänzung. Der Boden bestand aus glatten Dielenbrettern. Die Balken, die die Decke stützten, waren mehr als zehn Meter lang und reichten von dem einen Ende der Veranda bis zum anderen. Was für Bäume hatte man fällen müssen, um sie zu schneiden, und wie hatte man sie bloß aus dem Wald hergebracht. Nein, ich war nicht verzückt, ganz und gar nicht, nur verwirrt und sehr erschrocken. Wer weiß, wie viel Geld dieser Großvater Kiro für das Wunder verlangte! Wir hatten nicht mehr als viertausend Leva zur Verfügung – viertausend und Schluss. Doch diese Festung aus Holz und Mauerwerk hier …

– Wie ruft man dich? – fragte unerwartet Großvater Kiro.

– Georgi, Gošo! – sagte ich einschmeichelnd.

– Hör mal, Gošo, du bist also entschlossen, in diesem Dorf ein Haus zu kaufen. Hast du dir auch andere angesehen?

– Nein, habe ich nicht! Wir sind gleich zu dir gekommen.

– Ah, so geht das nicht! Der Alte machte ein finsteres Gesicht. – Du wirst erst einmal losgehen und dir die anderen Häuser anschauen, die zum Kauf stehen; dann kannst du kommen, damit wir reden.

Falls Baj Kiro wirklich vorhatte, seinen Besitz zu verkaufen, dann war seine Bedingung nicht gerade einleuchtend. Es gab jedoch keinen Ausweg, sein Wunsch musste erfüllt werden. Der Lehrer führte uns, und wir folgten ihm auf dem Weg durch das Dorf.

Hat ein Mensch erst einmal seine Wahl getroffen, ist er schwer umzustimmen. Er ist geneigt, nicht vorhandene Vorzüge in dem zu sehen, wofür er sich entschieden hat, und in allen sich anbietenden Alternativen Unzulänglichkeiten. Doch in diesem Dorf unterschied sich jedes einzelne Haus von den anderen. Es gab sie nicht, diese abstoßende Langweiligkeit der heutigen städtischen Architektur; es gab sie nicht, jene gleich aussehenden Bauernhäuser, die in letzter Zeit in den Dörfern entstanden waren – unvollendet, unverputzt, riesig und leer. Die Vielfalt des alten Dorfes verwirrte, sie machte hilflos, ließ uns vor jedem Gebäude andächtig verstummen. Und dennoch, genau wie damals bin ich noch heute überzeugt davon, dass das Haus von Großvater Kiro eine ganz eigentümliche Anziehungskraft hatte, eine besondere, einmalige. Im Gegensatz zu mir taten sich meine Frau und mein Sohn wirklich sehr schwer; ihnen wurde die Wahl zu einer wahrhaften Qual. Jedes der Häuser war für sie ein zur Adoption freigegebenes Kind, das hilflos die Arme emporstreckte und bat: Nimm mich, überlass mich nicht dem Schicksal – und so hielten sie an, gingen hinein, schauten sich um, äußerten sich hingerissen, um dann weiter hinter mir herzulaufen. Ich aber hatte es eilig, wie jeder, der weiß, was er will.

Auf der hölzernen Stufe eines großen Tores saß eine alte Frau mit weißem Haar und einem jugendlich verschmitzten Gesicht.

– Wo treibt es euch denn hin, ihr Leute? – fragte sie gedehnt.

– Ihr habt ein sehr schönes Dorf, Großmutter – entgegnete meine Frau offenherzig.

Die Großmutter sah uns schief an.

– Ihr macht euch wohl lustig über mich?

– Warum sollten wir uns lustig machen?

– Na was ist denn schön an diesem abgerissenen Dorf. Ja, früher, da war es schön, früher … Ist nichts mehr davon übrig, zugrunde gerichtet haben sie es!

Wir versuchten nicht, sie umzustimmen, sondern setzten unseren Weg fort. In einem Haus mit zwei herrlichen, über die Straße hängenden Erkern und mit einer wunderschönen Feuerstelle in der einen Zimmerecke geschah es dann: Der Junge fing plötzlich an zu weinen. Erfolglos erklärte ich ihm, dass dieses schöne Haus keinen Garten, dafür aber eine beängstigende Schräglage habe, dass wir viel Geld bräuchten, um es in Ordnung zu bringen, dass die Besitzerin weit weg, wer weiß wo, wohne und dass diese Oma zu allem Übel auch noch ein Querkopf sei. Als all das nichts half, wurde ich unerbittlich. Das hier ist sinnloses Getue, das Haus von Baj Kiro ist das schönste im ganzen Dorf, und wenn wir eines kaufen, dann dieses und kein anderes. Endlich kehrten wir zu unserem alten Mann zurück. Wir fanden ihn an derselben Stelle in derselben Pose vor.

– Sieh mal, Baj Kiro, wir sind gegangen, haben angeschaut, viele Häuser haben uns gefallen, aber deines gefällt mir am besten. So ist das.

Baj Kiro warf uns einen listigen Blick zu und sagte in beinah sanftem Ton:

– Weißt du, warum das so ist, Gošo? Weil sie die anderen Häuser, die du angesehen hast, aus der Not gebaut haben, aber meines aus Lust.

Diese Umschreibung war vollkommen. Nun blieb nur noch das Wichtigste zu tun – das tragisch Wichtigste. Spürend, wie sich mein Herz zusammenzog, fragte ich:

– Jetzt sag mir, wie viel willst du dafür?

Während ich wartete, liefen mir Schauer über den Rücken. Baj Kiro wurde mürrisch:

– Also, pass mal auf, ich habe nicht vor, lange herumzufeilschen …

– Gut, Baj Kiro.

– Du wirst einen Tausender und zweihundert Leva Geld dafür geben!

Er legte Wert darauf, dass das Wort Geld erwähnt wurde. Nichts, was er als natürlich hinnahm. Mir wurde schwindlig. Demütig wiederholte ich:

– Gut, Baj Kiro.

Ich griff in meine Tasche, zog zweihundert Leva heraus, keine Ahnung, wie oft wir sie schon abgezählt und nachgezählt hatten, und gab sie dem Lehrer.

– Das ist die Anzahlung, zweihundert Leva, bitte zählt nach!

Der Lehrer zählte gründlich nach und reichte sie respektvoll Baj Kiro. Baj Kiro sah ihn streng an, stieß seine Hand zurück und fuhr ihn an:

– Von dir will ich sie nicht, der Mann soll sie mir geben!

Ich nahm die Scheine und übergab sie ihm. Baj Kiro rieb das Geld an seiner bärtigen Wange, damit es ihm damit weiterhin gut laufe, dann sagte er zu mir:

– Von heute an gehört dieses Haus dir. Wie viel Geld man mir auch dafür bietet, sei dir gewiss, es ist deins.

– Ich danke dir, Baj Kiro!

Ich sah mich nach meinen Leuten um. Meine Frau war gerührt, der Sohn kämpfte noch etwas mit seiner Trauer um das andere Haus, doch ich denke, dass auch er es zufrieden war.

– Dann lasst uns es nun begießen, wie es sich gehört – sagte ich.

– Aah – winkte Baj Kiro ab. – Ich trinke nicht, Gošo.

– Wieso denn nicht? Ich habe doch gehört …

– Ich weiß nicht, was du gehört hast …

– Na dass du es mochtest, hin und wieder ein paar Schlückchen zu nehmen.

– Stimmt, ich habe sie wohl gemocht, die Schlückchen, aber jetzt trinke ich nur noch Limonade … Hör mal, was ich dir jetzt sage, Gošo: Würde ich all das auskotzen, was ich in meinem Leben getrunken habe, dann wäre das ganze Dorf überflutet.

– Ah ja.

Immerhin war das eine recht kunstvolle Darstellungsweise, ich wollte mich aber eher an geläufige Mengenangaben halten.

– Kannst du mir denn ungefähr sagen, wie viel du bisher getrunken hast?

– Was heißt hier ungefähr, ich werd’s dir genau sagen. Vierzehn Tonnen hab ich getrunken!

– Wein?

– Ach woher, Wein trinken wir hier nicht. Rakija*.

Vierzehn Tonnen Rakija! Baj Kiro zählte etwa siebzig Jahre; wenn er fünfzig Jahre lang daran getrunken hatte, musste ich durch fünfzig teilen, dann durch dreihundertfünfundsechzig, das machte …

– Aber dann heißt das, du hast jeden Tag etwa einen Liter getrunken.

– Jeden Tag einen, Gošo, und wenn es eine gute Zuspeise gab, die ordentlich zog, dann auch mehr.

Ich war am Boden zerstört. Ich kannte einen Kapitän der Hochseeflotte, der hatte kundgetan, einmal während der Überfahrt von Varna nach Burgas ein Fünfzig-Liter-Fass Wein ausgetrunken zu haben. Es konnte sein, dass du von Varna bis Burgas einen halben Tag brauchst, es konnte aber auch sein, eine Woche, das hing eben vom Kapitän ab. Oder Baj Kostja, der Holzfäller, bei dem ich als Student einige Monate gearbeitet hatte – an einem Abend hatte er siebzehn Kognak getrunken und war in den Straßengraben gefallen. Ich kenne noch weitere einmalige Heldentaten, doch die vierzehn Tonnen von Baj Kiro waren ein wahres Epos.

Vom Akt des Hauskaufs noch etwas schwindlig, beschlossen wir, uns das Haus etwas genauer anzusehen. Oben zwischen den Balken entdeckte meine Frau sorgsam gestapelte Tannenholzbretter.

– Sieh mal, was für schöne Bretter! – rief sie aus.

– O nein! – meldete sich Baj Kiro zu Wort. – Die gehören nicht zum Haus dazu. Alles andere gehört dazu, aber die Bretter brauche ich noch.

Er sah uns listig an und fügte hinzu:

– Die brauche ich als Wintermantel! Kommt ihr drauf?

Nicht sofort kamen wir drauf, doch dann begannen wir gleich zu protestieren:

– Warte mal, wohin willst du so eilig?

– Na dorthin – erwiderte Baj Kiro und wies mit seinem Krückstock durch die geöffneten hölzernen Fensterläden der Dachkammer (so nannten sie hier die Veranden) zu einem Hügel. – Zu den Kiefern!

Ich starrte in die Richtung.

– Dort ist der Friedhof – erklärte der Lehrer mit sanfter Stimme. – Hier bereiten die alten Leute alles selbst vor: die Bretter für den Sarg, die Kleider …

– Mein Anzug ist im kleinen Zimmer! – erläuterte Baj Kiro. – Dass ihr’s schon wisst und ihn nicht suchen müsst.

Ich betrat das nördlich gelegene Zimmer; die Mauern des alten Kamins waren eingefallen, und ihre Steine lagen auf dem Boden verstreut. Das wird das Erste sein, was ich in Ordnung bringen werde, gelobte ich mir. Durch die kaputten Scheiben der Fenster waren Schwalben hereingekommen. Sie hatten sich an einer der Wände ein Nest gebaut. Noch heute hängt es dort. Eine kleine, massive Holztür führte in den Nebenraum. Durch ein Fensterchen zur Dachkammer drang noch ein schmaler Lichtstrahl hinein.

– Hier haben sie die Lebensmittel aufbewahrt – sagte der Lehrer. – Schau mal, wenn du die Zimmertür aufmachst, ist das Türchen nicht mehr zu sehen. Kam der Türke, um zu kontrollieren, dann öffnete er die Tür, schaute in das Zimmer und bemerkte dabei nicht, dass man von hier aus noch in einen anderen Raum kommt.

In dem Zimmerchen hing an einem Garderobenständer aus gekreuzten Kiefernästen ein Anzug aus schwarzem, grobem Wollstoff. Er war mit einem Stück Decke umhüllt, damit er nicht einstaubt. Darunter stand ein Bottich mit Holzasche, die man aus den Öfen zusammengetragen hatte, um damit den Garten zu düngen. Sicher stand er seit Jahren hier. Nach Süden hin gab es noch ein geräumiges Zimmer, das wohl zum letzten Mal um die Jahrhundertwende geweißt worden war – inzwischen war es vom Rauch völlig schwarz. Es wird noch kräftig Arbeit anfallen in diesem Haus, dachte ich mir in jenem Moment; dabei war das nur eine leise Vorahnung, die sich später in Qual und Gestöhn verwandeln sollte.

Das Erdgeschoß des Hauses hatte eine kleine Veranda, ein niedriges, gemütliches Zimmerchen mit Holzdecke und einem kleinen Fenster, das in den weiten Hof blickte. Wenn der Hausherr sich um eines seiner Tiere sorgte, brauchte er nur durch das Fenster in den Hof zu schauen und konnte sich überzeugen, dass alles in Ordnung war. Und der Hof war imposant, mit riesigen Futterkrippen, die aus einem behauenen und geglätteten Kiefernstamm gefertigt waren und von einem Ende zum anderen reichten. Genau gegenüber dem Tor hatte man in die Wand eine Schießscharte eingelassen. Sollte irgendein Räuber auftauchen und die Tür öffnen – peng! – weg war er. Der Boden des Hofes war bedeckt von altem, längst verrottetem Mist. Während der Jahrzehnte, in denen niemand ausgemistet hatte, war er zu lockerem Sand geworden.

Es wird noch kräftig Arbeit anfallen auf diesem Hof, drohte ich mir, doch das war nur ein Raunen, das sich in Klagen und Weinen verwandeln sollte …

* Pfefferminzlikör

* Baj: bulg. Gevatter

* Traubenschnaps

Wenn ich mir überlege, wie viele Dinge auf dieser Welt ich nichtverstehe und wie viele ich niemals verstehen werde …schrecklich. Zum Beispiel die Baseballregeln oder dieseZeichen und Rufe der Börsenmakler!

Die große Übersiedlung

Bereits eine Woche später besaßen wir das Dokument über unser Eigentum. In ihm standen mein Name sowie die Bestätigung, dass ich ein Haus und eine Parzelle im schönsten Dorf der Welt besitze. Für mich war das ein aufwühlendes Ereignis. Niemals zuvor hatte ich das Gefühl kennengelernt, etwas zu besitzen, etwas mein Eigen zu nennen, über irgendein Besitztum verfügen zu können. Das hier, von hier bis hier und von dort bis dort, das gehört mir persönlich. Hier, diese alte stabile Pforte, diese fast meterdicken Feldsteinmauern und diese Veranda und dieser Baum auch. Ist das eine Kirsche? Freilich eine Kirsche, nur eine wilde. Und jener dort ist ein Apfelbaum, und diese beiden schwächlichen sind Pflaumenbäume … Und natürlich werde ich eine Kiefer pflanzen und eine Fichte und eine Tanne, und wenn ich dann anfange zu altern, werden sie das Haus überragen. Wie dumm, dass Bäume so langsam wachsen und der Mensch so schnell altert. Stellt euch nur mal vor – diese hundertjährigen Buchsbäume, sie gehören uns. Und ich werde Gras säen, keinerlei Gemüse, keinerlei Quatsch – einfach grünes Gras. Blumen natürlich, vor allem Rosen und Ringelblumen, vielleicht Margeriten … Es ist unangenehm, dass du immer warten musst, bis der Samen keimt; manchmal musst du monatelang darauf warten, bis er keimt und bis es dann endlich blüht, das Blümlein. Gott sei Dank werden auf dem Markt blühende Veilchen verkauft, mit Wurzeln, fertig zum Pflanzen, und Gänseblümchen und buschige Nelken … Das sind immerhin Heilmittel gegen die Ungeduld.

Ich bin im Sozialismus aufgewachsen und gelangte erst allmählich zu der Erkenntnis, dass das Streben nach Besitz dem Menschen angeboren ist, einfach biologisch vorbestimmt. Jedes lebende Wesen benötigt einen Bau. So auch ich. Jedes lebende Wesen braucht die Sicherheit seines Nestes, seiner Höhle, seines Eckchens. So auch ich. Erzählt mir nichts von den Fischen, auch sie haben ihre Wasser. Singen die Vögel im Frühjahr etwa allein aus Liebe? Nichts dergleichen – frühmorgens bei Sonnenaufgang zwitschern sie, treten in einen regelrechten Sängerwettstreit, dass es ihnen glatt die Herzen sprengt, denn sie wollen überall eines verkünden: Hier, dieser Busch, dieser blühende Zweig, dieses Gestrüpp – das ist mein, hier habe bereits ich mich niedergelassen, und bitte etwas Abstand! Privatbesitz! Es wird ohne Vorwarnung geschossen! Ein Philosoph würde sagen, der Mensch hat den größten Fehler begangen, als er einen Platz einzäunte und verkündete: »Das ist mein!« Nur Philosophen haben den Mut, großen Blödsinn auszusprechen. »Das ist mein!« zu sagen ist genauso wenig frevelhaft wie das Recht des Erstgeborenen. Er steht am Anfang des Lebens, und sein Hang nach eigenem Besitz ist natürlich. Genauso brauche auch ich einen eigenen Raum, der mich von der Welt abschirmen und sie eingrenzen wird. Der Plattenbau-Mensch ist geschädigt. Vielleicht unwiderruflich. Er hat sich daran gewöhnt, in einem Heim aus Beton zu leben und zu sterben, nur sollte als Folge dieser Anpassung nichts Gutes erwartet werden. Die negativen Auswirkungen werden zutage treten, und sie werden auch die nichts ahnenden nachfolgenden Generationen beeinflussen.

Obgleich alles erklärbar war, was in jenen Wochen, nachdem wir das verzauberte Dorf entdeckt hatten, geschah, mutete es dennoch geradezu unwahrscheinlich an. Plötzlich waren meine Freunde von einem Fieber befallen. Sie warfen sich in ihre Autos, und um den Preis von gebrochenen Stoßdämpfern und Gepäckträgern, von geplatzten Reifen, verkohlten Krümmern und überhitzten Motoren jagten sie dem Dorf zu, und zur größten Verwunderung der wenigen noch verbliebenen Einheimischen schoben sie sich durch die krummen Gassen, eilten durch die Häuser, erschienen auf Steindächern, versanken in verrotteten Dielen, ließen ihre Stimmen aus Löchern und hinter Bretterzäunen ertönen, bis sie nur noch erschöpft umherschlichen, mit wild flackerndem Feuer in den Augen.

– Diese Sofioter sind durchgedreht! – war die allgemeine Schlussfolgerung.

Nur die Misstrauischen flüsterten sich etwas anderes zu:

– Hier gibt es irgendeine Gaunerei, irgendetwas stimmt hier nicht, es muss etwas geben … Was nur?

– Das Gold! – sagte jemand geheimnisvoll.

– Welches Gold?

– Na sie haben mitbekommen, dass es im Dorf Gold gibt.

– Wo ist’s denn, dieses Gold?

– Es ist so, dass es im Dorf Gold gibt, es gibt welches. Kann gar nicht sein, dass es keins gibt. Hier liegt in jedem Haus Gold vergraben. Weil, als sie vor den Türken geflüchtet sind, und das ist nicht nur einoder zweimal passiert, da haben sie ihr Gold immer vergraben – es war gefährlich, es mitzunehmen, und sie haben sich überlegt, dass sie es, wenn sie eines Tages nach Hause zurückkommen, wieder ausgraben werden. Doch manche sind gar nicht zurückgekommen – entweder man hat sie hier in der Gegend unter die Erde gebracht, oder sie sind irgendwo in der Ägäis untergegangen. Andere waren vergesslich, kannst es glauben, sie rauften sich die Haare, wo sie es denn hingetan haben könnten, ihr Gold, und sie klopften und gruben sich tagelang durchs Haus. Hier, wie bei dem Joška seinem Großvater, der ist bekanntlich mit zwei Maultieren ins Dorf gekommen, zwei Ladungen Gold hat er dabeigehabt, das ist absolut sicher. Er hat es ja auch seiner Frau gezeigt und seinen Kindern, alle haben es gesehen, ist keine Lüge. Er hat also eines Tages die beiden Ladungen Gold in seinen Stall gebracht und den Seinen zugerufen: »Ich will hier jetzt niemanden sehen, trollt euch auf den Wies!« Und als sie am Abend zurückkamen, war von dem Gold und der ganzen Pracht nichts mehr zu sehen. Das heißt, der Opa hat es irgendwo zu Hause versteckt, denn draußen hätte man ihn ja sonst gesehen, wo doch hellerlichter Tag war. Und wie er es versteckt hat! Niemand hat es jemals gefunden. Niemand – weder die Polizei noch die Fremden, noch die Seinen.

– Aber als er starb, hat er da nichts hören lassen?

– Wer? Er? Nichts hat er hören lassen.

Und seitdem glaubt der Joška daran, dass er es noch finden wird, das Gold, früher oder später wird er es sicher finden …

– Er hat’s schon gefunden, wenn du mich fragst!

– Der Joška?

– Klar der Joška!

– Wie jetzt, er hat’s gefunden?

– Na ja so, einfach gefunden.

– Aber wenn er es gefunden hat, warum will er dann kein neues Haus, sondern bleibt noch immer in dem von seinem Großvater? Wenn er es gefunden hat, warum streift er wohl den ganzen Tag im Wald herum? Das sind zweihundert Kilo Gold, Mann. Ein Millionär wäre der Joška.

– Und die Polizei?

– Aber es ist doch seins, aus seinem Haus.

– Wenn sie ihn drankriegen, dann gibt’s weder dein noch mein. Erinnerst du dich noch an die Leute aus Skrebatno? Wie ist es ihnen denn ergangen, als sie die Goldstücke in dem tiefen Loch gefunden haben, wie denn? Die guten Leute brachten sie ehrlichen Herzens zur Miliz, zählten sie ihnen vor, soundso viel Goldstücke sind es, übergaben sie. Und was passierte dann? Was? Wo habt ihr die anderen versteckt, haben sie gerufen. Was für andere, wir haben doch alle hergebracht. Alle soll’n das sein? Und wie sie sie dann gepackt haben. Prügel! Prügel! Regelrecht durchgewalkt haben sie sie! Hat nicht viel gefehlt, und sie wären ins Gefängnis gewandert.

– Na ja, also wäre ich einer von der Miliz, ich hätte ihnen auch nicht geglaubt. Geht gar nicht, dass sie nicht etwas für sich behalten haben! Es gibt doch so ein Gesetz – alles, was sich einen halben Meter unter der Erde befindet, ist dem Staat seins.

– Einen Meter, einen.

– Na gut, dann eben einen Meter. Kann sein, dass auch du was auf deinem Feld findest – ist auch dem Staat seins.

– Und was war mit denen, die das eingefallene Haus gekauft haben?!

– Und?

– Na weißt du’s noch?

– Was soll ich noch wissen?

– Sie tauchten auf, erzählten, sie müssten noch Material holen – Balken, Dielen, Leitern; dann haben sie zwei Tage lang alles aufgerissen und Staub aufgewirbelt, und am dritten, da sind sie auf und davon. Sind nie wieder aufgetaucht. Haben die Bretter und Balken einfach dagelassen, überhaupt alles. Sie haben den Topf gefunden und dann – Fersengeld, ab durch die Mitte!

– Wenn du willst, frag den Hristo, wie das bei ihm war, als er den Rahmen seines Fensters ausbesserte, da ist ihm doch plötzlich die Latte abgebrochen, also die von ganz oben, und dahinter – ein Topf.

– Was denn für ein Topf?

– Was für einer, na so einer aus Ton. Ein Tontopf.

– Und drinnen?

– Drinnen Henkel! Leer war er.

– Und warum war er dann über dem Fenster eingemauert?

– Weil er irgendwann mal voll gewesen ist. Dann hatten es die Leute aber aus irgendeinem Grund mal eilig, haben ein Loch in den Boden geschlagen, die Goldstücke eingesammelt und die Latte wieder angenagelt. Wozu hätten sie auch den ganzen Topf da rausholen sollen.

– Sag bloß, echt?

– Es ist so, im Dorf gibt es Gold. Sonst würden die doch nicht aus zweihundert Kilometer Entfernung herkommen, in diese Felsen, um sich Häuser zu kaufen.

Ich kann nicht sagen, ob sich diese Vermutungen bis zum heutigen Tag gehalten haben, aber eines weiß ich sicher, es gab keine einleuchtende Erklärung für unsere Invasion im Dorf. Und es war wirklich eine. Jahrelang, jahrzehntelang hatte sich niemand für dieses Dorf interessiert, selten war mal ein Fremder vorbeigekommen, sei es als Gast oder Tourist. Das Dorf starb langsam, qualvoll – die Fenster der verlassenen Häuser, die entweder durch den Wind oder den Stein eines kleinen Missetäters geborsten waren, stierten hohl wie ausgelaufene Augen vor sich hin, die Mauern der Höfe fielen unter dem Regen ein, die riesigen Steinplatten auf den Dächern kamen durch die Stürme und den schweren Schnee ins Rutschen, sie verschoben sich, und zwischen ihnen taten sich Ritzen auf, dort sickerte Regenwasser durch, das die Bretter und Balken befeuchtete und durchnässte; sie begannen zu faulen, bis eines Tages das ganze Dach ausgeweidet war. Da war es um das Haus geschehen. Auch die alten Dorfbewohner gingen einer nach dem anderen dahin, die Kirchenglocke kündete ohne Hoffnung und Eile von dem Ende eines Traumes und dem Beginn eines ewig währenden Schlafes. Sogar die Dorfschenke hatten sie zugemacht. Für die Bedürfnisse der Trinker wurden im Laden Getränke angeboten; du konntest dort ein Glas grünen Mentha kaufen, Rakija, eine Flasche Bier, Nägel, Hufeisen, Schafskäse, Besen, Feilen, Reißzwecken, Wurst, Handbohrer, Farbe für Öfen, Ofenrohre, Seile zum Anbinden des Viehs, Seile zum Aufhängen, Konfekt, Waffeln, Nadeln, Fäden, Eimer. Und Kóssi*, beinah hätte ich Kóssi vergessen – in dieser Gegend liegt die Betonung auf der ersten Silbe –, sie gehörten zu den wichtigsten Waren überhaupt. Bloß leider, leider gab es die österreichischen Kóssi der Marke »Herzilein«, die wegen der drei aufgedruckten Herzen so hießen, nicht mehr. Nur noch russische Kóssi, aber die wurden nur gekauft, weil einem nichts anderes übrig blieb, denn wie pflegte Baj Todor sich auszudrücken: »Die russischen Kóssi sind allein fürs Sensen im Kosmos!«

Wie gesagt, alles gab es dort, auch Brot. Das kam jeden Tag per Pferd aus dem Nachbardorf. Zwei Körbe gefüllt mit warmem, duftendem Brot, von beiden Seiten an den Sattel gehängt. Das Pferd wurde von einem alten Mohammedaner geführt, einem gutherzigen und sanftmütigen Menschen, der jeden Tag, ob bei Hitze oder Regen, bei Kälte oder Schnee, langsam und unbeirrt bis zum oberen Ende des Dorfes zog.

– ’s Brot is da, ’s Brot is da! – riefen die Frauen und stürzten in den Laden.

Aber ich bin abgeschweift, eigentlich wollte ich erzählen, dass einst binnen weniger Wochen die Sofioter das Dorf überschwemmten und mir nichts, dir nichts an die zwanzig Häuser aufkauften. Auch Vlado, der Mathematiker, kam noch rechtzeitig, und er suchte sich natürlich ein Haus am letzten Ende des Dorfes aus, um ja niemanden vor der Nase zu haben, um nichts als die felsigen Hügel jenseits des Flusstals zu sehen. In seinem Garten standen ein riesiger Walnussbaum und eine aus Feldsteinen gemauerte Scheune, die so majestätisch wirkte, dass man sie ohneweiters in einen richtigen Konzertsaal hätte verwandeln können. Imposant und geräumig – nur die Orgel fehlte noch, und Zuhörer. In der ersten Zeit hätten auch die Ziegen die sonntäglichen Konzerte besuchen können, sie waren der allgemeinen Meinung nach musikalischer als Schafe und als mancher Mensch. Bereits seit zwanzig Jahren will mein Freund seine Scheune in irgendetwas Wundervolles verwandeln, doch immer verschiebt er es. Verschiedene grandiose Ideen sind ihm schon durch den Kopf geschwirrt, aber dann waren es doch immer andere Dinge, die seine Tage beherrschten. Und letztendlich hat es auch Zeit. Es stimmte zwar, dass ein Riss sich durch die eine Seite des Gebäudes zu fressen begann, aber die Mauer ist so stark, dass sie sicherlich noch mindestens ein weiteres Jahrhundert aushält. Ich bin mir sicher, dass mein Freund bis dahin irgendeinen bedeutsamen Entschluss gefasst haben wird. Es hat Zeit! Hört, was ich euch sage: In diesem Dorf hat alles Zeit. Der alte Lehrer zum Beispiel, der vor unseren Augen erst die siebzig, dann die achtzig überschritt, baut eifrig und sorgsam sein Haus aus. »In diesem Jahr werde ich dann also dieses Zimmer machen, nächstes Jahr streiche ich es dann, und dann fange ich mit dem nächsten an; es gibt keinen Grund zur Eile.« Wer es nicht glaubt, kann sich gern selber davon überzeugen – der alte Lehrer nähert sich bereits der neunzig und fährt fort, sein Haus auszubauen. Es hat Zeit. Viele der neu Zugezogenen hatten sich noch nicht an diesen Gedanken gewöhnt. Sie waren nervös, wollten ihre neuen Häuser schnell herrichten, schnell Schmuckstücke aus ihnen machen, einmal und für immer, um alsdann in geistigem Wohlleben und ungetrübtem Vergnügen zu leben. Und das Dorf verleitete geradezu zu alldem. Seine Stille war die stillste der Welt, seine Schönheit die schönste der Welt, seine Häuser die unglaublichsten der Welt. Und die Menschen, die Menschen machten einen gutherzigen Eindruck, einen gefälligen, sie freuten sich unser, sobald sie uns in den Märtyrerautos ankommen sahen, und sie begrüßten uns mit Blumen, einem Lächeln und Gesang. Das mit den Blumen war etwas übertrieben, aber das mit dem Gesang hat sich wirklich hin und wieder zugetragen, besonders nachdem man die alte Schenke auf einstimmigen Beschluss hin wieder in Ordnung gebracht und geöffnet hatte, sogar innen gekalkt hatte man sie. Dort fand sich von Zeit zu Zeit auch Angel ein. Er wohnte zwar nicht im Dorf, kam aber oft her, um Verwandte zu besuchen und nach seinem Haus zu sehen. Und weil er die Gegend liebte. Angel holte sich das Akkordeon vom Bürgermeister, welches, sieht man von der Schreibmaschine einmal ab, das einzige bewegliche Anlagegut der Gemeinde war. Die Sänger setzten sich um den Tisch, tranken jeweils zwei Mastika*, damit sich ihre Kehlen öffneten, und schon begann es. Und wenn Sie meinen, diese Leute hätten jetzt angefangen, sich beim Skandieren von Trink- und Saufliedern die Lunge aus dem Hals zu schreien, wie es in den anderen volkstümlichen Kneipen der Fall war, so werde ich Sie verfluchen! Die Männer sangen schön. Sie sangen sogar sehr schön … Aber davon wird später noch die Rede sein, denn niemand wird sich das Dorf und unser Leben dort vorstellen können, ohne von diesen Abenden in der Kneipe gehört zu haben, ohne dieses:

Bin so malad, zum Sterben krank,

nach einem, so verrückt wie jung.

Eine Botschaft sandt ich ihm, zu kommen.

Mag sein, er kann’s nicht, das Kommen!

Nur, wenn er’s nicht kann, das Kommen,

so mög er sein Tüchle (Taschentuch) senden,

so mög er sein Tüchle senden –

damit ich’s mit den Tränen wasche

und’s an den Brüsten trockne!

Haben Sie etwas dazu zu sagen? Nichts sagen Sie dazu, und wenn Sie erst hören, wie es klingt, wenn Angel und der Joška es zweistimmig singen, dann ist Ihnen, als würden Sie vergehen, so schön klingt das.