Ein Jahr an deiner Seite - Kate Saunders - E-Book

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Kate Saunders

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Beschreibung

ES WAR DIE GANZ GROSSE LIEBE, als sich Marnie und Nick begegneten. Aber seit Nick im Koma liegt, bleibt Marnie nur die Erinnerung ans Glück. Kann es je wiederkehren? Es ist Liebe. Das weiß Marnie, aufstrebende Schauspielerin in London, sofort, als sie Nick trifft. Die beiden stürzen sich ins Glück – kostbare Monate lang. Bis Nick nach einem Hirnschlag ins Koma fällt. Jetzt hat Marnie nur ihre Erinnerungen, während sie an Nicks Krankenbett sitzt. Wie soll es weitergehen? Ihre Freundin Pandora rät, die Vergangenheit loszulassen.Marnies Eltern wollen ihr helfen, sind aber eigentlich mit ihrer eigenen Ehekrise beschäftigt. Und dann ist da noch Luke, Pandoras Freund und theaterliebender Banker, der Marnies ermutigt, ihre Bühnenkarriere zu verfolgen. Die täglichen Besuche bei Nick geben Marnie Halt – aber warum kommen ihr nach und nach immer stärkere Zweifel an seiner Liebe? Ein wunderbar berührender, aber auch komischer Roman über das Gefühl, das flüchtig ist und ewig währt – die Liebe.

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Seitenzahl: 448

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Kate Saunders

Ein Jahr an deiner Seite

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

»Dort in der einsamen [...]1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel

»Dort in der einsamen Hütte wohnt diese

verstoßene Mariana.«

William Shakespeare, Maß für Maß

 

 

 

Sie sagte nur: »Mich flieht der Friede;

Mein Teil hier ist die Not!

Er kommt nicht! Ich bin müde, müde;

Ich wollt’, ich wäre tot!«

Alfred Tennyson, Mariana

1. Kapitel

Auf der Intensivstation ist es warm wie in einem Treibhaus, und Nick liegt als fleischige weiße Orchidee nackt unter einem knappen Laken, umgeben von Schläuchen.

»Hallo, Nick«, sage ich in die von Piepsern durchbrochene gedämpfte Stille. »Mittwochabend … falls du’s wissen willst. Und es regnet in Strömen. Ein typischer Londoner Sommer.«

Ich stelle den dürren Plastikstuhl zwischen die Rolltürme voller Geräte neben dem Bett. Ich wünschte, es wäre niedriger … oder der Stuhl höher, wie bei einem Schiedsrichter in Wimbledon, so dass ich Nick im Ganzen sehen könnte. So, wie ich jetzt dasitze, mein Kinn in Höhe seiner Schulter, fühlt es sich nicht richtig an.

»Wir haben den Abend freibekommen«, erzähle ich. »Von ›Onkel Wanja‹ läuft die erste Vorpremiere, und ›Wie es euch gefällt‹ spielen wir nicht vor nächstem Donnerstag. Wärst du jetzt zu Hause, würden wir uns indisches Curry bestellen und einen unserer langweiligen Abende verbringen, die du immer so geliebt hast.«

Wahrscheinlich hat es keinen Sinn, dass ich das tue, aber ich tue es trotzdem. Nicks Eltern sind tot, und seine Schwester lebt in Frankreich. Ich bin also seine nächste Angehörige, und es ist meine Aufgabe, ihm immer wieder Geschichten zu erzählen für den Fall, dass er doch etwas mitbekommt. Ich habe schon vor Monaten aufgehört, mir dumm dabei vorzukommen.

»Was Neuigkeiten von der Arbeit betrifft«, fahre ich fort, »frage ich mich, ob dich das überhaupt noch interessiert, selbst wenn du mich hören kannst. Ich gehe mal davon aus, dass es das tut – früher wolltest du alles hören, und das alte Modell ist das einzige, an das ich mich halten kann.« Ich höre auf zu reden, um seine Hand zu berühren … warm und schlaff, vertraut und auch wieder nicht. Ich tue das hin und wieder, um mich zu vergewissern, dass er nicht tot ist, was seine Abwesenheit umso seltsamer macht. »Die große Neuigkeit von der Arbeit ist, dass die Besetzungsliste für ›Maß für Maß‹ steht, und ich Zweitbesetzung für die Mariana bin … große Erleichterung! Ich war sicher, dass sie mich nach dem ganzen Urlaub, den ich für meine Besuche hierher genommen habe, loswerden wollten. Aber manchmal überraschen einen die Leute ja – Sam war außergewöhnlich verständnisvoll. Er ist deutlich netter zu mir, seitdem es passiert ist. Ich glaube, er zündet Kerzen für dich an. Er sagte: ›Ich weiß, dass du mit dem Großteil deiner mentalen Energie woanders sein wirst, aber das ist okay.‹ Ich konnte kaum antworten vor lauter Dankbarkeit. Jetzt kann ich das Haus halten und den besten Teil meiner Zeit für dich aufsparen.«

Nick und ich sind Schauspieler. Ich habe eine unbedeutende Stelle in dem riesigen steinernen Ameisenhaufen des National Theatre. Nick war im selben Ensemble – vor der Hirnblutung, durch die er hier gelandet ist. Seit sechseinhalb Monaten ist er bewusstlos. Auf der Glasgow-Koma-Skala liegt er einen Punkt über tot. Ich versuche, den Ausdruck »Wachkoma« zu vermeiden. Zum einen ist er technisch nicht korrekt, denn die Übergänge zwischen Koma, Wachkoma und sogenanntem Minimalem Bewusstseinszustand sind fließend und lassen sich nicht eindeutig abgrenzen. Zum anderen ist er durch seine Bewusstlosigkeit nicht zum »Gemüse« geworden. Er ist nicht tot. Eher so was wie verschollen-und-vielleicht-tot. Ich bin sicher, dass irgendetwas von ihm noch da ist und irgendwo herumwandert. Wenn ich daran nicht mehr glauben kann, bin ich erledigt.

»Heute Nachmittag war Textprobe der Zweitbesetzungen«, erzähle ich ihm. »Es war traurig. Keiner konnte sich an was erinnern, und Neil hat uns runtergeputzt, wir wären faul. Wörtlich sagte er: ›Wie soll das beim nächsten Mal laufen, wenn jemand einen Schlaganfall hat und ihr ohne Vorwarnung ran müsst?‹ Dann hat er schuldbewusst zu mir geguckt und ›Sorry, Marnie‹ gesagt.«

Ich war nicht da, als es passierte, aber meine Kollegen haben sich gegenseitig überboten, mir jedes dramatische Detail in aller Einzelheit zu schildern. Jetzt habe ich eine Reihe Bilder lebhaft vor Augen: wie Nick sich in der Pause irgendwie angeschlagen fühlte und dann plötzlich, kurz vor Beginn des zweiten Akts von »Phädra«, in der kleinen Umzugskabine links der Bühne zusammenbrach. Es war eine Produktion, bei der ich nicht mitspielte und deshalb auch nicht da war, wobei ich bezweifle, dass ich eine große Hilfe gewesen wäre. Ein Mann mit Fliege musste die Zuschauer über die Verzögerung informieren, während sie die Zweitbesetzung in irgendein Kostüm zwängten.

Meine Mutter findet, ich solle nicht ständig daran denken, aber natürlich rufe ich mir diese Nacht immer wieder ins Gedächtnis; ich knibbele daran wie an Wundschorf. Ich beschwöre die Erinnerung an mich selbst herauf, wie ich zu Hause in munterer Unwissenheit Bolognese-Soße koche, als der stellvertretende Theaterleiter mich anruft und mein schönes Leben endet – mit einem Schlag, einfach so. Sie bringen ihn erst ins St. Thomas, das dem Theater am nächsten liegt. Dort habe ich den jetzigen Nick das erste Mal gesehen, unbeweglich, stumm und von Schläuchen umgeben. Dort habe ich mich das erste Mal neben ihn gesetzt und gewartet, dass er aufwacht … und darauf warte ich noch heute. Ich warte darauf, dass die akute Krise endet, doch das tut sie nicht – man muss sich einfach daran gewöhnen und sein ganzes Leben im Zustand ausgeklügelten Krisenmanagements leben.

»Du hättest bestimmt gelacht«, sage ich traurig.

Ich beobachte seinen Brustkorb, der sich zum Rhythmus des Beatmungsgeräts hebt und senkt, was mich an eine Wellenmaschine im Schwimmbad erinnert. Die Atemgeräusche sind zu regelmäßig. Wenn Nick richtig schläft, seufzt er und zuckt gelegentlich. Ich habe meinen Kopf immer auf seinen Oberkörper gelegt. Ich stelle mir vor, wie er plötzlich die Hand hebt, um mein Haar zu streicheln – so wie ich es tausendmal gespürt habe, ohne groß darüber nachzudenken. Aber ich habe aufgehört, solche Dinge ernsthaft zu erhoffen.

Er war da, und dann war er es nicht mehr. Er ist gegangen, ohne sich zu verabschieden. Wo ist er hin? Gibt es einen Ort für Menschen, die in der Ritze zwischen den Pflastersteinen steckenbleiben? Eine Art Vorraum zum Jenseits, wenn es das überhaupt gibt? Wenn nicht, was dann?

»Jedenfalls … Wo war ich?« (Als könnte er irgendeinem Gedankengang folgen.) »Die Textprobe, genau. Du weißt ja, wie es einen so komisch albern macht, wenn man ausgeschimpft wird. Als Neil uns entließ, gingen wir alle noch in die Bar, und weil ja keine Aufführung war, haben wir ein paar Gläser Wein getrunken und herumgeblödelt – ich habe gelacht und gelacht, aber es hat schrecklich wehgetan, weil ich dich so vermisse … du hättest sicher deinen Bollywood-Tanz aufgeführt.«

Es erscheint grotesk, fast frevlerisch, sich seinen blassen Körper singend und tanzend vorzustellen. »Und dann bin ich direkt hierhergekommen«, erzähle ich weiter. Ich werde ihm nichts vom ungemütlichen Fußweg den Haverstock Hill hinauf erzählen, durch regennasse Windböen, mit Blick auf fahles Sommerlaub vor schiefergrauem Himmel. »Nach Hause wollte ich nicht. Ich hasse es noch immer, ins leere Haus zu kommen, ohne dass du da bist. Pan arbeitet im Zelt … davon hab ich doch erzählt, oder?« Meine Freundin und Untermieterin Pandora spielt – nach fünf langen arbeitslosen Monaten – die Titania in einem Theaterzelt, das durch die Londoner Parks zieht. »Bei diesem Wetter macht es keinen besonderen Spaß – hatte ich erwähnt, dass es in Strömen regnet? Sie müssen auf Lattenrosten laufen und Gummistiefel unter den Röcken tragen … Pan klebt immer Tesafilm auf ihre Nippel, damit sie nicht so rausstehen.«

Ich erzähle nicht, dass eine gewisse Spannung zwischen uns herrscht, weil ich ihre schwindende Unterstützung spüre. Ich habe den starken Verdacht, sie denkt, ich sollte nicht mehr herkommen.

»Du könntest mal einen Tag aussetzen«, meinte sie erst heute Morgen. »Das wird er doch gar nicht merken, oder?«

Ich sagte, was ich dann immer sage: dass ich Nick weiter besuchen werde, bis er entweder aufwacht oder stirbt. Im Moment tut er nichts davon – beides zu hoffen und gleichzeitig zu fürchten kostet viel Energie.

»Ich will doch nur nicht, dass du dich an falsche Hoffnungen klammerst, das ist alles. Vielleicht solltest du anfangen, darüber nachzudenken, was du tun wirst, wenn er nie mehr aufwacht.«

»Das mache ich dann, wenn – oder falls – es so weit kommt.«

»Ich meine ja nur … Eines Tages musst du es vielleicht einfach akzeptieren und … ihn gehenlassen.«

Ich habe nicht geantwortet, aber ich bin immer noch wütend. Ich werde es nicht akzeptieren. Ich werde ihn nie gehen lassen.

»Auf jeden Fall lässt sie dich herzlich grüßen«, erzähle ich Nick. Warum, weiß ich nicht. Pan hat keine Grüße ausrichten lassen. Seit er in dieses Krankenhaus verlegt wurde, nur zehn Minuten Fußweg von unserem Haus entfernt, hat sie ihn kein einziges Mal besucht.

»Ich werde versuchen, etwas zu schreiben, während sie weg ist«, füge ich hinzu. Meine schriftstellerischen Ambitionen sind kein Geheimnis – meine Freunde und meine Familie wissen, dass ich für gewöhnlich ein unvollendetes Meisterwerk in der Mache habe (diese Angewohnheit habe ich von meiner Mutter geerbt, die seit Jahren an derselben grässlichen Geschichte schreibt). Was keiner weiß, ist, dass ich aufgehört habe, mir Dinge auszudenken, und jetzt lieber schreibe, was mich wirklich bewegt. Ein ganz und gar privates Unterfangen, das mich beruhigt, wenn ich zu nervös bin, um mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, und mir das Gefühl gibt, das Chaos in irgendeine Form zu bringen.

»Natürlich denkt sie, ich sollte einen lustigen Liebesroman schreiben«, erzähle ich Nick. »Ms Pandora Thorpes Vorstellung von Literatur besteht aus einem Haufen Vögelei und geschmackloser Witze, die zu Hochzeitsglocken führen. Sie meint, sie mag positive Storys, die ihr ein ›push-up‹-Gefühl geben. Tja, ich weiß nicht genau, was ich gerade schreibe, aber bei ›push-up‹ denke ich eher an BHs, und ich versuche nicht, jemandem ein positives Gefühl zu vermitteln. Es ist nichts auch nur annähernd Komisches an einem Koma. Das ist nur für meine Augen bestimmt – und für deine, wenn du wieder wach bist.«

Da bin ich an dem Morgen, an dem ich Nick zum ersten Mal begegne. Ich bin achtundzwanzig, hübsch auf eine unaufdringliche Art, mit hellbraunem Haar und braungrünen Augen. Etwas ungelenk schiebe ich mich in den Proberaum Eins, tief unten in den Eingeweiden des National Theatre, beladen mit Tasche, Manuskript und Kaffeebecher, als ein Mann, den ich nicht kenne, mir die Tür aufhält.

Er hat glattes dunkles Haar, eine lange dünne Nase mit kleinem Höcker und große, seelenvolle Augen. Sein scheues Lächeln betört mich. Seinen Namen erfahre ich erst, als wir zur ersten Leseprobe in einem Kreis aus Plastikstühlen sitzen. Das Ensemble ist groß, und Sam, der Regisseur, lässt uns alle unsere Namen sagen.

»Dominic Sedley«, sagt Nick, und unsere Blicke treffen sich.

Wir lesen »Wie es euch gefällt« – Shakespeare ist der König der Dramatiker, und wir sind schließlich das Nationaltheater. Ich bin die Zweitbesetzung der kleinen Rolle der Phöbe. Nick spielt – so richtig – den Silvius, er gehört zur Stammbesetzung. Es besteht strikte Klassentrennung zwischen der Erst- und der Zweitbesetzung, was ihm einen Hauch von Glamour verleiht.

Der Silvius ist keine große Rolle, aber Nick hat eine sehr angenehme Stimme – selbst, wenn er nur so dahinspricht, wie man das bei Leseproben macht, weil man noch nicht schauspielern soll. Ich sehe ihn immer wieder an, so wie man einen Mann ansieht, in den man sich verlieben könnte. Abgesehen davon ist mir ziemlich langweilig. Die Rolle der Rosalind spielt der Star einer Fernseh-Soap. Sie wird ihre Sache ganz gut machen, obwohl sie jetzt wie erstarrt ist, weil sie im National Theatre sitzt und Shakespeare liest, und daher fast unhörbar.

Ich befinde mich neben Rosa Parry, der Erstbesetzung für die Phöbe. Gemäß den Regeln des Theaters sollte ich als Zweitbesetzung eifersüchtig auf sie sein, aber ich mag Rosa, und sie ist gleichzeitig auch Zweitbesetzung für die Rosalind, also sitzen wir mehr oder weniger im selben Boot. Während ich immer wieder zu Nick sehe, beäugt Rosa nervös das Fernsehsternchen und kritzelt für mich auf ihr Manuskript: »Sie ist SO DÜNN!« Ich kritzele »Mini-Titten!« zurück, um sie aufzumuntern, da niemand bestreiten kann, dass Rosa diesbezüglich bestens bestückt ist.

Rosa hat außerdem eine große Klappe, mit der sie uns beide Nick später vorstellt – und zwar mittags in der Kantine, wo wir in der Schlange zufällig hinter ihm stehen. Er trägt diesen scheuen Neuer-Junge-am-ersten-Schultag-Ausdruck im Gesicht, den man leicht bekommt, wenn man sich in diesem großartigen Kulturmonument befindet.

»Hi, ich bin Rosa Perry – tut mir leid, deinen Namen habe ich vergessen –, und das ist Marnie Rivers.«

»Dominic Sedley.« Er lächelt, und seine schönen dunklen Augen sehen in meine.

Ich habe eine Schwäche für derart dunkle Augen, schwarz wie Melasse, glänzend und beunruhigend in seinem schmalen weißen Gesicht. Ich hoffe, Rosa denkt nicht, dass ich für ihn schwärme, was alles so billig machen würde. Ich bin von Natur aus sehr romantisch, und Nicks Augen lösen schlagartig Gefühle in mir aus.

»Du hast hier vorher noch nie gespielt, oder?«, will Rosa wissen. »Bilde dir noch kein Urteil über das Hauptgericht, bevor du nicht die heutigen Reste gesehen hast – die kommen vom Restaurant oben und sind manchmal richtig lecker.«

»Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft«, sagt Nick.

»Was?«

»Hamlet«, sage ich und stupse Rosa mit meinem Tablett in den Rücken. »Das Geback’ne vom Leichenschmaus gab kalte Hochzeitsschüsseln. Von diesem Typen … na, wie heißt er noch gleich? … Shakespeare!«

»Hach, du bist ja so eine Intellektuelle«, meint Rosa leichthin. »Ich kann mich an keine Zeile aus Stücken erinnern, in denen ich nicht gerade spiele – offen gestanden, habe ich genug Probleme, selbst WENN ich es tue.«

Jetzt sind wir damit beschäftigt, unser Essen auszusuchen. Rosa ist gierig und vergisst Nick, während sie ihr Tablett mit Frikadellen, Pommes, überbackenem Brokkoli und Apfelkuchen belädt. Das TV-Sternchen, das ein paar Plätze vor uns mit Salat und einer Flasche Wasser dasteht, wird sichtbar blass, als sie es sieht.

»Armes Kind«, murmelt Rosa ein wenig zu laut, »ich wette, sie hat seit Jahren keine ordentliche Mahlzeit mehr gegessen.«

Rosa hat ein gutes Herz und beschließt, das schlotternde Sternchen unter ihre Fittiche zu nehmen. Sie führt das Mädchen zu dem langen Tisch, den unsere Truppe mit Beschlag belegt hat (wir unterhalten uns gern mit Schauspielern anderer Produktionen, essen aber immer nur mit unseren eigenen Leuten), und beteiligt mich an ihren furchteinflößenden Versuchen, sie auszuhorchen. Das Mädchen heißt Lizzie. Sie hat einigen Aufruhr verursacht, als ihre Fernsehfigur ihren Ehemann umbrachte, und sie ist sehr hübsch – groß, naturblond und model-dünn –, aber so eingeschüchtert von diesem Ort, dass wir ihr vergeben. Nick sitzt am anderen Ende des Tisches, und ich höre fast auf, mir über ihn Gedanken zu machen.

Den Nachmittag verbringen wir mit Planungen für die Stellprobe (erste Bewegungsabfolgen, die ins Manuskript gezeichnet werden), und erst als wir um sechs entlassen werden, kann ich wieder mit ihm sprechen.

»Tja, tschüs dann«, sage ich. Nicht gerade originell – aber schließlich will ich ja auch nichts von ihm. Oder?

»Ja, tschüs«, erwidert er.

Auf meinem Nachhauseweg nach Gospel Oak laufe ich immer ein Stück. Ich bin nicht besonders sportlich, aber ich muss mich jeden Tag einige Male an der frischen Luft bewegen, sonst kann ich nicht denken. Gerade jetzt, wo ich den Großteil meiner Zeit in diesem unterirdischen Proberaum verbringe, ist das besonders wichtig. Manchmal nehme ich die U-Bahn von Waterloo bis Belsize Park, was dann etwa eine Viertelstunde von meiner Haustür entfernt liegt. Manchmal nehme ich auch den Vierer-Bus bis Dartmouth Park Hill und die Abkürzung durch den nächstliegenden Ausläufer des Hampstead Heath Park. Heute ist es der Bus, der in der Rushhour erträglicher ist. Er ist gerammelt voll, aber ich habe Glück und kann mir im oberen Stockwerk einen Platz ergattern.

Ich starre mit leerem Blick aus dem Fenster und überlege, was ich morgen anziehen werde. Nun, da bei der Arbeit die Möglichkeit einer Romanze besteht, reichen meine Jeans nicht aus. Ist meine weiße Bluse gewaschen? Falls ja und falls ich sie tatsächlich anziehe … ist das zu offensichtlich? Mein Sexleben gleicht momentan der Wüste Gobi – seit über einem Jahr gab es nicht mal etwas Lockeres. Seit meiner eher einseitigen Affäre mit einem unbedeutenden Stückeschreiber, noch auf der Schauspielschule damals, war ich nicht mehr richtig verliebt. Ich habe vergessen, wie es sich anfühlt und was genau man tut.

Pandora hält mich für ungewöhnlich – und ungewöhnlich gut dran –, weil ich im Allgemeinen nicht auf andere Schauspieler stehe. Das große Problem beim Sich-in-Schauspieler-Verlieben besteht darin, dass sie so gut darin sind, alle äußeren Anzeichen des Verliebtseins zu zeigen – Liebe, wie sie für den ersten Rang im Theater aussehen muss, oberflächlich, ohne Tiefgang. Die Liebe eines Schauspielers (wie ich Pan nach einer enttäuschenden Affäre am Sheffield Crucible Theatre einmal voll Bitterkeit erklärte) ist viel zu oft wie das Manna, das auf die Wüste fiel – fabelhaft, wenn frisch und heiß, furchtbar am Morgen danach.

»Je besser sie sind, desto mehr sind sie von sich eingenommen«, sagt Pan traurig (Pan vergöttert andere Schauspieler, und zwar in dem Maß, dass ich mich frage, ob dies vielleicht der Hauptgrund für sie war, zum Theater zu gehen). Mein erster Eindruck von Nick ist, dass er nicht zu diesen lobeshungrigen eitlen Pfauen gehört. Meiner Mutter – die immer wieder nachfragt, ob ich sicher bin, nicht lesbisch zu sein – würden seine bescheidene Art und sein unaufdringlich gutes Aussehen gefallen (die wirklich Schönen sind meist unerträglich).

Der Bus zuckelt durch verstopfte Straßen Richtung Norden. Als ich schließlich aussteige, blendet der warme Nachmittag gerade in den Abend über, und hinter mir verlässt noch jemand den Bus.

»Marnie.« Es ist Nick.

Wenn ein neuer Bekannter noch von Geheimnis umwittert ist, erscheinen Zufälle wie dieser wie ein Wunder. Sofort beginnt die Welt zu glitzern und zu schmunzeln. »Oh … ja, hallo!«

»Das sieht jetzt vielleicht so aus, als würde ich dir nachspionieren. Aber ich schwöre, ich habe bis eben nicht gewusst, dass du überhaupt in diesem Bus bist.«

Ich lächle. »Wohnst du hier in der Gegend?«

»Nicht direkt, aber auch nicht weit. South End Green.«

»Ich wohne in Gospel Oak. Komisch, dass ich dich noch nie bei Marks & Spencer gesehen habe.«

(Tut mir leid, aber der Beginn einer Romanze ist immer langweilig, wenn man nicht dabei war.)

Wir gehen zusammen durch die Straßen voller Herbstlaub.

»Du musst nicht mit mir gehen«, sage ich. »Ich mache noch einen Umweg, weil ich eine Flasche Champagner kaufen will.«

»Ach, ist schon okay. Die frische Luft tut mir gut. Ist der Champagner für einen speziellen Anlass?«

»Ja, meine Untermieterin Pandora hat Geburtstag.«

»Pandora? Doch nicht etwa Pandora Thorpe?«

»Kennst du sie?«

»O ja, ich kenne Pandora«, erwidert er. »Wir haben letztes Jahr zusammen gearbeitet, in Manchester.«

»Tatsächlich? Dann hast du den Skandal ja hautnah miterlebt, oder?«

»Ja«, sagt Nick. »Es war sehr unterhaltsam. Der alte Knabe hat komplett den Verstand verloren und kam plötzlich mit neuen Zähnen und Toupet an.«

Ich muss lachen, weil Nick auf eine so stille, witzige Art erzählt, die sehr charmant ist, und weil Pandoras Liebesleben ungemein unterhaltsam ist. Bei der Manchester-Affäre ging es um einen sehr berühmten älteren Schauspieler mit zig Exfrauen und einer Nase wie eine reife Pflaume. Meine Mutter, die seit ihrer Jugend für diesen Schauspieler schwärmt, hat die Geschichte sehr genossen – ich musste ihr tägliche Updates per Telefon liefern.

»Das Ganze hat viel mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als das Stück«, berichtet Nick. »Wir waren alle wie gebannt.«

»Wie ist er denn so? Ich habe ihn nie kennengelernt.«

»Sir Ronnie? Wir haben ihn immer ›Wachkoma‹ genannt, weil sich bei ihm nur eine Augenbraue bewegte.« Darüber müssen wir beide kichern – es geht doch nichts über Lästerei unter Schauspielern. Dann sagt Nick: »Ich habe nie erfahren, wie das Ganze endete. Wenn sie deine Untermieterin ist … Sehe ich das richtig, dass sie ohne ihn weiterleben musste?«

»Ja – seine Frau kannte das schon. Nach der Spielzeit dauerte es noch ungefähr einen Monat.«

»Ich bin froh, dass sie entschieden hat, nicht an gebrochenem Herzen zu sterben.« Sein Blick ist zärtlich und beunruhigend. »Sag ihr mal herzlichen Glückwunsch von mir.«

»Ach, komm doch zum Anstoßen vorbei.« Ich nutze die Gunst der Stunde. »Es liegt ja bei dir auf dem Weg.«

»Ich … das ist aber keine Party oder so was, oder?«

»Nein, nur ich und Pan und ihr Freund, und sie würde dich sicher gern sehen.« Ich füge noch hinzu: »Um die Wahrheit zu sagen, ist sie ein bisschen verschnupft, weil sie denkt, wir würden nicht genug Aufwand betreiben – es ist ihr Dreißigster.«

»Oh, dreißig«, sagt Nick, »das kann hart sein. Ich bin kurz nach Weihnachten dreißig geworden und war überrascht, wie viel es mir ausgemacht hat.«

»Ich habe sie noch nie so deprimiert erlebt. Letzte Nacht hat sie geweint, weil sie denkt, ihre Karriere sei vorbei und sie eine Versagerin – sie hatte jetzt eigentlich schon einen Oscar haben wollen.«

»Du bist noch nicht dreißig, oder?«

»Noch nicht«, sage ich. »Hast du dich wie ein Versager gefühlt?«

»Ich glaube nicht«, sagt Nick. »Eigentlich nur alt.«

»Komm trotzdem zum Anstoßen vorbei. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.«

»Wenn du sicher bist, dass ich nicht störe …«

»Ganz sicher.«

»Okay, danke. Ich werde eine zweite Flasche Champagner beisteuern.«

Wir gehen in den Supermarkt und kaufen jeder eine Flasche Champagner einer anständigen Marke (Cava oder Prosecco würde Pan keines Blickes würdigen). Der Rest unseres Wegs ist ein Spaziergang durch Hampstead Heath. Ich gehe auf dem Teerweg, den grünen Abhang des Kite Hill auf der einen, Nick auf der anderen Seite, und fühle mich plötzlich auf verrückte und alberne Weise glücklich.

»Marnie«, sagt er.

»Hmm?«

»Ich überlege gerade … Bist du nach dem berühmten Hitchcock-Film benannt?«

»Natürlich nicht. Warum sollten mich meine Eltern nach einer Kleptomanin benennen? Das ist die Kurzform von ›Mariana‹ … aus ›Maß für Maß‹.«

»Und dem Tennyson-Gedicht … Ich bin müde, müde, ich wollt’, ich wäre tot.«

»Das Lieblingsgedicht meiner Mutter. Sie war Englischlehrerin.«

»Ein schöner Name«, sagt Nick. »Und ich glaube, du gehörst zu den fünfundzwanzig Prozent der Schauspieler, die lesen. So wie ich.«

»Ich halte fünfundzwanzig für zu hoch. Die meisten sind Kulturbanausen wie Pandora, die nie was liest, außer wenn eine Rolle für sie dabei ist. Ich sage ihr ständig, sie sei ungebildet. Lesen, um sich ganz in etwas zu verlieren, ist ihr völlig fremd.«

»Das ist auch kein Konzept, mit dem sich Schauspieler wohlfühlen«, meint Nick. »Die meisten von uns haben das Gefühl, unsere Identität hängt am seidenen Faden und muss ständig neu bekräftigt werden – ich bin überzeugt, dass wir in erster Linie deshalb auf die Bühne wollen.«

Ich würde gern etwas erwidern, kann mich aber nicht erinnern, warum ich zum Theater wollte, und mag jetzt auch nicht darüber nachdenken. »War das für dich der Grund?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagt Nick. »Entweder das oder meine grundlegende Abneigung gegenüber richtiger Arbeit.«

Wir gehen auf die Fußgängerbrücke zu, die über die Bahnlinie führt, vorbei am Spielplatz und der Laufbahn.

»Machst du es immer noch gern?«, frage ich.

»Meistens – wenn ich gerade spiele. Die Zeiten dazwischen werden härter. Ich kann eigentlich nichts anderes. Ich habe versucht zu schreiben.«

»Ich auch.« Ich bin immer vorsichtig, wenn ich das verrate, und versuche, wie beiläufig zu klingen.

Nick lächelt. »Das habe ich mir gedacht. Ich weiß nicht, warum … also, eigentlich weiß ich es doch. Du bist eher der still beobachtende Typ.«

Still beobachtend? Ist das gut – oder findet er mich langweilig?

Ich wohne in einem der Häuser nahe der Fußgängerbrücke. Ich bin dort aufgewachsen – das Haus gehört meinen Eltern, die sich im Ruhestand nach Madeira verzogen haben. Es ist eine große, gediegene, gemütliche Doppelhaushälfte aus rotem Klinker, und der Unterhalt bereitet mir oft genug Kopfschmerzen. Die Instandhaltungskosten sind enorm und lassen sich durch den Schauspieler-Mindestlohn gerade eben decken, aber Mum erwartet trotzdem, dass ich Miete zahle und mich außerdem mit den endlosen Klempnerproblemen herumschlage. (Ich könnte hinzufügen, dass das typisch für sie ist; ihre Berechnungen waren von Anfang an falsch und beruhten hauptsächlich auf Phantasien. Ohne Pan und ihren Freund wäre ich in echten Schwierigkeiten.)

Pan hört den Schlüssel und kommt zum Eingang, um mich zu begrüßen, einen großen Strauß tiefroter Rosen im Arm. Sie weint, genau wie heute Morgen, aber diesmal strahlt sie dabei vor Glück.

Wenn sie so ist, hat Pandora wirklich etwas Strahlendes an sich. Sie reißt alle Energie eines Raumes an sich und versetzt dich in einen Zustand der Passivität, so dass du sie beobachtest wie jemanden auf einer Kinoleinwand. Sehr zu ihrem Leidwesen ist Pan keine klassische Schönheit – mit ihren knapp ein Meter achtzig ist sie zu groß und, ohne direkt dick zu sein, dennoch irgendwie zu kräftig. Sie ist wie eine Statue – irgend so eine edwardianische Frauenfigur in langen Gewändern, die ein Provinzrathaus auf ihrem Haupte trägt. Alles an ihr ist etwas zu … übertrieben: die eifrige laute Stimme, die selbstbewusst geschüttelte, blondgefärbte lange Mähne – und ihre unerschütterliche Überzeugung, sie sei die beste Schauspielerin ihrer Generation, um die ich sie seit unserer gemeinsamen Zeit an der Schauspielschule beneide.

»Nochmals herzlichen Glückwunsch«, sage ich. »Ich habe einen alten Bekannten von dir mitgebracht, und wir haben beide Champagner dabei.«

»Nicholas!«, kreischt Pan und nimmt Dominic in den Arm. »Das ist ja unglaublich!«

»Um Himmels willen«, beschwere ich mich, »er heißt Dominic. Du hast doch erst letztes Jahr mit ihm gearbeitet!«

»Oh, tut mir leid, Dominic Sedley – entschuldige, ich habe dich immer mit Nicholas verwechselt, oder? Zu meiner Verteidigung kann ich anführen, dass ich gerade unter Schock stehe.«

Pan hält mir eine Hand vors Gesicht. Ich brauche ein oder zwei Sekunden, bis ich den blitzenden Ring an ihrem Finger entdecke. Pan ist verlobt.

Ich weiß, was von mir erwartet wird, also umarme und küsse ich sie. Dann überlasse ich meine schwärmende Freundin unserem Gast und gehe in die Küche, wo ich den glücklichen Verlobten entdecke.

»Luke – herzlichen Glückwunsch!« Ich nehme ihn in den Arm und senke meine Stimme. »War das die für morgen angekündigte Überraschung?«

»Ja, aber ich habe mich doch für heute entschieden.« Auch er spricht verhalten. »Du weißt schon … nach diesem Morgen …«

»Ist das ein echter Diamant?«

»Bist du wahnsinnig? Natürlich! Denkst du, ich würde etwas anderes wagen?«

»Oh, Marnie, es war unglaublich romantisch!«, schmachtet Pan, als sie in die Küche stürmt. »Er tat so, als wäre er krank, und kam von der Arbeit nach Hause, dann ist er mit mir im Park spazieren gegangen, bis Kenwood House, und ich war total mies drauf, weil ich so alt bin … da zieht er plötzlich mit großer Geste diesen göttlichen Ring hervor.« Sie drückt ihm einen Liebende-Ehefrau-Kuss auf die Wange.

Das Tolle an Luke Mosse-Parker ist, soweit es Pan betrifft, dass er kein Schauspieler ist. Pan hat es satt, sich in Schauspieler zu verlieben. Luke hat einen echten Erwachsenen-Job in einer der großen Banken der Stadt, und wenn er auch nicht der Typ Banker ist, der Millionen scheffelt, wird Pans Mutter nicht ihre üblichen Einwände hinsichtlich »Perspektiven« anbringen können. Und auch meine Mutter, die liebend gern eine Tochter wie Pan gehabt hätte, wäre entzückt.

Ich bin begeistert; Luke ist mit meilenweitem Abstand der netteste Freund, den Pan je hatte. Er ist sehr groß und schlank, mit kurzen grauen Haaren und Brille und einer meist männlich-besorgten Miene. Irgendwann in grauer Vorzeit hatte er mal vorgehabt, anglikanischer Priester zu werden, aber dann änderte er seine Meinung und ging in die Stadt – von Gott zum Mammon, wie er es immer bezeichnet. Trotz der grauen Haare ist er erst sechsunddreißig. Er hat eine Wohnung in Clapham, die er aber vermietet, und wohnt stattdessen hier. Ich hoffe, das glückliche Paar hat nicht vor, mich zu verlassen – ich werde keinen anderen Untermieter finden, der Wasserhähne reparieren kann.

Luke macht eine Flasche Champagner auf. Als sie leer ist, nimmt er die nächste. Mein Kopf schwimmt vom Alkohol und von der Nähe zu Nick, in den ich mich mit jeder Sekunde mehr verliebe. Wäre ich ein Flittchen, denke ich, und müsste ihn bei der Arbeit morgen nicht sehen, würde ich ihn am liebsten ins Bett zerren. Wenn er seine Zurückhaltung ablegt, ist er wunderbar witzig – er führt Beethovens »Ode an die Freude« als Bollywood-Tanz vor, bei dem der gute alte Ludwig sich im Grabe umdrehen würde, und aufgeschrieben sieht es überhaupt nicht lustig aus, aber wir haben vor Lachen geschrien. Es ist einer dieser Abende, von denen man sich wünscht, sie würden ewig dauern.

Nick geht um Mitternacht, nachdem wir auch noch eine dritte Flasche Champagner und zwei Flaschen Rotwein geleert haben, den die Männer zusätzlich mit Schnapsgläsern voll zweifelhaftem Koch-Cognac hinunterspülten. Er wiederholt mehrmals, dass es ein verdammtes Glück sei, dass er nicht mehr Auto fahren muss. Ich bringe ihn zur Haustür und merke plötzlich, wie betrunken ich bin – es fühlt sich an, als müsste ich aufrecht in einem Ruderboot laufen.

»Ich bin total besoffen«, sagt Nick. »Ich habe mich köstlich amüsiert. Du bist …« Er hält inne und küsst mich, lang und intensiv. »Gutnacht.«

2. Kapitel

»Ich war vollkommen überwältigt«, erzähle ich ihm – ich erwähne diesen Moment oft. Irgendwie hoffe ich, dass das Heraufbeschwören unseres ersten sorglosen Freudentaumels seine Isolation durchdringt. »Ich glaube, in die Küche bin ich zurückgeschwebt. Pan warf mir vor, dich zu mögen, und meinte, sie würde wetten, dass du in mich verliebt wärst – als ich ins Bett ging, war ich im siebten Himmel.«

Ich halte inne, und die pelzige Stille kehrt zurück und hüllt mich ein. Ich lausche den Piepsern und dem Schnaufen des Beatmungsgeräts. Nicks Haar ist nicht mehr so wie früher. Ich strecke die Hand aus, um eine Strähne durch die Finger gleiten zu lassen – sauber, aber leblos. Es ist der einzige Teil von ihm, der tot aussieht.

»Aufgewacht bin ich allerdings nicht im siebten Himmel – ich hatte einen fürchterlichen Kater, so einen, wo einem alle Gelenke wehtun. Na, du weißt ja, dass ich nichts vertrage. Und wegen der reinen Zweitbesetzungs-Leseprobe am Vormittag hab ich dich erst mittags wiedergesehen. Weißt du noch, wie wir beide rot wurden, als wir uns trafen? Du Mistkerl hast kein Wort zu mir gesagt, was ich fast unerträglich fand. Du hast noch nicht einmal gelächelt.«

Ich unterbreche mich erneut, um Nicks Gesicht zu betrachten. Um das, was ich sehe, wie Nick aussehen zu lassen. Es ist mit ziemlich viel Zeug zugepflastert, einem ganzen Warenlager an Bandagen und Schläuchen. Ich blicke lieber auf den dunklen Schatten der nachwachsenden Barthaare auf seinen Wangen.

»Es ist Sonntag«, erzähle ich. »Ich habe mit Mum gesprochen. Mit Dad zu reden, habe ich auch versucht, aber du weißt ja, wie schrecklich er am Telefon ist. Er ist stocktaub, will es aber nicht zugeben. Mum dagegen … will über Gedichte sprechen. Genauer gesagt, will sie über Tennysons besten Freund Arthur Hallam sprechen. Wie du sicher weißt, ist Hallam überraschend an einer Hirnblutung gestorben, und durch seine Trauer wurde Tennyson zu dem Gedicht ›In Memoriam‹ inspiriert. Ja, genau: eine Hirnblutung. Sie sagte das zweimal, um sicherzugehen, dass ich es gehört hatte – na, du kennst sie ja. Ich sagte, warum hältst du mir Vorträge über viktorianische Poesie? Sie meinte, sie könne nicht anders, als es auf dich zu beziehen.

Ich wies darauf hin, dass Arthur Hallam an einer Hirnblutung gestorben sei, du aber nicht. Mum meinte, sie frage sich, ob Tennyson ›In Memoriam‹ auch dann geschrieben hätte, wenn sein Freund nicht tot gewesen wäre, sondern so wie du ins Koma gefallen. Sie meinte, wahrscheinlich nicht, weil dann nur so was wie ›Dein Schläuch’ sind heut’ so voller Schleim‹ herausgekommen wäre.«

Nick würde das gefallen. Er mag meine Eltern und kann sich über die gelegentlichen Taktlosigkeiten meiner Mutter amüsieren.

»Und nein«, füge ich hinzu, »sie weigert sich immer noch, eine Rückkehr nach London in Betracht zu ziehen, obwohl sie in einem Kuhstall leben und Dad ganz offenbar die Nase voll hat.«

Londons Sonntagsträgheit macht mich lethargisch. Ich habe nicht die Hälfte von dem geschafft, was ich heute tun wollte – läppische Dinge wie Waschen und Bügeln und sicherstellen, dass ich meinen Text für den morgigen Zweitbesetzungsdurchlauf von »Maß für Maß« kann.

»Ich schätze, ich gehe lieber«, sage ich mit Bedauern, als hätten wir eine sprühende Unterhaltung geführt. »Morgen früh ist der gefürchtete Textdurchlauf. Die Worte wollen mir neuerdings nicht so recht im Kopf bleiben.«

Ich erhebe mich und starre auf ihn hinunter. Plötzlich muss ich einen Anfall von Verzweiflung unterdrücken, der ohne Vorwarnung über mich hereinbricht. Die Tränen steigen hoch, und ich schlucke sie hinunter. Ich weine nicht. Wenn ich erst einmal anfange, kann ich nicht wieder aufhören (wie Tennyson sagen würde: Brich, tief Gefäß eiskalter Tränen, die Gram zu Frost gemacht!).

»Tut mir leid. Es ist nur so, dass manchmal …« Ich lasse mich wieder auf den Stuhl fallen. »Ich werde dir die Wahrheit sagen. Warum solltest du sie nicht hören, sofern du überhaupt irgendetwas hören kannst? Mum denkt, du bist tot und das hier sei eine sentimentale Farce. Sie sagt, ich solle meine Trauer durchstehen und dich gehen lassen. Warum sagen die Leute so was? Als würde ich dich gefangen halten. Mum sagt … und ich zitiere wörtlich: Warte nicht, bis er abgeschaltet wird, er könnte noch Jahre so liegen. Hinterher tat es ihr leid, sie meinte, sie hätte das wirklich nicht gern gesagt, wo sie dich doch so sehr mag, aber du seist eben nicht mehr du. Laut Mum hast du dich abgemeldet und das Gebäude verlassen, und ich schütte mein Herz in eine große Leere aus.« Ich spreche schnell, als würde ich Nick sagen hören, nun komm doch mal zum Punkt.

»Ich habe es dir gegenüber nie erwähnt, aber es ist nicht das erste Mal, dass sie das gesagt hat. Die Leute scheinen nicht zu wollen, dass ich weiter hoffe. Nick, wenn du noch da bist … irgendwo … wenn da noch ein winziges Fitzelchen von dir ist, das mich hören kann – bitte, versuch zurückzukommen.« Ich neige mich dicht an sein Ohr und senke die Stimme. »Ich wusste nichts von Liebe, bis ich mich in dich verliebt habe. Ohne dich zu leben, kann ich nur ertragen, wenn ich an die Möglichkeit glaube, dass du wieder aufwachst.«

Drei Tage nach dem betrunkenen Kuss bin ich allein im Haus. Pandora ist übers Wochenende nach Gloucestershire gefahren, um Lukes Eltern zu besuchen. Als sie gestern Morgen aufbrach, trug sie überraschenderweise Cordhosen, einen Seidenschal und eine Perlenkette, die sehr alt wirkte. Die Sachen hatte ich noch nie an ihr gesehen.

»Sie sah eins zu eins aus wie Prinzessin Anne«, erzähle ich meiner Mutter, als ich sie anrufe (übrigens rufe immer ich an, und zwar von einem Telefon, für das ich bezahle). »Sie hat dieses Bild, dass Lukes Eltern zum Landadel gehören, und das ist ihre Interpretation der erwünschten Schwiegertochter.«

»Sie würde eine hervorragende Edelfrau abgeben«, seufzt meine Mutter. »Werden sie die Hochzeit da draußen feiern?«

»Ich weiß es nicht, da musst du sie fragen.«

»Ich vermute ja mal, dass du Brautjungfer wirst.«

»Da vermutest du falsch«, entgegne ich. »Pan hat mir schon erklärt, dass ich zu dünn bin. Sie will nur Brautjungfern, die dicker und hässlicher sind als sie.«

»Was für ein Blödsinn, sie sieht doch umwerfend aus!«, erwidert Mum energisch und unbedacht (natürlich kann Pandora in ihren Augen nichts falsch machen). »Ich habe ihr gesagt, dass wir zur Hochzeit kommen werden. Was ist mit dir, mein Schatz?«

»Was soll mit mir sein?«

»Wie geht es dir? Wo bist du gerade?«

»In der Küche.« Es ist Sonntagmorgen. Ich trinke Kaffee und lausche der Leere des Hauses. Die Sonne scheint auf den verkrümelten Esstisch und verwandelt das Marmeladenglas in eine bernsteinfarbene Lampe. »Wo bist du?«

»Auf der Terrasse. Ich gieße gerade meine Kräuter. Das Meer ist herrlich blau.«

»Wo ist Dad?«

»Oh, der ist losgefahren, um irgendwo englische Zeitungen zu suchen. Und er meint, von einem Supermarkt gehört zu haben, der unser Lieblings-Puddingpulver aus England verkauft.«

»Er hat Heimweh«, sage ich.

»Blödsinn«, tut sie das ab. »Welcher vernünftige Mensch würde sich nach Gospel Oak sehnen, wenn er im Paradies leben kann? Wie läuft das Stück? Nie erzählst du was!«

»Wir haben gerade erst mit den Proben angefangen, da gibt es nicht viel zu erzählen.«

»Weißt du schon, was du tragen wirst?«

»Ich gehöre zu einer Gruppe Schäferinnen im Stil des achtzehnten Jahrhunderts.«

»Oh, wie reizend! Und was ist mit dem Mädchen, das in dieser Serie ihren Mann umgebracht hat? Taugt die was?«

Es klingelt an der Tür.

»Ich muss aufhören«, sage ich schnell. »Da hat jemand geklingelt.«

»An einem Sonntagmorgen? Das ist bestimmt nicht wichtig. Ich warte.«

»Nein«, entgegne ich bestimmt, während ich schon auf dem Weg zur Tür bin. (Ich spüre geradezu, wie dieser Anruf meinen Schauspieler-Mindestlohn wegfrisst …) »Bye – hab dich lieb. Grüße an Dad.«

Ich mache die Tür auf – und da steht Nick mit einem Blumentopf.

Ich habe nicht mit ihm gerechnet. Das ist die schönste Überraschung, die mir je passiert ist.

»Hi!« Ich kann meine Freude nicht verbergen und versuche es auch gar nicht.

»Ich wollte mich entschuldigen.«

»Wofür?«

»Ich war neulich Nacht ganz schön blau. Und dann habe ich dich betatscht.«

Ich werde rot. »Es war mehr ein Knutschen.«

»Na ja … ja. Also habe ich dir diese hübsche Begonie bei Marks & Spencer gekauft, um zu zeigen, dass ich mich auch benehmen kann.«

Es ist eine sehr hübsche Begonie, die Blüten aprikosenfarben mit rotem Rand. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, aber sie ist wunderschön«, sage ich. »Komm rein, ich hab gerade Kaffee gekocht.« Ich führe ihn durch den vollgestellten Flur, in dem der alte Drahtesel von Dad und Lukes ultramodernes Fahrrad stehen sowie ein Meer von Stiefeln aus grauer Vorzeit.

»Die Küche gefällt mir«, sagt Nick. »So heimelig.«

»Wenn meine Eltern tot wären«, sage ich, »wäre dies ein fast gruseliger Schrein für sie. Tatsächlich leben sie auf Madeira.«

Er steht vor der Korkpinnwand. »Sind sie das da?« Er deutet auf das große Foto, das ich vor drei Sommern aufgenommen habe: ein Pärchen armer Irrer in mittlerem Alter und unvorteilhaften Shorts, die vor dem sonnenhellen Meer stehen und grinsen. »Die sehen nett aus.«

»Sie sind nett.«

»Meine sind beide tot. Du bist zu beneiden.«

»Oh, das tut mir leid.«

Nick lächelt mich an und setzt sich zu mir an den Tisch. »Ist schon okay, das ist viele Jahre her, und ich komme damit klar. Ich vergesse nur manchmal, dass andere Leute ihre Eltern noch haben. Wo sind deine Untermieter?«

»Übers Wochenende weggefahren.«

»Ich dachte mir schon, dass es verdächtig ruhig ist. In Manchester hatte ich die Garderobe direkt neben Pandoras, und da war es niemals langweilig. Bist du von Natur aus ein stiller Mensch, oder kommt das, weil du mit so jemand Lautem zusammenwohnst?«

»Meine Mutter ist auch ziemlich laut.« Ich schenke ihm Kaffee ein.

»Hm, schmeckt gut«, sagt er. »Ist das wirklich okay wegen … du weißt schon … neulich Nacht?«

Ich will nicht, dass er mich für eine verschmähte Jungfer hält. »Natürlich ist das okay. Wir waren doch alle sturzbetrunken.«

»Gott, ja, das ist das richtige Wort! Du hättest mich sehen sollen, wie ich nach South End Green zurückgetorkelt bin – so voll war ich schon lange nicht mehr. Und am Morgen hab ich mich gefühlt wie faulendes Fallobst.«

»Ich auch«, erwidere ich. »Ich vertrage nicht viel.«

»Das schlimmste war dann mein schlechtes Gewissen.« Nicks Augen sind wunderschön. »Ich hatte Angst, ich hätte meine Chance bei dir vertan. Du bist umwerfend. Mit den Umwerfenden vermassele ich es immer.«

»Du hast es nicht vermasselt. Du kannst es gerne wieder tun, wenn du willst.« Ich sage das leichthin, damit es auch als Witz durchgehen kann, falls er es witzig gemeint hatte, aber das hatte er nicht.

Eine Stunde später liegen wir Rotwein trinkend in meinem Bett.

»Das wollte ich schon von dem Moment an machen, als ich dich das erste Mal sah«, sagt Nick. »Wahrscheinlich hast du gleich bemerkt, dass ich den Blick nicht von dir lassen konnte. Ich habe mir alle möglichen ausgefeilten Pläne zurechtgelegt, um mit dir allein zu sein, nur damit ich deinen Mund beim Sprechen beobachten kann. Deine Augen strahlen, deine Stimme ist wie Flötenklang. Ich wollte dich zum Abendessen einladen. Wirst du trotzdem noch mit mir essen gehen, obwohl du mich schon nackt gesehen hast?« Irgendwo klingelt sein Handy. Nick stöhnt leise. »Oh, verdammt.«

In diesem Moment fällt mir ein, dass ich überhaupt nichts von ihm weiß, und da er Schauspieler ist, könnte das auch seine Freundin sein. Aber er sagt: »Das wird meine Schwester sein. Sie wohnt gerade bei mir. Ich habe ihr gesagt, ich gehe nur mal schnell zu einem Freund. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich mich verlieben würde.«

»Hast du das?«, frage ich. »Passiert dir das häufig?«

»Nein … Schau her: Ich bin nicht der Sir-Ronnie-Typ von Schauspieler. Das ist es, was du beim Klingeln gedacht hast, oder? ›Oh, Scheiße, das ist seine Frau!‹«

Ich muss lachen. »Ich weiß immer noch nicht, ob sie es war oder nicht.« Ich befinde mich im Stadium dümmlicher Zufriedenheit und bin nicht wirklich misstrauisch. Pandoras Maxime geht mir durch den Kopf, dass es beinahe unmöglich ist, sich nicht in einen Mann zu verlieben, der einen beim ersten Mal zum Orgasmus bringt. Nach dieser Maßgabe bin ich bereits heftig verliebt.

»Es gibt keine Frau«, sagt Nick. »Von meiner letzten Freundin habe ich mich vor einigen Monaten getrennt und lebe derzeit als echter Single. Abgesehen davon, dass ich zu den fünfundzwanzig Prozent der Schauspieler gehöre, die Bücher lesen, gehöre ich auch zu den fünf Prozent, die nicht wild durch die Gegend vögeln – nicht mal auf Tourneen.«

»Moment mal«, sage ich. »Jeder vögelt auf Tourneen – das zählt noch nicht mal als Untreue.«

Er grinst. »Tust du das? Sei ehrlich.«

»Nein, aber das kommt womöglich daher, dass ich noch nie mit jemand Attraktivem auf Tournee war.«

»Ich wüsste nicht, dass das jemals jemanden abgehalten hätte.« Nick nimmt mir das Glas ab und zieht mich in seine Arme. Ich bin wie betrunken von dem Gefühl seiner warmen nackten Haut auf meiner. »Marnie«, sagt er, »das war wirklich meine Schwester. Sie heißt Francesca und wohnt zurzeit mit ihrem Mann und ihrem Baby bei mir in der Wohnung. Klingt das ehrenhaft genug?«

»Sehr.«

»Jetzt musst du mir noch sagen, dass bei dir kein eifersüchtiger Anderer im Hintergrund lauert.«

»Nein, keiner.«

»Weil ich glaube, dass ich mich tatsächlich gerade in dich verliebe, und ich muss sicher sein.«

»Oh, da kannst du ganz sicher sein«, murmele ich in seine Halsbeuge. Als ob irgendein anderer Mann in der Welt es mit ihm aufnehmen könnte! Ich bete ihn an. Er fährt mit den Fingern über meine Wirbelsäule, und ich spüre die Resonanz in meinem Körper wie bei einem Instrument.

»Warte mal«, meint er. »Mir fällt da was ein: Pandora will bestimmt wissen, wie viele Punkte ich auf dem Wonnometer erreiche.«

»O Gott, du weißt von dem …?«

»Ich hab dir doch gesagt, ich hatte die Garderobe nebenan. Sir Ronnie bekam acht, soweit ich weiß.«

»Am Ende wurde er aber auf zwei runtergestuft.«

»Was gibst du mir?«

»Eine Neun.«

»Neun? Warum keine Zehn?«

»Eine Zehn kriegt keiner – eine Zehn ist so wahnsinnsphantastisch, dass es einen umbringt.«

Nick schiebt sich auf mich. »In diesem Falle … sei gewahr, dass dein Untergang naht.«

3. Kapitel

Wenn ich an Nicks Bett sitze, kann ich nicht an Sex denken – nicht, weil es in moralischer Hinsicht falsch erscheint, sondern weil das Ganze so abwegig und unmöglich geworden ist. Hat dieser weiße Körper je auf meinem gelegen? Hat er geseufzt und gestöhnt und Lust empfunden? (Wahrlich, können diese bleichen Knochen leben?)

Der Nachmittag draußen ist warm; ich bin auf dem Weg zum Theater, wo ich als Teil einer fleißigen, Möbel rückenden Gruppe im Zweitbesetzungsensemble von Ben Jonsons »Bartholomew Fair« spiele (der Produktion vor »Wie es euch gefällt«, bevor ich Nick kennenlernte). Ich bin wahrscheinlich die einzige Schauspielerin der Welt, die es aufrichtig genießt, Teil einer Gruppe zu sein – es ist geistig anspruchslos, und die elisabethanischen Tänze, die wir in dieser Inszenierung aufführen, machen ziemlich viel Spaß.

»Es ist ein schöner Tag heute«, erzähle ich Nicks Lidern (dem am leichtesten ansprechbaren Teil von ihm). »Wenn du wach wärst, würde ich den Abend mit dir verbringen wollen – am Kenwood House ist heute ein Open-Air-Konzert. Weißt du noch letztes Jahr? O Gott, unvorstellbar! Wir haben fast den Jahrestag dieses bedeutsamen Abends erreicht! Und noch unvorstellbarer ist, dass du vielleicht gerade irgendwo bist, wo du dich nicht daran erinnern kannst.«

Ich betrachte seine Augenlider genauer. »Das Bild muss doch irgendwo herumschweben: Wir vier beim Picknick auf der Wiese vor dem schönen weißen Haus … Beethoven und Garnelencocktail … das Orchester ein paar Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Sees. Ich habe neben dir im Gras gelegen und zu den Sternen geschaut. Du hast meine Hand gehalten. Du hast mir zugeflüstert, du wärst noch nie so glücklich gewesen. Und du hast uns alle ständig zum Lachen gebracht, du warst ein Feuerwerk an Esprit.«

Ich lasse das schöne Bild zwischen uns in der Luft hängen und wünschte, ich könnte es ihm schicken, wo immer er auch sein mag.

»Für mich war alles perfekt – ich war so schrecklich in dich verliebt, und es war so romantisch … obwohl es eigentlich nicht perfekt war, weil Luke und Pan nicht aufhören konnten, sich gegenseitig anzunörgeln, und der Korkenzieher ist durchgebrochen, und du musstest einen von den Leuten neben uns ausborgen. Ehrlich gesagt habe ich nie verstanden, was in dieser Nacht in dich gefahren ist – mir gegenüber warst du ausgesprochen lieb, aber Luke hast du geradezu gequält, so wie du vorgespielt hast, Pan anzugraben.

Und weißt du noch, wie wir auf dem Nachhauseweg getrennt wurden? Im Park war es stockfinster, und keiner von uns hatte an eine Taschenlampe gedacht. Luke und ich merkten plötzlich, dass wir einem bescheuerten Mann hinterhergelaufen waren, der uns immer im Kreis führte, und als wir endlich nach Hause kamen, meinte Pan, wir sähen aus wie nach vierzig Tagen in der Wüste. Sie hatte sich den Daumen verbrannt bei dem Versuch, den Weg mit einem Feuerzeug auszuleuchten, und abgesehen von deinen ganzen anderen schweren Verfehlungen warst du in Hundescheiße getreten. Sie musste deine Schuhe in den Garten stellen, wo sie dann Ewigkeiten stehen blieben. Du hast dich anscheinend so scheußlich verhalten, dass du ein kleines Vermögen in Wiedergutmachungsblumen investieren musstest – Pan hat mir bis heute nicht genau erzählt, was du alles angestellt hattest.«

»Marnie, hi!« Karel, der netteste aus der Schwadron von Ärzten, die Nick am Leben erhalten, kommt ins Zimmer. »Ich hatte gehofft, dass ich Sie treffe. Wie geht es Ihnen?«

Er ist Anfang dreißig, klein, dunkel und stämmig, stark behaart und aufreizend gesund. Seine Eltern stammen aus Tschechien, und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich seinen komplizierten Nachnamen nie richtig aussprechen kann. Es gefällt mir, dass er immer freundlich und so wenig sentimental ist.

»Hallo, Karel.« Früher hat es mir was ausgemacht, wenn er mich beim Erzählen irgendwelcher persönlichen Einzelheiten überraschte, jetzt nicht mehr.

Mit distanzierter Sorge studiert er die Anzeigen der Geräte. »Ich werde Ihnen nicht erzählen, wie es ihm geht«, erklärt er. »Das wissen Sie mindestens ebenso gut wie ich.«

»Weder besser«, sage ich, »noch schlechter.« Ich würde gern hinzufügen, dass ich das Gefühl habe, ihn zurückzulassen, und nicht weiß, wie ich es aufhalten soll. Manchmal wünschte ich, ich könnte ihm in die Unterwelt folgen (oder in die Zwischenwelt, wenn das der Ort ist, an dem er sich aufhält), wie Orpheus.

»Und wie geht es Ihnen?«

»Oh, mir geht’s gut.«

»Im Ernst, Marnie«, sagt Karel. »Wie geht es Ihnen? Das ist keine leichte Aufgabe, der Sie sich hier stellen.«

»Es ist viel leichter, seit er hierherverlegt wurde. Ich wohne nur ein Stück die Straße runter.«

»Seien wir ehrlich: Es hat keine Veränderungen gegeben. Ich weiß, Sie wollen das nicht hören … aber es wäre vielleicht an der Zeit, langfristig zu denken.«

»Wie meinen Sie das?« Ich fühle, wie sich meine Kehle zuschnürt. Er kommt meiner schlimmsten Angst sehr nahe.

Nicht wenige Patienten mit Hirnblutung erlangen in den ersten Monaten das Bewusstsein wieder. Als es Nick passierte, war ich mir sicher, er werde zu diesen Menschen gehören. Aus einem Monat wurden zwei, dann drei. Nach sechs Monaten ist die Wahrscheinlichkeit der Genesung sehr viel geringer, und nach einem Jahr liegt sie fast bei null. Wir sind jetzt weit über die sechs Monate hinaus, und obwohl ich fest entschlossen bin, weiterhin positiv zu denken, lauert die Zukunft vor mir wie ein aufragender Eisberg im Nebel. Meine schlimmste Angst ist, dass sie es leid werden, auf ihn zu warten, und ihn einfach abschalten.

»Ich sage nur«, fährt Karel fort, »dass wir allmählich auch an die Zukunft denken müssen. Wir sprechen da vielleicht von Jahren.«

»Ja, natürlich«, erwidere ich automatisch – und füge stumm hinzu, dass wir auch von Tagen sprechen könnten.

Ernst betrachten wir Nicks regloses Gesicht, das durch die Bandagen und Schläuche entstellt wird, als wäre er selbst ein Teil der Geräte.

»Vielleicht möchten Sie mit seiner Familie sprechen«, sagt Karel – so sanft wie möglich, aber ich empfinde es trotzdem als brutal. Ich bin nicht die offizielle nächste Angehörige meines geliebten Freundes.

Die Haustür wird zugeschlagen. Pandoras Stimme ertönt: »Marnie!«

Es ist fast sieben. Nick und ich haben es zwar aus dem Bett geschafft, aber wir sind immer noch erkennbar postkoital – barfuß auf dem Sofa mit einem romantischen Snack aus Brot und Käse. Ich merke, dass ich dümmlich grinse.

»So, so«, meint Pan, »was haben wir denn da?«

»Hi, Pandora«, sagt Nick, »wie war das Wochenende?«

»Herrlich – das echte Land lässt den Park hier klein und schäbig aussehen. Luke lädt gerade alle möglichen Naturprodukte aus dem Wagen, und während er noch dabei ist, warne ich euch dringend davor, den Rhabarberwein zu trinken – seine Mutter macht ihn selbst, und er schmeckt fürchterlich.«

»Hat er viel zu tragen? Ich helfe ihm.« Nick zieht Schuhe an und geht nach draußen.

Als wir allein sind, frage ich: »Wie war es wirklich?«

»Mach dir keine Gedanken«, meint Pan munter. »Du hattest Sex.«

»Vielleicht …« Ich grinse.

»Wonnometer?«

»Neuneinhalb – ich bekomme gerade noch Luft.« Ich nehme die vollgekrümelten Teller und das Käsebrett und trage sie in die Küche zurück.

Pandora eilt mir nach. »Oh, du Glückliche! Ich hab fast gar keinen Sex gehabt … Luke ist ja so schon ziemlich gehemmt, aber im Haus seiner Eltern ist er vollständig prüde geworden. Ist das … du weißt schon … richtig ernst mit dir und Nick?«

»Ach komm, wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.«

»Dumme Frage«, antwortet Pan selbst. »Du könntest keinen unverbindlichen Sex haben, selbst wenn dein Leben davon abhinge. Und du strahlst total.«

»Ich strahle?«

»Tu nicht so, als ob du nicht wüsstest, was ich meine. Du leuchtest von innen, als hättest du eine Lampe verschluckt. Deine Augen glänzen. Hatte ich nicht gesagt, du würdest dich wieder verlieben?«

»Ich hatte ganz vergessen, wie wunderbar sich guter Sex anfühlt«, gebe ich zu. Ich betrachte Pandora genauer. »Was, um alles in der Welt, trägst du da eigentlich?«

»Das hier?« Sie blickt auf ihre brandneue marineblaue Wachsjacke. »Die hab ich gestern gekauft, als wir in Cirencester waren.«

»Ich dachte, du wärst pleite.«

»Bin ich auch.«

»Die Jacke sieht teuer aus.«

»Ja, aber das ist eine echte Cutler & Hilditch, und die wird ewig halten – Joan hat ihre schon seit Urzeiten.«

»Lukes Mutter.«

»Ja.« Pandora scheint mir auszuweichen, und ich ahne, dass sie was verheimlicht. Bevor ich sie ins Kreuzverhör nehmen kann, kommen Nick und Luke herein. Sie schleppen Pappkartons, die sie auf dem Tisch abstellen.

»Tut mir leid, ohne das Zeug wollte Mum uns nicht gehen lassen«, meint Luke entschuldigend. »Das sind Chutney und Marmelade und andere Überreste vom Dorffest.«

»Und köstlicher Rhabarberwein«, sagt Pan und verzieht hinter seinem Rücken das Gesicht.

»Hör auf, hinter mir Grimassen zu schneiden«, sagt Luke. »Ich weiß genau, was du davon hältst.«

Sie lacht und wuschelt ihm durch das kurze, adrett geschnittene graue Haar. »Luke ist sauer, weil ich seinen Vater um ein paar Flaschen des Weins gebeten habe, den wir mitgebracht hatten. Hätte ich nicht gefragt, hätten wir den nie wiedergesehen.«

»Sie trinken eigentlich kaum Alkohol.«

»Du sagst es.« Pan dreht den Korken aus einer Rotweinflasche. »Da wurde großes Hallo um einen Drink vor dem Essen gemacht, und dann kriegten wir Sherry in Gläsern, klein wie Fingerhüte. Meine Eltern wären in Tränen ausgebrochen!«

Luke schmunzelt, aber ich spüre eine gewisse Spannung und freue mich schon auf Pandoras unzensierten Bericht über das Wochenende.

»Ich sterbe vor Hunger«, sagt Pan. »Habt ihr zwei Turteltäubchen schon an Abendessen gedacht?«

Luke seufzt. »Nach dem üppigen Essen bei uns?«

»Ich habe nicht so viel gegessen wie du – ich fand den Rhabarberkuchen etwas zu schwer. Warum bestellen wir uns nicht indisches Curry oder etwas anderes, das nicht vom Komposthaufen deiner Mutter stammt? Nick, du bleibst doch noch, oder?«

»Liebend gern«, antwortet er mit einem hintergründigen Lächeln in meine Richtung (das Pandora natürlich nicht entgeht).

»Was ist mit deiner Schwester?«, frage ich. »Wird sie nichts dagegen haben?«

»Auf keinen Fall! Die sind froh, wenn sie die Wohnung mal für sich haben.«

»Prima, dann wäre das ja geklärt«, meint Pan. »Luke, Schatz, du wirst meine Portion bezahlen müssen, aber ich verspreche, dass das jetzt kein typisches Muster für unsere Ehe wird.«

»Oh, das wird es bestimmt«, sagt Nick. Er lächelt Pandora an, aber mit einer gewissen Schärfe, als würde er sie nicht besonders mögen. Wie geht es mir dabei? Einerseits ist sie meine beste Freundin und Seelenverwandte, und ich will, dass Nick sie mag; andererseits fühle ich mich fast ein bisschen beruhigt, dass er sie nicht so toll findet … ausnahmsweise mag mich mal jemand lieber. Pans Art von Schönheit ist vielleicht gerade nicht in Mode, aber seit unserer ersten Woche an der Schauspielschule muss sie die Kerle quasi mit Stöcken abwehren, wobei ihre Liebesgeschichten in der Regel nicht lange dauern. So lange wie Luke ist noch keiner geblieben.