Ein Jahr zum Vergessen - Klaus Zierer - E-Book

Ein Jahr zum Vergessen E-Book

Klaus Zierer

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Beschreibung

Eine der derzeit drängendsten Fragen zu den Folgen der Coronapandemie lautet: Welchen Einfluss haben Schulschließungen mit Distanzunterricht auf die Bildung der Millionen Schülerinnen und Schüler? Aussagekräftige Untersuchungen dazu werden hierzulande zu selten durchgeführt, vergleichende Leistungserhebungen gibt es kaum. Und dort, wo sie geplant waren, werden sie sogar noch abgesagt. So drängt sich die Frage auf, ob die Verantwortlichen überhaupt wissen wollen, was die Schulschließungen angerichtet haben.  Der Erziehungswissenschaftler und Professor für Schulpädagogik Klaus Zierer hat daher eine Analyse der vorliegenden Daten aus vergleichbaren Ländern vorgenommen und kommt zu alarmierenden Befunden. Homeschooling und Unterrichtsausfall haben teilweise verheerende Auswirkungen nicht nur auf den Bildungsstand, sondern auch auf die körperliche und emotionale Verfassung von Schülerinnen und Schülern. Klaus Zierer erarbeitet konkrete Vorschläge, für die es höchste Zeit ist, soll eine Bildungskatastrophe abgewendet werden.

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Klaus Zierer

Ein Jahr zum Vergessen

Wie wir die drohende Bildungskatastrophenach Corona verhindern

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © maroke/shutterstock

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timişoara

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82585-9

ISBN E-Book (E-PDF): 978-3-451-82583-5

ISBN Print: 978-3-451-07228-4

Inhalt

Vorwort

1. Die Coronapandemie und die Maßnahmen gegen sie aus pädagogischer Sicht

Schulschließungen als Bildungskatastrophe?

Die Bildungskatastrophe der 1960er Jahre – und die Lehren daraus

Wovon reden wir eigentlich? Bildung – Bildungsungleichheiten – Bildungsgerechtigkeit

2. Das Leiden von Kindern und Jugendlichen in der Coronapandemie

Der Rückgang der Lernleistungen

Die psychischen Belastungen

Die körperlichen Defizite

3. Ansätze zur Abwehr der drohenden Bildungskatastrophe

Strukturen schaffen

Menschen stärken

Unterricht professionalisieren

4. Schule neu denken – Grundsätze der Bildung nach Corona

Schule für epochaltypische Herausforderungen rüsten: Weniger PISA, mehr Bildung

Mehrere Antworten auf die zentrale Frage finden: Was ist eine gute Schule?

Die Abwendung der pädagogischen Klimakrise: Freude wird zum Leitmotiv

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Das vorliegende Buch habe ich vornehmlich aus der Sicht eines Professors für Schulpädagogik geschrieben, aber auch als ehemaliger Lehrer und als Vater von drei Kindern. Die Coronapandemie hat gesamtgesellschaftlich vieles verändert und gerade die Familien gefordert. Mehr als jemals zuvor sind sie zum Zentrum für Bildung geworden.

Was ich selbst in den letzten Monaten erlebt habe, hat mich immer wieder angespornt, in der Tagespresse Stellung zu nehmen und mich in die öffentliche Meinungsbildung einzubringen. Meines Erachtens wurde zwar viel über die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie diskutiert, aber nicht aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen. Bis heute sind sie für mich jener Teil der Gesellschaft, der zu wenig Gehör findet. Daran ändern auch die immer wieder zu vernehmenden Lippenbekenntnisse von politischer Seite nichts.

Wenn ich auf meine drei Kinder blicke – Quirin geht in die erste Klasse, Zacharias macht gerade seinen Übertritt und Viktoria besucht die sechste Klasse –, dann erfüllt es mich mit Sorge, dass sie in den letzten zwölf Monaten mehr Zeit zuhause verbracht haben als in der Schule. Wie soll ein junger Mensch sich entwickeln können, wenn er von der Außenwelt abgeschottet werden soll, von Freunden isoliert wird, immer wieder in Quarantäne muss und all das, was das Leben lebenswert macht, nicht tun darf? Lernen zuhause ist eine Herausforderung und kann Schule nicht ersetzten. Zu sehr fehlen die Kraft der Gleichaltrigen, ja auch die Kraft der Lehrpersonen und die Kraft der Schule.

Wir sind als Familie nicht gefallen, aber des Öfteren gestrauchelt. Die Coronapandemie hat das familiäre Gefüge immer wieder erschüttert. In diesen Momenten habe ich mir vorgestellt, wie es Familien gehen muss, die nicht die Voraussetzungen haben wie wir: Familien, die keine pädagogischen Vorkenntnisse mitbringen, die kein gesichertes Einkommen haben, in denen beide Elternteile arbeiten müssen, die in der engen Stadt leben und nicht auf dem weiten Land, die täglich um ihre Existenz kämpfen müssen und die Pflegefälle im engeren Umfeld haben. Das Klima der Sorge muss in diesen Familien um ein Vielfaches größer sein und im schlimmsten Fall zu einem Klima der Angst werden. Wem dieser Perspektivenwechsel nicht gelingt oder, schlimmer noch, wen er kaltlässt, der sollte nicht in die Politik gehen. Denn die damit verbundene Frage der Bildungsgerechtigkeit ist eine der Kernfragen der Demokratie. Fällt sie politischem Geplänkel zum Opfer, so droht auch der Demokratie ein Ende. Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf bestmögliche Bildung. Man wird nicht als Bildungsverlierer geboren, man wird zum Bildungsverlierer gemacht. Kein Mensch darf zurückgelassen werden.

Das Bildungssystem hat es bis heute nicht geschafft, Lösungen anzubieten, wie diese politische Maxime umgesetzt werden kann. Dabei war man nicht tatenlos, und es wurde viel Geld in das Bildungssystem gesteckt. Aber wie so oft wurden die damit finanzierten Maßnahmen nicht zu Ende gedacht, so dass vieles schnell verpuffte. Häufig wurde nur das Oberflächliche in den Blick genommen, aber nicht in die Tiefe geschaut. Das digitale Aufrüsten der Kinderzimmer mit Endgeräten ist so ein Beispiel: Weder ist es Garant für Bildungserfolg, noch darf es ohne pädagogische Begleitung passieren. Dabei spreche ich bewusst vom Bildungssystem, denn es geht nicht nur um die Bildungspolitik, nicht nur um die Schulen, nicht nur um die Lehrpersonen. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und alle Bürgerinnen und Bürger eines Landes tragen Verantwortung für die nächste Generation.

So sind heute Kollateralschäden der Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie deutlich sichtbar, und sie treffen Kinder und Jugendliche besonders hart. Ohne Zweifel sind die Lernleistungen zurückgegangen. Ebenso hat die körperliche Verfassung Schaden genommen, und auch die psychosoziale Entwicklung hat gelitten. Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist ebenso angezählt wie ihre Bildung. Wir müssen anerkennen, dass Kinder und Jugendliche die Leidtragenden der Krise sind.

Die Coronapandemie hat das Bildungssystem erschüttert und gleichzeitig bekannte Schwachstellen in einer dramatischen Art und Weise offengelegt. Wir stolpern aus bildungspolitischer Sicht durch diese Krise und schaffen es nicht, Kindern und Jugendlichen eine Bildungsperspektive zu geben. Man kann sich des Eindruckes kaum erwehren, dass die Bildungspolitik hiervor die Augen verschließt – sowohl vor den Kollateralschäden als auch vor den bekannten Schwachstellen. Die Verantwortung der älteren Generation für die jüngere Generation verbietet ein solches Wegschauen. Es ist Zeit für einen Weckruf.

Die Bildung von Kindern und Jugendlichen ist nicht nur die wichtigste Ressource eines Landes. Die nächste Generation ist das Wertvollste, was eine Gesellschaft hervorbringt. Kinder und Jugendliche gehören niemandem. Vielmehr übergeben wir ihnen diese eine Welt, wie wir sie von unseren Müttern und Vätern übernommen haben und meist nach bestem Wissen und Gewissen gestaltet haben. Es ist also unsere Verantwortung, wie wir Kinder und Jugendliche in diese eine Welt führen. Wir brauchen ein Klima des Vertrauens und Zutrauens, ein Klima der Geborgenheit und Freude, ein Klima, in dem der Mensch nicht nur aus einem Kopf besteht, sondern auch aus einem Leib und einer Seele, ein Klima, in dem die kognitive Leistung, so wichtig sie auch ist, nicht über allen anderen Dimensionen des Menschen steht. Wir brauchen ein Klima, in dem das soziale Miteinander wichtig ist, in dem der Mensch mit all seinen Möglichkeiten einen Platz bekommt, Gehör findet und mit allen zur Verfügung stehenden Kräften unterstützt wird.

Vor diesem Hintergrund ist dieses Buch entstanden. Es ist vor allem für alle Kinder und Jugendlichen sowie ihre Familien geschrieben, die in der Coronapandemie gespürt haben, wie ein Bildungssystem ins Wanken gerät und der Zeit hinterherhinkt. Ebenso richtet es sich an alle, die in bildungspolitischer Verantwortung stehen oder Teil des Bildungssystems sind. Vielleicht gelingt es dem Buch, die Perspektive der Lernenden zu vermitteln. Denn nur aus ihren Augen lässt sich ein Bildungssystem sinnvoll reformieren.

Erfreulicherweise erreichten mich auf meine Beiträge in der Tagespresse hin viele Zuschriften; neben wenigen kritischen Stimmen, die immer willkommen sind, vor allem viel Zustimmung. Diese ermutigte mich, an die Ausarbeitung des vorliegenden Buches zu gehen. Für die Möglichkeit einer zügigen Publikation danke ich Patrick Oelze vom Herder Verlag, der mich von Anfang an mit Begeisterung und Tatkraft begleitete. Der Titel stammt übrigens von Paul Munzinger, seines Zeichens Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Er hat diesen für einen meiner Beiträge gewählt: Ein Jahr zum Vergessen. Dieser Titel machte die Runde, und ich danke Paul Munzinger für seine Kreativität und seine Zustimmung zur Titelübernahme. Die Doppeldeutigkeit ist es, die vielen Menschen aus der Seele gesprochen hat: Ein Jahr zum Vergessen, weil Kinder und Jugendliche, Eltern und auch Lehrpersonen das letzte Jahr gern hinter sich lassen würden und nicht mehr daran erinnert werden wollen. Zu schwer, zu herausfordernd, zu belastend waren viele Situationen. Und auch ein Jahr zum Vergessen im Hinblick auf die Bildung. Kinder und Jugendliche haben vieles vergessen. Lernrückstände sind deutlich erkennbar, körperliche Defizite lassen sich nicht vertuschen und auch die soziale Entwicklung hat Schaden genommen durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie.

So treffend die Zuspitzung des Titels auch ist, ich möchte nicht auf der Ebene des Alarmismus und der Ohnmacht stehen bleiben. Vielmehr ist es mein Anliegen, nach vorne zu schauen. Als Schulpädagoge bin ich fest davon überzeugt: Wir Menschen können vieles schaffen und vieles erreichen. Wenn, ja wenn es uns gelingt, unsere Kräfte zu bündeln, unsere Urteilskraft auf Vernunft zu gründen und durch gemeinsame Dialoge zu schärfen sowie Tatendrang in Schaffenskraft zu überführen. Dann haben wir auch jetzt noch die Möglichkeit, eine drohende Bildungskatastrophe abzuwenden. Es bleibt zwar nicht mehr viel Zeit. Aber mit Entschlossenheit kann es uns allen gelingen.

Das vorliegende Buch möchte hierfür einen Beitrag leisten, indem es neben der Diagnose der aktuellen Lage auch Perspektiven für eine Schule der Zukunft eröffnet. Schule neu zu denken und damit auch Bildung neu zu denken, das ist das Gebot der Stunde. Alle Leserinnen und Leser werden eingeladen, sich kritisch-konstruktiv mit meinen Überlegungen auseinanderzusetzen, damit wir gemeinsam eine zukunftsfähige Bildungsvision für unsere Kinder und Jugendlichen entwickeln können.

Marklkofen, im Mai 2021

Klaus Zierer

1. Die Coronapandemie und die Maßnahmen gegen sie aus pädagogischer Sicht

Seit geraumer Zeit hält die Coronapandemie die Welt in Atem. Die ergriffenen Maßnahmen wirken nicht immer wie erhofft und ziehen Kollateralschäden nach sich, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Denn bei aller Dringlichkeit, die Gesundheit der Menschen zu schützen: Gesundheit hat neben der körperlichen Unversehrtheit auch eine psychische und soziale Komponente, und alle drei hängen voneinander ab. Ein Mensch beispielsweise, der körperlich gesund ist, kann dennoch krank sein, wenn er psychische Leiden hat oder sozial isoliert ist – das Umgekehrte gilt natürlich entsprechend. Nicht selten führt dann eine Krankheitserscheinung in den genannten Bereichen dazu, dass die Gesundheit des Menschen insgesamt Schaden nimmt: Aus körperlicher Versehrtheit kann eine psychische Störung folgen, aus einer psychischen Belastung können körperliche Beeinträchtigungen erwachsen usw. Dieser Gesundheitsbegriff gilt im übertragenen Sinn ebenso für Systeme wie die Familie, die Wirtschaft oder die Schulen.

Blickt man auf die Schulen, so mehren sich die Hinweise, dass eine Bildungskatastrophe droht und vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus besonders betroffen sind. Zweifelsfrei ist gerade in Deutschland die Bildungsschere immer schon beachtlich, was nicht zuletzt mit der Vielfalt der kulturellen Prägung in den Elternhäusern zu tun hat – Bildungsungleichheiten sind somit ein Teil des pädagogischen Kerngeschäftes. Aber die schulischen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Coronapandemie ergriffen wurden, haben diese Situation massiv verschärft und tun dies noch weiter. Bildungsungerechtigkeit nimmt also massiv zu. Eine Bildungskatastrophe droht.

Nun wäre es falsch, der Bildungspolitik vorzuwerfen, nichts getan zu haben. Ganz im Gegenteil: Es ist viel unternommen und auch viel Geld ausgegeben worden. Aber wie so oft ist zu erkennen: Bildungserfolg stellt sich nicht allein deswegen ein, weil das Bildungssystem eine Finanzspritze erhält. Zudem führt nicht jede noch so gut gemeinte Maßnahme zum Erfolg – vor allem dann nicht, wenn sie nicht zu Ende gedacht worden ist und die betroffenen Akteure nicht angemessen mitgenommen werden. Dies sind allen voran die Lernenden, die Lehrpersonen und die Eltern. Bildung ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Gesellschaft, weil sie der Garant für ökonomischen, ökologischen und sozialen Wohlstand ist. Und Bildung ist auch eine komplexe Angelegenheit und fordert alle Beteiligten.

Allein schon der Versuch, den Bildungsbegriff zu bestimmen, schreckt viele ab. Dem Diskurs tut dies nicht gut. Denn die Klarheit in den Begriffen geht einher mit der Klarheit im Denken und der Klarheit im Handeln. Ohne ein umrissenes Leitmotiv lässt sich keine Bildungspolitik betreiben. Insofern ist es unumgänglich, den Begriff der Bildung zu skizzieren und darauf aufbauend auf die bereits angesprochenen Begriffe der Bildungsungleichheiten und der Bildungsgerechtigkeit einzugehen. Beide sind heute politische Kampfbegriffe und werden in Wahlen immer wieder hervorgeholt. Trotz einer damit verbundenen Alltäglichkeit, einfach zu verstehen sind sie nicht: Was sind schon Ungleichheiten? Was ist Gerechtigkeit? Und wie lässt sich beides in Verbindung mit dem Bildungsbegriff verstehen? Auch von einer Bildungskatastrophe ist nicht zum ersten Mal die Rede, ich werde die in Deutschland schon einmal geführte Debatte zu diesem Begriff nachzeichnen. Diese historische Rückschau ist hilfreich, ja notwendig, um die Gegenwart besser zu verstehen und schlüssige Konzepte für die Zukunft formulieren zu können.

Es sind drei Teilaspekte, die im Folgenden beleuchtet werden und damit den Grundstein für das vorliegende Buch legen: erstens die Skizzierung der Maßnahmen im pädagogischen Bereich, die zur Eindämmung der Coronapandemie ergriffen worden sind. Zweitens die Rückschau auf die Bildungskatastrophe in den 1960er Jahren. Und drittens die Klärung der Begriffe Bildung, Bildungsungleichheiten und Bildungsgerechtigkeit.

Schulschließungen als Bildungskatastrophe?

Als am 31. Dezember 2019 eine neue Form einer Lungenentzündung in Wuhan, China, bestätigt wurde, kam es zwar weltweit zu einer Berichterstattung in den Medien, aber weitere politische Maßnahmen wurden noch nicht ergriffen. Erst als sich die Erkrankung unter dem Namen COVID-19 in China zu einer Epidemie entwickelte und schnell über die ganze Welt Ausbreitung fand, reagierten alle Länder auf diese Situation. Die sogenannte Coronapandemie war fortan bestimmend in allen Regionen und in allen Bereichen des Lebens.

Neben Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Maske tragen, bekannt als AHA-Regeln, kam es seit März 2020 in vielen Länder immer wieder zu Lockdown-Maßnahmen, in denen das öffentliche Leben weitestgehend heruntergefahren wurde. Auch Schulen waren davon betroffen und wurden für längere Zeit geschlossen – teils für mehrere Wochen, teils für mehrere Monate, teils bis heute. Das Ziel der Maßnahmen liegt auf der Hand: Soziale Kontakte sollen begrenzt werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Um dennoch den Bildungs- und Erziehungsauftrag umsetzen zu können, wurde dort, wo es möglich war, Distanzunterricht angeboten. In den Medien hat sich hierfür schnell der Begriff „Homeschooling“ etabliert. Auch wenn er für Deutschland irreführend ist, weil ein Hausunterricht nicht erlaubt ist, trifft er den Kern des Problems: Die Grenzen zwischen dem familiären System und dem Schulsystem verschwimmen, was vielerorts für große Herausforderungen sorgte. So sahen sich manche Familien gut gerüstet, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen, während andere daran scheiterten. Dass es vor allem bildungsferne Milieus und sozial benachteiligte Familien schwerer haben, ist hinlänglich bekannt und liegt angesichts der zahlreichen Studien zu Bildungsungleichheiten nahe.

Auch in Deutschland kam es zu Schulschließungen. Bis heute sind sie ab einer bestimmten Inzidenz das Mittel der Wahl. Begleitet wurden Schulschließungen von einem Digitalisierungsschub, der sich auf die Ausstattung von Schulen und auf die Aufrüstung der Kinderzimmer konzentrierte. Zusätzlich zu den fünf Milliarden Euro des „DigitalPakt Schule“ aus dem Jahr 2018, die bis heute nicht vollständig abgerufen sind, stellte der Bund 500 Millionen Euro im Sommer 2020 zur Verfügung, um Lernende mit Tablets auszustatten. Derselbe Betrag kam nochmals obendrauf, um Lehrpersonen ein Dienstgerät in die Hand zu drücken. Viele Bundesländer legten noch weiter nach. Daneben wurden Masken angeschafft, Spuckschutzwände aufgebaut, Leitsysteme aufgezeichnet und teilweise Raumfilter und Lüftungsanlagen installiert. Neben Präsenzunterricht und Distanzunterricht kam als weitere Form der Beschulung der Wechselunterricht hinzu, bei dem die Klasse halbiert wird und somit weniger Kinder in der Schule sind. Abschlussjahrgänge kamen generell schneller in die Schulen als andere. Mit diesen Maßnahmen war die bildungspolitische Hoffnung verbunden, dass genug getan worden ist, um auch in Pandemiezeiten für Bildungserfolg zu sorgen – und zwar für alle Lernenden.

Nimmt man allein die Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche nicht in der Schule waren, so kommen schnell einige Wochen zusammen. Je nach Alter der Lernenden, Bundesland und Inzidenzwerten blicken manche auf ein Jahr zurück, in dem sie mehr Zeit zuhause verbrachten als in der Schule. Insofern sind bei dieser Generation bereits zwei Schuljahre massiv durch die Coronapandemie betroffen. Dass all das auf Dauer nicht ohne Folgen bleibt, wurde bildungspolitisch lange ignoriert. Später kamen Lippenbekenntnisse hinzu: Nach den ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 dürften Kinder nicht nochmals die Leidtragenden sein, und Schulen müssten offen bleiben, hieß es allerorten. Die Realität holte dieses Gerede schnell ein. Während die Industrie weiter produzierte und der Fußball im Profibereich rollte, mussten Kinder und Jugendliche wieder allein vor den Bildschirmen lernen. Bis heute verwundern Aussagen von so manchem Ministerpräsidenten, dass das alles doch bestens funktioniere.

Derweil muss man nur in bildungsferne Milieus blicken, sozial benachteiligte Familien aufsuchen oder mit Kindern und Jugendlichen sprechen. Sie leiden unter der Situation. Zudem gibt es immer mehr Studien, die das Ausmaß des Dramas vor Augen führen. Denn nicht nur die Lernleistungen gehen zurück, sondern es kommt auch zu einer Zunahme von psychischen und psychosomatischen Krankheitsbildern sowie zu körperlichen Beeinträchtigungen. Die psychische, physische und soziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind betroffen.

Ebenso wie in der medizinischen Bekämpfung der Coronapandemie ist es daher höchste Zeit, auch im pädagogischen Bereich endlich auf die Wissenschaft zu hören. Aber allzu viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Bildungskatastrophe ist im vollen Gang.

Vielleicht mag der Einwand kommen, dass es alarmistisch sei, von Bildungskatastrophe zu sprechen. Denn so schlimm sei doch alles nicht. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen ist das ganze Ausmaß der Bildungskatastrophe empirisch zu belegen, was im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches getan wird. Zum anderen ist festzustellen, dass der Begriff der Bildungskatastrophe in Deutschland bereits eine Geschichte hat und als Triebfeder einer Debatte diente, deren Ausgangssituation durchaus bedrohlich war. Aber im Vergleich zur aktuellen Situation erscheint sie harmlos. Denn die Missstände von damals sind nicht einmal im Ansatz mit denjenigen von heute vergleichbar. Nicht umsonst hat der Bund im Frühjahr 2021 verkündet, eine Milliarde Euro für ein Nachhilfeprogramm bereitzustellen. Das Bewusstsein für die Probleme scheint von Tag zu Tag deutlicher zu werden.

Die Bildungskatastrophe der 1960er Jahre – und die Lehren daraus

Es war in erster Linie der Pädagoge, Philosoph und Theologe Georg Picht (1913–1982), der den Begriff der Bildungskatastrophe einführte. Ausgangspunkt war eine Artikelserie in der Wochenzeitung Christ und Welt im Jahr 1964. Diese zählte damals zu den auflagenstärksten und einflussreichsten Printmedien der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. In seinen Beiträgen analysierte Georg Picht das deutsche Bildungssystem mithilfe umfangreicher Daten. Seine Diagnose war eindeutig: Deutschland stehe vor einer Bildungskatastrophe, die zu gravierenden Nachteilen im internationalen Vergleich führen werde und sogar eine Gefährdung der Demokratie zur Folge haben könne.

Die Gründe für die Bildungskatastrophe sah Georg Picht mindestens in den folgenden vier Punkten: Erstens stellte er einen Lehrermangel fest, der auf Dauer zu größeren Nachteilen führte. Zweitens kritisierte er, dass es zu wenig Abiturientinnen und Abiturienten gab. Drittens mahnte er wegen einer ungerechten Verteilung von Bildungschancen. Und viertens bemängelte er Konstruktionsfehler in der Steuerung und Verwaltung des Bildungssystems, die all die genannten Punkte noch weiter verschärften.

Gegen diesen Bildungsnotstand formulierte Georg Picht ein Notstandsprogramm. In diesem erarbeitete er Vorschläge zur Organisation des Bildungswesens, zur Modernisierung des ländlichen Schulwesens, zur Verdoppelung der Abiturientenzahl, zur Vermehrung der Lehrpersonen an Gymnasien und auch an den Volksschulen sowie zur Neuordnung der Kultusverwaltung. Sein damaliges Fazit lautete: „Jedes Volk hat das Bildungswesen, das es verdient. Noch ist es möglich, zu verhindern, dass die Bildungskatastrophe in ihrer vollen Gewalt über uns hereinbricht. Deutschland kann als Kulturstaat noch erhalten bleiben. Dazu bedarf es aber einer entscheidenden Wendung.“