Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ronnie kann nicht mehr: von seinem Vater wird er geschlagen, in der Schule gemobbt. Er haut ab. Doch das Ausreißerleben bringt ganz eigene Herausforderungen mit sich. In einem Stuttgarter Mietshaus findet er Unterschlupf, doch sein neues Zuhause ist in Gefahr. Kann er zusammen mit seinen neuen Freunden die "Entmietung" abwenden, oder bleibt am Ende nur die Rückkehr in sein altes Leben? Ein Coming of Age Roman, der bewegt
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Glas kommt zurück
Svenja
Das Haus
Wände haben Ohren Teil 1 - und Augen haben sie auch
Am nächsten Morgen
Das Haus und seine Bewohner
Ana und Josip Szafransky
Ronnies zweiter Tag im Haus
Eine Entdeckung
Ronnie und Josip
Ana Szafransky überrascht
Nachts
Angekommen
Ana
Ein Einschreiben
Hausbesuche
Eine Entdeckung beim Haareschneiden
Das Geheimnis wird gelüftet
Eine Entscheidung
Schwierige Gespräche
Ronnie schreibt an seine Mutter
Ronnies Brief
Warten
Hausversammlung
Frühstück mit Tom und Mariana Finkeisen
Gespräch mit Mutter
Maßnahmen
Ein möglicher Neuanfang
Ronnies Zuhause
Tagebuch
Übersetzungsfehler
Eine Entdeckung
Wände haben Ohren – zweiter Teil
Frau Hegmanns Erinnerungen
Die Entrümpelungsfirma
Die Kampagne läuft
Mit Svenja am Froschteich
Das große Malen
Erinnerungen
Auf Svenjas Baum
Im Krankenhaus
Kann es noch schlimmer kommen?
Auf dem Friedhof
Aufregende Zeiten
Etwas Neues beginnt
Freundschaft
Die Party
Schlechte Nachrichten
Wem verzeihen
Grund zum Feiern
Endlich!
Nachwort
Über die Autorin
Achtung, die Inhalte dieses Buches können dich belasten, wenn du selbst Gewalt in der Familie erlebt hast. Sorge dafür, dass du darüber mit jemandem reden kannst, dem du vertraust. Falls du Hilfe benötigst, wende dich an das Jugendamt in deinem Ort oder an eine entsprechende Einrichtung der Caritas oder der Diakonie. Außerdem kannst du dir mehr Informationen auf folgender Seite der Bundesregierung holen:
www.kein-kind-alleine-lassen.de
Ronnie beobachtete das Haus nun schon seit einer Stunde – unauffällig, versteht sich. Wenn er etwas gut konnte, dann war es das: sich unsichtbar machen. Auch deshalb nannten sie ihn Glas. Der Platz war gut gewählt, eine Bank an der Stadt-Bahn-Haltestelle mitten in einer verkehrsreichen Straße. Er saß, wie er meist dasaß, die Arme um sich geschlungen, als wolle er sich selbst umarmen, dabei unablässig mit den Beinen wippend. Die Leute sollten denken, dass er einfach nur wartete: auf eine bestimmte Bahn oder einen Ankömmling oder einfach darauf, in die nächste Bahn einzusteigen und nach Hause zu fahren, wo er das Essen in die Mikrowelle schieben könnte oder wo es bereits dampfend auf dem Tisch stand, und wo er vielleicht anschließend in sein Zimmer gehen würde, um sich aufs Bett zu legen und Musik zu hören, bevor er seine Hausaufgaben machte.
Ein Haus wie dieses gab es viele in dieser Gegend. Vermutlich war es sehr alt, und offensichtlich schon lange nicht mehr renoviert worden. Die Fassade war von den täglichen Abgasen geschwärzt, an manchen Stellen blätterte der Putz. Dennoch konnte man sehen, dass es einst ein sehr stattliches Haus gewesen war. Eine Art Säule fasste die Fenster aus farbigem Glas ein. Geschnitzte Ornamente zierten die Tür, an der an vereinzelten Stellen bereits kleine Stücke Holz fehlten. Ronnies Blick saugte sich an dieser Tür fest, durch die gelegentlich jemand herauskam oder hineinging.
Er hätte nicht sagen können, warum er sich gerade dieses Haus ausgesucht hatte. Vielleicht, weil es so günstig lag. Wenn es notwendig wäre, könnte er schnell von hier verschwinden. Zuerst aber musste er hineinkommen.
Sein Handy zeigte 11:17 Uhr. Lange konnte er hier nicht mehr sitzen, denn bald war die Schule zu Ende. Er wollte auf keinen Fall von jemandem gesehen werden.
Gestern noch hatte er gedacht, er könne sich im Wald verstecken. Er hatte nicht mit den Temperaturen gerechnet. Die Nächte im April konnten noch schrecklich kalt sein. Davor hatte ihn auch die Hütte nicht schützen können, die er sich gebaut hatte, und auch nicht sein Schlafsack, denn in der Eile hatte er nur den Sommerschlafsack eingepackt. Den Ort, den er für sein Versteck ausgewählt hatte, kannte er von früher. Er lag in der Nähe des Dürrbachweihers, einem magischen Anziehungspunkt für die Bewohner des Stuttgarter Ostens. Eltern gingen mit ihren Kindern dorthin, Rentner und Hundebesitzer liefen herum, und Jugendliche nutzten den Platz und die danebenstehende Grillhütte im Sommer zum Feiern von Partys.
Mitten im Wald würde seine Hütte hoffentlich niemand bemerken. Er hatte sie sehr sorgfältig gebaut, hatte herumliegende Äste gesammelt und sie um einen Baumstamm herum angeordnet. Es war zwar mühsam, aber am Ende war er stolz, dass er es auch ohne seinen Vater geschafft hatte.
Nachdem die Laubhütte „bezugsfertig“ war, hatte er sich auf eine Bank an dem kleinen Teich gesetzt und die Frösche beobachtet. Unweigerlich musste er an früher denken, als er mit seinen Eltern hier und die Welt noch in Ordnung gewesen war. Er hatte Kaulquappen in ein Marmeladenglas gefüllt und durfte sie mit nach Hause nehmen. Am nächsten Tag hatte seine Mutter ihn allerdings nochmals hierhergebracht, und er musste sie wieder aussetzen. Ein Marmeladenglas voll Wasser sei zu wenig, hatte sie ihm gesagt, und die Kaulquappen bräuchten ihre Eltern, um Frösche werden zu können. Nun, er selbst hätte auch Eltern gebraucht, und er bräuchte sie immer noch. Aber da hatte er wohl Pech gehabt. Was macht ein Frosch, dessen Eltern sich nicht um ihn kümmerten? Gab es das überhaupt? Frösche, die von ihren Eltern geprügelt wurden? Bestimmt nicht. Das war wohl eine Menschenspezialität.
Aber er hatte beschlossen, nicht weiter darüber nachzudenken. Stattdessen hatte er den Teich beobachtet, in dem es von Fröschen brodelte. Sie ruderten in Schwärmen durch das Wasser und versammelten sich in unüberschaubaren Klumpen. Hin und wieder schwirrte eine Libelle mit schnellen Flügelschlägen über die Wasseroberfläche, tauchten Enten unermüdlich ihre Schnäbel ins Wasser, um sich anschließend im Schilf sorgsam das Gefieder zu putzen, und Bäume und Himmel spiegelten sich auf der glatten Wasseroberfläche. Es war beinahe wie Fernsehen.
Abends hatte er sich in seine Laubhütte zurückgezogen. Er musste sich erst an die nächtlichen Laute gewöhnen und schreckte anfangs bei jedem Rascheln und Knacken auf. Lief jemand vorbei? Stand jemand vor seinem Unterschlupf? Vielleicht gab es hier Wölfe! Irgendwo im Land sollten welche sein. Vielleicht auch hier? Er wusste es nicht. Aber nicht nur die Geräusche hielten ihn wach, ihm war kalt. Der Sommerschlafsack taugte nicht für die Jahreszeit.
Es hatte lange gedauert, bis er eingeschlafen war. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie Blätter in einem Sturm. Sie flogen auf und ließen sich nieder, nur um vom Wind erneut hochgeschleudert zu werden. Wie sollte es nur weitergehen? Im Moment war er hier sicher. Aber wie sollte er im Wald überleben? Er brauchte etwas zu essen und zu trinken. Ab und zu sollte er sich auch waschen können. Was wäre, wenn er krank würde? Und seinen Plan, es einmal besser zu machen als sein Vater, konnte er wohl kaum im Wald verwirklichen.
Doch als er am Mittag Hals über Kopf aus dem Haus gerannt war, hatte er über all das nicht nachgedacht. Nur weg! war alles, was er denken konnte. Den Brief des Rektors an seine Eltern hatte er immer noch in seinem Rucksack. Er wusste, was ihm geblüht hätte, wenn er seinen Eltern in die Finger gefallen wäre. Bisher hatte er alles ertragen, was ihm zu Hause und auch in der Schule widerfuhr, aber auf einmal war der Punkt erreicht, an dem er nicht mehr konnte und nicht mehr wollte. So jedenfalls nicht! Er wollte kein Geschrei mehr hören, und nicht diese Säuferstimme, wenn sie sich vor Wut überschlug, nicht diese blutunterlaufenen Augen sehen, nicht den widerwärtigen Geruch nach vergorenem Alkohol riechen, so schal und sauer. Vor allem wollte er keine Prügel mehr ertragen.
Nur wie und wovon sollte er jetzt leben? Wie sollte es nur weitergehen? Wütend wischte er sich die Träne aus dem Auge, die er nicht hatte verhindern können. Nein, er würde nicht weinen. Stundenlang hatte er sich auf dem Boden herumgewälzt, ehe er endlich eingeschlafen war.
Nachts hatte es zu regnen begonnen. Anfangs hielten die Äste den Regen ab, aber mit der Zeit fanden die Tropfen ihren Weg durch die Lücken. Als er endlich in die Grillhütte umgezogen war, war seine Kleidung feucht. Er hatte nur noch eine Garnitur zum Wechseln dabei. Ein weiteres Mal dürfte er nicht nass werden. Und auch, wenn er nun im Trockenen saß, so war ihm dennoch kalt.
Am Morgen hatte der Regen endlich aufgehört, aber seine Spuren waren überall sichtbar. Wassertropfen hingen wie Perlenketten an Blättern und Grashalmen, aus der Erde dampfte die Feuchtigkeit und hüllte den Wald in graue Schleier, durch die nun mühsam die Sonne durchbrach. Ronnie war fasziniert von dem Anblick, aber er konnte ihn nicht genießen. Er fror, der Akku seines Handys war leer, und leer war auch die Plastikdose, in der er sich ein wenig zu essen eingepackt hatte. Es half nichts: Er brauchte eine andere Unterkunft.
Als er die Stadt heute Morgen betreten hatte, war sein erster Impuls gewesen, sofort wieder umzudrehen. Die Gerüche und Geräusche erschienen ihm wie eine Wand, die ihn zurückstieß. In der Luft waberten die Abgase und es roch nach einer Mischung aus Staub, Benzin und Rauch. Reifen lärmten auf dem Asphalt und die U-Bahnen quietschten laut, wenn Stahl auf Stahl rieb. Plötzlich war all das unerträglich. Dabei kannte er es so von klein auf, denn hier war er geboren und aufgewachsen.
Er hatte sich überlegt, dass er sich auf einem Dachboden oder in einem ungenutzten Kellerraum in einem Stadthaus verstecken könnte. Zuerst freilich hatte er nach etwas Essbarem gesucht und hatte Glück. Im Müll-Container eines Einkaufszentrums fand er abgelaufene Lebensmittel und Obst und Gemüse. Gerade, als er ein paar bereits leicht bräunliche Bananen und eine Packung Toastbrot in seinen Rucksack gepackt hatte, wurde er von einem der Mitarbeiter entdeckt. „Warte, Bürschchen!“, rief der und drohte mit der Polizei. Ronnie konnte gerade noch wegrennen. Fürs Erste müsste es eben reichen. Vielleicht fand er später mehr.
Anschließend war er durch die Königstraße geschlendert. Vor dem Eingang des Kaufhofs warteten bereits Kunden und er schloss sich ihnen an, als sich die Türen um 10:00 Uhr öffneten, um sich aufzuwärmen und vielleicht wenigstens eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu bekommen. Durch Wolken stark riechender Parfüme ging er zur Rolltreppe. Im obersten Stock benutzte er die Toilette, wusch sich Gesicht und Hände und wanderte eine Weile durch die Gänge, um wenigstens noch eine Zeit lang im Warmen und Trockenen zu sein.
Irgendwann musste er sich auf die Suche machen. Als er sah, wie sich die Türen des Aufzugs öffneten, trat er kurz entschlossen hinein und wartete auf das Schließen der Türe. Jemand hatte bereits den Knopf für das EG gedrückt.
„Hi“, sagte das Mädchen, das bereits vor ihm im Aufzug gewesen war. Sie war vielleicht so alt wie er und sah ihn neugierig an. Er blickte ihr kurz ins Gesicht. „Hi“, antwortete er und senkte dabei den Kopf.
Heimlich betrachtete er sie aus dem Augenwinkel. Ihre Haare waren leicht gelockt und reichten bis zum Nacken. In ihrem Gesicht blühten Sommersprossen wie kleine Blumen auf einer Sommerwiese. Ihre Kleidung war auffallend unauffällig. Eine schwarze Jeans und ein dunkelrotes T-Shirt, sonst nichts. Kein Schmuck, kaum Make-up. Das einzig Bemerkenswerte an ihr waren ihre großen leuchtend grünen Augen. Und die Sneakers! Sie strahlten geradezu magisch in Orange.
Sie spürte wohl, dass er sie anstarrte und blickte zu ihm hinüber. Schnell drehte er sich zur Tür – sie müssten gleich im Erdgeschoss sein. Plötzlich gab es einen Ruck und der Aufzug stand still. „Oh nein!“, schimpfte das Mädchen, „ich muss rechtzeitig in der Schule sein!“
Ronnie drückte den roten Notfallknopf und meldete der Stimme im Lautsprecher: „Wir stecken fest!“ „Tut uns leid“, antwortete der Unsichtbare. „Unsere Techniker sind gerade unterwegs, sobald jemand kommt, holen wir Sie dort raus.“
„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“, schimpfte das Mädchen vor sich hin. Ronnie war es egal. Hier drin war es wenigstens warm. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand. Das Mädchen machte es ihm nach. „Ich bin Svenja.“, stellte sie sich vor. „Und du?“ „Ronnie“, antwortete er beinahe unhörbar. Es war, als hätte er seine Stimme im Wald verloren. „Wie?“, bohrte das Mädchen nach. Er räusperte sich, dann kam es ein wenig lauter: „Ronnie!“
„Hallo Ronnie“, sagte sie, als würden sie sich bereits kennen, nur weil sie nun ihre Namen wussten.
„Das kann dauern“, meinte sie dann, öffnete ihren Rucksack und zog einen Müsliriegel heraus. „Möchtest du etwas abhaben?“, fragte sie und bot ihm ein Stück an. Ronnie nahm es ihr aus der Hand und murmelte ein leises Danke.
Er war nicht geübt im Small Talk. Aber wie sollte man das Warten überbrücken? Er holte sein Handy heraus und steckte sich die Ohrstöpsel in die Ohren.
Irgendwann bemerkte er, dass sie die Lippen bewegte.
„Was?“, fragte er und entfernte den Kopfhörer.
„Was hörst du?“, wollte sie wissen. Er zögerte einen Moment. Was, wenn sie ihn auslachte? Aber selbst wenn, er würde sie nie mehr sehen, wenn sie erst einmal wieder hier raus wären. Als Antwort gab er ihr einen seiner Ohrstöpsel. Sie hörte einige Sekunden zu, dann sah sie ihn mit großen Augen an.
„Du hörst Mozart?“
„Was dagegen?“ Ronnie war in Habachtstellung.
„Im Gegenteil, ich kenne nur so wenige Menschen, die solche Musik hören!“
„Heißt das, sie gefällt dir?“
„Ja! Es ist schöne Musik und ich liebe alles, was schön ist!“
Er würde sie mögen, aber was sollte sie mit einem Straßenjungen wie ihm?
„Huch!“ Der Aufzug ruckelte und fuhr dann an. Das wars dann also, bedauerte er, als sich die Tür öffnete. „Also tschüss“, er drehte sich noch einmal um, um sich zu verabschieden.
„Warte!“, sagte sie, als sie draußen waren, und schrieb etwas auf einen Zettel, den sie ihm zusteckte.
„Was ist das?“, wollte er wissen.
„Meine Handynummer. Ruf mich an, dann können wir uns treffen und vielleicht zusammen Mozart hören.“
Als er endlich weiterging, war ein Lächeln in seinem Gesicht.
Und nun saß er also hier und sah immer wieder zu dem Haus hinüber. Damit es nicht zu auffällig wurde, legte er ein Buch auf seine Knie und tat so, als würde er lesen. In Wirklichkeit verfolgte er unablässig, wer ins Haus hineinging oder herauskam. Eine Frau war mit ihrem Hund nach draußen gekommen, kurz danach betrat ein Mann mittleren Alters das Haus. Vermutlich ein Handwerker, denn er trug einen grauen Arbeitskittel. Den alten Mann, der im ersten Stock am Fenster stand, sah Ronnie erst später. Er hatte kaum Haare auf dem Kopf, dafür einen kleinen Oberlippenbart. Er beobachtete die Straße, blickte mal nach rechts, mal nach links. Komisch, dass alte Männer so oft aus dem Fenster sahen. Sein Opa war genauso. Er wusste immer über alles Bescheid, was die Nachbarn gerade taten und wer mit wem Kontakt hatte oder verwandt war.
Hoffentlich hatte der Mann ihn übersehen. Vorsichtshalber zog Ronnie die Kapuze seines dunkelblauen Hoodies tiefer ins Gesicht. Endlich wandte er sich um und sprach mit einer Person im Inneren des Raums, seiner Frau vielleicht. Dann zog er sich vom Fenster zurück.
Hier wollte er es versuchen. Der Augenblick war günstig. Nur wie sollte er es anstellen? Plötzlich hatte er eine Idee. Man konnte mit einem Zauberwort in jedes Haus gelangen. Er ging über die Straße und drückte die oberen Klingelknöpfe. „Die Post!“, rief er, als aus der Sprechanlage ein „Ja?“ tönte. Er stemmte sich gegen die Tür und trat ein, nachdem der Türöffner summte.
Zur Linken hing eine Reihe Briefkästen. Vorsichtshalber ließ er ihre Klappen ein wenig scheppern, damit sich niemand wunderte. Es waren acht. Geradeaus war eine Tür, vermutlich die Kellertür. Fünf Stufen darüber befand sich eine weitere Tür. Er schlich hoch, öffnete sie und schaute direkt in einen Hinterhof, in dem Mülleimer standen. Was für eine Überraschung: Mitten in diesem Häusermeer breitete sich ein Garten aus. Nicht nur einer, sondern drei Gärten grenzten aneinander. Der zum Haus gehörige Garten war bepflanzt. An seiner glatten rötlichen Rinde erkannte Ronnie einen Kirschbaum. In seiner Nähe wuchsen Johannisbeersträucher und ein Holunderstrauch.
In die hintere Ecke schmiegte sich ein hölzerner Geräteschuppen. Efeu wuchs an seinen ockerfarbenen Wänden hoch und schlängelte sich um die Regenrinne. Darunter stand ein blaues Regenfass aus Plastik. Der Garten war gut gepflegt, aber er konnte von allen Seiten eingesehen werden. Als Versteck war er also ungeeignet.
Vielleicht sollte er lieber im Keller nachsehen? Er hatte Glück, denn die Kellertür war nicht abgeschlossen. Es war alles ruhig. Langsam schlich Ronnie die Stufen hinunter. Es roch nach Staub und Moder. Unten angekommen, holte er seine Taschenlampe aus dem Rucksack und leuchtete in die einzelnen Kellerräume. Sie waren nur mit Holzlatten voneinander abgetrennt. Der erste Raum glich einer gut sortierten Speisekammer. Ein Gefrierschrank stand darin, und die Regale waren gefüllt mit Weckgläsern. Mirabellen, Pflaumen und Kirschen und Marmeladen. Der Kellerraum daneben gehörte wohl etwas chaotischeren Bewohnern. Alles darin lag wild durcheinander: Autoreifen neben uralten Koffern, auf einem Tisch standen Kartons neben Farbeimern und einem Behälter mit Pinseln. Ein paar windschiefe Regale bargen zahlreiche Aktenordner, die kreuz und quer hineingelegt worden waren, aus einem zerfledderten Karton blickten alte Bilderrahmen in den unterschiedlichsten Größen hervor. In der rechten Ecke stand ein einsames Dreirad, als wäre es nur eben abgestellt worden, bevor das dazugehörige Kind es wieder benutzen würde.
Direkt gegenüber war sogar eine Toilette und ein verschlossener Raum. Auf der Tür stand der Name Knopf. Vielleicht eine Art Gästezimmer oder eine Werkstatt? Als er eine weitere Tür öffnete, stand er in einer Waschküche mit Waschbecken. Hier könnte er sich Wasser holen, wenn er Durst hatte und sich wenigstens waschen. Aber all das war als Versteck nicht geeignet.
Rechts neben der Waschküche entdeckte er einen Raum, der mit eingestaubten Kartons vollgepackt war. Spinnweben hingen an der Decke und zwischen den Kartons, die Spinnen warteten in ihren Netzen schon auf Beute. Ein wenig gruselig, aber offensichtlich unbenutzt. Das war genau das, was er suchte! Aber wie würde er ohne Schlüssel hineinkommen? Er rüttelte vorsichtig an der Tür und konnte es kaum glauben: Sie war nicht verschlossen. Durch eine kleine Lücke in der Kartonmauer schlüpfte er in den hinteren Bereich des Kellerraums und sah sich um.
Hinter den Kartons reihten sich die Kellerregale an der Wand entlang. Auch hier standen Gläser mit Eingemachtem. Auf allem lag eine dicke Staubschicht. Hier war schon lange niemand mehr gewesen. Das war genau das richtige Versteck. Er musste nicht damit rechnen, dass ihn hier jemand entdecken würde. Es gab sogar eine Steckdose, an der er sein Handy aufladen, und einen Tisch, an dem er sitzen konnte. Was aber, wenn doch jemand hereinkommen würde? Dann säße er in der Falle. ‚Ach was‘, dachte er. Er musste doch auch einmal Glück haben.
Einst waren wir Steine, zusammengeschoben von den Wassern versandeter Meere. Erde bedeckte uns und Gras. Wir hörten das Rascheln von kleinem Getier oder das Trampeln großer Tiere. Sonst nur Stille. Dann kamen Männer mit ihren Werkzeugen, legten uns frei, brachen uns und bauten mit uns Kathedralen, Schlösser und Häuser.
Auch ich, das Haus, bin nur eine Ansammlung von Steinen, die den Wassern und Winden Einhalt gebieten. Und doch bin ich viel mehr, bin Mauern und Wände und Dach, bin Heimat vieler Menschen.
Seit 98 Jahren, drei Monaten und 13 Tagen sehe ich, wie sie geboren werden oder ihr Leben wieder verlassen. Ich sehe sie lachen und weinen, und ich bin Zeuge ihrer Geschichte und ihrer Geschichten.
Ronnie wachte auf und schaute auf sein Handy: 6:00 Uhr morgens! Er musste aufstehen und sich für die Schule fertig machen. Verschlafen langte er nach dem Lichtschalter neben seinem Bett und griff daneben. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war. Vorsichtig setzte er sich auf, dann fiel ihm alles wieder ein. Dass er seinen Vater zu Hause in den Keller gesperrt hatte, dass er einen Tag und eine Nacht im Wald verbracht hatte, und dass er jetzt im Keller eines fremden Hauses hockte und nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
Der gestrige Tag war alles in allem ein Scheißtag gewesen. Er hatte angefangen wie viele Tage zuvor. Ronnie war aufgestanden, als sein Vater noch seinen Rausch ausschlief, hatte gefrühstückt und war in die Schule gegangen. Auch da war alles wie immer. Seine Klassenkameraden hatten ihn abgepasst, um ihn zu ärgern. Doch irgendetwas war anders an diesem Tag, und das, was anders war, war er selbst.
Monatelang hatte er den Spott und die Anzüglichkeiten der immer gleichen Gruppe von Jungs ausgehalten. Als sie aber dieses Mal wieder mit ihren Sticheleien anfingen, so wie an jedem verdammten Schultag: „Hey Glas, was geht?“, stieg heller Zorn in ihm auf. Seine Hände schwitzten und er zitterte, so wie auch früher schon, doch dieses Mal hörte der Zorn nicht auf. Er hätte es nicht benennen können, was in ihm vorging, und hätten sie an dieser Stelle aufgehört, wäre er einfach weggegangen, so wie immer eben. Offensichtlich aber wollten sie ihn fertig machen. Dass sie ihn „Glas“ nannten – na ja, sein Nachname Glasowsky verleitete dazu. Das war nicht so schlimm. Aber meist schoben sie noch einen Satz hinterher. „Und, Glas? Hat dein Alter mal wieder zu tief ins Glas geschaut?“ Und dann sahen sie sich an und grinsten. Und das nur, weil sie einmal gesehen hatten, wie sein Vater volltrunken aus der Kneipe kam und nach Hause torkelte.
Sie hatten sich so vor ihm aufgebaut, dass er nicht ausweichen konnte. Machte er einen Schritt nach links, stellten sich sofort zwei Jungs neben ihn, während ein anderer ihn von vorn verspottete und verhöhnte. Sie machten seinen Vater nach, stolperten von einer Seite auf die andere und stützen sich mit den Händen an den Mauern ab. Auch sein Lallen imitierten sie. „Geht mir aus dem Wwwweg, iiihr Banausen. Iihr ha-a-abt ja kkkkeine Aaahnung vom Lllleben.“ Dabei lachten sie und klopften ihm auf die Schulter, mit dieser kieksenden Stimme, wie Jungs sie in der Pubertät eben hatten. Mal sprachen sie im tiefen Bass, um dann mitten im Wort in den hohen Sopran zu kippen.
„Ha, und du? Was willst du mal werden? Säufer wie dein Vater, ha?“ Sie klopften sich vor Vergnügen auf die Schenkel und beugten sich vor, als hätten sie den größten Witz ihres Lebens gemacht. Und ganz plötzlich war er einfach ausgerastet. Es war, als hätte sich in seinem Inneren ein Schalter umgelegt. Er schlug zu, obwohl er noch nie jemanden geschlagen hatte. Seine Schläge blieben weitgehend wirkungslos, weil er gar nicht wusste, wie man sich wehrt. Leider stand dummerweise Sammy im Weg, als seine Faust sich selbstständig machte und ihn am Auge traf. Dabei hatte der sogar noch versucht, die anderen zu bremsen. Na ja, Herr Meisner, der die Aufsicht hatte, hatte nicht gehört, was der Schlägerei vorausgegangen war, er hatte nur gesehen, dass Ronnie zugeschlagen hatte. Und dann gab es eine Ermahnung und den Brief, der noch immer in seinem Rucksack steckte.
Er hatte versucht, ohne aufzufallen, in die Wohnung zu kommen. Es schien auch, als hätte er Glück gehabt, denn die Tür war noch abgeschlossen, als er kam. Offensichtlich war sein Vater wieder mal mit seinen Saufkumpanen unterwegs. Das waren Leute, die er früher nicht einmal von hinten angesehen hätte. Jetzt waren es plötzlich „seine Freunde.“ Ronnie sollte es Recht sein, solange er ihn in Ruhe ließ.
Aber falsch gedacht. Gerade, als er in der Küche noch ein Glas Wasser trinken wollte, wurde ein Schlüssel im Schloss umgedreht. Keine Chance mehr, zu verschwinden. Ehe Ronnie seinen Rucksack nehmen konnte, stand sein Vater bereits in der Küchentür. Er hielt sich am Türrahmen fest, was bedeutete, dass er bereits getrunken hatte. „Ach, der Herr Sohn ist auch schon da!“, höhnte er. „Prima, dann kannst du mir aus dem Keller gleich mal eine Flasche Wein holen! Aber nicht selbst trinken“, schob er noch grinsend hinterher. Haha, dachte Ronnie, Witz komm raus, du bist umzingelt. Geht nicht, die Tür klemmt. Wer hatte das noch immer gesagt? Ach ja, sein Opi, wenn ein Witz so gar nicht witzig sein wollte. Opi war der Vater seiner Mutter. Der Vater seines Vaters hieß Opa. Und der war ein ganz eigenes Kapitel.
„Und wo finde ich den?“
„Ja, sag mal, bist du blöd? Wird Zeit, dass du dich auch im Keller auskennst. Los, wir gehen da jetzt zusammen runter, und nächstes Mal weißt du Bescheid!“
Widerwillig folgte Ronnie seinem Vater, der mit schwankenden Schritten Stufe für Stufe mehr hinuntertaumelte, als dass er ging. Als sie endlich unten waren, fingerte er unbeholfen den Kellerschlüssel aus der Hosentasche und schloss auf. „So, da schau hin, da auf dem Boden stehen die Weinflaschen. Kann man gar nicht übersehen. Rechts der Rotwein, der ist für mich, und zwar nur für mich, links der Weißwein für die Gäste. Die leeren Flaschen kommen hierhin.“
Und während sein Vater in die verschiedenen Richtungen deutete, tat Ronnie zum zweiten Mal an diesem Tag etwas, was er nicht geplant hatte. Er drückte sich leise aus der Tür und schloss sie mit dem Schlüssel ab, der noch im Schloss steckte. Dann nahm er den Schlüssel und rannte damit die Treppen hoch, die Schreie seines Vaters ignorierend. Er packte mehr oder weniger wahllos ein paar Dinge in seinen Schulrucksack: einen Schlafsack, Wäsche zum Wechseln, ein Stück Brot, eine Flasche Wasser und eine Tafel Schokolade. Sollte er noch Geld aus der Haushaltskasse nehmen? Mehr als einen Zehner traute er sich nicht zu entwenden. Und das Buch von Ricki Riordan, das Omi ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, musste auch mit. Und natürlich das Ladekabel für sein Handy. Dann legte er den Schlüssel auf den Küchentisch, zog seine Jacke an, hängte sich den Rucksack um und rannte die Treppen hinunter.
Unten hörte er seinen Vater aus dem Keller schreien: „Lass mich raus, du Dreckskerl! Wenn ich dich in die Finger kriege, kannst du was erleben!“
Nun war es entschieden, ob Ronnie wollte oder nicht, er konnte nicht mehr zurück. Hinterher war er über sich selbst erschrocken, aber da war es schon zu spät. Was hätte er machen sollen? Die Kellertür öffnen und sagen: „Hey, Dad, war nur ein Versehen? Ich hab´ gar nicht gemerkt, dass du da drin bist?“
Lügen fiel ihm schwer, und sein Vater hätte ihm ohnehin nicht geglaubt, sondern ihn grün und blau geschlagen. Oder er hätte warten können, bis er zu betrunken war, um noch zuschlagen zu können. Wein war im Keller genug vorhanden. Und ganz sicher hat er danach die eine oder andere Flasche in sich hinein geleert. Aber wehe, wenn er am anderen Morgen aufgewacht und ihm wieder eingefallen wäre, was sein Sohn ihm angetan hatte. Darüber mochte Ronnie gar nicht nachdenken. Nein, nach dieser Aktion hatte er keine andere Wahl gehabt als zu verschwinden. Er war sich sicher, dass seine Mutter seinen Vater kurz danach aus dem Keller befreit hatte, nachdem er ihr eine WhatsApp geschickt hatte. Er sorgte sich nur, dass sein Vater womöglich seine Mutter statt ihn verprügelte. Sonst war es immer andersherum: Sein Vater verprügelte seine Mutter, er versuchte sie vor ihm zu schützen und bekam dann erst recht den vollen Zorn seines Vaters zu spüren.
Doch was jetzt? Nun war er hier in diesem staubigen Keller. Er konnte nicht zurück, und er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Missmutig ging er zu dem Arbeitstisch, der im Raum stand. So leise wie möglich legte er das Werkzeug auf den Boden und breitete den Inhalt seines Rucksacks auf dem Tisch aus. Viel war es nicht, ein paar Bücher, sein Zeichenheft, Stifte und Radiergummi, und das Buch von Omi. Die feuchte Kleidung hatte er bereits gestern Mittag zum Trocknen aufgehängt. Sie hing noch immer am Haken neben dem Arbeitskittel, der schon vorher da war.
Ebenso missmutig betrachtete er das restliche Essen. Zwei überreife Bananen und eine halbe Packung Toastbrot. Er würde es sich einteilen müssen.
Während er eine der Bananen und eine Scheibe Toastbrot aß, stöpselte er sich die Kopfhörer ins Ohr und hörte Musik.
Das Haus erwachte beinahe zur gleichen Zeit wie Ronnie. Nach der Stille der Nacht begann hinter den Türen leise Geschäftigkeit. Ein schwacher Duft von Kaffee entwich aus den Schlüssellöchern in den Flur. In den Rohren rauschte das Wasser und verteilte sich in die Toilettenspülungen und Duschen, ein Radio verbreitete die neuesten Nachrichten, Geschirr klapperte.
Mariana Finkeisen kam mit ihrer Hündin, die sie Hexe nannte, von ihrem Morgenspaziergang zurück. Unter dem Arm trug sie eine Tüte mit frischen Brötchen. Selbst als die Haustüre hinter ihr ins Schloss fiel, hörte man noch von draußen das Rauschen des Verkehrs. Der Lärm der Autos verstummte auch nachts niemals ganz. In ihrer Wohnung gab sie Hexe ihren gefüllten Futternapf und setzte sich an ihren Schreibtisch, um, wie jeden Tag, den Morgen mit Tinte und Papier zu begrüßen.