Nora Zorn und der Fünfzig-Prozent-Mann - Hanni Serway - E-Book

Nora Zorn und der Fünfzig-Prozent-Mann E-Book

Hanni Serway

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Beschreibung

Als Nora Zorn im Krankenhaus erwacht, weiß sie nicht, was geschehen ist, nicht einmal, wer sie ist. Die Erinnerungen kommen nur langsam zurück, und sie sind schmerzhaft. Sie erkennt, dass ihre Ehe schon lange nicht mehr glücklich ist. Doch um ihrem Leben eine Wende geben zu können, muss sie erst noch viel weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Erst danach kann sie weitreichende Entscheidungen treffen

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Seitenzahl: 236

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Der Inhalt

Als Nora Zorn im Krankenhaus erwacht, weiß sie nicht, was geschehen ist, nicht einmal, wer sie ist. Die Erinnerungen kommen nur langsam zurück, und sie sind schmerzhaft. Sie erkennt, dass ihre Ehe schon lange nicht mehr glücklich ist. Doch um ihrem Leben eine Wende geben zu können, muss sie erst noch viel weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Erst danach kann sie weitreichende Entscheidungen treffen.

Über die Autorin

Hanni Serway wurde 1947 in einem kleinen bayrischen Dorf geboren, das sie mit 11 Jahren verließ. Nach vielen Jahren in Stuttgart lebt sie heute in Waldenbuch. Sie war Buchhändlerin, bevor sie mehrere Semester Sozialpädagogik studierte. Sie arbeitete als Putzfrau, als Küchenhilfe und als Bürokraft, und ist Mutter und Großmutter. Mit 45 entdeckte sie die Malerei als eine faszinierende Möglichkeit, Dinge ohne Worte auszudrücken, und begann nochmals ein Studium. Seit 1998 arbeitet sie als freiberufliche Malerin. Aber auch das Schreiben gehört seit langem zu ihrem Leben dazu. Sie vertiefte es durch ein Fernstudium in kreativem Schreiben sowie in autobiografischem Schreiben. Von ihr erschienen sind bereits „Miniaturen – Kurzprosa und Prosagedichte“ sowie zwei Kinderbücher, die sie auch illustrierte.

Inhaltsverzeichnis

Ein Geburtstag und ein Unfall

Im Krankenhaus

Die Zimmernachbarin

Noras Eltern

Noras Kindheit

Ein neuer Versuch

Die Erinnerung kehrt zurück

Alex

Noch eine Erinnerung: Der Bergrutsch

Der zweite Tag – Silvester

Noras Kindheit, die zweite…

Ein Plan

Alex Eltern

Der Tod und das Mädchen

Eine Entscheidung

Astrid

Eine Überraschung

In der Reha

Nelly

Das Schlimmste

Das zweite Wochenende – Besuch

Alex schreibt einen Brief

Eine erste Erkenntnis

Die Trauerfeier

Die Heimkehr

Gespräch mit Alex

Lauras Rückkehr

Neuland

Ein Geburtstag und ein Unfall

Es war Alex` 49. Geburtstag. All die Jahre zuvor hatten die Zorns immer ein großes Fest gefeiert. Nora hatte die Tische vor dem Haus mit Lampions und Blumen dekoriert und alle ihre Freunde waren gekommen. Der Garten hatte sich gefüllt mit ihrem Gelächter, den Spielen der Kinder, mit leiser Musik und sanftem Kerzenlicht. Doch dieses Jahr verzichtete Alex auf ein Fest. Nora verstand nicht, warum, aber es war ja sein Geburtstag, und er hatte sich einen gemütlichen Abend im Biergarten gewünscht – „nur Du und Emily“, hatte er gemeint. So waren nur Nora und ihre jüngste Tochter mitgekommen. Laura, ihre ältere Schwester, war vor zwei Wochen zu ihrer Weltreise aufgebrochen und würde erst in einem Jahr zurückkommen.

Der Abend war öde, denn Alex redete die ganze Zeit über nur von seiner Beförderung zum Abteilungsleiter. Nichts anderes schien ihn zu interessieren. Nora hatte ein paar Mal versucht, das Thema zu wechseln, aber er war nicht darauf eingestiegen. Selbst nicht, nachdem Emily von ihren Vorbereitungen zum Abitur erzählte. Nach einer Weile hatte sie genervt die Augenbrauen hochgezogen und sich abrupt verabschiedet. Angeblich hatte sie eine Verabredung mit Freunden.

Alex trank in Ruhe sein Bier. Er hatte zur Feier des Tages eine Maß bestellt. Während er die letzten Tropfen aus dem Krug leerte, ging Nora zur Toilette. Auf dem Rückweg sah sie es schon wieder: Alex schaute auf sein Handy und steckte es in dem Moment in die Hülle zurück, als sie sich näherte. Dabei war er kein Internet-Junkie, im Gegenteil. Er hatte sich bis vor kurzem dieser Technologie konsequent verweigert. Die Kinder machten sich manchmal lustig über seine Handy-Abstinenz, aber er bestand darauf, dass dieses Gerät nur überflüssiger Ballast sei. Für ihn war es lediglich ein Telefon, nur hin und wieder sandte er eine SMS an Nora, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war und es spät wurde. Doch auf einmal hatte er das Handy ständig bei sich. Er nahm es mit in den Keller, sobald er dort in der Werkstatt arbeitete, und ebenso in sein Arbeitszimmer im oberen Stockwerk. Einige Tage lang lag es sogar nachts im Schlafzimmer, bevor sie es bemerkte. Ihren Widerspruch hatte er erst akzeptiert, nachdem sie erklärte, dass sie keine Funkstrahlen neben ihrem Bett haben wolle.

Aber am meisten irritierte sie seine Heimlichtuerei. Manchmal fiel ihr auf, wie er das Handy vorsichtig aus der Hülle zog. Es geschah langsam und nahezu unauffällig. Sie sah es dennoch und erwartete es inzwischen beinahe. Meist verzog er sich danach samt Handy nach oben.

Nora belauerte ihn ebenso heimlich. „Du magst zwar intelligent sein, aber irgendwann machst Du einen Fehler!“, hatte sie gedacht. Die eine oder andere nächtliche Schlafpause nutzte sie, um den Handy-Verlauf zu kontrollieren, doch jedes Mal war alles gelöscht. Selbst Anrufe von Kollegen, die er in ihrem Beisein geführt hatte, waren nicht mehr zu finden. Das schürte ihr Misstrauen erst recht, und ihre Schlaflosigkeit nahm zu.

Einmal sprach sie ihn darauf an, da lachte er nur. Das sei lediglich eine Übersprunghandlung, erklärte er. Im Übrigen ginge sie das nichts an, es sei seine Privatsphäre. Deshalb wagte sie gar nicht erst, ihre Vermutung zu äußern, dass er sich nach wie vor heimlich mit Astrid traf. Sie kannte seine Antwort: Sie sei krankhaft eifersüchtig und solle eine Therapeutin aufsuchen.

Aber sie war sich sicher: Sie hatte ihren Verdacht zu Recht, nur eben keine Beweise. Ausgerechnet Astrid, die so von sich selbst eingenommen war und bei jeder Gelegenheit betonte, dass ihr IQ überdurchschnittlich hoch sei, hatte ganz unverhohlen versucht, sich an Alex heran zu machen. Und Alex war nur zu bereit gewesen für kleine Abwege. Aber er hatte Nora fest versprochen, dass diese Geschichte vorbei sei.

Eine Weile hatte sie ihm geglaubt, denn nachdem sie die Affäre aufgedeckt hatte, war Alex zeitweise weitaus liebevoller und zärtlicher, und im Bett war es hin und wieder beinahe noch aufregender als in ihren Anfangszeiten. Doch in letzter Zeit gab es zu viele Veränderungen: Plötzlich musste er erstaunlich häufig abends nochmals ins Büro. Angeblich verlangte das seine neue Aufgabe als Abteilungsleiter. Doch er verließ nie das Haus, ohne sich vorher zu duschen und zu parfümieren.

Und noch etwas fiel ihr auf: Er war oft unaufmerksam, wenn sie etwas erzählte und wenn sie ihn fragte, ob sie ihn langweile, redete er sich mit Müdigkeit heraus. Seltsam nur, dass er nie zu müde war, um Fahrrad zu fahren. Das tat er neuerdings nahezu täglich und stundenlang. Außerdem hatte er ein paar Mal beinahe angewidert das Gesicht verzogen, als sie ihn verführen wollte.

Aber sie mochte sich nicht vorstellen, dass ihre Ehe am Ende war. Lieber redete sie sich ein, dass all ihre Ängste nur einem Übermaß an Fantasie entsprangen. Und so beruhigte sie sich auch jetzt wieder: Schließlich war heute Alex Geburtstag, und sein Bruder hatte sich bisher nicht gemeldet. Vermutlich überprüfte er nur, ob er seinen Anruf verpasst hatte.

Als sie zurückkam, steckte er das Handy in die inzwischen reichlich verschlissene Hülle.

„Fährst Du?“, fragte er.

„Sicher. Ich werde mich nicht freiwillig neben einen alkoholisierten Fahrer setzen.“

Sie stiegen ins Auto, und Nora startete den Motor. Alex setzt die Brille auf und zog das Handy aus der Hülle.

„Hast Du eine Nachricht bekommen?“, fragte sie, während sie gleichzeitig aus dem Parkplatz auf die Straße fuhr.

„Nein, nichts!“, war seine Antwort.

„Du brauchst Deine Brille, um nichts zu lesen?“

Sie glaubte ihm kein Wort. Er hatte das Handy eben in die Ablage der Mittelkonsole gelegt, da klingelte es. Sie schielte nach dem Display, um zu sehen, wer anrief. Für einen kleinen Moment hatte sie dabei nicht auf den Verkehr geachtet. Plötzlich war es geschehen: Sie sah das andere Auto auf sich zukommen, hörte noch einen lauten Knall und ein Scheppern, dann schwappte die Bewusstlosigkeit über sie hinweg wie eine riesige Welle und trug sie an einen Ort, an dem nichts mehr so war wie zuvor.

Im Krankenhaus

Als sie wieder zu sich kam, war sie völlig benommen. Ihr Kopf schmerzte und alles drehte sich im Kreis. Zuerst sah sie nur schemenhaft eine Gestalt. Erst allmählich kristallisierte sich eine Person in weißem Kittel aus der Nebelsuppe. Der Geruch im Raum kam ihr bekannt vor. Es roch durchdringend nach Medikamenten und Reinigungsmitteln. Langsam wurde ihr klar, dass sie in einem Krankenhaus lag.

„Warum bin ich hier?“, fragte sie die Schwester, die vor ihrem Bett stand. Die schaute sie prüfend an.

„Wissen Sie das wirklich nicht? Sie hatten einen Unfall! Die Polizei wird Sie später dazu befragen. Doch erst einmal müssen Sie zur Ruhe kommen. Ihr Herz macht ein wenig Probleme. Aber keine Sorge, es ist nur eine kleine Herzschwäche. Wir bekommen das schon wieder hin. Sie haben einen Betablocker erhalten, da wird sicher alles bald wieder stabil.“

Davon merkte Nora nichts. Ihr Herz stolperte und raste, und sie fühlte einen unangenehmen Druck – als säße ihr ein Gespenst auf der Brust, das mit aller Kraft ihren Brustkorb zusammenpresste.

„Ihr Mann liegt auf der Intensivstation!“, fügte die Schwester hinzu. „Er hatte eine Lungenkontusion, aber er ist nicht in Gefahr. Er wird ein paar Stunden künstlich beatmet!“

„Mein Mann?“, fragte Nora verwirrt.

„Ja, er ist doch Ihr Mann, oder nicht? Wir konnten ihn nicht befragen, weil wir ihn kurzzeitig in ein künstliches Koma versetzt haben. Er hatte keine Papiere dabei, nur ein ziemlich altes Handy!“

Nora versuchte, sich zu erinnern. Aber in ihrem Kopf war nur zäher Nebel.

„Ich weiß gar nichts“, sagte sie beunruhigt, während sie sich mit der Hand über die Stirn fuhr. Aber der Nebel ließ sich nicht wegwischen.

„Fallen Ihnen andere Personen aus Ihrem Umfeld ein? Kinder, Eltern oder sonstige Verwandte? Eine Freundin vielleicht? Dann können wir sie benachrichtigen!“

Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie fand nichts. Hin und wieder blitzte der Hauch einer Erinnerung auf, nur um im selben Moment zu verschwinden. Aber in ihrem Gedächtnis waren keine Personen, keine Orte, keine Handlungen. Was hatte das zu bedeuten? Wie hatte sie gelebt, wer war sie, was war geschehen? Nora schnappte nach Luft. Sie war ein Mensch ohne Vergangenheit. Würde das so bleiben? Und wie sollte sie so leben?

„Ich weiß überhaupt nichts“, sagte sie, „in meinem Kopf ist ein großes Nichts. Was hat das zu bedeuten?“

„Ach, machen Sie sich mal keine Sorgen!“, versuchte die Schwester, sie zu beruhigen.

„Das passiert oft nach einem psychischen Schock. Das ist nur der blanke Selbstschutz. Geht alles wieder vorbei! Genießen Sie die Zeit des Nichtwissens. Sie können sich jetzt sozusagen neu erfinden. Das würde ich auch manchmal gerne!“, sagte sie laut lachend. „Ach übrigens, ich bin Schwester Isolde.“

„Isolde? Wie bei Wagner?“

„Na sehen Sie, an etwas erinnern Sie sich also doch. Ja. Meine Eltern waren absolute Wagner-Fans und hielten es für eine tolle Idee, ihre Tochter Isolde zu nennen. Ich find es eher lästig, immer die gleiche Frage gestellt zu bekommen!“

„Oh, das tut mir leid. Das kann ich verstehen. Sagen Sie, werde ich mich irgendwann wieder an alles erinnern können? Und wie lange kann das dauern?“

„Ganz sicher. Manchmal dauert es nur ein paar Stunden, manchmal ein paar Tage, nur in sehr seltenen Fällen ist die Erinnerung dauerhaft verschwunden. Aber das müssen Sie nicht befürchten. Mit ihrem Gehirn ist alles in Ordnung. Ruhen Sie sich einfach erstmal aus, dann wird das schon wieder. Wir werden in der Nacht öfters nach Ihnen sehen. Vermutlich haben Sie eine leichte Gehirnerschütterung. “

Die Zimmernachbarin

Nora fühlte sich, als hätte sie den Schleudergang in der Waschmaschine eben überstanden und dabei seien alle ihre Gehirnzellen durcheinandergeraten. Sie hatte Kopfschmerzen, und ihr Herz raste und stolperte. Sie wusste nicht, wie sie die Nacht durchstehen sollte. Doch die Beruhigungsspritze, die die Schwester ihr gegeben hatte, schien zu wirken. Wider Erwarten war sie bald in einen tiefen Schlaf gefallen. Sie merkte zwar, dass ab und zu jemand sie kurz weckte, ihre Augenlider hochzog und mit der Taschenlampe ihre Pupillen überprüfte. Doch sie wurde nie richtig wach und schlief im selben Moment wieder ein.

Als morgens das Licht anging und Schwester Isolde hereinkam, war sie noch immer völlig benommen und wollte nur weiterschlafen. Aber sie hatte keine Chance.

„Guten Morgen, die Damen. Wachen Sie auf! Hier ist Ihr Frühstück, danach ist Visite, und wahrscheinlich werden Sie anschließend Besuch von der Polizei bekommen.“

Schwester Isolde stellte Noras Tablett auf den kleinen Nachttisch und holte anschließend von draußen ein zweites. Erst jetzt bemerkte Nora, dass im Zimmer ein weiteres Bett stand mit einer jungen Frau darin, vielleicht 30, höchstens 35 Jahre alt. Sie hatte ein paar Schrammen im Gesicht, aber nichts Großes, und eine Halskrause. Ihre blonden Haare waren zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten, und sie war geschminkt. Die Schminke war ein wenig verlaufen und vermutlich von gestern. Sie sah so müde aus, wie Nora sich fühlte. Wahrscheinlich hatte sie ebenfalls eine Beruhigungsspritze bekommen.

„Guten Morgen!“, sagte Nora. „Hatten Sie auch einen Unfall?“

„Sehr witzig!“, antwortete die junge Frau.

Nora war verwirrt über diese Antwort. Was sollte an der Frage witzig sein?

„Ich verstehe nicht?“

„Sie haben mich doch angefahren! Und nun muss ich auch noch mit Ihnen im gleichen Zimmer liegen, weil sie hier nicht genügend Betten haben!“

Nora setzte sich ruckartig auf vor Schreck. Dabei nahmen ihre Kopfschmerzen schlagartig zu und ihr Herz raste erneut. Was hatte sie getan?

„Das ist ja schrecklich. Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich kann mich an nichts erinnern!“

„Das ist natürlich praktisch! Aber es gibt Zeugen! Sie kommen also nicht raus aus der Nummer!“

„Ich will ja auch gar nicht rauskommen! Aber ich weiß doch wirklich nicht, was geschehen ist!“

Die junge Frau hob den Kopf und schaute sie eine Weile an. Dann sagte sie:

„Ich sag es Ihnen: Sie sind aus dem Parkplatz des Biergartens herausgefahren und waren offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt. Und dann ging alles schnell. Auf jeden Fall haben Sie nicht aufgepasst und haben mir die Vorfahrt genommen!“

Nora schnappte nach Luft. Wie konnte das nur geschehen? „Oh mein Gott!“, stammelte sie. „Das tut mir so leid! Sind Sie schwer verletzt? Wenn ich mich doch nur erinnern könnte!“

„Ja, ich bin verletzt, das sehen Sie doch. Ich habe ein paar Schrammen. Die sind nicht schlimm. Aber wegen des Schleudertraumas muss ich ein paar Tage hierbleiben. Und das ist fatal. Hören Sie, an irgendetwas müssen Sie sich doch erinnern!“

Nora horchte in sich hinein. „Nein. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin!“

„Wirklich?“ Die junge Frau schaute sie ungläubig an und strich sich das Haar aus der Stirn.

„Cool. So etwas habe ich bisher nicht erlebt. Ich habe aber mitbekommen, dass die Schwester Sie Frau Zorn genannt hat. Also nenne ich Sie auch Frau Zorn. Ich heiße Carla Schwalb. Aber um es gleich zu sagen: Ich bin wahnsinnig sauer auf Sie! Sie haben mir einen wichtigen Auftrag vermasselt!“

Nora sah sie hilflos an:

„Ich kann nur nochmals sagen, dass es mir leidtut! Kann ich etwas tun, um es wieder gut zu machen?“

„Nein, können Sie nicht! Sie liegen im Krankenhaus! Ich muss selbst sehen, wie ich damit klarkomme.“

Mit diesen Worten stellte sie energisch ihre Kaffeetasse zurück aufs Tablett und legte den Kopf auf das Kissen.

Nora suchte vergeblich in ihrem Gedächtnis nach Erinnerungen. Schließlich gab sie auf und versuchte, nochmals ein wenig zu schlafen. Aber es dauerte keine zwei Minuten, als die Tür aufging und ein Polizist und eine Polizistin hereinkamen. Sie traten an Noras Bett:

„Frau Zorn? Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Hinter ihnen stand der Arzt, den Nora bisher noch gar nicht gesehen hatte und wies die beiden darauf hin, dass sie die Patientin nicht aufregen dürften.

„Fünf Minuten! Mehr kann ich nicht erlauben!“

Nora setzte sich erschreckt auf und schaute die beiden Polizisten an:

„Was wollen sie denn wissen? Ich weiß doch gar nichts mehr!“

Die beiden sahen zum Arzt, der bestätigend nickte.

„Sie haben einen Unfall verschuldet und dabei eine Verkehrsteilnehmerin gerammt. Ihre beiden Autos sind stark beschädigt, ihr Mann und die Fahrerin des zweiten Wagens sind verletzt! Und an das alles wollen Sie sich nicht erinnern können?“, wunderte sich der dicke Polizist mit dem Schnauzbart.

„Ich weiß es, weil Frau Schwalb es mir erzählt hat. Aber ich schwöre Ihnen, ich kann mich an gar nichts erinnern, nicht einmal daran, wer ich überhaupt bin!“

„Das ist schlecht, dann sind wir im Moment umsonst hier. Aber wir müssen einen Unfallbericht aufnehmen, und zwar so schnell wie möglich. Die Zeugen haben wir bereits vernommen und ebenso die Unfallgegnerin. Die Schuld liegt wohl eindeutig bei Ihnen. Auf jeden Fall müssen Sie für den Schaden aufkommen. Setzen sie sich mit Ihrer Versicherung in Verbindung!“

„Aber wie soll ich das denn tun?“, fragte Nora verzweifelt.

„Ich weiß nicht einmal, ob ich eine Versicherung habe, geschweige denn, wie sie heißt.“

Jetzt griff die junge Polizistin ein und meinte:

„Sie werden sich sicher bald wieder erinnern. Und bestimmt haben Sie eine Versicherung. Kommen Sie bitte gleich auf die Polizeiwache, sobald Sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, damit wir den Fall abschließen können.“

„Frau Zorn wird erst mal hierbleiben müssen!“, mischte sich der Arzt in das Gespräch. „Wir müssen noch abklären, warum ihr Herz nicht aufhört zu tachykardieren. Und jetzt sollten Sie gehen, Sie sehen ja; die Patientin regt sich auf, und das ist für ihren Zustand sehr schlecht!“.

Die beiden verabschiedeten sich und verließen das Zimmer. Der Arzt kontrollierte den Monitor, auf dem ihre Herztöne aufgezeichnet wurden, und drehte dann an der Infusion, die zur Vene ihrer linken Hand gelegt war.

„Es wird gleich wieder besser. Falls nicht, müssen wir spätestens morgen ein Herz–CT machen, um die Ursachen herauszufinden“, meinte er und entfernte sich dann ebenfalls.

„Das gibt bestimmt noch jede Menge Ärger!“, meldete sich Carla Schwalb aus ihrem Bett.

In Nora wuchs immer mehr ein Gefühl der Verzweiflung heran. Sie war verlassen von aller Welt. Ob das der Wirklichkeit entsprach, wusste sie nicht. Aber solange ihr Gedächtnis sie im Stich ließ, konnte sie mit niemandem Kontakt aufnehmen. Sie drückte die Hände an den Kopf, als könne sie die Erinnerung mit Gewalt herbeizwingen. Doch da kam nichts, gar nichts. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, ohne dass sie sie verhindern konnte. Was hatte sie nur angerichtet, und was kam noch alles auf sie zu? Sie hatte Angst.

Carla sah sie weinen, und plötzlich tat sie ihr leid. Ihr Ärger verschwand allmählich und an seine Stelle trat ein zaghaftes Mitgefühl. Sie versuchte, sie zu beruhigen. „Machen Sie sich bloß nicht so viele Gedanken. Sie haben garantiert eine Versicherung, und wenn Sie sich nicht erinnern, dann tut es eben ihr Mann oder ihre Kinder oder ihre Eltern oder ihre Freundin. Irgendjemanden wird es schon geben, der weiß, was zu tun ist!“

Noras Eltern

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da wurde die Tür erneut geöffnet. Schwester Isolde brachte ein älteres Ehepaar herein. „Erschrecken Sie nicht, Ihre Tochter kann Sie vermutlich nicht erkennen. Sie hat eine totale Amnesie“, warnte sie die Beiden. Mit zögerndem Schritt näherten sie sich Noras Bett. Carla sah sie aufmerksam an. Sie wirkten sehr vertraut miteinander, aber auch leicht besorgt. Der Mann hatte kurze graue Haare, und hinter seiner Brille verbargen sich ein paar warme braune Augen. Er war mit einer Cordhose und einem karierten Hemd bekleidet. Sein Blick war freundlich und von einer gewissen Altersmilde geprägt. Auf Carla wirkte er sehr liebenswürdig. Auch die Frau gefiel ihr: Sie trug ebenfalls eine Brille mit schmalem Goldrand, die Haare waren dunkel, wahrscheinlich gefärbt, und ihre Kleidung war schlicht und auf ganz eigene Art elegant. Sie schaute ihre Tochter mit liebevollem Lächeln an, doch Carla erkannte in ihrem Blick eine Traurigkeit, die sie vermutlich schon lange begleitete und sich wie ein Mantel um sie gelegt hatte.

Nora hatte noch immer die Hände an der Stirn, und es war offenkundig, dass sie die beiden Menschen nicht einordnen konnte. Sie sah sie fragend an.

„Nora, wie geht es Dir!“, fragte die Frau. „Was ist denn genau passiert?“

„Es geht mir gut, aber wer sind Sie, bitte?“

Die beiden sahen sich beunruhigt an. Nun mischte sich der Mann ein:

„Aber Kind, wir sind es doch, Deine Eltern. Und Du bist unsere Nora. Erkennst Du uns denn nicht?“

Nora schüttelte stumm verzweifelt den Kopf. Die Mutter wandte sich an Schwester Isolde.

„Können wir irgendetwas tun, um ihr beim Erinnern zu helfen?“

„Ja, vielleicht. Bringen Sie Fotoalben aus ihrer Kindheit mit und schauen Sie sie mit ihr zusammen an. Das hilft wahrscheinlich nicht sofort, aber mit der Zeit kommt die Erinnerung zurück. Und ihre Tochter könnte außerdem Nachtwäsche und Kosmetikartikel gebrauchen. Sie sehen ja, sie hat noch das Krankenhausnachthemd an. Das ist nun gerade nicht besonders modisch!“

„Sollen wir auch ihre Tochter Emily mitbringen? Oder ist das zu viel für sie?“

„Das müssen Sie ausprobieren. Sie merken ja, wenn es zu viel ist, dann können Sie immer noch gehen. Aber ich denke, es ist einen Versuch wert!“

„Danke, Sie sind sehr freundlich! Dann kommen wir später nochmal. Auf Wiedersehen, mein Liebling! Bis heute Nachmittag!“

Nora beobachtete sie, wie sie das Zimmer verließen, und legte sich dann wieder in ihr Kissen zurück. Sie fühlte eine unbestimmte Sehnsucht nach diesen beiden Menschen und konnte doch nicht sagen, warum. Es wäre schön, solche Eltern zu haben. Aber wie konnte sie da sicher sein?

Carla beobachtete sie. „Sie erinnern sich wirklich nicht an Ihre Eltern? Das kann ich kaum glauben!“

„Aber genauso ist es. Irgendein Gefühl ist da, aber keine Erinnerung.“

„Was haben Sie denn gefühlt?“

„Nun ja, es ist komisch. So etwas wie Sehnsucht. Und Vertrautheit. Und Wärme. Aber auch noch etwas Anderes, so eine Art Angst vor Enttäuschung!“

„Also wenn das ihre Eltern sind, dann haben Sie wirklich Glück. Sie wirken auf mich sehr liebevoll.“

Im Zimmer kehrte wieder Ruhe ein. Noras Herz raste noch immer, aber es klopfte nicht mehr so heftig. Und so versuchte sie, ein wenig zu schlafen.

Den ganzen Vormittag dämmerte sie vor sich hin. Manchmal wachte sie kurz auf, wenn die Schwester kam, um nach dem Monitor zu sehen oder die Infusion austauschte. Die Stille empfand sie als beruhigend. Sie war froh, dass keiner etwas von ihr wollte, und dass sie niemandem gestehen brauchte, dass sie ihn oder sie nicht erkannte.

Als Astrid auftauchte, schlief sie tief. Sie kam ins Zimmer und sah sich um, und marschierte grußlos zu Noras Bett. Sie verschwendete keinen Blick auf Carla, grüßte sie auch nicht. Carla empfand sofort eine große Abneigung gegen sie. Und daran waren nicht ihre Basedow-Augen schuld: Es war ihr lauernder Blick, ihr Gang, mit dem sie sich ans Bett heranschlich, ihre Zielstrebigkeit, mit der sie das Zimmer betrat und ebenso wieder verließ, mit hoch aufgerichtetem Kopf und herausgedrückter Brust. Was sie vorhatte, wusste Carla nicht, aber sie war sich sicher, dass diese Person irgendeine dunkle Absicht mit ihrem Besuch verfolgte. Und die würde sie vermutlich nicht aufgeben. Die kurze Zeit hatte ihr gereicht, um sich ein Bild von ihr zu machen. Auf sie wirkte sie wie eine hinterlistige Hyäne, die sich als stolze Hirschkuh gebärdete. Dieser Frau würde sie nicht einen Moment über den Weg trauen. Sie würde auf jeden Fall aufpassen. Sie spürte, dass Nora womöglich von irgendjemandem Hilfe gebrauchen könnte. Wenn es denn sein musste, auch von ihr.

Noras Kindheit

Die Mittagspause war vorüber. Carla hatte Besuch von ihrem Mann bekommen. Nora schätzt ihn auf 35. Er war groß und schlank, aber das Auffallendste an ihm waren seine tiefliegenden blauen Augen. Man hatte das Gefühl, in sie hineingezogen zu werden. Doch es sah nicht so aus, als hätte er selbst für jemand anderen Augen als für Carla. Er behandelte seine Frau zärtlich, die beiden lachten häufig miteinander, berührten sich. Sie sprachen gelegentlich über Probleme mit ihrer Firma, aber Nora konnte nicht verstehen, worum es dabei ging. Es musste schön sein, jemanden an seiner Seite zu haben, mit dem man so harmonierte. Ob das mit ihr und ihrem Mann auch so war? Wenn sie sich doch nur erinnern könnte! Sie würde ihn am Abend besuchen. Zum Glück lag er heute noch im künstlichen Koma, und sie könnte ihn ungestört betrachten.

Nach wie vor hatte sie weder Bilder zum Unfallhergang noch zu ihrem bisherigen Leben. Wie sah das aus? Hatte sie eine nette Familie? Einen Beruf? Kinder? Ach ja, das hatte man ihr schon erzählt. Sie hatte zwei Töchter. Aber wie waren sie? Mochten sie sich? Wie war ihre Ehe? Und wollte sie das überhaupt alles wissen? Der Rat von Schwester Isolde war vielleicht gar nicht so verkehrt: sich neu zu erfinden. Sie könnte aufstehen und gehen, wohin sie Lust hatte, und dort ein neues Leben beginnen. Aber solange ihr Herz so in Unruhe war, musste sie hierbleiben.

Ihre Gedanken wurden von einem zaghaften Klopfen unterbrochen. Carla rief laut „Ja!“ Die Tür öffnete sich, und herein kamen Noras Eltern, die ein junges Mädchen mitbrachten.

Sie wirkte auf eine bestimmte Art jung und unschuldig. Carla erkannte die Ähnlichkeit mit Nora: die hohen Wangenknochen, der volle Mund, die schmale Nase, nur die Farbe der Augen war nicht blaugrün, wie bei ihrer Mutter, sondern braun. Und die Haare hatte sie wohl auch eher vom Vater, denn weder Farbe noch Struktur ähnelten denen der Mutter. Nora hatte schwarze lockige Haare, die kurz geschnitten und aus dem Gesicht frisiert waren. Dadurch wirkte ihr Gesicht offen und klar. Es hatte eine starke Anziehungskraft, aber Carla hatte das Gefühl, dass Nora sich dessen gar nicht bewusst war.

Das Mädchen hingegen trug ihre langen dunkelblonden Haare offen wie einen Vorhang um ihre Schultern gelegt. Man sah ihr an, dass sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Konnte sie sich der Mutter in die Arme werfen, oder sollte sie lieber warten, ob sie sie erkennen würde? Sie sah zögernd zu ihren Großeltern. Von der Großmutter bekam sie ein ermunterndes Lächeln. Am Ende siegte ihre Kindesliebe, und sie setzte sich ans Bett und umarmte Nora lange und streichelte ihren Kopf.

„Mama, ich bin so froh, dass Dir nichts Schlimmes passiert ist. Oma hat gesagt, Du kannst schon bald wieder nach Hause kommen!“

Nora sah fragend zu den Menschen, die ihre Eltern waren. „Das ist Emily, die jüngere Deiner beiden Töchter. Erinnerst Du Dich? Laura ist zurzeit mit ihrem Freund auf Weltreise. Sie wird sich heute Abend über Skype bei uns melden. Wir haben ihr gesagt, sie solle ihre Reise unbedingt fortsetzen. Sie wollte gleich den nächsten Flieger nehmen und zurückkommen!“

Nora sah zu dem jungen Mädchen und hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen. Aber sie wusste nicht, worüber sie reden sollte. Zu sagen, dass sie sich nicht erinnerte, würde sie sicher verletzen. Also blieb sie still. Und gleichzeitig genoss sie die körperliche Nähe zu ihrer Tochter, auch wenn die Erinnerung noch fehlte.

Eine Zeitlang war nichts im Zimmer zu hören, dann holte ihr Vater einen Stuhl ans Bett und setzte sich, während die Mutter neben Emily an der Bettkante saß. Neben Noras Vater stand eine Aktenmappe, die wohl schon viele Jahre gesehen hatte. Das Leder war an manchen Stellen ausgebleicht und leicht brüchig. Er öffnete sie und holte ein altes Fotoalbum heraus, das er vor Nora auf die Bettdecke legte.

„Schau mal, Mama! Die Großeltern haben Fotos von Dir mitgebracht!“ Und damit schlug Emily das Album auf und zeigte Nora Foto um Foto.

„Oma, Du musst was dazu sagen!“, forderte Emily ihre Großmutter auf und ging selbst nach draußen, um sich eine Cola zu holen.

„Das bist Du nach der Geburt!“, erklärte Noras Mutter. Und dann blätterte sie Seite für Seite um und erzählte Geschichten aus einem Leben, das Nora nichts sagte. Schlittenfahren im Winter, Spielen auf dem Spielplatz, Dreirad fahren, Schule, Urlaub in der Bretagne usw. Eine Kindheit wie vermutlich viele. Wenn sie die Erwartung hatten, ihre Erinnerung käme damit zurück, hatten sie sich getäuscht. Aber Nora wollte nicht unhöflich sein und sah sich Bild für Bild an.

„Wer ist dieses Kind?“, fragte sie nach einer Weile, als plötzlich ein zweites Mädchen auf den Fotos zu sehen war. Noras Mutter wandte sich ab. In das entstandene Schweigen hinein sprach ihr Vater:

„Das ist Deine Schwester Nelly.“

Nora schaute das Mädchen neugierig an, aber so, wie man eine Fremde ansieht. Sie fragte nicht weiter nach. Doch sie spürte am Verhalten der Mutter, dass mit Nelly irgendetwas geschehen war. Sie wollte es nicht wissen, jedenfalls nicht jetzt. Im Augenblick wollte sie nur ihre Ruhe. Sie legte sich zurück und schloss die Augen, hoffend, dass alle bald wieder gehen würden.

Und erlöst hörte sie, wie ihre Mutter sagte: