Ein Kind klagt an - Gert Rothberg - E-Book

Ein Kind klagt an E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Schwester Regine saß auf einer Bank im Park von Sophienlust. Sie liebte diese schattige Bank unter der uralten Buche ganz besonders. Von hier aus konnte sie gut die Kinder beobachten, die auf der Wiese spielten. Heute hatten sich dort fast ausschließlich kleine Mädchen eingefunden, die bei dem schönen Sommerwetter ihre Puppen gebracht hatten. Liebevoll wurden die großen und kleinen Püppchen auf die Wiese gesetzt, und jetzt liefen die kleinen Puppenmütter davon, um Blumen für Kränze zu suchen. Das war ein Lachen und Schwatzen! Schwester Regine ließ für einen Augenblick ihre Näharbeit in den Schoß sinken und sah lächelnd zu den blonden und braunen Mädchenköpfen hinüber. Wie froh und glücklich die Kinder waren. Für einen Fremden musste es fast so aussehen, als gäbe es hier in Sophienlust wirklich nur glückliche Kinder. Nicht ganz umsonst hatte Sophienlust den Namen »das Heim der glücklichen Kinder« erhalten. Alles, was nur möglich war, wurde hier für die elternlosen Kinder oder für solche Kinder, die niemand haben wollte, getan. Schwester Regine wusste am besten, wie viel Leid und Elend sich oft hinter einem Kinderschicksal verbarg. Viele Kindertränen hatte sie schon gesehen und viel Trauer in den Kinderaugen gelesen. Meistens fühlten sich die Kinder in Sophienlust sehr wohl und glücklich, aber hin und wieder gab es auch Kinder, die immer traurig waren und nur selten lachten. Diese Kinder hielten sich stets im Hintergrund. Dann hieß es aufzupassen, damit diese Kinder nicht zu kurz kamen. Gerade diese Kinder brauchten doppelte Liebe und Aufmerksamkeit. Schwester Regine wurde das Herz oft schwer, wenn sie an diese Kinder dachte. Sie hätte gern sehr viel mehr für diese Sorgenkinder getan, aber das war sehr schwer, und außerdem sollte sie ihre Liebe gerecht unter alle Kinder verteilen.

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Seitenzahl: 151

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophienlust Extra – 123 –Ein Kind klagt an

Gert Rothberg

Schwester Regine saß auf einer Bank im Park von Sophienlust. Sie liebte diese schattige Bank unter der uralten Buche ganz besonders. Von hier aus konnte sie gut die Kinder beobachten, die auf der Wiese spielten. Heute hatten sich dort fast ausschließlich kleine Mädchen eingefunden, die bei dem schönen Sommerwetter ihre Puppen gebracht hatten. Liebevoll wurden die großen und kleinen Püppchen auf die Wiese gesetzt, und jetzt liefen die kleinen Puppenmütter davon, um Blumen für Kränze zu suchen.

Das war ein Lachen und Schwatzen! Schwester Regine ließ für einen Augenblick ihre Näharbeit in den Schoß sinken und sah lächelnd zu den blonden und braunen Mädchenköpfen hinüber. Wie froh und glücklich die Kinder waren. Für einen Fremden musste es fast so aussehen, als gäbe es hier in Sophienlust wirklich nur glückliche Kinder. Nicht ganz umsonst hatte Sophienlust den Namen »das Heim der glücklichen Kinder« erhalten. Alles, was nur möglich war, wurde hier für die elternlosen Kinder oder für solche Kinder, die niemand haben wollte, getan. Schwester Regine wusste am besten, wie viel Leid und Elend sich oft hinter einem Kinderschicksal verbarg. Viele Kindertränen hatte sie schon gesehen und viel Trauer in den Kinderaugen gelesen.

Meistens fühlten sich die Kinder in Sophienlust sehr wohl und glücklich, aber hin und wieder gab es auch Kinder, die immer traurig waren und nur selten lachten. Diese Kinder hielten sich stets im Hintergrund. Dann hieß es aufzupassen, damit diese Kinder nicht zu kurz kamen. Gerade diese Kinder brauchten doppelte Liebe und Aufmerksamkeit.

Schwester Regine wurde das Herz oft schwer, wenn sie an diese Kinder dachte. Sie hätte gern sehr viel mehr für diese Sorgenkinder getan, aber das war sehr schwer, und außerdem sollte sie ihre Liebe gerecht unter alle Kinder verteilen. Da sie wusste, dass auch das beste Heim kein Elternhaus ersetzen konnte, war Schwester Regine immer sehr glücklich, wenn einer ihrer Schützlinge ein neues Zuhause fand. Es gab ja viele Ehepaare, die ein Adoptivkind suchten. Trotzdem dauerte es oft sehr lange, bis es wirklich zu einer Adoption kam.

Jetzt seufzte Schwester Regine unwillkürlich laut auf. Wie lieb- und gedankenlos doch die Menschen oft waren. Für viele war so ein Kind weiter nichts als ein Objekt. Man nahm es zunächst einmal mit, und wenn das Kind nicht zusagte, dann brachte man es einfach wieder in das Heim zurück.

Die unmöglichsten Dinge hatte die Kinderschwester schon erlebt. Die Leidtragenden waren dabei natürlich immer die Kinder, die mit so großen Hoffnungen zu den neuen Eltern gegangen waren, weil sie sich alle nach einem Elternhaus und nach Liebe sehnten.

Es konnte gar nicht ausbleiben, dass die Gedanken Schwester Regines jetzt zu der kleinen Karin abschweiften, die vor einer guten Woche von einem Ehepaar abgeholt worden war. Gerade für Karin wünschte sich Schwester Regine sehr liebevolle Menschen, die es verstanden, auf das kleine vierjährige Mädchen einzugehen, das ganz besonders scheu und unbeholfen war und auch nicht so ansprechend wirkte wie die anderen Kinder. Hinzu kam, dass Karin bereits mit einem Herzfehler geboren worden war. Wie sich jetzt bei einer sehr gründlichen Untersuchung herausgestellt hatte, würde eine Operation das Kind retten können. Das Ehepaar, das Karin vor Kurzem zur Probe mitgenommen hatte, sollte sich finanziell gut stehen, sodass die Möglichkeit bestand, dass es etwas für Karin tat.

Arme kleine Karin, dachte Schwester Regine bedrückt. Das Schicksal dieses Kindes lag ihr ganz besonders am Herzen. Karin war noch keine zwei Jahre alt gewesen, als sie nach Sophienlust gebracht worden war. Ein Kollege von Frau Dr. Anja Frey, der in einem großen Kinderkrankenhaus als Chefarzt arbeitete, hatte die junge Ärztin auf das Kind aufmerksam gemacht, weil er gewusst hatte, dass Dr. Anja Frey die Kinder in Sophienlust ärztlich betreute. Es war ihm nicht schwergefallen, die Ärztin für das Kind zu interessieren. Als diese daraufhin mit Denise von Schoenecker über die kleine Karin gesprochen hatte, war Denise sofort bereit gewesen, das Kind in Sophienlust aufzunehmen.

Karins Mutter war bei der Geburt des Kindes gestorben. Sie war noch sehr jung gewesen, fast selbst noch ein Kind. Ihre Familie hatte sich vollkommen von ihr losgesagt gehabt, und der Vater von Karin, ebenfalls noch sehr jung, war schon lange vor Karins Geburt tödlich verunglückt. Für das junge Mädchen waren die vielen Schicksalsschläge wohl zu viel gewesen. Die junge Mutter war seelisch und körperlich ein gebrochener Mensch gewesen, als Karin zur Welt gekommen war. Sie hatte für immer die Augen geschlossen, als Karin ihren ersten Schrei getan hatte.

Seitdem Karin nach Sophienlust gekommen war, hatte Denise von Schoenecker sich immer wieder bemüht, für Karin ein liebevolles Plätzchen zu finden. Es war ihr großer Wunsch gewesen, für Karin Adoptiveltern zu gewinnen. Aber das war bei diesem Kind ganz besonders schwer gewesen. Wer nahm schon ein Kind, das nicht gesund war? Gewiss konnte Karin gesund werden, aber eine Operation würde sehr viel Geld kosten, da diese Operation nur in Amerika durchgeführt werden konnte.

Schwester Regine blickte geistesabwesend zu der dichten Laubkrone über sich empor. Sie dachte daran, wie glücklich Denise von Schoenecker gewesen war, als vor etwa einem halben Jahr ein älteres Ehepaar bereit gewesen war, Karin bei sich aufzunehmen. Die beiden hatten erklärt, dass sie Karin adoptieren wollten, wenn sie sich gut bei ihnen einleben würde. Doch leider war das Kind schon nach drei Wochen nach Sophienlust zurückgebracht worden. Karin entspreche nicht den Anforderungen, die man an ein Kind stelle, hatte es geheißen. Sie sei zu still und scheu, sie spreche kaum und mache immer einen bedrückten und traurigen Eindruck. Man wolle aber ein fröhliches und anschmiegsames Kind haben.

Alle Einwendungen von Denise, dass man es doch noch einmal versuchen solle, und dass das Kind Zeit brauche, um sich einzugewöhnen, war umsonst gewesen.

Karin aber war danach noch verschlossener und noch scheuer geworden. Sie kam seitdem allen Menschen mit Misstrauen entgegen. Es sah ganz so aus, als habe sie seitdem Angst, sich noch einmal an einen Menschen anzuschließen. Sogar den anderen Kindern war sie oft aus dem Weg gegangen. Nur zu Denise und zu ihr, Schwester Regine, hatte sie sich etwas zugänglicher gezeigt.

So war es kein Wunder, dass Denise von Schoenecker von ganzem Herzen wünschte, dass Karin diesmal mehr Glück mit ihren zukünftigen Adoptiveltern habe. Wenn Schwester Regine aber an das Ehepaar Radtke dachte, das Karin in seinem großen dunklen Mercedes abgeholt hatte, dann wurde ihr das Herz schwer. Frau Radtke hatte gar keinen günstigen Eindruck auf sie gemacht. Sie hatte etwas oberflächlich und affektiert auf sie gewirkt. Frau Radtke war bestimmt kein mütterlicher Typ. Schwester Regine konnte sich ganz und gar nicht vorstellen, dass sie es verstand, auf ein Kind wie Karin einzugehen.

Bis jetzt hatte Schwester Regine noch nicht mit Denise von Schoenecker über ihre Befürchtungen gesprochen, aber sie wusste, dass ein so feinfühliger Mensch wie Denise von Schoenecker ebenfalls oft besorgt an das kleine Mädchen dachte. Sie, die selbst Schweres hatte durchstehen müssen, konnte sich wunderbar in fremdes Leid hineinversetzen und nahm an jedem Schicksal regen Anteil.

Schwester Regine wusste, dass hinter Denise von Schoenecker eine harte Zeit gelegen hatte, bevor sie ihren jetzigen Mann, Alexander von Schoenecker geheiratet hatte. Mit ihrem ersten Mann, Dietmar von Wellentin, war Denise nur ein kurzes Glück beschieden gewesen. Dietmar war sehr jung gestorben, und da Denise von seiner Familie nicht anerkannt worden war, weil sie Tänzerin gewesen war, hatte sie nach dem Tod ihres Mannes völlig mittellos dagestanden. Sie war gezwungen gewesen, ihren kleinen Sohn Nick in ein Kinderheim zu geben, um den Lebensunterhalt für sich und das Kind verdienen zu können. Erst nach dem Tod von Sophie von Wellentin, der Großmutter ihres verstorbenen Mannes, war es ihr besser gegangen. Die alte Dame hatte ihren Urenkel Dominik, oder Nick, wie er genannt wurde, das Gut Sophienlust mit dem Wunsch vererbt, aus dem alten Herrenhaus ein Heim für elternlose Kinder oder solche, die Geborgenheit und Liebe benötigten, zu machen. Bis zur Großjährigkeit ihres Sohnes Nick verwaltete Denise von Schoenecker den Besitz.

Schwester Regine war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie erschrocken zusammenfuhr, als die Kinder jetzt laut schreiend den breiten Kiesweg, der zum Herrenhaus führte, entlangstürmten. »Tante Isi, Tante Isi«, schrien sie dabei. »Fein, Tante Isi, dass du zu uns in den Park kommst. Hast du ein bisschen Zeit für uns? Spielst du etwas Schönes mit uns?« So riefen die Kinder durcheinander und drängten sich dicht an die schlanke schöne Frau heran, ihre geliebte Tante Isi.

Denise von Schoenecker strich liebevoll über die blonden und braunen Kinderköpfe. »Heute müsst ihr allein spielen, Kinder. Ich bin nur in den Park gekommen, weil ich etwas mit Schwester Regine zu besprechen habe. Sie ist doch hier draußen bei euch?«

»Sie sitzt dort auf der Bank«, riefen alle im Chor und deuteten auf die Bank, auf der Schwester Regine saß. »So, dann lauft nur wieder zu euren Puppen und spielt schön.«

Die Kinder sahen etwas enttäuscht zu Denise von Schoenecker auf, aber dann liefen sie lachend auf die Wiese zurück, während Denise von Schoenecker mit raschen Schritten auf die Bank zuging, auf der die Kinderschwester saß. Ihr Gesicht war sehr ernst, und um ihren schön geschwungenen Mund lag ein bitterer Zug.

Schwester Regine sah es besorgt. Fragend sah sie Denise an, als diese sich neben sie setzte. »Etwas Unangenehmes?«, fragte sie leise und bedrückt.

Denise nickte. »Das kann man wohl sagen. Meine schlimmsten Befürchtungen sind eingetroffen. Die Radtkes bringen unsere Karin zurück.«

Schwester Regine schloss für einen Augenblick die Augen, als schmerzte sie plötzlich das grelle Sonnenlicht. »Nein«, sagte sie leise. »Das darf doch nicht wahr sein!«

»Leider ist es aber die bittere Wahrheit. Frau Radtke schreibt mir, dass sie mit Karin nicht zurechtkomme. Das Kind sei so scheu, dass es kaum ein Wort spreche. Wenn Besuch komme, verkriecht es sich wie ein kleines verängstigtes Tier. Frau Radtke schämt sich, denn die Leute meinen, dass Karin ein zurückgebliebenes Kind sei.«

»Wie schrecklich ist das alles«, sagte Schwester Regine mit zuckenden Lippen. »Das arme, arme Kind.«

»Ja, das arme Kind. Ich mache mir jetzt Vorwürfe, dass wir Karin zu den Radtkes gegeben haben. Das Ehepaar hatte eigentlich gar keinen so günstigen Eindruck auf mich gemacht, aber ich hatte gehofft, dass die beiden mit Karin etwas Geduld haben und ihr Zeit lassen würden, sich einzuleben. Außerdem geht es den Radtkes finanziell sehr gut. Sie wissen ja, ich hatte die Hoffnung, dass sie Karin eine Operation in Amerika ermöglichen würden. Daraus wird nun natürlich auch nichts. Aber das Schlimmste ist doch, dass das Kind nun zum zweiten Mal enttäuscht wurde. Das kann man ja gar nicht mehr gutmachen. Es wäre besser gewesen, Karin wäre hier bei uns in Sophienlust geblieben.«

»Sie dürfen sich jetzt nicht auch noch Vorwürfe machen, Frau von Schoenecker. Sie haben es doch nur gut gemeint. Sie hofften, für Karin ein Zuhause und Menschen zu finden, die sich für sie einsetzen würden. Wir müssen uns ganz besonders um das Kind bemühen, wenn es wieder bei uns ist. Wir müssen versuchen, recht viel Zeit für Karin zu finden und uns viel mit ihr abzugeben. Es muss uns gelingen, zu erreichen, dass Karin die Enttäuschung vergisst.«

»Das wird für das Kind sehr schwer sein«, sagte Denise ernst. »Ich halte Karin für ein ungewöhnlich sensibles Kind. Vielleicht rührt die große Sensiblität von ihrer Krankheit her. Sie hat ein sehr feines Empfinden und ist durchaus nicht zurückgeblieben. Ganz im Gegenteil, sie ist für ihr Alter sehr intelligent und wach. Aber so ist es, wenn ein Kind unscheinbar und wenig ansprechbar ist. Die Leute wollen hübsche Kinder, die drollig und unbelastet sind. Natürlich ist ein Heimkind schwieriger als ein Kind, das in einem Elternhaus aufgewachsen ist. Karin hat ja noch nie ein Elternhaus kennengelernt. Was kann man eigentlich von einem Kind, das bisher immer nur in Heimen gelebt hat, erwarten? Aber wenn so ein Kind scheu und ängstlich ist, dann heißt es gleich, es sei zurückgeblieben oder gar, es sei nicht normal.«

»Aber Karin ist doch ein ganz normales Kind«, sagte Schwester Regine traurig.

Denise nickte zustimmend mit dem Kopf. »Ja, sie ist ein ganz normales Kind, aber ich sehe schon, sie wird wohl für immer bei uns in Sophienlust bleiben. Es wird sich niemand finden, der sie zu sich nimmt. Auch wird es sehr schwer sein, für sie einen Gönner zu finden, der ihr eine Herzoperation ermöglicht.« Denises schönes zartes Gesicht wurde bei den letzten Worten hart. Sie wandte den Kopf und sah Schwester Regine an. »Ich gebe aber noch nicht auf. Irgendwie muss es uns gelingen, etwas für Karin zu tun. Durch ihre Krankheit ist sie natürlich besonders still und zurückhaltend. Vor den lauten Spielen der anderen Kinder fürchtet sie sich. Ich habe Karin in den letzten Wochen oft heimlich beobachtet und bemerkt, dass sie eigentlich immer abseits von den anderen Kindern stand und fast nie an den Spielen teilnahm. Wahrscheinlich sind sie für sie auch zu anstrengend. Am liebsten saß das Kind still in einer Ecke, sah Bilderbücher an oder malte.«

Schwester Regine seufzte bekümmert. »Das alles habe ich natürlich auch beobachtet. Wenn Karin wieder in Sophienlust ist, werde ich mich mehr mit ihr beschäftigen. Man muss der Kleinen ein Gefühl von Sicherheit geben und das Gefühl, dass jemand für sie da ist. Wenn ich nur etwas mehr Zeit hätte!«

Denise von Schoenecker legte mit einer anmutigen Geste ihre Hand auf die Hand von Schwester Regine. »Ich weiß, dass Sie alles tun werden, was in Ihren Kräften liegt. Ich weiß aber auch, dass all unser Tun nur ein kleiner Tropfen auf einen heißen Stein ist. Es bedrückt mich oft sehr, dass wir nicht mehr für unsere Kinder tun können. Ach, wenn es doch nur nicht so viel Elend und Leid auf der Welt gäbe, wenn die Menschen doch ein wenig verständnisvoller und nicht so egoistisch und gedankenlos wären. Ich glaube zum Beispiel gar nicht einmal, dass die Radtkes schlecht sind. Sie sind nur einfach egoistisch und gedankenlos. Sie überlegen gar nicht, was sie dem Kind damit antun, dass sie es einfach wie ein Paket wieder zurückschicken mit der Begründung, du gefällst uns nicht, du entsprichst nicht unseren Erwartungen und Anforderungen.«

»Wann wird Karin wieder zurückkommen?«, fragte Schwester Regine.

»Wie mir Frau Radtke schreibt, wird ein Bekannter, der hier in der Nähe zu tun hat, das Kind in den nächsten Tagen bringen.«

»Sie halten es also nicht einmal für nötig, das Kind persönlich zurückzubringen. Wahrscheinlich fehlt ihnen dazu der Mut.« Die Stimme der Kinderschwester klang bitter. »Aber eigentlich habe ich damit gerechnet, und fast bin ich ein bisschen froh. Bei den Radtkes hätte sich unsere Karin nie richtig wohlgefühlt. Wenn sie jetzt nach Sophienlust zurückkommt, dann wollen wir am besten so tun, als wäre sie nur für ein paar Tage verreist gewesen. Sie ist ja zum Glück noch zu jung, um die ganze Tragweite ihres Schicksals verstehen zu können.«

*

Um die gleiche Zeit verließ Susanne Heck die große Villa ihres Vaters, um in die Stadt zu fahren. Ihr Vater hatte für den Abend einige Geschäftsfreunde eingeladen, und als Susanne das Kleid aus dem Schrank genommen hatte, das sie am Abend tragen wollte, war ihr eingefallen, dass die Kette, die zu dem Kleid passte, beim Juwelier war. Sie hätte zwar auch ein anderes Schmuckstück tragen können, aber die Kette war ein Geschenk ihres Verlobten. Martin würde sich sicher freuen, wenn sie die Kette, die das erste Geschenk von ihm war, tragen würde.

Bei diesem Gedanken zog Susanne für einen flüchtigen Augenblick die Augenbrauen zusammen. Es ist aber auch durchaus möglich, dass Martin es gar nicht bemerken würde, wenn ich die Kette trage, ging es ihr durch den Kopf. Wahrscheinlich weiß er schon gar nicht mehr, dass sie ein Geschenk von ihm ist.

Susanne hatte in Gegenwart ihres Verlobten immer das Gefühl, sie sei irgendein Gegenstand, der zu seinem Leben gehörte, wie zum Beispiel ein Bild oder ein Buch. Sie war ihm wohl im Laufe der Jahre wert und vertraut geworden, sodass er sie ganz gewiss vermisst hätte, wenn sie eines Tages nicht da gewesen wäre, aber als Tragik hätte er das sicher nicht empfunden. Sein Leben wäre auch ohne sie in den alten Bahnen weitergegangen.

Susanne kannte Martin schon seit ihrer frühesten Kindheit. Ihre Familie besaß ein großes holzverarbeitendes Werk, und Martins Vater war der Inhaber einer großen Möbelfabrik. Es war schon immer der Wunsch der beiden Familien gewesen, die Unternehmen zusammenzulegen und aneinanderzubinden. Schon in ihrer frühen Kindheit hatte Susanne von ihrem Vater zu hören bekommen, dass sie einmal Martin Frank heiraten würde. Susanne hatte damals nicht viel über die Wünsche ihres Vaters nachgedacht. Später hatte sie sich dann oft gefragt, warum ausgerechnet sie, die jüngste der vier Schwestern, den Erben der Frankschen Fabrik heiraten sollte.

Die Antwort darauf war wohl nicht allzu schwer, denn ihr Vater hatte bei ihr immer den geringsten Widerstand mit seinen Wünschen gefunden. Sie hatte sich nie gegen die Autorität ihres Vaters aufgelehnt. Sie hatte das nicht einmal versucht, während ihre Schwestern dem Vater gegenüber immer sehr aggressiv gewesen waren und sich schon früh gegen seinen Egoismus und seine Herrschsucht aufgelehnt hatten. Sie hatten dann auch sehr früh das Elternhaus verlassen, waren selbstständig geworden und kamen nur noch selten nach Hause. Melanie, die Älteste, war in Amerika verheiratet, Mechthild führte eine Modeboutique in Berlin und Christine war die Frau eines Arztes geworden und lebte in Norddeutschland.

Susanne konnte ihren Schwestern nicht verdenken, dass sie kaum noch eine Bindung an das Elterhaus hatten. Ihre gemeinsame Kindheit war alles andere als schön gewesen. Der Vater hatte sich immer nur einen Sohn und Erben für sein Werk gewünscht. Die vier Mädchen waren eine arge Enttäuschung für ihn gewesen. Es war kein Tag vergangen, ohne dass er seinen Töchtern zu verstehen gegeben hatte, dass sie für ihn eben »nur Mädchen« seien und eine nur geduldete Last. Er hatte sie sehr streng erzogen. Jede Geldausgabe für sie schien ihm körperliche Schmerzen bereitet zu haben. Die Mutter aber war viel zu schwach gewesen, um gegen ihren Mann aufzubegehren. Sie war bereits ein kranker und gebrochener Mensch gewesen, als sie ihrem Mann endlich den gewünschten Erben geschenkt hatte. Die Geburt hatte ihre letzten Kräfte verzehrt, sodass sie, als der kleine Rolf ein Jahr alt gewesen war, an einem Herzversagen gestorben war.