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Julius Nidda hat sich vorgenommen, im Ruhestand Cold Cases aus der eigenen Abteilung zu klären. Er ist ein knorriger Einzelgänger ohne fixe Beziehung und überzeugter Reisemuffel. Mit seiner geliebten Enkelin begibt er sich viel zu selten auf die Jagd nach Schmetterlingen. Viel häufiger trifft er sich mit zwei Bekannten im Lokal "Notausgang". Durch seine Hilfsbereitschaft für eine junge Nachbarin wird er zum Kriminellen. Als er sich wegen einer attraktiven Frau für eine Kurzreise entschließt, begibt er sich in eine ungeahnte Gefahr.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Konrad Schmid
Ein knorriger Typ
Kriminalroman mit Julius Nidda
© 2023 Konrad Schmid
Coverdesign: Konrad Schmid
ISBN
Hardcover
978-3-384-07595-6
e-Book
978-3-384-07596-3
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Konrad Schmid, Wöberweg 8, A 4060 Leonding, Austria.
Es gibt im Leben eine Zeit, wo es sich auffallend verlangsamt, als zögerte es weiterzugehn oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, daß einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt.
Robert Musil: Grigia (1921)
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Anmerkungen und Quellenangaben
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Wieder ein Freitag. Nicht einmal die Sonne sieht zu, als ein älterer Mann am Morgen seine Tritte in den frischen Schnee drückt. Dem Frost marschiert er mit steifen Schritten entgegen. In leichten Straßenschuhen. Typisch Julius. Mögen andere bis auf die Knochen frieren, er zieht sein Vorhaben verbissen durch. Einmal jede Woche. Auf dem Weg und den schmalen Wiesen daneben liegt trübes Weiß, schattenlos. Seit Tagen hängt über der Hauptstadt Steinfeld und dem Keilsee ein unsichtbarer Kältesee. Die Uferränder kauern unter einer Eisschicht. Täglich wächst sie ein paar Zentimeter zur Mitte hin. Der Mann bewegt sich dort jeden Freitag mit einem treuen Begleiter (für niemanden sichtbar). Morgen ist Samstag. Mit Vorliebe an Wochenenden kommt es zu Gewalttaten innerhalb der Familie, weiß Julius Nidda aus Erfahrung. Der Sonntagnachmittag bis in den Abend hinein ist ein günstiger Zeitpunkt für blutige Messer. Beziehungstaten in und wegen der Familie. Das hartnäckige Zusammenleben mehrerer Personen wurde mit der Zeit zu einem Reizwort für den Mann, der die Aufklärung von Schwerverbrechen als seine Lebensaufgabe ansieht. Am Anfang lag immer eine Leiche, am Ende wurde ein überführter Täter verhaftet. Meistens, aber nicht immer. Die Sonntage des Mannes verliefen unbeschwert, bis eine Familie explodierte. Feiertage im Doppelpack endeten selten ohne Einsatz.
Im ambitionierten Rentnertempo bewegt er auf dem Uferweg seinen vernachlässigten Körper. Man könnte ihn für einen Einzelgänger halten, schließlich lebt er seit langem allein. Gegen die Einschätzung als Alleingänger würde er sich nicht wehren. Stumm protestierend passt sich sein unsichtbarer Begleiter der Geschwindigkeit an. Er muss sie hinnehmen. Mitgefühl kann er nicht erwarten. Wenn es um seine subjektive Gesundheit geht, bleibt der Kriminalpolizist im Ruhestand hart. 60 Minuten sind eine gute Stunde und sogar dem inneren Schweinehund zuzumuten. Einmal pro Woche ist ein vernünftiger Kompromiss, ist Julius Nidda überzeugt. Besser als nie, aber noch lange kein Sport. Die angepriesenen 10.000 Schritte erreicht er, wenn er anders als beim Trinkgeld großzügig aufrundet. Jeder Freitag verlängert sein Leben um eine Woche, hat er berechnet. Nach oben hin keine Grenze, wenn er regelmäßig in Bewegung bleibt. Es geht auch ohne Hund, den ihm eine engagierte Jungärztin empfohlen hat, und ohne gesunde Körner zum Frühstück. Was soll ich mit Zährealien oder wie das Vogelfutter heißt, lautete sein brüsker Einwand. Die Medizinerin gab auf.
Auf dem menschenleeren Landungssteg für Ausflugsschiffe pflegt eine Entengroßfamilie das nasse Gefieder. Für ihr Vorhaben trauen sie den dünnen Eisrändern nicht. Die weißen Rundungen sind ungleichmäßig geformt und werden vom Seewasser getränkt, das sich allmählich in Eis verwandelt. Solange er seinen Beruf ausübte, hatte er es mit Rändern zu tun. Er ermittelte an den äußersten Grenzen der Gesellschaft, an deren Kante der Abgrund lauert. Wörter mit der Silbe „ab“ gehörten zu seinem Berufsleben. Bis zu seinem Abgang vor wenigen Jahren. Sein Abschied vom Dienst war ein nüchterner Formalakt. Abgabe der Waffe und des Dienstausweises. Alles andere blieb in seinem Inneren. Gespeichert, einzementiert für immer. Unter dem durchsichtigen Eis schwappt dreckiger Schaum hin und her. Abschaum. Dieses Wort drängt sich ihm auf, als er anhält und fröstelnd die Uferlinie entlang starrt. Ein böses Wort für böse Menschen. Ein böses Wort kann auch ein ehrliches sein. In seinem Inneren hat sich vieles abgelagert: Kalk in den Gefäßen und Gelenken, irgendwo unter der Haut reichlich Milieudreck. Der lag jede Nacht in seinem Bett und machte ihm den Schlaf und die Leber schwer. Verbrecher sind allemal Randfiguren. Gekränkte Existenzen, die vergewaltigen und töten. Sie verlassen ihren Platz am Rand erst, wenn nach ihnen gefahndet wird. Dann rücken sie in die Schlagzeilen mit ihren Gewalttaten. Manche genießen die plötzliche Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Ihre Verachtung verteilt die Polizei dann zu gleichen Teilen auf die Kriminellen und die hungrigen Medien.
Manchmal lebt ein alter Fall auf, wenn Julius Nidda den Schaumrand seines halbvollen Bierglases nachdenklich betrachtet. Das weiße Muster hat selten das gleiche Aussehen (dürfte von der Innenwand des Glases abhängen). Gegen das Licht betrachtet nimmt frisch gezapftes Bier einen goldfärbigen Bernsteinton an. Seit der Begegnung mit einem Augenpaar lebt diese Farbe in seiner Erinnerung. Nicht anders als ein ungelöster Fall aus vergangener Zeit, der seinem Kopf keine Ruhe lässt. In solchen Momenten meldet sich seine frühere Dienstzeit wie ein notorischer Stalker. Sie setzt ihm zu. Sie bestraft ihn ähnlich einem antiken Frevler, dessen Namen er längst vergessen hat (eben Schulwissen). In der Unterwelt ist jener an ein brennendes Rad gebunden, das sich immerfort dreht. Bei einigen Ermittlungen bin ich gescheitert und trage als Leiter die Verantwortung, aber warum dafür eine Strafe? Ein Gehirn mit einer Reset-Funktion wäre die eleganteste Lösung. Die Möglichkeit des geplanten Vergessens würde mein Leben erleichtern. Das Unglück der Alten ist das Schwinden des Erinnerungsvermögens, mein Unglück das quälende Fortleben von unerledigten Fällen – verjährt, aber nicht vergessen. Seltsam, was in meinem Kopf überlebt hat. Ob es Chirurgen so ergeht, denen ein ärztlicher Kunstfehler vor langer Zeit unterlaufen ist? Oder einem Statiker, der den Einsturz einer Brücke durch einen Rechenfehler verschuldet hat? Selbstzweifel machen das Leben schwer. Es wird unruhig auf dem Steg, als ein frei laufender Hund bellend am Ufer auftaucht. Den Enten bleibt nur die Flucht ins Wasser. Kopfüber verschwinden sie im See für eine halbe Minute oder länger und erscheinen an anderer Stelle wieder. Er hält sie für Haubentaucher, die sich Nahrung vom Grund holen. In einer kurzen Zeitungsmeldung fand er am Morgen einen Namen mit Leuchtkraft. Ein Fall aus der Tiefe seines Berufsgedächtnisses. Es ging um einen der seltenen Täter, die durch ein Verbrechen von der glänzenden Mitte an den Rand geschlittert sind. Aus gesundheitlichen Gründen wird der ehemalige Unternehmer Ludwig Kranzinger vorzeitig aus der Haft entlassen. Er wurde wegen eines Frauenmordes zu 18 Jahren verurteilt und hätte noch 11 Jahre zu verbüßen. Der Alloro-Konzern gehört inzwischen mehrheitlich seiner früheren Frau Constanze Menze.
Auf G! ruft Robert den zwei Biergenossen zu, als sie das Erste des Tages antrinken. Der Maler trägt langes, gewelltes Haar, das er zu selten wäscht oder zu oft mit einem Gel schmiert. Seiner Statur nach könnte er mit einem Langstreckenläufer verwechselt werden. Deshalb ist er stets in Künstler-Schwarz gekleidet; kaum etwas wäre peinlicher für ihn, als für einen masochistischen Sportler gehalten zu werden. Schweiß inspiriert niemals. Willi, Robert und Julius finden sich häufig zur gleichen Zeit im „Notausgang“ im Eichengrund ein, weil ihnen ihr aufmerksamer Körper gemeldet hat, wann er das erste Bier des Tages einfordert. Eine verlässliche innere Uhr mobilisiert sie, ihr schlauchförmiges Stammlokal in der Vorstadt aufzusuchen. Intellektuelle, die sie höchstens vom Hörensagen kennen, würden von einem Jour fixe sprechen. Der Kreativität des Malers verdanken sie den Prost-Ersatz „Auf G!“, mit dem sie in durstiger Huldigung Gambrinus, einen legendären König, als den genialen Erfinder des Bierbrauens ehren. Ohne das goldgelbe Schaumgetränk (zählt für das Trio zu den homöopathischen Nahrungsergänzungsmitteln) hätten sie niemals zusammengefunden. Jeder hängt beim ersten Bier den Gedanken nach, die von draußen mitgebracht wurden. Bier ohne Schaum ist kein Bier (Julianisches Credo Artikel 1). Sein mildes Hopfenbouquet garantiert mit einem dezenten Malzaroma ein Erlebnis für Genießer wie sie. Die umsichtige Wirtin des Notausgangs mutet ihnen kein Industriebier zu, das zum internationalen Massengeschmack zusammengebraut wird. Juttas Gaumenfreude wird speziell für ihr Lokal von einer Privatbrauerei hergestellt.
Es ist in der Dreierrunde, wo nur selten ein lautes Lachen zu hören ist, stiller als an anderen Tischen. Hitzige Debatten und heftiger Streit halten sich fern von ihnen. Niemand hat sie noch danach gefragt, aber sollte es einmal dazu kommen, würden sie unisono von sich geben: Gemeinsames Schweigen hat heilsame Kräfte (Artikel 2 des Trios). Es tut jeder Psyche gut, auch der männlichen. Schweigen verbindet (das stärkste Band zwischen Komplizen). Es gibt kein peinliches Schweigen (Artikel 3) und gesellig nur für andere zu wirken ist ihnen keine Anstrengung wert.
Alles bleibt, wie es ist, beteuern sie einstimmig, wenn sich nachts ihre Wege trennen. Die abendlichen Zusammenkünfte sind dem Trio unverzichtbar geworden. Denkt Julius an früher, scheint es ihm, er hätte im Kommissariat selten mehr gesprochen als an den Abenden mit Robert und Willi. Das Stimmengewirr von den Tischen nebenan empfinden sie wie den Lärm einer Durchzugsstraße. Angst vor betrüblichen Nächten kennen die Lokalgäste nicht, wissen sie doch, dass der Notausgang Abhilfe schafft. Sein höhlenartiger Charakter (länglich, mäßig hoch und verwinkelt) spendet Geborgenheit. Als Küche gilt ein riesiger Kühlschrank (kalte Speisen, alles fertig). Die Zukunft überlassen die Anwesenden Anlageberatern und Wetterprognostikern. Pläne sollen Leute machen, die enttäuscht werden wollen. Die Randlage ihres Tisches, ab dem späten Nachmittag für das Trio reserviert, lässt das Wort Exzentriker über ihren Köpfen schweben. Hört Jutta eine Bemerkung wie „Die vom Grüblertisch“, lässt sie es wortlos gelten (stimmt ja irgendwie). Sind Lakoniker, die drei, falls ihr mit dem Wort was anfangen könnt. Mir imponiert ihre Schüchternheit, verrät sie dann manchmal anderen Gästen. Will man von ihr wissen, ob die drei am Ecktisch Freunde seien, antwortet sie mit einem kurzen Zucken ihrer runden Schultern. Stammgäste sind sie, angenehm und verlässlich. Freunde? Der Quatsch gehört in Stammbücher. Irgendwer hat die harmlosen Gäste sogar für Autisten gehalten. Ein Schwachsinn! Leise Typen sind sie eben, die in Gesellschaft sein wollen, ohne andauernd miteinander reden zu wollen.
So verschieden die Kumpane auch sind, sitzen sie gern beisammen beim Bier und spüren, dass sie irgendwie zusammengehören. Die drei Männer ohne Bedeutung sind im Notausgang sicher vor den Gespenstern einer leeren Wohnung. Wie es sich für unkomplizierte Gäste gehört, wird die Kenntnis von Familiennamen nicht angestrebt. Die Verwendung der Vornamen schafft eine persönliche Beziehungsebene. Kleine Leute verkehren hier, auf der Suche nach Zuflucht, Männer, die den Erfolg nur aus der Zeitung kennen, auch Frauen landen hier auf der Flucht vor ihrem Zuhause. Gewinner schauen anders aus. Jutta mag sie, die sympathischen Verlierer. Sie mag es nicht, wenn jemand den Vorwurf erhebt, ihr Lokal biete schrulligen Zeitgenossen ein Gehege. Dann wird sie schnell ungemütlich. Mit Gift im Blick.
Die Luft riecht nach Schnee. In den kalten Fingern von Julius Nidda pulsiert das verhasste Kribbeln, das zu seinem persönlichen Winter gehört. Münzen, Schlüssel und Bankkarte fallen ihm aus der Hand (schmähliches Versagen der Feinmotorik). Je tiefer die Temperaturen, desto mächtiger ist sein Missmut. Hat er das verlorene Ding aufheben können, nickt ihm zumeist ein Augenzeuge mitfühlend zu, was sein zorniges Schamgefühl erst recht entzündet. Die finstere Jahreszeit (diese Unzeit, die ohne Schmetterlinge auskommen muss), empfindet er als Affront gegen seine mühsam erkämpfte Lebenszufriedenheit. Dora ist erst wieder an seiner Seite, wenn sich die ersten Blüten öffnen. Dann suchen sie nach jungen Schmetterlingen. Dora weiß nicht, dass er sie als Alibi verwendet. Das Netz zum Einfangen trägt sie gerne. Beobachter halten sie für ein Mädchen, das sich in Begleitung eines älteren Herrn für die belebte Natur interessiert. Ihren Vornamen „Geschenk“ verdient sie in seinen Augen ohne Einschränkung. Wenn ihn der Alkohol ausreichend wärmt, schaut er ihr zum Dank beim Eislaufen zu und steht dabei wieder am Rand. Seine Füße müssen in den Sommerschuhen frieren. Niemals wird er vor dem Winter in die Knie gehen und warme Stiefel kaufen. Schmetterlinge verharren an einem geschützten Platz aufrecht sitzend in einer Kältestarre, bis die Temperaturen wieder wärmer werden. Frost kommt ihm schlimmer vor als der scharfe Körpergeruch eines Verdächtigen beim Verhör. Aber deshalb gibt er sich nicht geschlagen und betritt ein Schuhgeschäft. Es ist sein unbeugsamer Widerstand, an dem er sich aufrichtet.
Du versauerst noch in einer finsteren Wolke aus Selbstmitleid, knallte ihm sein Sohn einmal ins Gesicht, als er die Enkelin von einer Pirsch nach Hause brachte. Er hatte bedauert, wie schnell die Stunden mit Dora verflogen waren. Beide schauten einander verständnislos an. Die Mimik von Vater und Sohn war ein Spiegelbild des anderen. Selten, dass sie einander so ähnlich waren. Seit Rafael erwachsen ist, hält ihn sein Vater für ein im Inneren wenig gelungenes Remake. Dass er sich so entwickelt hat, schreibt Julius dem Einfluss der Mutter zu. Kurzaufenthalte des Sohnes beim Vater blieben wirkungslos wie Tropfen auf einem heißen Stein. Er kann seinem Sohn einiges nachsehen, weil jener Doras Erzeuger war. Sie ist und bleibt ein liebenswertes Original. Seine Schwiegertochter (Sonja, eine Seele von einer Frau) hat sie geprägt. Bis vor einigen Jahren versuchte der Großvater sich einzureden, Dora sei ein Mädchen in der Probephase. Über Nacht werde sie das Geschlecht noch wechseln. Jetzt ist sie eine in die Höhe geschossene Zwölfjährige mit einer Frisur, die sie gegen den Willen der Eltern durchgesetzt hat. Ihre Haare liegen chaotisch durcheinander (das wirre Muster eines Nadelwaldes, den ein Wirbelsturm zerlegt hat). Ist Dora bei ihrem Großvater, sieht er aus wie 50. In ihrer Gegenwart kann er sein Alter überspielen. Wie es mit den Schmetterlingen begonnen hat, daran kann er sich nicht mit Sicherheit erinnern. War es Doras Idee, als sie noch um einiges jünger und von der Schönheit der schwerelosen Tiere so fasziniert war, dass sie sie festhalten wollte? Oder war es die Idee des Großvaters, der Schmetterlinge für ein buntes Wunder hält, das die Welt eines Mädchens bereichern kann? Sicher ist jedenfalls sein folgenreicher Hautkontakt mit einem Augenfalter auf dem Balkon. Blau mit weißen Flecken, dunklen Flügelrändern und schwarzen Pupillen auf orangen Feldern. Jede Fliege spüren wir auf der Haut, die vier Beine des Schmetterlings nicht. Sein fragiler Körper hat leicht gezittert. Immer bereit abzuheben, falls er sich bedroht fühlt. Julius begab sich auf die Suche (zu welcher Gattung hat er gehört?). In Sammlungen und auf Schautafeln kein Doppelgänger zu finden. So begann er sich für die Lepidoptera zu interessieren, ohne dass die Leidenschaft eines Zoologen daraus wurde. Mit den Vorderbeinen säubern sie die Facettenaugen. Nur zur Paarung finden die Einzelgänger zusammen. Zeitlebens fühlen sie keinen Schmerz (ein Glück oder doch ein Manko?). Nur gutes Leben vor dem Tod, vermutet er. Was würde er machen, wenn sie kein Mädchen, sondern ein abenteuerlustiger Bub wäre? In einer versteckten Bucht des Keilsees mit dem Enkel Enten fangen. Klein geschnittene Brotstücke durchlöchern, auf einer reißfesten Schnur auffädeln und am Ufer warten, bis der Appetit eine Ente sich in das Brot verbeißen lässt, das weitere Häppchen in Aussicht stellt, wenn sie den ersten Bissen verschluckt hat. Geduld bringt Enten, würde er dem Buben vorsagen. Wir ziehen erst dann an der Schnur und die Ente aus dem Wasser, wenn sie mehrere Bissen verschluckt hat. Zu den wenigen Dingen, die er in seinem Alter wirklich über das Leben weiß, gehört der unüberbrückbare Unterschied zwischen den Geschlechtern. Von Kindheit an wird er tief und immer tiefer gegraben. Kein Bub interessiert sich für bunte Tagfalter, kein Mädchen möchte dumme Enten auffädeln.
Ist Dora mit Nidda unterwegs (ihr hat er verboten, in der Öffentlichkeit das Wort Opa zu verwenden), verhaken sich in seinem Kopf die Zeiten. Sie will alles über seinen früheren Beruf erfahren, während er sich an ihrer Gegenwart erfreut. Einmal im Jahr, hat sie ihm als Versprechen abgerungen, sucht er mit ihr einen alten Tatort auf, wobei seine Erklärungen so harmlos ausfallen wie die Mordszenen in Fernsehkrimis. Eben für Mädchen geeignet. Die brutale Realität von Gewaltverbrechen ist ihr bislang unbekannt. So soll es bleiben, hat er sich vorgenommen.
Im vergangenen Sommer verirrten sich die beiden auf der Jagd nach Schmetterlingen, die sich in den Abendstunden der Partnersuche widmen. Er zeigte ihr den Abendstern, nannte seinen astronomischen Namen. Wie spät ist es jetzt auf der Venus? Eine überraschende Frage, auf die er keine Antwort kannte. Drei Stunden später, erfand er in seiner Not, weil er seine Unwissenheit nicht zugeben wollte.
Glaub ich dir nicht, entgegnete sie mit Überzeugung. Dann müsste es dort finster sein, aber die Venus leuchtet bis zu uns im Licht der Sonne.
Das Gebäude, in dem sich die Ordination in Steinfeld befindet, ragt fünf Etagen empor und besitzt einen Lift mit zwei Seitenfenstern, die den Blick ins Freie zulassen. Auf einer Seite die oberen Regionen des Eichbergs, ein dichter Wald im Raureif, auf der anderen das Seitenschiff des Domes hinter einer alten Häuserzeile. Für seinen Zahnarzttermin hat er sich verspätet. Eilig drängt er sich im Parterre als Letzter in die Kabine, obwohl er es nicht ausstehen kann, auf engstem Raum jemandem so nahe zu kommen, dass er den anderen riechen muss.
Eine parfümierte Frau, die einen bunten Seidenschal zur eleganten Jacke trägt, steht mit dem Rücken zu ihm. Sie hat die übliche Position ihres Geschlechts eingenommen (Gesicht dem Spiegel zugewandt). Auf Tuchfühlung mit Julius Nidda lassen sich drei weitere Personen nach oben transportieren. Er schenkt ihnen keine Aufmerksamkeit. Bei einer Zeugenbefragung könnte er kaum mehr als ihr Geschlecht angeben. Höchstens noch die abstehenden Ohren eines Mannes, der nach Pfefferminz riecht, vermutlich von einem frischen Kaugummi verursacht (die Zuverlässigkeit von Augenzeugen liefert nur Enttäuschungen). Dem früheren Kriminalpolizisten fehlt der außerordentliche Geruchssinn eines Aals, dem die beste Nase im ganzen Tierreich attestiert wird. Sonst wäre er in der Lage, Differenzierungen zwischen den Gerüchen aller Mitfahrenden vorzunehmen. Es wird nicht gesprochen. In der vollbesetzten Kabine vermeidet jeder den Blick des anderen, obwohl die Fahrt für wenige Sekunden eine gewisse Gemeinsamkeit herstellt. Die Personen im Lift dürften einander nicht kennen oder sie scheuen sich davor, ein Gespräch vor Zeugen zu beginnen. Die Dunkelhaarige mit dem Rücken zu Nidda, der er in der Beengtheit so nahe sein muss, dass er nur den Hinterkopf und die Jacke sieht, nimmt seine Aufmerksamkeit gefangen. Genau genommen ist es nicht sie, sondern ihr Schal. Er führt ihn in einen schrecklichen Traum zurück, den er am Vortag hatte. Deutlich erinnert er sich an ein schmales Tuch, das sich langsam auf sein Gesicht senkte. Als er den dichten Stoff auf seiner Haut spürte, wachte er in Atemnot auf. In seiner Benommenheit kam er nicht auf die Idee, den Traum für ein Omen zu halten. Nicht in dem Moment, als er sich im Bett aufrichtete. In der engen Kabine, die ihm schier die Luft zum Atmen nimmt, versteht er plötzlich die Ankündigung in jener Nacht. Nun will er unbedingt wissen, wer mit dem Rücken zu ihm auf Tuchfühlung steht. Wie sie aussieht. Ob er die Frau schon einmal gesehen hat. Unbedingt bringt meistens Unglück. Doch er kann nicht anders. Er muss sich Klarheit verschaffen, welche Frau in seiner unmittelbaren Nähe steht. Er neigt den Kopf etwas zur Seite, entdeckt im Kabinenspiegel ihre Augen und erschrickt. Goldbraun mit einer dunklen Tönung. Für eine Sekunde treffen sich ihre Blicke. Sogleich dreht er seinen Kopf weg. Wieder spürt er, was er seit damals nicht vergessen konnte. Wieder diese gefährliche Leidenschaft. Ihr Mund ist breit. Rebellisch breit. Das Kinn kräftig wie bei einem jungen Mann. Hoffentlich hat sie mich nicht erkannt. Und falls doch, dass sie sich nicht umdreht und mich anspricht. Wäre schlimmer als eine Wurzelbehandlung. Er fürchtet sich davor, sie könnte ihm in der vollbesetzten Kabine eine peinliche Szene machen. Die Frau hätte ein gewisses Recht darauf. Ich traue ihr zu, mich bloßzustellen, bis sich die Tür zu meiner Befreiung beim nächsten Halt öffnet. Ihre unvergleichlichen Bernsteinaugen haben mich einmal fasziniert. Aber jetzt muss ich weg von hier, bevor sie das Wort ergreifen kann. Diese gefährliche Frau gehört zu einem komplizierten Fall, an dem ich mir die Zähne ausgebissen habe. Die Faszination, die von ihr ausging und den Boden unter seinen Füßen ins Wanken brachte, stand im Widerstreit mit der notwendigen Distanz, die er als Ermittler zu wahren gehabt hätte. Es genügte jener kurze Moment, in dem er ihre Augen wiedererkannte, und dasselbe Gefühl ist zurück. Er wollte damals ganz offen ihre Schönheit bewundern und durfte es nicht, weil er sie für schuldig hielt. Ein Dilemma, das ihm eine Frau ohne ihre Ausstrahlung erspart hätte. Und das mit derselben Macht aus der Vergangenheit zurück ist. Wie seine eigene Wachsfigur steht er schräg hinter ihr und schafft es nicht, im richtigen Stockwerk auszusteigen. Nach dem Einsteigen hat er vergessen, per Knopfdruck den Halt im gewünschten Stockwerk anzumelden. Der Lift fährt durch. Julius Nidda flucht lautlos, um nicht aufzufallen. Niemand soll merken, dass er überhaupt anwesend ist. Vor allem nicht die Frau aus seiner Vergangenheit. Es ist wieder wie damals. Er spürt ihre unheimliche Anziehung und fürchtet sich vor den Konsequenzen, wenn er sie länger ansehen würde. Stark und kalt wie ein Magnet. Ein Kraftfeld, von ihren Augen bis zu den schwarzen Netzstrümpfen hinunter, so hat sich ihr Bild in Julius Nidda eingebrannt. Es fällt ihm schwer, die Ruhe zu bewahren. Als würde er ahnen, was später folgen wird, vermeidet er es, sie in der Beengtheit mit seiner Jacke zu berühren. Nichts wie weg, Mann! Aber wie? Die Tür ist geschlossen. Die Fahrt geht weiter. Er steckt im Labyrinth eines ungelöschten Verdachts. In der obersten Etage verlässt er fluchtartig die Kabine. Im Wegdrehen beobachtet er Momente später, wie sie auf ein Anwaltsbüro zugeht. Als sie die Türklinke drückt, fühlt er ein zweites Mal den einzigen Händedruck, den er ihr jemals gab. Mit dem ihre Fingerspitzen sich in seinen Handteller pressten, als wollten sie Besitz ergreifen und ihn auf ihre Seite ziehen. Wobei diese zwischen den Menschen ritualisierte Berührung länger dauerte als gewöhnlich und ihm vorkam wie eine raffiniert erschlichene Umarmung. Seit damals eines seiner unlösbaren Rätsel: Wie erkennt man den Zeitpunkt, an dem die Höflichkeit unweigerlich zur Nähe wird?
Als der Zahnarzt mit einem Haken den Sitz der alten Plomben überprüft, nimmt sich der gestresste frühere Chefermittler nochmals vor, jede weitere Begegnung mit den Bernsteinaugen zu vermeiden. Die Schönheit der verruchten Frau hat mich schon einmal aus dem Gleichgewicht gebracht.
Einem flüchtigen Beobachter der drei Biertrinker könnte sich die Vermutung aufdrängen, es gehe an ihrem Tisch um einen internen Wettbewerb oder das Ritual einer verschworenen Gemeinschaft: Wer als Erster das gesellige Schweigen breche, müsse eine Runde ausgeben. Sie halten lockeren Blickkontakt zueinander und geben nach einem Schluck dezente Laute von sich, die ihren Ursprung in einer vorübergehenden Daseinszufriedenheit haben. Was sollen sie auch pausenlos mit Bierernst bereden? Die Wirtin hat sie längst in ihr großes Herz aufgenommen. Ohne langes Reden sind sie übereingekommen, das Spiel mit Karten gar nicht erst zu probieren. Sie wollen untereinander keinen Wettbewerb, selbst wenn er nur spielerischer Natur wäre. Sitzen die drei ohne belanglose Worte beisammen, kommt in ihren Köpfen keine Langeweile auf. Der Künstler Robert bewundert still die nackten Arme der schönleibigen Wirtin beim Zapfen einer Hopfenperle und fragt sich, ob er Jutta noch einmal aus der angeschwitzten Wäsche helfen darf, dieser agilen Frau ohne Ecken und Kanten. Der Anblick ihrer unbedeckten Arme lässt ihn an das Gute im Menschen glauben (im Notausgang unter Garantie zu finden). Seit dem einmaligen Liebesabenteuer im 1. Stock hält er sie für hinreichend begabt, selbst auf der dunklen Seite des Mondes für Furore zu sorgen. Details würde er nicht einmal unter vier Augen verraten.
Ihm gegenüber hockt ein korpulenter Mann, dessen Kleidung den Zweck erfüllt, die Körpermasse zu bedecken. Seine Augen weiden sich gerne an Bildern von krimineller Brutalität. Eine schmale Zahnlücke (exakt in der Mitte des Unterkiefers) versteckt sich meist hinter der dicken Lippe. Ältere Damen, die ihre Kultiviertheit für die allein sinnvolle Lebensweise halten, können kaum umhin, den Mann als vulgär einzustufen. Der Choleriker sammelt Kronenkorken, deren Innenseite Glückszahlen oder andere geheimnisvolle Zeichen vorweisen. Willi verrät niemandem, was er mit den Metallverschlüssen vorhat (Julius hält ihn für einen harmlosen Messie). Seine Sehnsucht malt sich gerade einen schaurigen Mordprozess in allen blutigen Einzelheiten aus (der leidenschaftliche Gerichtskiebitz muss schon drei Monate ohne auskommen). In spielerischem Zynismus sucht er unter den Gästen nach einem attraktiven Opfer. Die unübersehbare Anwesenheit eines großgewachsenen Cola-Trinkers mit blondiertem Fönhaardach macht ihm heute die Wahl leicht. Julius denkt an die Blamage mit Venus zurück oder trauert dem seltenen Eschen-Scheckenfalter nach, den im letzten Sommer eine sabotierende Libelle vor seinem Netz vertrieben hat. Einer stillschweigenden Übereinkunft folgend enthalten sich die drei Männer unangenehmer Mitteilungen aus ihrem Leben. Willi hat ein einziges Mal vergeblich versucht, vom Kriminalpensionisten ein blutgetränktes Kleidungsstück eines weiblichen Mordopfers zu bekommen (als Dauerleihgabe aus dem Asservatenkeller). Nur schwer konnte er sich mit der Weigerung von Julius abfinden, über Mordfälle grausame Details zu erfahren. Er sei nicht so begabt wie manche Schriftsteller, aus deren Feder dampfendes Blut fließe. Verglichen mit solchen Büchern verlaufe die Polizeiarbeit grau in grau.
Bis die angestrebte Wirkung des goldfarbenen Gerstengetränks beginnt, werden Juttas bewunderte Arme das grüblerische Trio zum dritten Mal bedient haben. In ihrem engen Lokal lernen sich Gäste am leichtesten durch Reibung kennen. Die Feuerpolizei beschränkte ein für alle Mal das Fassungsvermögen auf 29 Personen, die bei unangemeldeten Kontrollen vollzählig anwesend sind, weil die Überzähligen blitzschnell in Juttas hilfreiche Wohnung im 1. Stock gelotst werden, wo sich der inoffizielle Notausgang für den Notausgang befindet. Wer sie jemals bei einer rasanten Evakuierungsaktion erlebt hat, sagt ihr zeitlebens das Temperament eines aufgewühlten Ozeans nach. Für ihre unkomplizierten Lösungen erntet sie die lautstarke Bewunderung von ihren Gästen und gewinnt so neue Stammkunden. Männer mit Frauennotstand wie Willi halten sie für Anfang 40. Robert kennt ihren Körper näher und nennt ihr Alter genießerisch als unschätzbar. Kräutertee und andere esoterische Getränke serviert die Wirtin aus Rücksicht auf das Raumklima nicht.
Ein laufendes Männchen und ein weißer Pfeil, der die Richtung angibt. Die internationale Fluchtweg-Leuchte in Grün genügt als bescheidener Hinweis an der Fassade, dass im Inneren der Notausgang seine Hilfe anbietet. An der Innenseite der Lokaltür klebt das markante Gesicht des jungen Friedrich Hölderlin. Stammgäste wie Robert vermuten, Juttas Traummann müsse einen ähnlichen Charakterkopf wie der damals 22jährige besitzen, den sie für atemberaubend schön hält. Ein in den Notausgang gelockter Lyrikleser hat auf dem Türblatt die zeitlose Dichterweisheit notiert: Es ertrug keiner das Leben allein. Für viele Gäste der zweitbeste Grund, das Lokal immer wieder aufzusuchen. Klar übertroffen von Jutta, dem Original einer Wirtin.