Ein Lächeln mit Zukunft - Senftenberg Paul - E-Book

Ein Lächeln mit Zukunft E-Book

Senftenberg Paul

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Beschreibung

Ein kleiner Ort im nördlichen Österreich. Vier Männer, die auf der Suche sind: Hans, ein Bankbeamter Mitte fünfzig, hat erst spät zu seiner Homosexualität gefunden. Sein Sohn Andreas bestiehlt alte Damen und lehnt den Vater mit verletzender Heftigkeit ab. Den jungen Escort Marek macht die Sehnsucht nach einem Foto seiner verstorbenen Eltern, die in einem Brand umgekommen sind, fast verrückt. Und Rami, ein Flüchtling aus Syrien, hat mit den Höllenhunden seiner Vergangenheit zu kämpfen. Vier Schicksale, vier Geschichten, die auf den ersten Blick in keinem Zusammenhang stehen, im Verlauf der Handlung aber immer enger miteinander verknüpft und schließlich zu einer dramatischen Erzählung mit Konsequenzen für alle Beteiligten werden. Paul Senftenberg beschreibt die Ängste und Wünsche dieser Männer so plastisch, dass keine bloßen Romanfiguren mehr vor uns stehen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Ihre Gefühle, ob uneingestanden oder bewusst, sind nichts anderes als ein verzweifelter Schrei nach Nähe und Liebe - nach so etwas wie Heimat im geografischen, aber auch besonders im mitmenschlichen Sinne.

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Seitenzahl: 278

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Paul Senftenberg

Ein Lächeln mit Zukunft

Roman

Paul Senftenberg ist ein niederösterreichischer Autor.

Im Himmelstürmer Verlag erschienen bisher:

Damals ist vorbei, September 2014, ISBN print 978-3-86361-403-4

Eine ganz andere Liebe, Juli 2013, ISBN print 978-3-86361-316-7

Narben, März 2014, ISBN print 978-3-86361-364-8

 

Alle Bücher auch als E-book

 

Autorenhomepage: www.paulsenftenberg.at

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, Februar 2017

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Cover painting:

Martin-Jan van Santen: „Rest“ (2014), Öl auf Leinwand, 70x70 cm www.martinjanvansanten.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print  978-3-86361-620-5

ISBN epub  978-3-86361-621-2

ISBN pdf:  978-3-86361-625-0

 

„What’s the worst thing that ever happened to you?” she asks,

and it sounds like an echo. I know what it is

but pretend that I don’t.

(Bret Easton Ellis, Imperial Bedrooms)

 

Wie glücklich müsste er sein,

um sich einfach glücklich zu fühlen.

(Alain Claude Sulzer, Postskriptum)

 

They gave each other a smile with a future in it.

(Ring Lardner)

Das Geschenk

Als Hans aufwacht, regnet es noch immer. Die Tropfen prasseln leise gegen die Jalousien. Diese sind nicht vollständig geschlossen. Halbes Morgenlicht schiebt sich ins Zimmer und durch die Dunkelheit. Es passt für Hans zu dem gleichmäßigen Regengeräusch. Er bleibt noch ein wenig liegen und genießt das seltene Gefühl, im Bett nicht allein zu sein. Er lauscht den Atemzügen von Marek. Sie sind kaum hörbar, doch Hans’ Einbildungskraft verstärkt sie. Er nimmt sie mit seinem eigenen Atmen auf und legt sie tief in seine Brust. Ein gemeinsames Heben und Senken, eine Art Einheit in diesen kostbaren Minuten, in denen Hans in seinem Bett liegt und sich fast vorkommt wie der Partner dieses wunderschönen jungen Mannes.

Hans hätte sich unter der Decke gern vorangetastet, in Richtung von Mareks makellosem Körper. Er hat dessen Einzelheiten noch von der vorigen Nacht vor Augen. Da stand Marek mitten im Zimmer und zog sich langsam aus. Die Nachttischlampe brannte, Hans hatte ein gelbes Tuch über den Schirm gebreitet, dementsprechend war die Stimmung. Hans saß auf dem Bett, ein untersetzter älterer Mann mit fleckiger Haut, weißen Haaren auf der faltigen Brust und Krampfadern auf den Beinen. Daran mochte Hans nicht denken, er hätte sich geschämt. Wann immer seine Aufmerksamkeit sich nach innen richtete, musste er nach einer äußeren Ablenkung suchen. Marek bot sich für diesen Zweck geradezu an. Wie ein Tänzer stand er vor ihm. Muskulöse Beine, das rechte ein kleines Stück nach vorne gestellt, auf dem linken ruhte Mareks Gewicht. Der haarlose Körper, die weiße Haut, die Sehnen, die von den Oberarmen bis zu den Händen verliefen: eine Statue. Für ein paar Momente hielt er sein Geschlecht umfasst, sodass Hans nur einige wenige Stellen erkennen konnte. Dann lösten sich die Finger, und Hans ging vor Marek in die Knie.

Jetzt, am frühen Morgen, hätte Hans nur allzu gern Mareks Lippen geküsst und gleichzeitig mit der Hand sein Geschlecht berührt wie noch ein paar Stunden zuvor. Doch er hat keine Ahnung, wie Marek, jäh aus dem Schlaf gerissen, reagieren würde. Hans traut der Intimität des Abends und der Nacht nicht unbedingt auch am Morgen. Doch er dreht sich auf die Seite und hat nun Mareks Gesicht direkt vor sich. Mareks Lippen sind in einer Weise geschwungen, die Hans fast wagemutig erscheint. Selbst in diesem schwachen Licht wirkt seine Haut sehr hell; die langen Wimpern verschmelzen mit den Schatten unter den Augen. Hans nimmt sich ein Herz und beugt sich vorsichtig vor, um Marek ganz leicht auf die Stirn zu küssen. Er bewegt sein Gesicht entlang dem von Marek und saugt dabei seinen Geruch ein: die Nacht, der Sex, der Schweiß auf seinem Hals. In seiner Vorstellung liegt auf Mareks Lippen der Nachgeschmack von Hans’ Geschlecht. Der Gedanke, dass es sich auch umgekehrt so verhalten könnte, bereitet Hans ein prickelndes Gefühl.

Da kommt er Marek wohl zu nahe, denn dieser verzieht im Schlaf das Gesicht und rückt ein wenig von ihm ab. Hans bemüht sich, keinen Lärm zu machen. Er dreht sich wieder auf die andere Seite. Er hebt vorsichtig die Decke und stellt seine bloßen Füße auf den morgendlich kalten Boden. Sein Bademantel hängt über einer Sessellehne, Hans zieht ihn über. Sein Glied ist halb steif, die Wirkung der Spedra-Tablette, die er gestern Abend mit dem ersten Glas Wein geschluckt hat, hat noch nicht vollständig nachgelassen. Hans hat die höchste Dosis eingenommen, er wollte bei dieser einmaligen Gelegenheit keine zu geringe Wirkung riskieren. Jetzt versucht er, nicht an das chinesische Drachenmuster zu denken, mit dem der schwarze, leicht glänzende Stoff des Bademantels auf dem Rücken bedruckt ist. Beim Kauf eine Woche zuvor hatte er in seiner Vorstellung, wenn er den Mantel tragen und seinen jungen Gast nackt in seinen Armen halten würde, etwas Heißblütiges an sich. Jetzt kommen ihm das Kleidungsstück und er sich selbst darin lächerlich vor: Er schämt sich dieser Parodie von Männlichkeit, wenn sich einer wie er damit zu schmücken versucht, angesichts der Jugend und natürlichen Schönheit des anderen.

Hans verdrängt seine Gedanken; er möchte den Anblick des schlafenden Jungen in seinem Bett noch ein paar Momente auf seinen Augen zergehen lassen. Ihm ist bewusst, dass er wieder geraume Zeit davon zehren muss. Drei Wochen oder vielleicht sogar vier werden sicherlich bis zu einem Wiedersehen vergehen. Auch am heutigen Weihnachtsabend wird Hans allein sein. Zumindest hofft er, dass sein Sohn so wie angekündigt die Nacht in Wien verbringen und nicht unvermittelt auftauchen wird.

Hans schließt die Tür zum Schlafzimmer leise hinter sich. Der Flur ist dunkel und still und leer. Hans geht in die Küche, dort steht er eine Zeitlang am Fenster. Draußen zerfließt das Morgenlicht in Nebelschwaden. In den Schlieren auf dem Glas verliert sich Hans’ Gesicht zu den Zügen eines Unbekannten. Freilich verweigert sich Hans solch trüben Ideen; er ist geübt darin. Er lässt das leise Gefühl von Traurigkeit, von dem er weiß, dass es ihn spätestens am Nachmittag überwältigen wird, noch nicht hochkommen. Hier steht ein kleiner dicklicher Mann Mitte fünfzig, und in seinem Bett schläft ein Wesen, wie er es sich schöner nicht vorstellen könnte. Dieses Wesen trat gestern Abend über die Schwelle seines Hauses; da spürte Hans ein Gefühl von echtem Glück in sich. Beim Aufwachen war dieses Gefühl immer noch in ihm. Er möchte es so lange wie möglich in sich festhalten.

Das Abendessen, der festlich gedeckte Tisch, die Kerzen – früher, als Hans’ Frau noch lebte, lief Weihnachten immer so ab. Dazu die Freude der Kinder, echt und spontan. Seit ein paar Jahren macht sich Hans nicht mehr die Mühe. Die Tochter studiert in Chicago, der Sohn wohnt zwar hier im Haus, geht ihm aber so gut wie möglich aus dem Weg und taucht immer wieder für unbestimmte Zeit ab. Der Aufwand des Kochens lohnt sich für Hans nicht. Doch diesmal hat er das alte Rezept für den gefüllten Truthahn wieder hervorgestöbert. Zusammen mit Serviettenknödeln, Rotkraut und Kastanien ein Festessen. Und als Nachtisch eine Creme Brulée, die ihm wirklich gut gelungen ist.

Hans stand für die Vorbereitungen den ganzen Vormittag in der Küche. Als er Marek vom Bahnhof abholte, war der Truthahn bereits seit einer Stunde im Rohr und begann gerade Farbe anzunehmen. Marek benahm sich so wie immer, ausgesucht höflich, dabei aber ungezwungen und so entspannt, dass die guten Gespräche sich während der letzten Handgriffe in der Küche und dann auch beim Essen ganz natürlich ergaben. Hans wusste ja bereits einiges aus Mareks Leben; bei diesem längeren Zusammensein wollte er die Gelegenheit nutzen, auch mal genauer nachzufragen. Marek erzählte ganz offen über seine Kindheit ohne Eltern und die Großtante in Tschechien, die ihn an deren statt aufzog. Auf diese Weise kam sich Hans wie ein Eingeweihter vor, wie ein echter Freund. Mareks Gegenfragen wich er jedoch meist aus. Er blieb vage, wenn es um seine Arbeit in der Bank, seine Frau und ihren Unfall zehn Jahre zuvor und die Kinder ging. Im Gegensatz zu Mareks Schönheit und der Zukunft, die ihm aufgrund seiner Jugend offensteht, erscheint ihm sein eigenes Leben, wann immer er darüber nachgrübelt, als wertlos und er selbst als Versager; im Grunde genommen hat er nichts zu bieten, weder einem wie Marek, noch ganz allgemein.

Hans gibt zwei Löffel Kaffeepulver in die Filtermaschine und füllt Wasser nach, dann schaltet er sie ein. Er deckt den Küchentisch für das Frühstück. Er hat keine Ahnung, ob Marek gern ein weiches Ei möchte. Er legt Schinken auf einen Teller, Käse auf einen anderen, die Butterdose und das Glas mit der Marmelade stellt er daneben. Ein Glas Orangensaft – Hans lässt den Blick zufrieden über den Tisch schweifen.

Das Blubbern der Kaffeemaschine begleitet ihn bis ins Badezimmer. Dort ist das Licht gnadenlos. Hans streift sein Gesicht im Spiegel nur ganz kurz. Stattdessen kneift er die Augen zusammen und wäscht sich. Dann konzentriert er sich aufs Zähneputzen. Trotzdem hat er die ganze Zeit seine Falten vor Augen.

Zurück in der Küche, gießt er für Marek eine Tasse Kaffee ein und geht ins Schlafzimmer. Er ist ganz leise. Marek rührt sich nicht. Eine Weile steht Hans da und beobachtet ihn wie schon vorhin. Morgenlicht, schon stärker als vorhin, fällt zwischen zwei Lamellen der Jalousien auf Mareks Stirn. Ein leichtes Zucken in seinem Gesicht. Ich schaue ihm beim Träumen zu, denkt Hans, wovon er wohl träumt? Und ihm geht durch den Kopf: Wie wunderbar es doch wäre, würde er in Mareks Träumen vorkommen so wie dieser in den seinen.

Hans setzt sich neben ihm aufs Bett. Er beugt sich vor und küsst ihn auf die Lippen. Marek schlägt die Augen auf. Einen Moment lang, das merkt Hans seiner Miene an, weiß er nicht, wo er sich befindet. Doch dann entspannen sich Mareks Züge wieder. Er fährt sich durch die ohnehin zerstubbelten Haare und wünscht Hans einen guten Morgen. Wie immer findet Hans die Einfärbung seines Deutsch durch einen ganz leichten tschechischen Akzent unwiderstehlich.

Er hält ihm die Tasse hin. „Kaffee?“

Marek nimmt sie entgegen und vorsichtig einen kleinen Schluck. „Heiß“, sagt er.

„Das Frühstück ist schon fertig“, sagt Hans. „Ich wusste nicht, ob du ein Ei möchtest …“

Noch während er die Worte ausspricht, schießt ihm eine Wunschsituation durch den Kopf. Nicht ein Ei, würde Marek mit einem anzüglichen Grinsen sagen, sondern besser gleich zwei. Und zwar die von Hans. Er würde sich halb aufrichten und die Tasse auf dem Nachttisch abstellen. Dann würden seine Hände unter dem Morgenmantel nach Hans’ Geschlecht suchen. Dass er so geil auf ihn wäre, würde Marek hervorstoßen, fast ein Keuchen wäre das. Und ob sie vor dem Frühstück nicht noch eine schnelle Nummer schieben könnten. Abermals tut das Spedra seine Wirkung, doch Mareks Antwort holt Hans in die Realität zurück. Ein Ei sei nicht nötig, meint der Junge, er frühstücke nie ausgiebig. Da handelt Hans, ohne nachzudenken. Er schlägt die Bettdecke zurück. Marek liegt nackt vor ihm. Sein Glied ist steif. Vielleicht hat er ja doch Lust! Hans beugt sich nach unten und nimmt den Penis in den Mund.

Doch da wehrt Marek lachend ab: „Dass du nie genug kriegen kannst!“

„Von dir nicht.“

„Ich muss jetzt pinkeln“, meint Marek.

Seine jungenhafte Stimme ist jetzt, in der Früh, rau und fast brüchig. Er windet sich unter Hans hervor, fährt ihm noch kurz über die kahle Stirn und verschwindet durch die Tür. Er lässt sie einen Spalt offen, selbst aus der Entfernung ist das Plätschern beeindruckend. Mareks Strahl ist so stark wie der von Hans seit Jahren nicht mehr.

Hans bleibt sitzen, bis das Geräusch abbricht. Dann steht er auf. Er nimmt die Kaffeetasse und geht in die Küche. Er hört, wie sich Marek im Badezimmer die Zähne putzt. Hans hat für ihn extra eine Zahnbürste in hellem Lila gekauft. In der Drogerie hat er sich vorgestellt, dass sie ganz besonders gut zu Mareks gesamter Erscheinung passen würde.

Hans stellt die Tasse neben Mareks Gedeck auf den Tisch. Er fragt sich, ob der Junge nun frühstücken möchte oder nicht. Er wendet sich der Tür zu, da taucht Marek auf. Er ist nackt. Er ist so schön, dass sich Hans der Magen umdreht.

Dass er noch duschen würde, meint Marek, und ob Hans ihn dann zum Bahnhof fahren würde.

„Jetzt schon?“, fragt Hans.

„Der Zug geht um halb neun“, sagt Marek.

Hans möchte schreien. Er möchte ihn nochmals in die Arme nehmen und gar nicht mehr loslassen. Er möchte ihn anflehen, noch nicht zu gehen. Zu bleiben und den Weihnachtsabend mit ihm zu verbringen. Immer bei ihm zu bleiben.

„In Ordnung“, sagt er stattdessen so ruhig wie möglich. „Natürlich fahre ich dich hin.“

Marek lächelt und ist schon im Gehen.

„Warte!“, hält ihn Hans zurück.

„Was ist?“, fragt Marek.

Er wendet sich wieder Hans zu. Er runzelt die Stirn auf seine ganz eigene Art; Hans kennt das von früheren Unterhaltungen, wenn Marek mit der Situation nicht ganz im Reinen ist. Marek zieht dabei die Brauen schräg nach unten, sodass sie über der Nasenwurzel beinahe aufeinandertreffen. Dies verleiht ihm einen zweifelnden und nach Hans’ Interpretation vielleicht sogar etwas verzweifelten Ausdruck.

Hans nimmt ein Glas Orangensaft vom Küchentisch und geht damit auf Marek zu. Auch aus der Nähe ist kein Morgenschatten auf den Wangen des Jungen auszumachen. Hans streicht sanft mit den Fingerspitzen die vereinzelten weichen Härchen über Mareks Oberlippe und auf seinem Kinn und anschließend über seinen Nasenrücken, der ganz leicht nach innen geschwungen ist, was – wenn man sich auf dieses Detail konzentriert – seiner Nase etwas Kindliches gibt.

Mit der anderen Hand hält er ihm das Glas entgegen. „Den habe ich extra für dich gekauft“, sagt er.

Marek zögert und hält Hans’ Blick stand. Für einen Moment hat es den Anschein, als würde er den Orangensaft ablehnen. Dann aber entspannt sich sein Mienenspiel wieder und seine Augen schweifen zur Seite. „Also gut.“

Er nimmt das Glas entgegen und trinkt es mit zurückgelegtem Kopf in einem Zug aus. Hans’ Augen folgen den Schluckbewegungen von Mareks Kehle. Dann senkt Marek den Kopf und reicht Hans das leere Glas. Dabei schaut er ihm wieder in die Augen. Hans fällt es schwer, seinen Blick zu deuten. Er stellt das Glas auf der Küchenplatte gleich neben der Tür ab und wendet sich wieder Marek zu. Dieser bleibt ganz ruhig stehen, als Hans die Hand abermals nach ihm ausstreckt. Ganz leicht fährt er den Zügen dieses jungen Gesichts nach, die Linie seines Kinns und den Hals hinunter. Er zeichnet die Teile, aus denen sich dieser perfekte Köper zusammensetzt, nach: die Brust, die Arme, die Lenden. Er spürt die Weichheit der Haut und die Festigkeit der Muskeln darunter. Er kommt ganz nahe an Marek heran und umfasst seinen Hintern. Der Junge bewegt sich weiterhin nicht, er steht so still da, wie man nur stehen kann. Hans fährt mit den Händen die Spalte entlang und auf den Oberschenkeln nach vorn. Schließlich schließt er sie über Mareks Geschlecht. Dann küsst er ihn auf den Mund. Er saugt den Geschmack nach Orangensaft ein und tastet mit der Zunge zwischen den Lippen nach Mareks Speichel. Hans ist sich sicher, dass Marek in diesem Kuss all die Gefühle spüren muss, die er für ihn empfindet. Noch immer hält der Junge ganz still; Hans kostet den Moment so lange aus, wie es ihm für angebracht erscheint.

Endlich löst er sich von Marek. „Danke für die schöne Nacht“, sagt er.

„Es freut mich, dass es dir gefallen hat“, sagt Marek. Dann wendet er sich ab und verschwindet abermals im Badezimmer.

„Wirklich kein Frühstück?“, ruft Hans ihm nach.

Marek verneint. Hans räumt den Tisch wieder ab und verstaut das Essen im Kühlschrank. Er holt eine Tupperdose aus einem Oberschrank und schichtet Reste vom gestrigen Abendessen hinein, zwei Scheiben Truthahnbrust, vier Schnitten vom Serviettenknödel, etwas Rotkraut, ein paar Maronen, von allem etwas. Für ihn selbst bleibt für heute Abend noch genug. Er stellt die Dose auf das Tischchen neben der Eingangstür, bevor er ins Schlafzimmer geht und sich dort anzieht. Er ist fertig, als Marek, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, die Haare sorgfältig gegelt und seine Toilettentasche in einer Hand, aus dem Badezimmer kommt. Für einen Moment ist Hans versucht, Marek doch noch einmal zum Sex zu animieren, doch er lässt es dann lieber bleiben. Er möchte auf keinen Fall eine etwaige Abwehrhaltung Mareks provozieren, sondern die gelassene Stimmung, die zwischen ihnen herrscht, mit zu ihrem nächsten Treffen nehmen.

An der Tür zur Garage reicht Hans Marek die Tupperdose. „Essen von gestern. Es hat dir ja geschmeckt, oder?“

„Ja, sehr.“

„Das ist eine der Speisen, die aufgewärmt fast noch besser schmecken als frisch.“

Marek bedankt sich mit einem Kuss auf die Wange, und bevor er den Wagen aus der Garage lenkt, legt Hans die Hand auf seinen Oberschenkel – in dem Bewusstsein, dass es sich dabei um die letzte Berührung für dieses Zusammensein handelt; in der Öffentlichkeit ist Hans auf Distanz bedacht.

Die Fahrt zum Bahnhof nimmt nur wenige Minuten in Anspruch und könnte für Hans doch ewig dauern. Währenddessen herrscht Schweigen im Wagen. Ein kurzer Blick: Marek hat die Augen geschlossen. Der Regen trifft in gleichmäßigem Rauschen auf die Hülle des Fahrzeugs, das Gebläse der Heizung ist die Entsprechung im Inneren. Alle weiteren Geräusche werden davon aufgesogen. Die Scheiben sind beschlagen, die Wischer öffnen nur kurze trübe Ausblicke. Der Verkehr, die Menschen unter ihren Schirmen, die kleine Stadt bleiben außen vor. Hans genießt jede Minute der Fahrt in dieser Kapsel. Marek und er, zwei Menschen, die zusammen gehören und für die der Rest der Welt keine Bedeutung hat.

Allzu bald hält Hans vor dem Bahnhofsgebäude. „Und du fährst jetzt zu deiner Tante nach Tschechien?“

„Ist ja nicht weit.“

„Ihr wohnt gleich hinter der Grenze?“

Die Zugfahrt würde keine zwei Stunden dauern.

„Dann wünsche ich dir ein schönes Weihnachtsfest.“

Hans macht sich daran, auszusteigen, doch Marek meint: „Ist nicht nötig.“

„Ist kein Problem für mich.“

„Du musst wirklich nicht warten“, wehrt Marek ab.

Jetzt ist der Moment gekommen, vor dem Hans Herzklopfen hat. Natürlich hat er den Umschlag mit dem Geld für Marek vorbereitet; er steckt in der Innentasche seines Parkas. Doch seine Hoffnung wäre, dass Marek heute nicht nach dem Geld fragt; dass er es sogar ablehnt, wenn es ihm Hans anbietet – vielleicht mit einem Hinweis auf Weihnachten und dass er das Zusammensein mit ihm ja selbst als schön und auch geil empfinde; dass er für ihn im Lauf der Zeit so etwas wie ein echter Freund geworden sei. Hans hat die Hand schon am Reißverschluss seiner Jacke, zögert mit wildem Herzen jedoch noch einen Augenblick.

„Ja, also, dann …“

Marek nickt ihm zu und bewegt seinen Arm. Bevor er die Hand wirklich aufhalten kann, hat Hans aber den Umschlag schon hervorgeholt.

„Ich hab’s nicht vergessen … Ist ein bisschen mehr als sonst. Ein kleiner Weihnachtsbonus sozusagen.“

Marek lächelt. „Danke.“

„Und ich melde mich bei dir, ja?“

„Natürlich. Immer gern, Hans.“

„In drei Wochen oder so. Dann komme ich wieder nach Wien.“

„Ich freue mich auf dich.“

„Wird dann aber wie üblich nur für eine Stunde sein. Die Übernachtung war etwas ganz Besonderes. Sozusagen mein Weihnachtsgeschenk an mich selbst.“

„Dann hoffe ich, es hat dir Spaß gemacht …“

Mit diesen Worten steigt Marek aus dem Wagen. Mit eingezogenem Kopf hastet er durch den Regen bis unter das Vordach des Bahnhofsgebäudes. Dort bleibt er stehen und dreht er sich noch einmal um. Die Scheibenwischer reißen Fetzen aus der blassen Regenwand zwischen ihnen. Hans kann Mareks kurzes Nicken und das angedeutete Winken nur erahnen. Und ebenso sein Lächeln.

Hans hat darauf gewartet, er saugt es in sich auf. Mareks Lächeln ist ein Geschenk, es trägt für ihn so etwas wie Zukunft in sich. Es bedeutet, dass es etwas gibt, auf das er sich in den kommenden Wochen freuen kann.

Als sich Marek umwendet und im Gebäude verschwindet, hält Hans das Lächeln in sich fest. Dann nimmt er sich zusammen und fährt los in den langen Rest des Weihnachtstages.

Die Ruine

Marek wartet ab, bis der Wagen von dem kleinen Platz vor dem Bahnhof in die Straße gebogen ist. Er folgt ihm durch den Fensterausschnitt in der Tür zum Warteraum mit den Augen, bis auch die Rücklichter im Regen verschwunden sind. Dann tritt er wieder ins Freie. Wie ganz rasche kurze Schläge auf Blech klingen die Tropfen auf dem Vordach, unter dem Marek nun steht. Er streckt für einen kurzen Moment den Kopf hervor und späht in den Himmel. Eine dichte graue Wolkendecke, darunter von Wind zerzauster Regen; keine Anzeichen auf eine baldige Besserung des Wetters.

Marek runzelt die Stirn. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und überprüft seinen Standort und den der Adresse, die er gespeichert hat. Der Bahnhof befindet sich im neuen Teil der Stadt, in dem auch Mareks Ziel liegt; dazwischen der Hügel mit der Altstadt und der noch zum Großteil erhaltenen mittelalterlichen Mauer. Das Display zeigt einen etwa zwei Kilometer langen Fußweg um den halben Hügel an. Bis Marek dort ist, wird er völlig durchnässt sein. Er könnte in den Zug steigen, den zu nehmen er Hans gegenüber vorgegeben hat. Oder eben in den nächsten, zwei Stunden später. Eigentlich hat Marek dem Besuch bei Hans zu Weihnachten nur wegen dieser persönlichen Angelegenheit zugestimmt. Mit diesem Wetter hat er nicht gerechnet, eigentlich war Schneefall angesagt, den er dem Regen vorgezogen hätte. Er will sich dadurch aber auch nicht seine Pläne durchkreuzen lassen.

Durch die Geräusche des Regens gedämpft, hört er hinter sich die Durchsage bezüglich der Abfahrt des Zuges. Mit einem letzten Blick auf die Wolken wendet sich Marek um und betritt abermals den Warteraum. Er stöpselt sich die Kopfhörer in die Ohren und wählt Musik, die weder mit dem Regen, noch mit Weihnachten etwas zu tun hat. Für ein paar Minuten geht er in dem Raum auf und ab und betrachtet die Plakate, die dort aufgehängt sind und Reiseziele bewerben. Auch die kleine Stadt mit ihrer Mauer ist darunter, aus der Luft und bei strahlendem Sonnenschein fotografiert. Bald jedoch wird ihm klar, dass er die Postkartenmotive auf den anderen Postern gar nicht wirklich wahrnimmt. Er zieht seinen Rucksack vom Rücken und lässt ihn zu seinen Füßen auf den Boden und sich selbst auf eine der Bänke fallen. Er öffnet den Reißverschluss seiner schwarzen Daunenjacke und fischt in einer der Taschen nach dem Umschlag. Er zählt das Geld nach. Hans hat ihm fünfzig Euro mehr als ausgemacht gegeben. Marek geht in Gedanken nochmals durch Hans’ kleines Haus mit der nicht gerade luxuriösen Einrichtung. Es liegt oben in der Altstadt. Von den Fenstern im hinteren Teil des Gebäudes hat man einen wunderbaren Blick über die Wälder und Felder der Umgebung. Es ist jedoch ziemlich abgewohnt; Marek überlegt, dass eine Renovierung wohl ein Vermögen kosten würde und der Betrag im Umschlag nicht nur für ihn selbst, sondern zweifellos auch für Hans viel Geld darstellt. Deshalb hat er ihn ja auch noch nie zuvor über Nacht eingeladen und besucht ihn üblicherweise nur für eine Stunde.

Fast hätte Marek vorhin im Auto nach dem Geld gefragt. In Mareks Wohnung in Wien legt Hans das Geld auf das Schuhkästchen im Vorzimmer; diesen Vorgang so diskret abzuwickeln, ist Hans offenbar wichtig. Dass er die Bezahlung heute bis zuletzt hinausgezögert hat, war untypisch für ihn. Doch Hans ist ein verlässlicher Kunde; Marek hat sich keine Sorgen gemacht, dass er nicht zahlen würde. Wahrscheinlich hat er nur wegen des Weihnachtsbonus gezögert; er wollte Marek wohl darauf aufmerksam machen, um sich seiner Dankbarkeit zu versichern.

Marek schiebt die Gedanken an Hans von sich. Der Job ist erledigt, und wie immer hat er sich dabei Mühe gegeben. Er steckt den Umschlag wieder weg und schließt die Augen. Die Musik, klagend und sehnsuchtsvoll, umspült ihn und kapselt ihn von seiner Umgebung ab. Mattigkeit legt sich auf Marek, er hat in der vergangenen Nacht nicht viel geschlafen. Er nickt ein und fährt nach einiger Zeit abrupt hoch. Wie in einer einzigen Bewegung kommt er auf die Beine. Er blickt sich im noch immer leeren Warteraum um. Die Uhr an der Wand über der Tür zum Bahnsteig zeigt ihm an, dass er fast eine halbe Stunde geschlafen hat.

Marek fährt sich durch die Haare und über den Nacken. Ohne weiter darüber nachzudenken, schließt er den Reißverschluss seiner Jacke und nimmt seinen Rucksack hoch. Dann tritt er wieder aus dem Gebäude. Der Regen hat ein wenig nachgelassen, das Geräusch der Tropfen auf dem Vordach ähnelt jetzt einem Reiben auf rauer Oberfläche. Marek überprüft nochmals die Richtung seines Zieles auf dem Handy. Die Kapuze schützt ihn ein wenig vor dem Regen, als er losgeht.

Mittlerweile ist der Regen in ein Nieseln übergegangen. Die Hände in den Taschen vergraben, schreitet Marek rasch aus. Zweimal bleibt er stehen und überprüft im Schutz eines Bushäuschens auf seinem Handy den Weg. Die Einfamilienhäuser mit ihren Gärten ähneln einander. Einmal biegt Marek falsch ab und muss die Sackgasse wieder zurückgehen. Als er in die Gegend kommt, in der sich auch sein Ziel befinden muss, geht Marek langsamer und beginnt, sich genauer umzuschauen. Ein anderes Mal hält er vor einem unbebauten Grundstück an, doch ein Blick auf sein Handy sagt ihm, dass er sich geirrt hat.

Erst hundert Meter weiter ist er am Ziel. Unvermittelt bleibt Marek ein Stück davon entfernt stehen. Fast hat es den Anschein, als würde er nicht mehr weitergehen. Er starrt vor sich, als sähe er dort eine andere Welt.

Doch dann kommt tritt er näher und zieht sich im Gehen die Kapuze vom Kopf. Ein verwilderter Garten hinter einem Maschendrahtzaun, der an mehreren Stellen eingedrückt ist. Bäume, Sträucher, hohes Gras, jetzt kahl und braun, im Sommer jedoch sicher eine grüne Wildnis nicht weit abseits der Stadt. Im hinteren Teil des Grundstücks stehen die Reste eines Gebäudes ohne Dach. Wie ein kahler Baum, wie eine trostlose Hülle ohne Inhalt, bohren sich die rohen grauen Mauern einer Ruine in die Nebelregenwand. Es ist eine Ruine mit schwarzen Augenhöhlen an Stelle der Fenster, zum Teil vom Bewuchs verdeckt, an anderen Stellen nackt und glotzend.

Marek hat zwischen den Stämmen und Ästen freien Blick darauf. Er kommt ganz nah an den Zaun heran. Seine Augen sind auf diesen Anblick Mauern fixiert, als hätte er eine besondere Bedeutung für ihn. Eine alte Frau mit einer Einkaufstasche dreht sich im Vorbeigehen argwöhnisch nach ihm um. Marek nimmt sie nicht einmal richtig wahr. Hingegen holt er seine Brieftasche hervor und aus ihr ein Foto. Dieses ist an den Ecken ein wenig zerknittert, Marek streicht es so glatt wie möglich und hält schützend einen Arm darüber. Dieser Garten, aber grün und blühend, im Hintergrund ein Haus, intakt und bewohnbar, und davor drei Menschen. Dass es sich dabei um eine Frau, einen Mann und ein Kind handelt, ist erkennbar, ihre Gesichter sind es aber nicht, dazu sind das Foto und die Personen darauf einfach zu klein und die Farben zu ausgeblichen.

Marek steht lange Zeit vor dieser Szenerie, dem Zusammenspiel aus dem Garten mit den Mauerruinen und dem Foto in seiner Hand. Er schaut von einem zum anderen und wieder zurück, bis der Regen wieder stärker wird. Er steckt das Foto in seine Brieftasche zurück. Von den nassen Haaren rinnt ihm Wasser in die Augen und von dort aus über die Wangen und das Kinn. Er wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht und zieht sich die Kapuze über den Kopf. Dann wendet er sich wieder zum Gehen.

Weihnachtsbesuche

Andreas steht am Fenster im dritten Stock. Sein Blick folgt der Gestalt des jungen Mannes in der Daunenjacke, die im Nieselregen verschwindet. Der Mann kommt ihm irgendwie bekannt vor; Andreas kann diesen Eindruck aber an nichts Konkretem festmachen. Auch ob er tatsächlich jung ist, vermag er nicht zu sagen, auch dazu war er zu weit von ihm entfernt, als er geraume Zeit am Zaun zum Nachbargrundstück stand und vor sich hin starrte. Dabei strahlte er etwas aus, selbst auf diese Entfernung, das Andreas dazu gebracht hat, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Es hält ihn am Fenster, bis die Gestalt um eine Ecke gebogen und nicht mehr zu sehen ist.

Andreas hört Geräusche aus dem Nebenraum. Wie ihm bekannt ist, handelt es sich dabei um die Küche. Er erinnert sich daran, dass er die Zeit bis zur Rückkehr der Wohnungsinhaberin eigentlich anders nützen wollte. Rasch durchquert er das Zimmer und hockt sich vor das Tischchen zwischen den beiden Sofas. Andreas weiß von früheren Besuchen bei der alten Frau Berger, dass sie dort in der Lade ihre Geldbörse aufbewahrt. Er hat sie einmal beobachtet, als sie nach Trinkgeld suchte. Dabei ist ihm das dicke Bündel Hunderter in der Börse aufgefallen. Gut für ihn; offenbar, hat sich Andreas damals gedacht, schenkt die alte Frau ihrer Bank kein großes Vertrauen. Er hat Glück, öffnet die Börse und zieht aus dem Geldbündel darin drei Scheine heraus, die er in seiner Hosentasche verschwinden lässt.

Die Börse ist wieder in der Lade verstaut und diese geschlossen, als Frau Berger in der Tür zum Wohnzimmer erscheint. Andreas springt von dem Sofa auf, in dem er erst einen Moment zuvor Platz genommen hat.

„Soll ich Ihnen helfen, Frau Berger?“

„Es geht schon, mein Lieber“, meint sie. Ihre Altfrauenstimme hat trotz ihres Lächelns eine Art leidenden Ton. „Bleiben Sie nur sitzen!“

Sie kommt mit kleinen schlurfenden Schritten näher und balanciert dabei auf ihren Händen ein Tablett mit einer Kanne, zwei Tassen und einem Teller mit Weihnachtskeksen. Blümchenporzellan, wie Andreas gleich darauf erkennt, und auf dem Tablett lila Hortensien. Die alte Frau Berger verkörpert für ihn das Klischee der pensionierten Englischlehrerin, die sie, wie sie ihm einmal erzählt hat, ja auch tatsächlich war.

„Sie sind eh immer unterwegs für Leute wie mich“, fährt sie fort. „Wie sollte ich zu meiner Dialyse kommen ohne Sie? Deshalb sollten Sie es sich zumindest zu Weihnachten auch einmal gut gehen lassen.“

„Ich mache doch nur meinen Job“, entgegnet Andreas. Wie zur Bekräftigung, tippt er kurz auf die Abzeichen auf seiner Rot-Kreuz-Uniform. Er nimmt der alten Frau das Tablett ab und stellt es auf das Tischchen zwischen den Sofas. „Ich mache es ja auch gern“, setzt er nach.

„Das merkt man Ihnen auch an, Andreas.“ Ein hohes Kichern, ein fast schüchternes Erröten, dazu jedoch ein ziemlich herausfordernder Blick. „Deshalb sind alte Schachteln wie ich ja auch so vernarrt in Sie!“

„Sie sind doch keine alte Schachtel, Frau Berger!“, protestiert Andreas.

Die Angesprochene tut seinen Satz jedoch mit einer wegwerfenden Geste an. „Schauen Sie sich nur an!“, meint sie hingegen. „So groß und schlank, wie Sie sind. Mit so schönen blonden Haaren! Und braungebrannt wie direkt aus dem Urlaub am Meer!“

„Das ist, weil ich ins Solarium gehe.“

„Ist das nicht ungesund?“

„Nur einmal pro Woche, das ist okay.“

„Jedenfalls sind Sie ein Bild von einem jungen Mann!“

Andreas geht darauf nicht ein. Aussagen wie diese kommen des Öfteren von alten Damen wie Frau Berger.

„Sie haben sich solche Mühe gemacht!“, meint er hingegen und weist auf das Tablett. „Aber ich habe gar nicht so viel Zeit.“

„Noch Vorbereitungen für den Heiligen Abend? Mit wem werden Sie denn feiern?“

Andreas zögert. „Mit meinem Vater.“

„Das ist nett. Ist ja ein Familienfest. Wenn man Familie hat.“

Sie schenkt Andreas Kaffee ein und reicht ihm die Tasse. „Sie haben auch eine Schwester, haben Sie das nicht einmal erwähnt?“

Andreas nickt. „Sie studiert in Amerika. Sie wird heute nicht da sein.“

„Dann machen sich eben Vater und Sohn einen schönen Abend. So, wie es sich gehört.“

Andreas trinkt einen Schluck Kaffee. „Wie es sich gehört …“, murmelt er.

„Was haben Sie gesagt?“, fragt die alte Frau.

Andreas lächelt. „Ich hab nur laut gedacht.“ Er steht auf. „Aber jetzt muss ich wirklich gehen.“

„Nehmen Sie doch ein paar von meinen Keksen!“, drängt ihn Frau Berger. „Ich habe sie selbst gebacken. Und ich darf ja eigentlich keine essen …“ Sie hält ihm den Teller entgegen.

„Die kann ich mir nicht entgehen lassen.“ Andreas steckt sich zwei Kekse in den Mund.

„Sind sie gut?“

Andreas verdreht fast übertrieben die Augen. „Ein Gedicht!“

„Und ich habe noch etwas für Sie.“ Mit einer Bewegung, die ihr offensichtlich Schmerzen bereitet, wendet sie sich der Kommode neben der Tür zu. „Dort liegt ein Umschlag. Neben der Kerze, die Sie mir mitgebracht haben. Sehen Sie ihn?“

Andreas hat den Umschlag schon vorhin beim Hereinkommen ausgemacht. Sein Vater hat beim Weihnachtsmarkt der Behindertenwerkstätte der kleinen Stadt ein paar Bienenwachskerzen auf einem mit künstlichem Schnee beklebten und mit kleinen Tannenzweigen dekorierten Stück Wurzelholz gekauft. Andreas hat sie an sich genommen, als der Vater letztens einmal nicht zu Hause war. Das perfekte Geschenk für seine betagten Patientinnen. Frau Berger war ganz entzückt davon und hat die Kerze auf der Kommode platziert, weil man sie dort von überall im Zimmer am besten sehe könne.

„Das ist für mich?“, fragt Andreas.

„Ein kleines Dankeschön.“

„Aber das ist doch nicht notwendig.“

„Es ist mir ein Anliegen. Weil Sie immer so nett zu mir sind. Bei Ihnen ist das kein Dienst nach Vorschrift.“

Andreas nimmt den Umschlag an sich.

„Machen Sie ihn auf!“, drängt ihn die alte Frau.

Ein Billet mit Schneemann und lachenden Kindern, darin ein Hunderteuroschein.

„Aber Frau Berger“, sagt Andreas, was sein Gegenüber wohl hören möchte: „So viel! Sie sind doch keine Millionärin!“

Ein gackerndes Lachen. „Ich habe ein bissl was gespart. Für Gelegenheiten wie diese. Und für Menschen, die mir wichtig sind.“

„Dann sage ich recht herzlichen Dank, Frau Berger.“

Er streicht ihr mit der Hand über die Schulter und berührt dabei für einen Moment den faltigen Hals. Die alte Frau legt den Kopf schief und schließt die Augen.