Eine ganz andere Liebe - Paul Senftenberg - E-Book

Eine ganz andere Liebe E-Book

Senftenberg Paul

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Beschreibung

Michael ist sechzehn und mit der gleichaltrigen Anna zusammen. Sie leben in der Idylle einer Kleinstadt unweit von Wien, und es ist, als wären sie immer schon füreinander bestimmt gewesen. Dass Michael beim Sex so zärtlich ist, genießt Anna. Dass er dabei an die halbnackten Surfer auf den Postern über ihrem Bett denkt, verdrängt Michael. Als er aber Daniel kennenlernt, bricht das Gebäude seines bisherigen Lebens wie ein Kartenhaus zusammen. Daniel musste nach einem Vorfall mit Drogen die Schule und Wien verlassen und wohnt nun bei seinem Onkel, dem Betreiber eines Sommerkinos, in dem alte Horror-klassiker gezeigt werden. Bei einer Vorstellung von Frankenstein kommt es zwischen Michael, dem Film-freak, und Daniel, dem lebenslangen Außenseiter, zum ersten Kuss. Sie sind sich aber nicht bewusst, dass Anna alles mit ansieht ...Eine Geschichte über einen langen heißen Sommer der Entscheidungen: Wie Michael und Daniel einan-der näherkommen, wie sie lernen, zueinander und ihrer Liebe zu stehen, wie sie sich auf Momente der Zärtlichkeit und echte Nähe zum anderen einlassen, beschreibt der Roman Eine ganz andere Liebe in unver-klemmt-offener Sprache und unverkitscht zarten Bildern einer jungen Liebe. Michael, Daniel, aber auch Anna finden sich in einem Dreieck der verwirrenden und verwirrten Emotionen. Sie müssen sich klar werden, was sie im Leben wirklich wollen, sie erkennen im Laufe dieses mitunter schmerzlichen Prozesses auch, dass es manchmal großen Mutes bedarf, zu seinen Gefühlen zu stehen.

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Seitenzahl: 214

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Paul Senftenberg

Eine ganz andere Liebe

Über den Autor:

Paul Senftenberg ist ein niederösterreichischer Autor. Sein erster RomanDamals ist vorbeierschien 2009. Darin geht es um das Coming-out eines verheirateten Familienvaters und seine Liebe zu einem Mann, mit dem er Jahrzehnte zuvor einen Sommer verbrachte. In seinem neuen RomanEine ganz andere Liebebeschreibt der Autor einen ähnlichen Prozess der Ich-Findung aus der Sicht von jugendlichen Protagonisten, die sich der Intoleranz und den Vorurteilen ihrer Umwelt stellen und ihren Platz im Leben finden müssen.

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected], Juli 2013

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Covermotiv:„Danny“ oil on panel, 2009 by Martin-Jan van Santen

www.martinjanvansanten.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

ISBN print 978-3-86361-316-7 ISBN epub978-3-86361-317-4

ISBN pdf: 978-3-86361-218-1

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

„You have no idea what I’d give to be normal!“

X-Men First Class

„Here’s much to do with hate,

but more with love.“

William Shakespeare,Romeo and Juliet

Leo

Im Rücken die aufgerissene Rinde des Stammes der alten Kastanie, in den Ohren das Windrauschen in den Zweigen, nimmt Michael durch seine geschlossenen Lider auf einmal das Flackern von Licht und Schatten wahr. Er öffnet die Augen und blickt in Annas Gesicht.

„Ich hab auf dich gewartet“, sagt Michael und setzt sich halb auf.

„Ich bin nicht zu spät“, erwidert Anna.

„Nein, ich war zu früh. Es war so eine traurige Stimmung daheim.“

„Ich wäre noch gern eine Runde geschwommen. Aber dann ist deine SMS gekommen. Und da habe ich mir gedacht, dass du nicht allein sein willst.“

Anna setzt sich zu Michael ins Gras, und er streicht ihr über die Haare wie auf einem glatten dunklen Tuch bis auf den Rücken hinunter. Mit den Fingerkuppen der anderen Hand fährt er ihr über ihre Wange.

„Deine Haare sind noch feucht“, sagt Michael leise.

„Sie sind bald trocken“, sagt Anna.

Michael blickt sie direkt an und versucht ein Lächeln. „Hast du heute schon dein geliebtes Erdbeereis gehabt?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein ...“

„Dann gehen wir doch in den Eissalon.“

Doch er macht keine Anstalten dazu.

„Und du?“, fragt Anna. „Möchtest du denn auch ein Eis?“

Sie merkt, dass Michael mit seinen Gedanken woanders ist. „War’s schlimm?“, wechselt sie deshalb das Thema.

Michael sagt eine Weile nichts, dann runzelt er die Stirn.

„Ich habe ihn im Arm gehalten, als der Tierarzt ihm die Spritze gegeben hat. Es war arg! Er war ... Innerhalb von ein, zwei Sekunden war er tot.“

„Dass das so schnell geht!“

„Das Mittel war nicht einmal vollständig in seinem Körper, da habe ich gemerkt, wie er ganz schlaff geworden ist.“

„Ist ja voll arg!“

„Ich hätte heulen können.“

„Ich hätte es getan.“

„Wir haben ihn gleich eingegraben, als wir heimgekommen sind.

„Was hätten wir denn auch tun sollen? Ihn einfach so herumliegen lassen?“

„Ist schon das Beste so.“

„Ich hab ihn in seine Decke gerollt, und jetzt liegt er unter dem Ahornbaum im Garten.“

Anna wiederholt Michaels Geste von vorhin, fährt ihm durch die Haare und streicht dann die Wange hinunter bis zu seinen Lippen.

„Dass du so blond wirst im Sommer!“

„Bin halt eine Blondine.“

Michaels Grinsen wirkt auf Anna unecht.

„Ich finde, sein Name hat zu ihm gepasst“, sagt sie. „Er war ein wirklich schöner Kater. Und dazu so schmusig.“

Für einen Moment entspannt sich Michael wieder. „Die Mama hat seitTitaniceinfach für den Leo geschwärmt.“

Michael kommt auf die Beine, streckt Anna die Hand hin und zieht sie zu sich hoch.

„Aber Frostschutzmittel im Hochsommer!“, meint Anna. „Das checke ich immer noch nicht.“

„Das Zeug schmeckt süß, hat der Tierarzt gesagt. Er hat es wohl in irgendeiner Garage aufgeschleckt.“ Seufzend setzt Michael nach: „Oder was weiß ich, wo. Er war ja oft die ganze Nacht unterwegs. Aber dann saß er in der Früh immer vor der Terrassentür. Nur vorgestern nicht, da ist er erst nachmittags angekrochen gekommen, wie mit letzter Kraft hat er sich geschleppt ...“

„Und dieses Frostschutzmittel ...“

„Ein paar Tropfen genügen angeblich, und die Nieren sind kaputt, da kann man gar nichts mehr machen. Der ganze Körper wird nach und nach vergiftet. Er hat mir so leid getan, als er am Schluss nichts mehr gefressen hat und nur noch so da lag.“

„Als ich ihn gestern noch gestreichelt habe“, bekräftigt Anna, „konnte ich jede einzelne Rippe spüren.“

Unbewusst reibt sich Michael mit der flachen Hand mehrmals über die Brust. Anna weiß, dass das eine seiner Angewohnheiten ist. Dabei bleibt der silberne Ring, den Michael am Daumen trägt, an einer Stelle hängen, an der der Ausschnitt seines Shirts aufgerissen ist. Anna überlegt für sich im Stillen, ob der Kater gekrallt hat, als er eingeschläfert wurde, aber sie fragt Michael nicht danach. Stattdessen greift sie nach seiner Hand und zieht sie zu sich.

Michael reagiert darauf nicht. Er starrt an Anna vorbei ins Leere.

„Es war besser so“, sagt er, wie um sich selbst zu überzeugen. „Es hat sein Leiden beendet.“

„Wir werden heute Abend eine Kerze unter dem Baum anzünden.“

„Das stelle ich mir schön vor.“

Anna hat für sich beschlossen, dass es an der Zeit ist, Michael auf andere Gedanken zu bringen.

„Alle meine Ideen sind gut“, sagt sie. „Und jetzt habe ich eine besonders gute ...“

Michael zieht fragend die Brauen hoch. An Stelle einer Antwort fährt Anna mit einem Finger die Kuppe seiner schmalen Nase entlang, über den kleinen Höcker, den sie nach oftmaliger eigener Aussage süß findet, was Michael seinerseits nicht nachvollziehen kann. Annas Finger bewegt sich weiter und streicht in winzigen Kreisen über Michaels rechten Nasenflügel, als wollte sie die Sommersprossen darauf zählen. Heute früh war dort ein kleiner Pickel, und Michael hofft, dass er nicht größer geworden ist. Doch Annas Finger verharrt nicht auf seiner Nase, sondern zieht sanft seine Lippen nach. Dann legt ihm Anna die Arme um den Hals. Er holt sie ganz nah zu sich. Wenn er sie in seinen Armen hält, ist das, als wären ihre Körper zwei Puzzleteile, die sich mit einer Selbstverständlichkeit zueinander fügen, als wären sie dafür und für nichts sonst gemacht; das geht Michael auch in diesem Moment wieder einmal durch den Kopf.

Wie schon vorhin schwingt ein Windstoß durch die Krone des Kastanienbaumes. Michael hat sich gerade zu Anna gebeugt, jetzt ist er abgelenkt. Das Geräusch der Blätter klingt für ihn wie das Knistern eines papierenen Drachens, der über ihnen im Baum lauert.

Als Michael ein Kind war, hat er Abendspaziergänge mit seinem Vater geliebt. Der Vater mochte schon immer Filme und hatte Geschichten parat, die so aufregend waren, dass sie auch einen langen Spaziergang zu wenigen Minuten schrumpfen ließen. Der kleine Michael hatte eine Taschenlampe dabei und leuchtete hinter jeden Busch und hoch in jede Baumkrone. Wehte Wind, dann machte ihn der Vater auf das Rascheln der Blätter aufmerksam. Er sprach vom Raunen geheimnisvoller Stimmen noch geheimnisvollerer unsichtbarer Erzähler; Michael müsse nur aufmerksam genug hinhorchen, meinte sein Vater im dramatischen Flüsterton, der dem Jungen wohlige Schauder über den Rücken jagte, dann könne er sie verstehen.

Tatsächlich nahmen die Gesichter all der edlen Prinzen und grazilen Elfen, der heimtückischen Gnome und grausigen Ungeheuer und all der anderen Sagenfiguren und Superhelden während der abendlichen Spaziergänge in der Dämmerung in Michaels Kopf Gestalt an. Und selbst an windstillen Abenden war es so, denn dann war er sich ganz sicher, dass sie in ihren Blätterverstecken den Atem anhielten.

Jetzt aber kommen dem Jungen die Geräusche aus den Zweigen wie ein unpassendes Detail vor. Ihr Kuss friert ein. Er braucht keine Beobachter und Einflüsterer von oben, die ihm Anweisungen geben. Michael weiß auch ohne sie, was Anna in einer Situation wie dieser von ihm erwartet. Michael ist klar, dass er eigentlich an nichts anderes als an den Geschmack von Annas Zunge und den leichten Druck ihres Busens an seiner Brust denken dürfte, oder besser: gar nicht denken, einfach den perfekten Augenblick genießen. Stattdessen hat er einen imaginären Papierdrachen vor Augen, und aus dem Schutz des Baumes wird ein Moment der Bedrohung.

Fast wütend auf sich und die Situation, schiebt Michael eine Hand unter Annas Shirt. Seine Bewegung ist dabei so heftig, dass Anna kurz zurückzuckt. Doch die Berührung seiner Hände ist ihr so vertraut, dass sie sich gleich wieder entspannt. Annas weiche warme Haut unter seinen Fingern wischt auch Michaels seltsame Gedanken auf einen Schlag beiseite.

„Gehen wir zu dir“, flüstert er in Annas Ohr.

Dann leckt er mit der Zunge ganz leicht darüber. Wie erwartet zieht Anna die Schulter hoch und den Kopf ein.

„Du weißt, dass ich nicht mehr klar denken kann, wenn du das tust.“

„Gut so ...“

„Weil du mich verrückt machst.“

„Ich bin auch verrückt nach dir!“

„Und weil ich dich liebe.“

Michael löst sich von Anna und tritt einen Schritt zurück.

„Dass du das sagst, ... also die Vorstellung, dass du mich liebst ...“ Er blickt sie ernst an. „Irgendwie gibt das allem einen Sinn.“

Anna nimmt ihn an der Hand, und er lässt zu, dass sie ihn aus dem Schatten des Kastanienbaumes ins grelle Nachmittagslicht des Sommers zieht. Dort hat sich die Sonne an den Mauern der Häuser, die den Platz um den Baum säumen, schon den halben Tag heiß gerieben. Michael bleibt stehen, Annas Hand rutscht aus seiner.

Michael zieht blinzelnd seine Sonnenbrille aus einer Tasche seiner Shorts und setzt sie sich auf. Direkt vor ihm, auf der anderen Straßenseite, macht sich ein weißbärtiger Alter mit Glatze und nicht kleinen Ohren an einem der Schaukästen am ehemaligen Kino zu schaffen. Michael erkennt in ihm den Betreiber des Kinos aus der Zeit, als es noch regelmäßig bespielt wurde. Der Mann bewegt einen Schlüssel einige Male im Schloss, scheint den Kasten aber nicht aufzukriegen. Michael hört etwas, das ein Fluchen sein könnte. Erst als der Alte mit der Faust gegen das Holz schlägt, lässt sich der Schaukasten öffnen. Aus Erzählungen weiß Michael, dass sich sein Vater schon als Jugendlicher oft und gern in diesem Kino, das man damals noch „Lichtspieltheater“ nannte, Filme angesehen hat. Später waren sie manchmalzusammen in einem Film, seit einiger Zeit aber wurde das Gebäude abgesehen von der Wohnung, in der der Besitzer lebte, nicht benutzt. Als er ihn nun dabei beobachtet, wie er ein Plakat im Schaukasten anbringt, dessen Schriftzug er aus der Entfernung und in dem grellen Licht nicht entziffern kann, denkt Michael, dass es doch nett wäre, wenn in dem alten Kino wieder Filme gezeigt würden.

Noch halb in diesen Gedanken, spürt er, dass Anna wieder seine Hand ergreift.

„Ich glaube, ich hätte jetzt doch gern ein Erdbeereis, bevor wir zu mir gehen“, sagt sie. „Bei der Hitze!“

Ohne ihr zu antworten, folgt Michael ihr in Richtung einer der Gassen, die von dem Platz mit dem Kino wegführen. Zwischen zwei Schritten fasst er Anna an den Schultern; sie bleibt stehen, er ist dicht hinter ihr und teilt mit den Händen ihre Haare, die jetzt rehbraun glänzen und sonnenwarm und ganz trocken sind, und küsst sie leicht auf den Nacken. Anna lehnt sich an Michael, der sie mit beiden Armen umfasst und dem vorkommt, dass jetzt wieder alles genauso ist, wie es sein sollte.

Paul Walkers Blick

Später, in Annas Zimmer, sind ihre Bewegungen aufeinander eingespielt. Für Michael ist das nichts, worüber er sich groß Gedanken macht, es ist einfach so. Sie sind seit fast zwei Jahren zusammen und kennen sich noch viel länger, seit dem ersten Tag im Kindergarten, als Michael begann, mit Bauklötzen um sich zu werfen, weil er wütend war vor Angst, seine Mutter würde ihn nicht wieder abholen, und Anna von einem der Klötze an der Wange getroffen wurde und Michael sich schlagartig der Konsequenzen seiner Handlungen bewusst wurde, die Klötze einsammelte und für Anna ein Schloss baute, damit sie nicht mehrweinte, sondern wieder lachte, und weil sie, wie er ihr auch sagte, so schön sei wie eine Prinzessin, die schließlich und endlich nirgendwo sonst als in einem Schloss wohnen könne.

Anna hat die Vorhänge zugezogen, und noch bevor sie sich Michael zuwendet, schlüpft sie aus ihrer Bluse. In dem diffusen Licht, das jetzt im Zimmer herrscht, könnte ihr schlanker Körper der eines Jungen sein. Michael steht schon ohne Shirt vor ihr. Anna kommt auf ihn zu und ihr Kopf, leicht zur Seite geneigt, genau in der Mulde von Michaels Hals zwischen seinem Kinn und der Brust zum Liegen. Michael streichelt die nackte Haut ihres Rückens, dann suchen seine Hände ihren Busen.

„Du bist so zärtlich“, flüstert Anna.

Sie hebt jetzt den Kopf, und Michael nähert sich ihr mit dem seinen. Michael liebt es, Anna zu küssen, dabei verfliegt sein Denken zu einem schwebenden Nichts. Er kostet Annas Geschmack und die Länge des Moments aus, so könnte er ewig dastehen, eins mit Anna.

Dann, ohne dass der Kuss dabei zu einem Ende käme, drängt ihn Anna zu ihrem Bett. Es ist so wie immer, Michael lässt sich von Anna Schritt für Schritt in die Richtung dirigieren, die sie vorgibt.

Als er an den Unterschenkeln die Bettkante spürt, zieht er Anna mit sich auf die Decke. Er kommt auf dem Rücken zu liegen, Anna hockt über ihm. Sie knöpft seine Hose auf, dabei saugt sie an seinen Brustwarzen. Gänsehaut fegt über Michaels nackte Haut. Anna fährt mit einer Hand in seine Hose und beginnt, Michael zu streicheln.

Michael öffnet wieder die Augen. Sein Blick trifft den von Paul Walker. Der Schauspieler befindet sich auf dem Filmplakat vonInto the Bluean der Wand neben dem Bett. Dort gibt es auch Poster von blonden Surfern und coolen Skatern mit weiten Hosen und Shirts. An den anderen Wänden des Zimmers hängen einige Aquarelle und zwei Ölbilder, die Anna selbst gemalt hat und auf denen die Landschaft rund um die kleine Stadt zu sehenist, die Weinberge, eine Blumenwiese und der Wald mit dem Teich, daneben eine Collage, die Anna im Kunstunterricht in der Schule gestaltet hat und die, seiner Meinung nach nicht erkennbar, Michaels Gesicht zeigt, zusammengesetzt aus diversen Schnipseln aus Zeitungen und Magazinen.

Nichts von Annas Arbeiten ist für Michael in diesem Moment von Interesse. An den Postern jedoch bleiben seine Augen hängen. Die Surfer haben nackte Oberkörper, ihre langen Haare wehen im Wind, die Skater sind in der Bewegung eines ihrer tollen Tricks eingefroren. Neben Paul Walker steht Jessica Alba, halb an ihn gelehnt, im knappen hellblauen Bikini. Vom Typ her, denkt Michael, ist sie mit ihren großen Augen und den langen Haaren Anna ähnlich. Doch trotz ihrer sexy Pose wirkt sie auf Michael nicht aufreizender als Anna in seinen Armen. Paul Walker hingegen ist mit seinem durchtrainierten Körper und den leicht zusammengekniffenen Augen für Michael ein Ansporn. Er vermittelt einen so starken und männlichen Eindruck, wie ihn Michael in diesem Moment im Bett mit Anna auch hinterlassen möchte; und genauso wie er erwartet, dass sich Paul in dieser Situation verhalten würde, verhält sich Michael.

Er legt den Kopf zurück und schließt wieder die Augen, nun kann er Annas Berührungen genießen. Während sie sich gegenseitig streicheln und dabei küssen und ganz eins sind und dabei ihr Atem immer heftiger wird, sie im Kuss durch den Mund des anderen atmen und durch die Bewegungen des anderen sich selbst so intensiv spüren wie sonst nicht, braucht Michael an nichts mehr zu denken.

Er ist ganz bei sich und bei Anna, und es ist so, wie es sich entwickelt, wenn Anna und er nackt beisammen liegen, ohne dass er etwas dazu tun muss, weil es einfach der natürliche Lauf der Dinge ist. Denn was auch immer geschieht, eines ist für Michael klar, nämlich, dass es für ihn ein Leben ohne Anna nicht gäbe, weil zwischen ihnen die einzige Art von Liebe ist, die er sich vorstellen kann.

Gewitterhimmel

Umgeben von Monstern und Mutanten, steht Michael in seinem Zimmer. Im Moment sind die Figuren auf den Postern, die so dicht an dicht hängen, dass auf den Wänden kaum weiße Flecken zu sehen sind, bloße Schemen im halben Dämmerlicht.

Das Fenster war den ganzen Tag über geschlossen, dementsprechend stickig ist es. Michael öffnet beide Fensterflügel und atmet die frische Nachtluft ein. Der Wind, der am Nachmittag die Kastanienblätter rascheln ließ, ist stärker geworden. Es ist kein lauer Sommerabend, Michael rechnet mit einem baldigen Gewitter.

Ein Stockwerk unter ihm befindet sich das Wohnzimmer, dort sitzen seine Eltern vor dem Fernseher. Fetzen von Krimimusik treiben die Hauswand entlang bis zu Michael hoch. Er hat sich vorhin am flimmernden Blau aus der halb offenen Tür vorbei geschlichen, er will heute Abend nicht mehr reden. Trotzdem gibt es ihm eine Art beruhigendes Gefühl, seine Mutter und seinen Vater im Haus zu wissen.

Michaels Elternhaus befindet sich am oberen Ende einer steilen Gasse. Vom Fenster seines Zimmers aus blickt er über einen Großteil der kleinen Stadt. Die wenigen Geräusche, die von dort bis zu ihm dringen, laufen ab wie hinter einem Wall aus Watte. Nur ab und zu fährt ein Auto direkt am Gebäude vorbei, aber auch das ist, von Michaels Zimmer aus gesehen, um die Ecke. Dazu kommen die Fernsehmusik und das Zirpen von Grillen. Beides wird jedoch immer wieder von einer jähen Windbö abgedrängt.

Eine fast dramatische Szenerie spielt sich vor Michaels Augen am Himmel ab. Scharfgezackte Wolkenfetzen ziehen wie lederhäutige Flugdrachen zügig an der fast vollen Mondscheibe vorüber. Der Wind nimmt ihr Krächzen auf und trägt es bis zu Michael, der sich wie in der Szene eines Horrorfilms vorkommt, in der dem Helden drohendes Unheil schwant.

Michael setzt sich auf das Fensterbrett, dem Himmel über der Stadt und dem sich steigernden Rauschen des Windes den Rücken zugewandt. Er hat kein Licht angemacht, als er ins Zimmer gekommen ist. Aber wegen des Mondscheins ist es nicht allzu finster. Es herrscht das Licht, das die hereinbrechende Nacht aus dem letzten Rest des Tages saugt, gerade recht, um die Kreaturen an den Wänden seines Zimmers in Michaels Vorstellung zu Leben zu erwecken.

Sie sind die Schreckgestalten aus klassischen Horrorfilmen, vereinzelt auch einige aus moderneren, und die Mutanten ausX- Men. Da gibt es Frankensteins Monster und King Kong, beide in schwarz-weiß, den Riesenaffen vor der Silhouette des nächtlichen New York, in den Pranken die ohnmächtige Frau, die ihm geopfert wurde und in die er sich verliebt hat, daneben die verschiedenen Darstellungen von Vampiren quer durch die Filmgeschichte, den haarigen Wolfsmann, das Monster aus dem Sumpf mit seinen Schwimmhauthänden und all die anderen Deformierten, die lebenden Toten und schemenhaften Geister, dazu Wolverine, Cyclops und Storm und die anderen Mutanten aus der Gruppe der X-Men um Professor Xavier und seinen Erzrivalen Magneto. Ein eigenes Poster zeigt den blonden Angel mit nacktem Oberkörper und weit ausgebreiteten Schwingen, Michael hat es direkt über dem Kopfende seines Bettes angebracht.

Die Monster und Mutanten bringen Michaels Mutter dazu, den Mund zu verziehen, wann immer er ihr einen Neuzugang präsentiert, den er in diversen Fanartikelshops im Internet aufgestöbert hat. Wobei sie die Ungeheuer ebenso missversteht wie ihren Sohn. Michael geht es nicht um blutrünstige Serienkiller wie Freddie Krueger, die morden, ganz einfach, weil sie böse sind und es ihnen Spaß macht. Ihm geht es, ganz im Gegenteil, um die unglücklichen Freaks, die nicht wissen, was sie tun, um Kreaturen, die in all ihrer Hässlichkeit, für die sie doch gar nichts können, und in ihrem unabänderlichen Schicksal, in dem sie gefangen sind wie in einem unzerstörbaren Netz, zerrissen sind im Versuch, mit ihrem schlimmen Schicksal als Ausgestoßene fertig zu werden.

Sie sind anders als die sogenannten „Normalen“, das macht den anderen Menschen Angst, denn sie fürchten, was sie nicht verstehen. Anderen Angst zu machen ist das einzige „Verbrechen“ der Monster und Mutanten, obwohl es natürlich gar kein Verbrechen ist, weil sie nichts dazu tun, und das ist es, was Michael berührt, was ihn an ihnen so fasziniert.

Zumindest sein Vater kann das nachvollziehen. Auch er war schon als Jugendlicher ein Fan von Horrorfilmen und von Monstern, die an ihrem furchtbaren Los zerbrechen. In den Erzählungen seines Vaters hat Michael auch zum ersten Mal über die Figuren aus den alten Horrorfilmen gehört, und seine Begeisterung ist offensichtlich in seinen Sohn übergegangen. Hin und wieder sitzen sie auch heute noch beisammen und unterhalten sich über alte und neue Filme.

In letzter Zeit, wird Michael wieder einmal bewusst, reden sie aber immer seltener miteinander, sei es über Filme oder andere Themen. Michael findet das schade, weiß aber nicht, wie er es ändern sollte. Immer, wenn er sich vorgenommen hat, auf seinen Vater zuzugehen, ist da eine Art Hemmschwelle, die ihn daran hindert, den ersten Schritt zu tun. Dem Vater seinerseits scheint an Gesprächen mit seinem Sohn nicht sonderlich gelegen, denkt Michael dann auch, denn sonst läge es ja auch in seiner Hand, etwas daran zu ändern.

Die Liebe zu Filmen war ihr wichtigstes Bindeglied, als Michael noch ein Kind war. Michael kann sich an Zeichentrickfilme im alten Kino am Platz mit dem Kastanienbaum erinnern, die sein Vater und er sich gemeinsam ansahen. Als das Kino geschlossen wurde, fuhren sie manchmal in das Kinocenter in der Nähe des Einkaufszentrums, meistens jedoch liehen sie sich inder Videothek DVDs aus und sahen sich die Filme zu Hause an. Seit einiger Zeit gab es nicht einmal mehr gemeinsame Unternehmungen wie diese.

Nachdem ihm am Nachmittag der ehemalige Kinobetreiber aufgefallen ist, hat er ihn gegoogelt und tatsächlich in einem historischen Abriss auf der Homepage der Stadt seinen Namen gefunden. Als er ihn las, erinnerte er sich auch gleich wieder daran, dass er Herr Dunster heißt. Dass dieser sich an dem Schaukasten zu schaffen machte, geht Michael wieder durch den Kopf. In seiner Vorstellung verändert sich das normale Kino zu einem heruntergekommenen Gebäude voller düsterer Winkel, voller von Schatten durchzogener geheimer Räume und steiler, mit Spinnweben verhangener Treppen und mit einem total verstaubten kristallenen Lüster wie imPhantom der Oper, kurz: zum perfekten Rahmen für alte Streifen, wie sein Vater und er sie lieben, oder, noch besser, sogar der Schauplatz für eine solche Filmhandlung.

Donner reißt Michael aus seinen Gedanken. Er fährt herum; er muss länger so dagesessen und gegrübelt haben, als ihm bewusst war. Inzwischen ist ein Gewitter aufgezogen, Wolken türmen sich auf dem Himmel und verdecken den Mondschein fast gänzlich. Das Licht eines jähen Blitzes schießt wie weißes Blut aus einem Riss in der Haut des urzeitlichen Ungetüms, das über der kleinen Stadt lauert.

Bewegung kommt in Michael. Er schaltet die Lampe auf seinem Nachtkästchen an und zieht sich rasch aus. Das T-Shirt legt er auf den Stuhl beim Schreibtisch, und nur in Boxershorts beginnt er mit seinem Abendprogramm an Liegestützen und Situps. Er hat sich vorgenommen, in den Sommerferien jeden Abend zu trainieren. Die Erinnerung an Paul Walkers Körper auf dem Poster in Annas Zimmer und ein Blick auf Angel über seinem Bett treiben ihn dabei an. Michael macht eine Übung so lang, bis er beim besten Willen nicht mehr kann, und auch dann nur eine kleine Pause zum Verschnaufen, bevor er sich an dennächsten Satz macht. Bald glänzt Schweiß auf Michaels heller Haut. Die kühle Luft vom Fenster her streicht darüber, während er seine Übungen absolviert, und auf einmal fröstelt ihn.

Er springt auf und holt sich von seinem Bett das Shirt, das er beim Schlafen trägt. Das Shirt in einer Hand, steht er vor dem Spiegel neben der Tür. Michael mag nicht alles an seinem Aussehen, aber mit seinem Körper ist er zufrieden, besonders nachdem er seine Übungen gemacht hat. Seine Muskeln zeichnen sich dann leicht unter seiner glatten Haut ab, und die Adern treten auf seinen Unterarmen hervor.

Weil ihn wieder fröstelt, zieht er sich aber rasch das Shirt über. Er betrachtet sein Gesicht mit den sehr kurz geschnittenen Haaren. Die sind jetzt vom Turnen zerstrubbelt, aber das sind sie meistens, weil er immer Gel benutzt, wenn er aus dem Haus geht. Er findet, dass seine Ohren leicht abstehen, seine Augen zu eng und zu tief liegen und seine Lippen zu schmal sind, aber er weiß, dass ihm Anna widersprechen würde; sie sagt ihm oft, wie sehr er ihr gefällt, und bezieht sich dabei nicht nur auf seinen kleinen Nasenhöcker.

Michael fährt prüfend über seine Wangen. Auf dem Kinn spürt er die kaum sichtbare Narbe. Als Cowboy verkleidet, stürzte er als Kind von der Steinmauer hinter dem Haus. Dabei rammte er sich die Spitze eines Holzstocks ins Kinn. Da seine Mutter sich weigerte, seinem Wunsch nach Spielzeugpistolen nachzugeben, verwendete er Holzstöckchen als Waffen. So war er eben dabei, die Indianersquaw Anna abzuschießen, als er auf der Mauer ins Straucheln kam und drei Meter in die Tiefe fiel, wobei er sich die Spitze seiner hölzernen Pistole ins Kinn rammte. Außer der Verletzung sind Michael nur Annas Tränen und das Wasserspritzgewehr im Weltraumdesign in Erinnerung, das ihm seine Mutter auf den Vorfall hin kaufte. Und dass sie ihn wegen der Narbe früher im Scherz „meinen kleinen Indiana Jones“ nannte. Obwohl seine Mutter kein so großer Filmfan ist wie Michael und sein Vater, liebt sie solche Anspielungen.

Aus diesem Grund kam der Kater zu seinem Namen, und daher rührt auch ihr Ausruf „Here comes Paul!“, wenn Michaels Vater abends müde und verschwitzt von der Arbeit in der Gärtnerei das Haus betrat. Als Kind konnte Michael damit ebenso wenig anfangen wie mit seinem Spitznamen, obwohl er damals ziemlich stolz war, nach dem ihm seine Eltern von den abenteuerlichen Erlebnissen des Archäologen mit der Narbe am Kinn erzählten. Mittlerweile ist ihm natürlich auch klar, dass sie sich mit „Paul“ auf den Schauspieler Paul Newman und seinen sexy blauen Augen bezog, mit dessen Coolness-Faktor nach der Meinung von Michaels Mutter sein Vater locker mithalten konnte.