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Niemand steht über Herzogin Duana von Pyrien, dem mächtigsten Reich des Kontinents. Zwischen machtgierigen Adeligen und steifen Traditionen sucht sie nach Frieden und Antworten. Ist sie bereit, sich für den Zuspruch der Aristokratie selbst zu verraten? Und wieso musste ihre Schwester sterben? Was ist schon ein wenig Blut an Seras Händen, wenn sie dafür frei sein könnte? Sie soll die Herzogin töten und so die schwelenden Konflikte zu einem Lauffeuer entfachen. Wäre da nicht Duanas wachsamer Blick, der nicht nur ihre Magie nervös macht. Kann es ihr gelingen, das Herz Pyriens zu vernichten? Oder wird ihr eigenes Seras Untergang sein?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein Leben für eine neue Welt
Sera & Duana 1
von Julia Ach
2. Auflage, 2024
© 2024 Julia Ach
Karte, Illustration (Dolch) und Buchsatz von Julia Ach.
Cover von Mina Bekker.
Lektorat von Christina Hein.
Illustrationen (Portraits) von Loise Lanes.
Julia Hartmann
Holtenauer Straße 353
24106 Kiel
www.juliaach.com
9783759265432
Vorwort
Für alle Kinder, die ihre Heimat
In ihren Freunden finden.
Für alle, die ihre Sicherheit
In Unsichtbarkeit suchen.
Für alle, in deren Herzen
Wut brennen darf.
In diesem Buch geschehen schöne, wundersame aber auch grausame Dinge. Es handelt von Liebe, von Trauer, von Wut und Verlust. Die Figuren durchleben seelische und körperliche Gewalt. Wenn du dir nicht sicher bist, ob das Ausmaß der Erzählungen etwas für dich ist, geh bitte ans Ende des Buchs und lies dir die Content Notes durch.
Gib auf dich acht und höre auf dein Herz.
Bringt mir
Ein Leben für eine neue Welt
Wenn die Tochter ohne Namen
Die Dunkelheit zu ihrem Tode führt
Fällt das Schicksal in seine Hände.
Prolog: Frostige Pfade
Langsam und träge schwebten die weißen Flocken zu Boden, zart wie Daunenfedern. Der raue, sandige Grund verschwand unter dieser trügerisch ruhigen Schicht wie unter einer seligen Decke. Die Steine und Gemäuer verloren ihre harten Kanten und kalten Ecken. In der Dämmerung drängte sich das warme Licht der Kaminfeuer aus den Ritzen und Spalten der verriegelten Fenster und Türen. Leuchtende Goldfinger, die sich tanzend in der nahenden Dunkelheit verloren. Schwer und tief hingen die Wolken über den Dachfirsten, kauerten sich wie schneebedeckte Vögel nieder, deren dichte Federn gegen den eisigen Wind aufgeplustert waren.
Vom Haupthaus der Festung, deren Turm über die Klippe hinausragte, konnte man die frischen Spuren sehen, die direkt unter einem der Fenster endeten. Die hölzernen Fensterläden knarzten leicht, als der Wind mit gierigen, kalten Fingern nach ihnen griff.
Heiße Wogen aus Schmerz wallten durch Seras Körper. Sie taumelte vorwärts, fiel. Nasser Schnee an ihren Händen. Bin ich tot? Wo bin ich? Kalt waren ihre Finger, die klamm und steif versuchten, die Schnalle des fetzengleichen Umhanges zu verschließen. Mit jeder weiteren Böe drohte er, von den Schultern der schmalen Gestalt zu rutschen. Den Blick nach oben gerichtet, hielt sie für einen Moment inne. Der Innenhof. Wie bin ich hier gelandet?
Sie lauschte den Geräuschen der ruhenden Festung. Nur ein schmaler Lichtstrahl erleuchtete ihre Silhouette. Ein glitzerndes Rinnsal bahnte sich seinen Weg über ihr Gesicht, einzelne rote Tropfen verliefen im Schnee.
Ein Schaudern packte sie und schüttelte ihren Körper wie die beißenden Windböen zuvor. Spielte mit den Schattenfetzen, die an ihr hingen. Der Sturm hielt den Atem an. Seras gehauchtes Keuchen tanzte zwischen den steinernen Mauern umher, als wolle es auf sie aufmerksam machen. Ein blauer Funken zuckte über die rauen Hände, ein zaghaftes Flackern, das sich nicht halten konnte. Sie lehnte sich gegen die Mauer. Sank ächzend zu Boden. Es reichte nicht, sie schaffte keine erneute Flucht. Das schwere Burgtor war ohnehin zu laut, um Burg Norddal unbemerkt zu verlassen. Auf die Mauer komme ich nur, wenn ich den Wachraum betrete …
Zitternd kauerte Sera sich zusammen. Wenn sie nur noch einen Funken Magie mehr hätte. Doch das Kribbeln in ihren Fingern war bloß der Preis, den die nordischen Winterwinde einforderten.
Falls mich wer findet … Die nächste Windböe blies ihr Schnee ins Gesicht. Leise fluchend wischte sie die weißen Flocken ab. Ihr Blick blieb an den roten Spuren hängen, die träge über ihre Finger rannen. Sogar mein Blut ist zu müde. Zu kalt. Wenn ich nur für einen Moment raste … Mit einem hektischen Ruck richtete sie sich auf. Ich darf nicht schlafen. Das ist mein Ende.
Es war verlockend, sich dem trügerischen Ruf der Ruhe hinzugeben, die schläfrige Kälte anzunehmen, bis der Schneesturm sie einverleibt hatte. Noch nicht. Nicht hier. Mit einer Hand an der Wand abstützend kämpfte sie sich auf die Beine.
Mit jedem Schritt in Richtung des Haupthauses verblassten die Schatten mehr und mehr, die wie klebrige Fetzen an ihrer Gestalt hafteten. Obwohl der Wind die frischen Spuren im Schnee verwehte, waren die hellroten Flecken schwer zu übersehen. Sera kniff die Augen zusammen, hielt die Luft an und sammelte die blaue, knisternde Magie erneut zwischen ihren Fingerspitzen. Sie spürte ein feines Beben im Boden, bevor sie die Schritte hörte. Mittlerweile zitterten ihre Hände nicht mehr nur wegen der Kälte und der Anstrengung. Ein wohlbekanntes, klammes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Ein dumpfer Schlag, dann flog die Tür des Haupthauses auf. Sera blinzelte zwischen Tränen gegen das helle Licht an. Die große, dunkle Gestalt vor ihr war unverwechselbar.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus.
Ihre Blicke trafen sich und es war, als hätte das Schwert bereits seinen Weg durch ihr Herz gefunden. Der kalte, berechnende Blick wirkte fremd in ihrem Gesicht. Langsam hob Sera die Hände, die blauen Funken verloren sich im Wind. Bevor sie blinzeln konnte, lag der kalte Stahl der Schwertklinge an ihrem Hals. Seras versuchtes Lächeln verlor sich in einer schmerzverzerrten Grimasse.
»Hallo, Duana.«
1. In den Schatten
»Pass auf dich auf. Versprich mir, dass du zurückkommst. Lebendig.« Maites Worte hallten wie ein fades Echo in Duanas Gedanken. Das konstante Klappern der Rüstungen vermischte sich mit dem Knarzen der Ledersättel und dem dumpfen Trott der Pferde auf der staubigen Straße. Die Hohe Burg thronte im Zentrum der Stadt auf der Insel zwischen den drei Flüssen. Über ihr strahlte die sommerliche Mittagssonne an einem wolkenlosen Himmel.
So hatte sie sich ihre Rückkehr zur Burg nicht vorgestellt. An den Stadttoren Dryfurts hingen weiße Blumengeflechte, verwoben mit schwarzem Tuch und kleinen, blauen Blüten. Man erwartete ihren Trupp bereits. Ohne viele Worte zu wechseln, passierten sie das Stadttor. Der Weg bis zur Burg zog sich gewunden durch die Stadt, folgte dem Lauf des Flusses. Es war still. Jedes Echo der Schritte ihrer Pferde schien wieder und wieder zurückgeworfen zu werden. Obwohl die Straßen nicht besonders gefüllt waren, hatte Duana den Eindruck, von allen Seiten mit Blicken verfolgt zu werden. Die Leute hielten inne, manche fielen auf ihre Knie, ein Schluchzen und Raunen wuchs wie das Rauschen des Flusses, plätscherte in Wellen mit ihnen durch die Stadt.
Je weiter sie in die Stadt vordrangen, desto enger und voller wurden die Straßen. Schließlich kamen sie nur noch mühsam und langsam voran, trotz der Versuche, ihrem kleinen Trupp den Weg zu ermöglichen. Es dauerte einen Augenblick, bis Duana die Ursache für die Ansammlung erfasst hatte. Das Ende der Straße war blockiert, verstopft von den aneinander gedrängten Körpern, die trotz ihrer bedächtigen Ruhe in der Hitze geradezu flirrten.
Das dunkle Blau, Pyriens Farbe, war vielmehr eine Ansammlung verschiedenster Blautöne. Tücher, Decken, Stoffe zogen sich wie die Adern der drei Flüsse durch die Menge. Der Marktplatz, in den die Straße mündete, war vollgestopft mit Leuten, die sich trotz der Mittagshitze in dunkle Farben gehüllt hatten. Duana drehte sich um, doch hinter ihnen hatte sich der Weg ebenfalls gefüllt. Es gab keine andere Möglichkeit, als sich mit der trägen Menge in Richtung Marktplatz treiben zu lassen.
Es dauerte nicht lange, bis der erste Ruf sie erreicht hatte. Es begann als Raunen, klagend und voller Schmerz trug sich die Stimme durch die Menge. Nach und nach fielen mehr und mehr Leute ein. Die einzelnen Rufe legten sich wie ein wogender Teppich über die Ansammlung, rau und kraftvoll wie der Wind, der durch die Nordtäler jagte. Es war eine alte Tradition, ein altes Lied, das keine Worte brauchte. Das Klagelied drang durch die kleinsten Ritze und Schlitze bis in ihr Innerstes vor und brachte die Mauern Duanas Selbstbeherrschung zum Schwanken.
Die Sonne brannte auf ihrem Rücken, der schwarze Stoff ihres Umhangs war unerträglich warm auf dem Metall ihrer Rüstung. Doch das Brennen in ihren Augen war schlimmer als jede Hitze. Sie wollte schreien. Einstimmen in die schwermütige Melodie, doch die Enge in ihrem Hals hielt sie eisern im Griff. Als würde sie ersticken, obwohl sie atmen konnte. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ sie zusammenschrecken.
Ein kleines Mädchen war gestürzt, gedrängt von den Menschen, die sich unbeirrt in Richtung des Marktplatzes schoben, wie Motten zum nächsten Licht. In wenigen Augenblicken würden sie über das Kind hinwegtrampeln. Ihre Wache Norbert war nur wenige Meter entfernt, doch zwischen ihnen standen zu viele Menschen.
»Zurück!«, brüllte Duana. Die ersten Leute drehten ihre Köpfe. Doch Duana hatte nicht vor, abzuwarten, bis das Mädchen niedergetrampelt wurde. »Zurück habe ich gesagt!« So gut es ihr möglich war, wendete sie ihre Stute Searc und schwang sich vom Pferd. Sie zog das Mädchen an sich. Die Masse reagierte in chaotischer Hektik. Das Mädchen hing nun halb auf Duanas Arm und bemühte sich, Halt zu finden.
»Bist du verletzt?« Duana hatte ihren Griff noch nicht gelöst. Es war nicht so einfach, ein zappelndes Kind auf ein Pferd zu heben. Nach einem Moment hatte das Mädchen Halt gefunden. Ein leises Schniefen war ihre einzige Reaktion. Duana drehte sich und versuchte, das Gesicht des Mädchens zu betrachten. Sie hatte ihre dunklen Haare wie einen Kranz um den Kopf geflochten, geschmückt mit kleinen, blauen Blüten und schwarzem Samt. Große, dunkle Augen starrten Duana entgegen, gefüllt mit einer Mischung aus Überraschung und Erkenntnis. Ihre Unterlippe zitterte und schon rannen die ersten Tränen über das nun verschmutzte Gesicht des Kindes. Duana seufzte. Die Menschenmasse löste sich aus ihrer Starre und machte ihnen den Weg frei.
»Wo sind deine Eltern, Mädchen?« Duanas Frage blieb diesmal nicht ohne Antwort.
»Uriel! Uriel, was machst du denn!« Eine junge Frau hatte sich zu ihnen durchgedrängt, das Gesicht voller Sorge.
»Sie trifft keine Schuld.« Duana hielt das Mädchen, sie war vielleicht 7 Jahre alt, bis sie sicher im Arm ihrer Mutter gelandet war.
»Bitte, entschuldigt.« Die Frau senkte den Kopf.
»Es gibt nichts zu entschuldigen.« Duana musterte die beiden. Die Frau hatte ihre Haare wie ihre Tochter geflochten.
Wie Maite.
Duana konnte beobachten, wie die Frau sie erkannte, wie ihre Haltung sich auf einen Schlag änderte, wie der besorgte Ausdruck zu einem entschuldigenden Schrecken wurde.
»Oh nein, es tut mir leid! Ich – wir wollten Euch nicht aufhalten.« Sie verbeugte sich erneut. Bevor Duana etwas erwidern konnte, erhob das Mädchen seine Stimme.
Leise wehte ihre Frage zu ihr herüber: »Rächt ihr sie? Rächt ihr die Herzogin?« Die kleine Gestalt wandte sich aus dem Griff ihrer Mutter. Duana versuchte zu lächeln. Der Kloß in ihrem Hals war zurückgekehrt und mit ihm das verräterische Brennen in ihren Augen. Mehr als ein Nicken brachte sie nicht zustande. Das leise, zufriedene »Gut« des Mädchens verlor sich in der Menge, als seine Mutter sie von Duana fortzog, noch immer den Kopf gesenkt.
Duana trieb Searc an. Die Stute schritt schneller, trotz der Hitze, die in den Gassen und Straßen der Stadt noch erdrückender war als auf den Weiten zuvor. Der Weg war nun frei genug, um ungehindert über den Markt und schließlich aus den engen Straßen der Stadt reiten zu können. Sie schaffte es, die Tränen zurückzuhalten, bis sie das letzte Tor der Stadt durchquert hatten.
Searc wurde langsamer. Der letzte Anstieg bis zur Hohen Burg war steil und eng. Am Burgtor erwartete man sie. Duana war bereits abgestiegen, ehe die Zugbrücke vollständig hochgezogen war. Einige Jungen und Mädchen sattelten bereits die Pferde ab, versorgten sie mit Heu und Wasser.
Der Innenhof lag ruhig da. Achtlos ließ sie ihre Handschuhe zu Boden fallen. Ohne auf Norbert zu warten, eilte sie zum Haupthaus der Burg.
Im Inneren war es nicht nur kühl, sondern auch dunkel. Es dauerte, bis ihre Augen sich an die dämmrige Lichtsituation gewöhnt hatten. Lange genug, dass sie zusammenzuckte als sich ein kleiner Körper mit unerwarteter Wucht gegen sie schmiss. Cahirs Schluchzen füllte den leeren Gang.
Vorsichtig löste Duana sich aus der Umarmung ihres kleinen Bruders und ging in die Knie, um ihn in den Arm zu schließen. Seine hellroten Haare klebten an seinen nassen Wangen fest, die Augen waren gerötet und geschwollen. Alles wird gut. Ich bin da. Ich bin da.
Mit Cahir auf dem Arm erhob Duana sich und drehte sich zu der Truppe um, die unschlüssig neben ihnen stand. »Wo ist sie?« Ihre Stimme brach weg. Sie kannte die Gesichter dieser Wachen nicht. Duana verstärkte ihren Griff um Cahirs schmächtige Gestalt, als könnte sie das letzte Gefühl von Vertrautheit festhalten, einschließen, während ihre Welt unweigerlich dem Unheil entgegenlief.
Niemand sah ihr ins Gesicht, und mit bedrückten Minen eilten sie los. Schweigend folgte sie den Wachen. Nur das leise Schluchzen und Schniefen Cahirs vermischte sich mit den gleichmäßigen Geräuschen ihrer Schritte. Am liebsten wäre sie losgerannt. Und doch, als sie schließlich vor der Tür zu Maites Zimmer angekommen waren, war nicht genug Zeit vergangen.
Norbert brach die Stille. »Cahir, möchtest du mit mir hier warten?« Der sanfte Klang seiner tiefen Stimme brauchte etwas, bis er zu Cahir durchgedrungen war.
Schniefend nickte er, doch seine Hände wollten sich nicht aus dem Stoff ihres Umhanges lösen.
»Komm, mein Großer.« Ihr Flüstern verlor sich in seinen Haaren.
Schließlich löste er seine Umklammerung. Vorsichtig, als würde er jeden Moment zerbrechen, setzte Duana ihn ab und strich ihm die verklebten Strähnen aus dem Gesicht. Während sie sich aufrichtete, hatte Cahir sich bereits an Norberts Hand geklammert, mit hängenden Schultern starrte er zu Boden. Neben Norbert wirkte seine schmächtige Gestalt noch schmaler als sonst.
Ihre Hände zitterten, als sie die Tür aufdrückte. Es war dunkel im Zimmer. Die Luft war gefüllt von einem schweren, süßen Duft unzähliger Blumengestecke. Doch es reichte nicht, um den unverwechselbaren Geruch des Todes zu verdrängen.
Ihre Mutter saß auf der Bettkante und machte keine Anstalten aufzustehen. Ihr Blick war langsam, die Augen leer. Loise öffnete den Mund, doch statt Worte brachte sie bloß ein leises Wimmern zustande, ehe sie sich ruckartig abwandte und immer und immer wieder über Maites Haar strich. Die Decke war hochgezogen, nur ihr fahles, lebloses Gesicht war zu sehen. Taumelnd kam Duana vor dem Bett zum Stehen. Als sie nach der Decke griff, packte Loise sie mit unerwarteter Kraft. In ihren weit aufgerissenen Augen stand entschlossene Angst.
»Mama.« Das Wort wollte nicht recht aus ihrem Mund. Duana schluckte. Loises Griff löste sich. Sie stand umständlich auf und drehte sich weg. Mit einem Ruck lüftete Duana die Decke.
Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, dass der klagende Laut von ihr selbst stammte. Sie kannte den Tod, aber es war lange her, dass er ein so vertrautes Gesicht hinter der grausamen Maske der Verwesung verschleierte. Der letzte irrwitzige Funken Hoffnung, ihre Schwester schliefe bloß, war von der kalten Hand brutaler Gewissheit erwürgt worden.
Das ist nicht meine Schwester. Nicht mehr.
Keuchend kniete Duana auf dem Boden, eine Hand in den kalten Stoff der Decke gekrallt. Sie blinzelte, doch ihr Blick wollte sich nicht klären. Zitternd griff sie nach Maites Hand. Unter den Fingernägeln waren noch die Reste von getrocknetem Blut. Ihre Haut fühlte sich seltsam wächsern an.
Schwankend richtete Duana sich auf. Ihr Blick suchte den ihrer Mutter, doch Loise nahm sie nicht wahr. Langsam wandte sie sich zu dem Leichnam ihrer Schwester. Betrachtete jede Wunde, jeden Schnitt. Das klaffende Loch, in dem ihr Herz sein sollte. Sie wusste nicht, wie lange sie stand und starrte, ehe sie sich schließlich losriss und behutsam die Decke über das legte, was von ihrer Schwester übrig war.
Ich war nicht da. Ich hätte bei dir sein sollen.
»Mama.« Ihre Stimme verhallte dumpf im Raum. Loise drehte ihren Kopf, aber es war, als würde sie durch Duana hindurchsehen. »Hat Cahir das– hat Cahir sie gesehen?« Die Worte fühlten sich rau und unbeholfen an. Sie schluckte. Es half nicht. Langsam schüttelte Loise den Kopf. Die reißende Leere in Duanas Innerem füllte sich mit Wut. Ohne erneut das Wort an ihre Mutter zu richten, stürmte sie aus dem Raum. Nach wenigen Schritten stand Norbert vor ihr.
»Wo ist er?« Sie drängte sich an ihm vorbei. Er machte keinerlei Anstalten, sie aufzuhalten.
»Er schläft. Duana.« Er bemühte sich, sie zu überholen. Sie wurde langsamer. Als sie die Tür zu Cahirs Zimmer öffnen wollte, schritt er schließlich doch ein.
»Duana. Lass ihn schlafen.« Seine Bitte war ruhig und leise, doch die Schwere in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Ich muss wissen, dass …« Die erste Träne hatte sich gelöst.
»Ach Kleines.« Norberts Worte verloren sich in ihrem Schluchzen als er sie in den Arm nahm. »Ich bin da. Ich passe auf.«
Duana wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. So leise wie möglich betrat sie das Zimmer ihres schlafenden Bruders. Eingerollt lag er da. Die Wache, die im Sessel am Fußende seines Bettes saß, erhob sich. Mit einem leisen Seufzen setzte sie sich dorthin, ihr Schwert auf dem Schoß. Schlaf weiter, mein Großer. Ich passe auf. Ich passe auf.
***
Die stickige Luft der Taverne waberte in dunstigen Schwaden zwischen sich regenden Körpern umher. Mit einer vergleichbar schwebenden Trägheit vermischte sich der Klang des Spinetts mit den anschwellenden und abklingenden Gesprächswogen, nur gelegentlich durchbrochen von herzlichem Gelächter.
Sera lehnte am Fuß des Treppengeländers der Galerie, auf der sich manch einer für privatere Gespräche und Unterhaltungen zurückzog. Betont lässig hatte sie sich an den Rand des Geschehens begeben, um einen besseren Überblick zu behalten, wer kam und ging. Vor allem aber wartete sie darauf, dass etwas geschah.
Etwas Spannenderes, als das feuchtfröhliche Treiben, das in seiner Müßigkeit den Raum erfüllte und in warmen Wogen bis nach draußen schwappte, durch die quietschende, hölzerne Tür bis hinaus auf die gepflasterte Straße. Immer nur dann, wenn neue Gäste die Taverne betraten. Der Sänger der zwei Musikanten setzte mit voller, kräftiger Stimme zum nächsten Lied an. Sera beschloss, sich vorerst wieder an den Tresen zu begeben. Noch im gleichen Moment schwang die Tür erneut auf.
Obwohl die Musik ungeachtet der eintretenden Person weiter ebbte und wogte, vernahm Sera keinen Ton. Im Dunst der kaltwarmen Luft, die sich gerade vermischte, stand Edin. Das kurze, helle Haar der Magisterin hatte sich in wirren Strähnen aus ihrem Zopf gelöst, die Wangen waren gerötet vom Wind. In ihrer dunklen, verdreckten Reisekleidung ging sie geradezu unter.
»Wenn du noch mehr starrst, fallen dir gleich die Augen aus dem Kopf«, spöttelte eine leise, amüsierte Stimme. Mit einem ertappten Zucken drehte Sera ihren Kopf zu Nolde, ohne ihren Blick von Edin zu lösen.
»Wo kommst du denn plötzlich her? Bist du etwa schon durch für den Abend?«, erwiderte sie, ohne auf seinen Kommentar einzugehen.
»Als ob, Pinkelpause.« Er grinste, wackelte frech mit den Augenbrauen und schwang sich dynamisch die Treppenstufen hoch. »Wenn du dich traust sie anzusprechen, sag Bescheid. Ich hab da eine Wette laufen«, ergänzte er, wohlwissend, dass er heute kein Geld einstreichen konnte.
Sera hingegen machte eine abweisende Handbewegung, während ihr Blick und ihre Gedanken schon längst ganz woanders waren. Hinter Edin war ein Mann in die Taverne getreten, dessen Statur die Tür beinahe gänzlich ausfüllte. Auf seiner Rüstung prangte das Symbol der Magister. Sein wacher Blick schien den gesamten Raum zu durchsuchen, ehe er sich in Bewegung setzte und Edin folgte.
Hier in Walden zeigten sich vereinzelte Vertreter der Magisterzunft, dem Bund der mächtigsten Magiewirkenden. Meistens waren sie in den Kreisen der feinen Damen und Herrschaften unterwegs, weit weg von der dreckigen Realität der einfachen Leute. Und noch seltener fanden sie sich in den heruntergekommenen und fragwürdigen Gesellschaften ein, die sich hinter den plärrenden und polierten Fassaden der Hafenbezirke ansammelten.
Sera folgte den beiden Gestalten mit ihrem Blick, ehe sie sich an Noldes Worte erinnerte. Sie sollte es nicht provozieren, zu offensichtlich zu starren. Auch wenn es spannend wäre, herauszufinden, was die liebe Edin hier verloren hatte. Sie sollte besser kein Aufsehen erregen. Den mittlerweile geleerten Krug ließ sie am Tresen, entschlossen, Nolde nicht den ganzen Spaß bei den wenig legalen Wettspielen zu überlassen. Der Wirt hatte seine Hand auf den Krug gepackt, der darunter beinahe verschwand. Mit der anderen Hand schob er Sera eine kleine, glatte Münze zu.
»Genug getrunken für heute?«, brummte er und wartete, bis die Münze vom Tresen verschwunden war. Sera nickte zustimmend.
»Scheint, als wäre mein restlicher Abend schon verplant. Falls er fragt, er weiß, wo er mich findet.« Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung, in die Nolde vor einer Weile verschwunden war.
»Also alles wie immer. Wenn er wieder alle abzieht, muss ich ihn irgendwann rausschmeißen.« Ohne Sera weiter zu beachten, fuhr der Wirt fort, die benutzten Krüge vom Tresen zu sammeln. Auf ihrem Weg zur Tür konnte sie es sich nicht verkneifen, einen letzten Blick auf die Magisterin zu werfen. Obwohl Edin und der Krieger in ein leises Gespräch vertieft waren, trafen ihre Blicke sich für einen kurzen Moment.
Die feuchtschwüle Luft folgte ihr, als sie die Taverne verließ. Die Sonne war schon längst nicht mehr zu sehen und auch wenn es tagsüber durchaus warm wurde, war es immerzu windig. Sera zog ihre Kapuze tief ins Gesicht und mischte sich unter die Leute, die am frühen Abend noch in den Straßen zu finden waren.
Es dauerte nicht lange, bis sie in eine der düsteren Seitengassen verschwand. Die Münze in ihrer Hand war glatt und ohne jegliche Prägung. Es war eine Weile her, dass sie gerufen worden war. Dass zwischen ihrem letzten und diesem neuen Auftrag für ihre Gilde so viel Zeit lag, war ungewöhnlich. Doch Seras Vorfreude über eine neue Aufgabe wurde leicht davon gedämpft, dass sie insgeheim gehofft hatte, endlich mal wieder mit Nolde losziehen zu können. Im gesamten letzten Jahr waren sie nur getrennt beauftragt worden, zeitweilen bis ans andere Ende des Kontinents.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr niemand gefolgt war, verschwand sie durch die unsichtbare Tür in der Mauer des heruntergekommenen Hauses. Wie immer war es dämmrig und still im Eingangsbereich. Die Bilder an den Wänden waren zur Unkenntlichkeit verstaubt und verblichen, der ausgetretene Teppich auf dem steinernen Boden war vielleicht mal rot gewesen. Möglicherweise war der Ursprung für die Restfarbe auch ein anderer. Es gab nur eine Tür und eine schmale Treppe, die nach unten führte. Die ausgetretenen Stufen strahlten eine Vertrautheit aus, wie es sonst nur der traurige Geruch der Waisenhäuser schaffte. Es riecht nach alten Leuten.
Für die Welt war die Gilde der Kinder der Nahen Heimat genau das – Waisenhäuser, Zuflucht für vergessene und verlorene Kinder. Für sie war es Heimat. Ihre Geschwister waren das Nächste, was sie als Familie kannte. Der Ort, an dem sie ihren Platz in der Welt finden musste, ob sie wollte oder nicht.
Anstelle einer Klinke gab es nur einen glatten, messingfarbenen Knauf an der Tür, zu der die Treppe führte. Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, wie sich die Münze auflöste, sobald sie an den Knauf gehalten wurde. Lautlos schwang die Tür auf. Hinter dem altmodischen Tresen saß eine knorrige Zwergin, ihr weißes Haar war in einem strengen Zopf aus dem Gesicht gebunden. Obwohl sie nicht reagierte, wusste Sera, dass man ihr Eintreten bemerkt hatte. Den Gesichtern der Gilde entging nichts.
Es dauerte eine Weile, bis sie schließlich von dem Pergamentstapel vor sich aufblicke. Sie musterte Sera und nickte wortlos, griff einen Umschlag und reichte ihn Sera. Ungeduldig tippte sie mit dem Finger auf ihren Stapel. »Raum vier ist frei.«
Die Zwergin war schon wieder in ihre Arbeit vertieft, als Sera den Umschlag nahm. Er war überraschend leicht. Ohne sich auf den Stuhl zu setzen, der neben dem schmalen Schreibtisch in dem kleinen, spärlich eingerichteten Raum stand, riss sie den Umschlag auf.
Ein einzelnes, handflächengroßes Stück Pergament befand sich darin. Eine einfache Skizze eines kleinen Zaunkönigs, drei Beeren zu seinen Füßen. Sera grinste. Der Ruf, zur Stadt zurückzukehren, konnte nur eins bedeuten – entweder ein besonderer Auftrag oder eine Beförderung.
Oder beides. Nolde wird neidisch sein.
2. Ein Hoch auf die Herzogin
Der Innenhof der Hohen Burg war überfüllt mit Leuten. Die Sonne brannte und spiegelte sich gleißend in den glänzenden Rüstungen der unzähligen Wachen. Wie eine silberne Mauer umringten sie die Gäste, die Gesichter verborgen, die geschmückten Speere zum Himmel gereckt. Ein imposanter Anblick, doch Sera konnte sich nur begrenzt darüber freuen. Es wäre einfacher, wenn die Hohe Burg nicht eine gewaltige Festung mit Unmengen an Wachen wäre. Aber wenn es ein einfacher Auftrag wäre, hätte er nicht mich geschickt.
Dunkel flatterte das Blau der pyrischen Flagge im lauwarmen Wind, der nur wenig Erfrischung brachte. Die warme, stickige Luft im Innenhof war schwer von der fragwürdigen Mischung aus Parfüm und Menschenschweiß. Das leise Tuscheln der Leute zog sich durch die Reihen, doch niemand traute sich, die Stimme zu erheben. Sera streckte sich, doch ihre Sicht auf die Tür des Haupthauses wurde von dem Hinterkopf eines jungen Mannes versperrt. Ich hätte darauf bestehen sollen, ihn nach drinnen zu begleiten.
Jemand stieß ihr von hinten in den Rücken. Einen unterdrückten Fluch auf den Lippen stolperte sie nach vorn, hinein in den jungen Mann vor sich.
»Entschuldigt.« Seras Blick traf den des Mannes. Er war nicht viel älter als sie. Das gebräunte Gesicht verzog sich zu einem beinahe charmanten Grinsen.
»Es gibt nichts zu entschuldigen, die Dame.« Er reichte Sera die Hand und neigte den Kopf. »Baron Ored von Klayne.«
»Freut mich«, murmelte Sera und ließ sich von ihm nach vorne ziehen.
»Wir sind aus Nordfyllgor. Falls Ihr wisst, wo das liegt«, mischte sich ein zweiter junger Mann in das Gespräch ein. Er war etwas kleiner als Ored von Klayne. Breitbeinig stand er da, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und musterte sie eindringlich.
»Ah, Jeremiah, nimm es nicht persönlich. Die Dame hat bestimmt schon von unseren Siegesserien bei den letzten Ritterturnieren gehört, nicht wahr?« Von Klayne zwinkerte Sera zu, als hätte er ein großes Geheimnis mit ihr geteilt. »Ich weiß, ich weiß. Es ist eine weite Reise bis nach Dryfurt! Aber die neue Herzogin zu huldigen, was eine Ehre! Da stand es außer Frage, ob ich die Reise auf mich nehmen würde.« Sein Lachen klang etwas zu hoch, aufgesetzt und viel zu nah an Seras Ohren. Er stand kaum einen halben Schritt hinter ihr.
Sera zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und drehte den Kopf gerade weit genug, dass es nicht unhöflich war. »Selbstverständlich.«
»Ja, man kennt uns!« Jeremiah nickte energisch, die Arme vor der Brust verschränkt, und stieß eine ältere Dame an, die hinter ihm stand.
»Meine Güte, ein wenig Rücksichtnahme kann man doch erwarten!«
»Verzeiht, werte Dame. Jeremiah ist ein wenig ungeschickt, nicht wahr?« Erneut lachte Ored und stieß seinem Kumpanen den Ellenbogen in die Seite. Ohne dem gequälten Geräusch seines Begleiters weiter Beachtung zu schenken, drehte er sich erneut zu Sera. »Verratet Ihr mir noch Euren Namen, Madame?«
Sera hatte die Tür, durch die Herzogin Duana früher oder später erscheinen sollte, fest im Blick. Kurz war sie versucht, die Frage des Baronseinfach zu überhören.
Aber ich muss ja höflich bleiben. Das ist schließlich meine Aufgabe. Lächeln und ertragen, dass dieser Idiot mir Nerven und Geduld stiehlt. Mit Wichtigtuern, die so wichtig sind, dass sie mit dem Fußvolk im Hof warten müssen.
»Breanna aus Pivar.« Ihr neuer Name fühlte sich noch fremd an. Sie löste ihren Blick für einen Moment von der Tür, erwiderte sein viel zu freundliches Lächeln nur knapp und sah wieder nach vorn.
»Aus Pivar, wie schön! Ich wusste gar nicht, dass in Pivareen Adelsfamilien leben. Sicherlich ist mir der Name Eurer Eltern geläufiger?« Er war näher an sie herangetreten. Nah genug, dass sie seinen warmen Atem in ihrem Nacken spüren konnte.
»Mein Vater ist Handelsführer Beanon aus Pivareen. Ich bin mir sicher, dass Ihr Euch an den feinen Weinen Pivareens auch in Nordfyllgor erfreuen könnt.« Ihr Blick ruhte weiterhin auf der Tür. Es konnte nicht mehr lange dauern.
»Ah, ich verstehe. Nun, welch eine Freude, dass Ihr ebenfalls eingeladen wurdet. Handelsbeziehungen nach Pyrien sind bestimmt ein wichtiges Anliegen.«
Sie schwieg.
»Versteht mich nicht falsch, werte Breanna, es ist mir eine Freude, mit Euch zu reden. Aber die Herzogin … Es heißt, dass sie – nun, wohl nicht ganz einfach sei, was?« Erneut lachte er, doch sein Ton war leiser, beinahe verschwörerisch geworden.
»Ist das so?« Sie trat einen winzigen Schritt nach vorn. Doch obwohl sie nun einen besseren Blick auf die Tür hatte, war sie noch immer zu allen Seiten von Menschen umgeben. Sie seufzte lautlos.
Eine Hand an ihrem Rücken. Bloß eine kurze, beiläufige Berührung. Doch Ored von Klayne schien noch immer nicht genug gesagt zu haben.
»Nun.« Er zog das Wort in die Länge, ließ es sich auf der Zunge zergehen, ehe er leise fortfuhr. »Sie hat einen gewissen Ruf, die neue Herzogin. Es heißt, dass sie bisher alle jungen Herren abgewiesen habe, die ihr Interesse bekundet haben. Aber wenn ich ganz ehrlich sein darf … Ich mag Herausforderungen.«
Sera schloss die Augen. Es war nicht bloß die Sonne, die für die Hitze in ihren Fäusten verantwortlich war. Sie konnte die magischen Funken spüren, die sich heiß und kribbelnd in ihre Handflächen bohrten. Ob sich ein paar Brandnarben in seinem Gesicht gut machen würden?
»Ihr wollt ihr den Hof machen?« Das war alles, was sie leise und tonlos herausbrachte. Warum rede ich noch mit dir? Du hast es nicht verdient, keine Sekunde lang, dass ich dir Aufmerksamkeit schenke. Ekelhaft.
»Oh, versteht mich nicht falsch. Ihr seid durchaus attraktiv.« Seine Hand streifte erneut ihren Rücken. »Aber man darf ja träumen, nicht wahr? Ihr müsst wissen, ich bin durchaus gewillt, für den Frieden zwischen Fyllgor und Pyrien meinen Teil beizutragen.«
Sie konnte das selbstgefällige Grinsen spüren, wie es bittersüß und klebrig aus seinen Worten tropfte. Es blieb ihr erspart, zwischen den bissigen und wütenden Worten, die sich in ihrem Kopf gesammelt hatte, eine höflicheAntwort zu finden.
Laut und klar dröhnte der Klang des Waldhorns über den Hof. Schwungvoll öffnete sich die schwere Flügeltür. Das Raunen und Flüstern erstarb. Stille fegte über den Innenhof, wie eine kühle Brise.
Knallend schlug der Stab des Herolds auf die steinernen Stufen. »Begrüßt Herzogin Duana aus Norddal, Herrscherin der Freien Stämme des Nordens und Pyrien, erste Ihres Namens!«
Das Rascheln feiner Stoffe verlor sich im Klang der Fanfaren. Bevor der letzte Ton verklungen war, kniete die Gesamtheit der Gäste im Innenhof.
Aus dem Schatten der Tür erschien die Herzogin. Hell fing sich das Sonnenlicht in dem feinen Silber ihrer Krone, brach sich in den weißen und blauen Edelsteinen. Lichtpunkte tanzten auf dem dunklen Haar. Selbst der nachtblaue Samtstoff ihres Umhangs glänzte und glitzerte, als hätte man jeden einzelnen Stern vom Himmel geholt und dort festgehalten.
Eine Krone aus Sternen. Sera blinzelte. Schweigend und silbern rahmten die Wachen die Herzogin ein. Unter dem höflichen Lächeln wurde Sera kalt. Ihr Blick war an dem Gesicht der Herzogin hängengeblieben. Unter all dem feierlichen Schmuck trug sie sich mit einem Stolz, einer Stärke, die nur bestätigte, was Sera längst geahnt hatte. Es würde nicht leicht werden, das Herz der Herzogin zu erobern. Und noch schwerer, sie zu töten.
***
Bedacht löste Sera sich von der kalten, steinernen Mauer. Von der Terrasse hier oben hatte sie einen guten Überblick über den Innenhof. Eigentlich wollte sie nur für einen Moment ihre Ruhe von dem Geplänkel der Feierlichkeiten, doch so langsam wurde es auch für sie Zeit, die Nacht nicht weiter in Belanglosigkeit zu vergeuden. Beanon wartete sicherlich darauf, dass sie zurückkehrte. Nach der Krönung der neuen Herzogin waren die feinen Damen und Herren, die tatsächlich eine der begehrten Einladungen erhalten hatten, im Innenhof zum Bankett verblieben. Immerhin war sie diesen Baron von Klayne losgeworden. Die Genugtuung, ihn an der kühlen, aber höflichen Art der Herzogin scheitern zu sehen, ließ sie grinsen. Es schien, als wäre der Baron doch nicht so versiert, sich der Herausforderung zu stellen.
Bevor sie sich endgültig abwandte, ließ sie ihre Finger auf der rauen Oberfläche der Mauer ruhen. Heute fiel es ihr schwer, zwischen dem Kribbeln der Magie in den Mauern und dem schwülen Kribbeln in der Luft zu unterscheiden. Mit etwas Glück würde es morgen gewittern. Es war nicht besonders üblich, dass die Sommertage hier im Norden so heiß waren. Eine willkommene Abwechslung zu dem oftmals andauernden Regen und den beißenden Winden, die fast das ganze Jahr über durch die Täler jagten. Sie löste ihre Fäuste.
Für gewöhnlich fiel es ihr leicht, sich in eine neue Person einzufühlen. Doch heute war sie sich jeden Moment bewusst gewesen, wer sie sein sollte. Breanna aus Pivar. Selbst in ihren Gedanken fühlte sich ihr neuer Name noch unbeholfen an.
Es war wie ein ständiges Kribbeln auf der Haut. Noch wusste sie nicht, was es war, dass sie so unter Spannung setzte. Jedes Mal, wenn ihre Gedanken zu den ausstehenden Gesprächen wanderten, die ihr so egal sein sollten wie Regenfall über dem Meer, wuchs die Glut in ihrem Bauch. Nur kurz verweilte sie bei dem heißen, brennenden Gefühl, das sich heimlich und ungerechtfertigt angeschlichen hatte. Sie durfte sich nicht davon abhalten lassen, ihre Rolle auszuspielen. Schließlich war sie nicht hier, um Mitgefühl für irgendwen zu empfinden. Oder noch schlimmer, Schuldgefühle. Noch waren es nicht ihre Hände, an denen pyrisches Blut klebte.
Es war einfacher, diese Gefühle dort zu lassen, wo sie ihr Spiegelbild verabschiedet hatte. Wer Sera war, war von nun an bedeutungslos. Heute und von nun an war sie Breanna. Sie trug ein neues Gesicht, das ihr sanft und unschuldig im Spiegel begegnet war. Und sie war schließlich nicht nur als dekorative Begleiterin mitgereist. Breanna zupfte den weichen Stoff ihres Kleides zurecht und strich sich eine abtrünnige Haarsträhne hinters Ohr. Mitten in ihrer Bewegung unterbrach sie ein Räuspern.
»Ich wollte mich nicht anschleichen.« Die sanfte, warme Stimme war ein starker Kontrast zum forschen, glühenden Blick Duanas. Nur wenige Meter vor Breanna entfernt lehnte diese lässig an der Mauer, die Arme vor der Brust verschränkt. Wie lange sie schon dort stand und Breanna beobachtete? Ihre dunkelblaue Kleidung verschmolz beinahe mit der Nacht. Breanna knickste höflich.
»Ich muss mich entschuldigen. Ich war unachtsam.« Sie ließ es sich nicht nehmen, ihren Blick über Duanas Antlitz wandern zu lassen und nach Anzeichen zu suchen, dass diese ahnte, wer ihr tatsächlich gegenüberstand. Unerwartet offen grinste Duana, ehe sie ihren Blick über den ruhig daliegenden Innenhof schweifen ließ. Das warme Licht der Fackeln fing sich in ihrem Gesicht.
Breanna beobachtete ihre Körperhaltung, nicht sicher, was sie von der entspannten und ruhigen Art halten sollte. Einige Schritte entfernt konnte sie im Hintergrund die vage Form einer Wache erahnen. Natürlich, wie sollte es auch sonst sein. Ihr eigener Atem kam ihr laut vor und sie hätte schwören können, dass die schwüle Nachtluft von einer warmen Brise abgelöst worden war.
»Breanna war dein Name, nicht wahr? Aus Pivareen.« Es war weniger eine Frage, mehr eine Feststellung. Die beiläufige Art, in der Duana das Gespräch fortsetzte, verunsicherte Breanna.
»Das habt Ihr richtig erinnert.« Breanna räusperte sich leise. Reiß dich zusammen. Du weißt, wer du bist.
Duana warf ihr einen kurzen Blick zu. »Lass das. Ich bin keine alte Dame und du kein kleines Mädchen.« Da war er wieder, der Tonfall, scharf wie die Schwertklinge, die heute Abend beinahe dekorativ an ihrem Gürtel hing.
Ein überraschtes Schnauben entwich Breanna, als hätte man ihr gerade eine schallende Ohrfeige verpasst. Sie nickte langsam und brachte schließlich ein leises »Selbstverständlich« hervor. In Momenten wie diesen wünschte sie sich, Noldes Schlagfertigkeit nicht nur an manchen Tagen zu besitzen. In der Hoffnung, wenigstens einen Hauch ihrer Selbstbeherrschung zu behalten, richtete sie ihren Blick auf den Horizont. Sterne zählen. Durchatmen.
Obwohl die nächste Fackel einige Meter entfernt stand, fühlte sich ihr Kopf an, als stünde er in Flammen. All ihre Vorbereitung, ihre Gesprächspläne, die wohlüberlegten Themen, hatten sie in dem Moment verlassen, als Duana sie mit ihrem plötzlichen Auftauchen aus dem Konzept gebracht hatte. Umgeben von unerträglicher Stille und stickiger, warmer Luft rasten ihre Gedanken und ihr Herzschlag um die Wette.
Das ist meine Chance.
Mein Fuß in der Tür.
Reiß dich zusammen, bei den Göttern!
»Das war eben kein Verbot, mit mir zu reden. Es ist einfach … Diese Höflichkeiten hängen mir zum Hals raus«, brach Duana schließlich die Stille.
Breanna lachte verlegen. »Kein Wunder. Nach so einem Tag«, murmelte sie leise und versuchte, sich auf die Beschaffenheit der Steinmauer zu konzentrieren. Nach einigen Minuten des Schweigens hatte sie es geschafft, sich eine grobe, neue Strategie zu überlegen. Es würde nicht lange funktionieren, sich als wohlerzogenes, unbedachtes Adelsmädchen auszugeben. Breanna war sich sicher, dass Duana das so oder so binnen kürzester Zeit durchschauen würde. Es war einfacher, junge Herrschaften mit einem eleganten Kleid und einem verlegenen Lächeln zu beeindrucken. Hier stand sie vor einer deutlich größeren Herausforderung. Und es half nicht, dass ihre Gedanken sich in einen wilden Strudel verwandelten, sobald sie sich der Nähe Duanas bewusst wurde.
»Ist es nicht ein wenig spät, um allein und ohne Wachen unterwegs zu sein? In diesen Zeiten ist es nicht ratsam, so unvorsichtig zu sein.« Duanas freundlicher Tonfall stand im Widerspruch zu dem bohrenden Blick, der sich auf Breannas Haut einzubrennen drohte. Breanna hielt ihrem Blick stand. Nach einer viel zu langen Sekunde deutete sie vage in Richtung der Wache, die wenige Schritte hinter Duana stand.
»Ich bin doch gar nicht allein.« Als die Worte ihren Mund verließen, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wäre es nicht dunkel abgesehen vom flackernden Fackellicht, hätte jeder in hunderten Metern Entfernung sehen können, wie Breannas Wangen sich glühend rot verfärbten. Für einen sehr langen Moment hielt Duana den Augenkontakt und es hätte Breanna nicht gewundert, wenn sie bis in ihren innersten Kern blickte. Bloß ein leichtes Zucken ihrer Augenbrauen verriet, dass die Zeit nicht stehen geblieben war. Mit einem verlegenen Lächeln wandte Breanna sich ab, wohl bemüht, möglichst selbstsicher zu wirken. Der Innenhof war äußerst faszinierend, stumm und beinahe leer, wie er dalag.
Ein Grinsen wanderte über Duanas Gesicht. »Das ist natürlich ein überzeugendes Argument.« Ihr ruhiger, amüsierter Tonfall rollte wie flammende Wellen über Breanna hinweg. Trotz der bewusst gezeigten Ruhe und Sicherheit, an die sich Breanna in ihrem Innersten nur mit Mühe klammerte, raste ihr Puls. Die statische Ladung der Luft schien nur darauf zu warten, dass sie eine falsche Bewegung machte. Als Breanna den Stoff ihres Kleides glattstrich, konnte sie die Blitze spüren, die nur darauf warteten, auszubrechen. Sie musste hier weg, bevor sie ihre Selbstkontrolle völlig verlor.
»Ich möchte nicht unhöflich sein.« Diesmal war es Breanna, die die Stille durchbrach. »Aber nach diesem langen Tag bin ich doch etwas erschöpft. Ich bin mir sicher, dass mein Vater längst auf mich wartet.«
Nun löste sich auch Duana von der Mauer. »Selbstverständlich. Ich hoffe, der bisherige Abend hat nicht enttäuscht.« Da war sie wieder, die gesammelte, wortgewandte Herrscherin, die Stimme seidig glatt wie die feinen Stoffe ihrer Kleidung. »Norbert, bitte.« Bevor Breanna einschreiten konnte, war die Wache aus dem Schatten neben Duana getreten. Obwohl die Herzogin sehr groß war, überragte die Wache sie um einen halben Kopf. »Begleite Breanna zu ihrem Vater. Ich bestehe darauf. Keine Sorge, Norbert ist einer der besten Kämpfer, die ich kenne.«
Breanna neigte den Kopf. Hauptsächlich, um die Mischung aus Belustigung und Ärger zu verbergen, die sich in ihrem Gesicht gesammelt hatte. Diese Diskussion konnte sie nicht gewinnen, ohne unhöflich zu werden. Auch wenn sie sich mehr als sicher war, dass ihr heute Nacht kein heimlicher Meuchelmörder begegnen würde.
»Das ist äußerst großzügig, auch wenn ich anmerken muss, dass es im Moment nicht ratsam ist, nachts ohne Wachen unterwegs zu sein. Eine geruhsame Nacht.« Mit einem überaus höflichen Knicksen drehte sie sich um. Das überraschte, beinahe empörte Lachen Duanas begleitete sie, als sie begann, den Weg in Richtung der Unterkünfte anzutreten. Bis sie die Terrasse verließ, konnte sie den aufmerksamen Blick Duanas ununterbrochen auf ihrem Rücken fühlen.
3. Hohe Erwartungen auf der Hohen Burg
Nachdenklich beobachtete Duana, wie die junge Frau sich von ihr entfernte. Sie schüttelte den Kopf. Der überraschend lockere Austausch war eine erfreuliche Abwechslung zu den steifen und ermüdenden Gesprächen des Tages gewesen. Eine äußerst ungewöhnliche junge Dame, die nicht recht in diese Umgebung passen wollte. Die Art, wie sie von nahezu hektischer Verlegenheit zu beinahe anmaßendem Geplänkel gewechselt war, hatte sie beinahe aus dem Konzept gebracht. Sie wusste nicht, ob Breanna sie verärgern wollte oder nicht. Irgendetwas passte nicht richtig zusammen, und sie mochte es nicht, wenn Dinge unstimmig waren. Vielleicht war sie auch einfach nur paranoid. Die letzten Wochen hatten ihre Sorgen leider bestätigt. Dabei war es genau das Gegenteil von dem, was sie sich immer erhofft hatte.
Und jetzt stand sie hier, nachts, umgeben von feinen Damen und müden Wachleuten, die aus aller Lande angereist waren. Den Kopf voller möglicher Bündnisse und politischen Entscheidungen, deren Ausmaß schwer greifbar war. Sie überlegte, nun doch den Schwur zu brechen, den sie sich als junges Mädchen selbst geschworen hatte. Das Gewicht der Krone drückte sich schwer in ihren Kopf.
Ich werde niemals den gleichen Weg gehen wie meine Schwester. Maite hatte sie nie in Frage gestellt, wenn es um ihre Zukunftspläne ging. Aber Maite hatte sich auch nie daran gestört, ihre Rolle auszufüllen. Schließlich war sie wie dafür gemacht. Eine elegante, charmante Dame, die genug Witz und Verstand hatte, um sich von den geifernden Herrschaften nicht kleinreden zu lassen.
Mittlerweile war ihr nur noch sture Wut geblieben. Der Anblick von Maites lebloser Gestalt verfolgte sie Tag und Nacht. Wenn sie nur wüsste, wer dafür verantwortlich war. Doch da war nichts. Als wäre ein Geist über die gut bewachte Kutsche ihrer Schwester hergefallen. Jede Spur verlor sich im Nichts. Jeder verstrichene Tag brachte nur die erneute Enttäuschung, dass niemand ihr die Antworten gab, die sie hören wollte. Es war kein zufälliger Überfall gewesen. Sie hatte die Berichte gelesen. Mit den Landwachen gesprochen, welche die Überreste des bewachten Wagens gefunden hatten.
»Es war kein Überfall. Es war eine Hinrichtung.« Das hatte einer von ihnen gemurmelt, ehe Duana das Gespräch beendet hatte. Je länger sie nachforschte, desto weniger Antworten und mehr Fragen fand sie. Und nun stand sie hier und sollte nicht nur herrschen. Heiraten. Ihre Mutter hatte erst am heutigen Morgen erneut die Diskussion aufgebracht. Das war das Letzte, was sie sich im Moment vorstellen konnte. Aber die Südstädte verloren sich zunehmend in Chaos und Blutzoll. Noch hatte sie keine Beweise, dass die Aufständischen dort mit Maites Mord zu tun hatten. Aber es passte so gut. Vielleicht zu gut.
Und selbst wenn sie der Landgräfin Fyllgors keinen Schritt weit über den Weg traute, wäre es gut für den Frieden, wenn die Allianz bestehen bleiben würde. Gut für den Frieden. Aber gut für mich? Meine Wünsche haben keinen Platz mehr in dieser Welt.
Ihr Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, welche Bedingungen sie ganz unverfroren aufgestellt hatte. Sollte ihr kleiner Bruder eben dafür sorgen, dass die Familie erhalten blieb. Schlimm genug, dass sie nun für alles und jeden verantwortlich war. Ihre Mutter hatte irgendwann frustriert geschimpft, dass sie noch daran kaputt gehen würde, wenn sie weiter so stur mit dem Kopf durch die Wand wollte.
»Dann soll es so sein! Reicht es nicht, wenn Cahir einer der jungen Damen versprochen wird?«, hatte sie trotzig erwidert, ehe sie den Raum verlassen hatte. Loise hatte nicht aussprechen müssen, was sie beide wussten. Cahir war jung. Niemand wusste, wie viel Zeit blieb, bevor die Reste des neuen Friedens zerbrachen.
Die meisten der Damen und feinen Herren, die sich zurzeit am Großen Hof befanden, gaben sich entgegenkommend und motiviert, aber sie hatte keine Zweifel, dass sie höchstens aus machtmotivierten Gründen hier waren. Wer heiratet nicht gern eine Herzogin. Vor allem, wenn es keine Könige mehr gibt.
Zusätzlich war es einfach ermüdend, den belanglosen, höflichen Plänkeleien und wohl erwählten Gesprächsrunden beizuwohnen. Ganz zu schweigen von den Herrschaften, die in ihr nicht mehr sahen als einen Titel. Einen Titel und eine Trophäe.
Breanna hingegen … Sie war vielleicht etwas unscheinbar in der Erscheinung, aber da war ein Funke Trotz in ihrem Blick gewesen. Vielleicht war es auch bloß der Fackelschein gewesen, der ihr einen Streich gespielt hatte. Aber es war das erste, interessante Gespräch des Abends für sie gewesen.
War sie zu forsch gewesen? Duana runzelte die Stirn. Eine eigene Meinung zu haben, war gefährlich. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Breanna sehr viele Meinungen hatte. Mit einem letzten Blick über den Innenhof machte Duana sich auf den Weg. Gänsehaut zog sich wie ein kalter Schauer über ihre Arme, ihren Rücken und ließ sie schaudern. Die Erinnerung an ihre Schwester hatte sich kalt in ihr Herz gegraben und auch die warme Nachtluft konnte daran nichts mehr ändern.
Auf dem Weg zu ihrem Gemach begegnete sie bloß den Wachen, die wie befohlen auch nachts ihre Runden zogen. Im Haupthaus war schon längst Ruhe eingekehrt, die Feuer in den Kaminen glommen nur schwach. Die Tür zum Speisesaal stand halboffen, doch der Raum war leer. Als Duana die schweren Holztüren zuzog, fiel ihr Blick auf das Gemälde ihrer Eltern, das am Ende des Raums an der Wand thronte. Der herrische, geradezu arrogante Blick ihres Vaters brannte auf ihrer Haut. Trotzig straffte sie die Schultern und hob den Kopf. Seine letzten Worte ihr gegenüber waren heute genauso bedeutungslos, wie sein lauter Zorn es gewesen war, sobald ihre Mutter den Raum betreten hatte.
»Freust du dich, Vater? Es scheint, als bekämst du doch, was du immer wolltest.« Die leisen Worte schwebten unbeantwortet durch den Raum. Duana schloss die Tür. Mit jedem Tag verlor die Illusion ihren Zauber, dass seine stummen Worte, die stets wie eine Warnung in ihrem Nacken gesessen hatten, ihr nichts mehr anhaben konnten. Die Treppenstufen den Turm hinauf verloren sich in ihren Gedanken. Manchmal kam sie an ihrem Gemach an, ohne sich daran erinnern zu können, überhaupt die Treppe genommen zu haben. Norbert stand wie üblich vor der Tür, aufrecht und in glänzender Rüstung.
»Gute Nacht, Norbert« Sie strich sich die Haare hinters Ohr, die auf den letzten Treppenstufen aus ihrem Zopf gerutscht waren.
»Gute Nacht, Duana. Das Fräulein Breanna ist ohne Zwischenfälle sicher bei ihrem Vater angekommen. Beide haben die Burg verlassen, ebenso wie die übrigen Gäste.« Der ruhige Klang seiner Stimme verdrängte auch die letzten Gedanken an ihren Vater aus ihrem Kopf.
»Gut. Hat sie noch etwas erzählt?«
Das Schmunzeln in seiner Stimme war schwer zu überhören. »Sie hat sich sehr höflich bedankt, war aber recht schweigsam.« Duana verdrehte die Augen und verschränkte gespielt empört die Arme.
»Habe ich etwas verpasst? Möchtest du deine Gedanken mit mir teilen, Norbert?«
Er neigte den Kopf leicht. »Es war schön, dich für eine Weile ausnahmsweise ohne Sorgenfalten zu sehen. Das ist alles.« Sein Blick ruhte auf ihr. Sie waren fast gleichgroß. Die straffe, aufrechte Haltung Duanas verschwand.
»Es ist seltsam. Nichts läuft so, wie ich es geplant hatte.« Sie lehnte sich gegen die Tür und friemelte die unzähligen Haarnadeln aus ihrer Frisur.
»Nun, Pläne funktionieren meistens nur auf dem Papier so, wie wir wollen. Dir wurde viel Verantwortung hinterlassen.« Er beobachtete Duana, wie sie versuchte, eine besonders hartnäckige Haarnadel zu lösen.
»Darf ich?« Vorsichtig befreite er die Haarnadel von den Haarsträhnen, die sich in den geschwungenen Verzierungen verknotet hatten.
»Ich kann es kaum erwarten, diesen albernen Schmuck häufiger tragen zu müssen«, murrte Duana und schüttelte den Kopf.
»Du könntest auch eine der Zofen fragen, ob sie dir helfen. Ich bin mir sicher, dass deine Mutter sich darüber sehr freuen würde«, ergänzte Norbert leise. Das warme Brummen seiner Stimme verdrängte für einen Moment die Kälte, die sich seit Tagen wie ein Schatten an sie geheftet hatte.
Bestimmt schüttelte Duana den Kopf: »Bei den Göttern, auf keinen Fall. Eher schneide ich meine Haare ab!«
»Sag bitte Bescheid, bevor du das selbst machst.«
»Wem sollte ich sonst Bescheid sagen?« Vorsichtig nahm sie die Haarnadeln entgegen. »Ich danke dir. Bis morgen früh.« Sie öffnete die Tür. Es war beruhigend zu wissen, dass Norbert die ganze Nacht über auf seinem Posten bleiben würde. Seine Anwesenheit außerhalb ihres Gemachs war so selbstverständlich geworden, dass sie sich nicht einmal vorstellen wollte, wie es eines Tages ohne Norbert sein sollte. Etwas mühsam befreite sie sich aus der formellen Kleidung, die sie viel zu viele Stunden hatte tragen müssen. Im Licht der Öllampen auf ihrem Nachttisch warf sie einen letzten Blick in den Handspiegel. Mit der eleganten Frisur und dem prunkvollen Schmuck war es beinahe so, als würde ihr Maite entgegenblicken. Schwesterchen. Wenn ich nur wüsste, was du von all dem hältst. Du hättest einen guten Rat parat.
Als ihre Haare wie ein dunkler Umhang über ihre Schultern fielen, verschwand Maites Anblick mehr und mehr. Schließlich blicke sie sich bloß selbst entgegen. Müde Augen, wirre Gedanken. Mit einem leisen Seufzen dimmte sie die Lampen. Strich die Bettdecke zurecht. Knautschte das Kopfkissen, drehte es um und rollte sich auf die andere Seite. Es dauerte lange, bis sie Schlaf fand.
***
Das Klappern der Kutschenräder auf dem Kopfsteinpflaster hallte laut durch die nächtlichen Straßen. Breanna musterte Beanon. Sein Kopf wackelte bei jedem Holpern leicht hin und her, die Augen hatte er geschlossen. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie ihn für betrunken gehalten. Aber er betrank sich nicht – so viel hatte sie über ihren vermeintlichen Vater bereits gelernt. Beanon, der freundliche, aber gerissene Handelsführer und wohlhabende Vertreter Pivareens. Seine wahre Identität kannte sie nicht. In den Augen der Reichen und Adeligen waren sie Vater und Tochter. Weder ihre wahren Namen noch ihren Rang bei den Kindern der Nahen Heimat wussten sie voneinander.
Vielleicht hätte ich mich betrinken sollen.
Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, die Augen zu schließen. Durchzuatmen. Ihr Kopf brummte wie ein Schwarm Hornissen. Vom Rütteln der Kutsche wurde ihr schwindelig. Es war noch immer drückend warm trotz der späten Stunde. Ihre Hände zitterten, als sie den Vorhang des kleinen Kutschenfensters zur Seite schob.
»Wir sind gleich da.« Beanon richtete sich auf.
»Ja.«
»Ein erfolgreicher Tag, würde ich meinen.« Die Kutsche hielt an. Beanon stieg aus und reichte Breanna die Hand. Er zuckte unmerklich als kleine, blaue Funken auf seine Finger übersprangen. »Konntest du dich bereits mit ein paar der jungen Leute austauschen?«, fuhr er unbeirrt fort, doch sein Blick ruhte noch immer auf ihr.
»Ja.« Breanna zog ihre Hand zurück. »Ich werde mich morgen mit meinen Freunden hier in der Stadt in Verbindung setzen. Ich bin mir sicher, dass sie es kaum erwarten können, was ich von der Krönung berichten kann.« Sie wartete nicht, bis die Bediensteten die Kutsche abgespannt hatten. Bereits auf den Stufen zum Gästehaus der Handelsgilde murmelte sie bloß leise »Gute Nacht«, nickte dem Wachmann abwesend zu und verschwand im Haus.
***
Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, sank sie zu Boden. An die Tür gelehnt starrte sie in die dämmrige Dunkelheit des Zimmers. Mit fahrigen Fingern entledigte sie sich der vielen Schichten Kleidung und trat an den Waschzuber, der in der angrenzenden Kammer stand. Blaue Funken sammelten sich zwischen ihren Fingern.
Es zischte, als der erste Blitz ins Wasser einschlug. Doch statt Dampf erschienen Eiskristalle. Breanna seufzte und schüttelte ihre Hände. Das Kribbeln war nicht ganz verschwunden. Entschlossen steckte sie beide Hände in das Wasser. Es war eiskalt.
Langsam atmete sie aus. Ein. Aus. Es dauerte länger als sonst, bis sich das vertraute, taube Gefühl einstellte. Mit schweren Schritten schleppte Breanna sich zum Bett. Der glatte Stoff ihrer Decke fühlte sich unter ihren Fingern warm an. Doch heute störte es sie nicht. Sie war eingeschlafen, noch bevor die letzte Kerze erloschen war.
4. Frustrierende Verhandlungen
»Wolltest du dich nicht mit deinen neuen Freunden verabreden?«, fragte Beanon nonchalant und bot ihr den Arm zum Unterhaken an. Ganz der zuvorkommende Vater.
»Zum Abend hin. Bei der Hitze möchte wohl kaum einer die Stadtgärten besuchen«, erwiderte Breanna ebenso beiläufig, während ihr Blick den Gang nach Wachen und anderen Leuten absuchte.
»Wunderbar. Ich bin mir sicher, du wirst wertvolle Bekanntschaften schließen, während wir hier sind.« Seine Hand tätschelte die ihre. »Sicherlich wird sich im Laufe der nächsten Tage herausstellen, ob unsere Verhandlungen erfolgreich sein werden. Lange sollte es nicht mehr dauern.«
Breanna nickte mit gespieltem Interesse. Hinter der schmalen Brücke, die zur Burg führte, stieg der Weg steil an. Aus der Nähe war die Hohe Burg noch imposanter, die grauen Mauern und mächtigen Türme ragten weit in den Himmel. Es war mühsam, den Weg zu Fuß zu bewältigen, besonders in der Mittagshitze. Doch Beanon hatte darauf bestanden. Schließlich sei es wichtig, die Orte zu kennen, in denen man einen neuen Handelssitz erschließen wollte.
Sie hatten das Burgtor erreicht. Die bisher reglos verharrenden Wachen erwachten zum Leben. Bevor sie blinzeln konnte, versperrten die gekreuzten Speere Beanon und ihr den Weg.
»Namen und Anliegen«, brummte die rechte Wache. Sein Gesicht war hinter dem geschlossenen Visier des Helmes nicht zu erkennen.
»Handelsführer Beanon aus Pivareen, in Begleitung meiner Tochter Breanna.« Beanon hielt den Wachen einen Brief hin. »Wir haben eine Audienz bei der Herzogin.«
Die linke Wache griff nach dem Brief, inspizierte das Siegel und musterte sie beide. Er nickte. »Mitkommen.«
Die Ketten des Fallgitters rasselten. Sie waren durch Eisenbeschläge verstärkt und dicker als ein Arm. Langsam öffnete sich das Tor. Kaum hatten sie Torhaus betreten, senkte sich die Fallgitter erneut. Die schwere Holztür am Ende des Raums wurde aufgestoßen und zwei weitere Wachen traten ein.
»Führt Ihr Waffen mit?« Überrascht sah Breanna auf. Die Wache war gut einen Kopf größer als die anderen drei, doch entgegen Breannas Erwartung sah sie sich einer jungen Frau gegenüber.
»Nein.« Beanon hatte sein freundliches Lächeln nicht verloren.
»Durchsucht sie.« Die große Frau wandte sich an Breanna. »Bloß eine Sicherheitsmaßnahme. Bitte, hebt die Arme.«
Schweigend folgte Breanna ihren Anweisungen. Je schneller sie mit der Durchsuchung fertig war, desto besser. Ihr lief die Zeit davon. Sie musste einen Weg finden, wie sie an die Dokumente kam, die ihrer Information nach in den privaten Gemächern Duanas zu finden sein sollten.
Es dauerte nicht lange, bis die Torwächterin zufrieden war. Breanna mochte diesen Prozess nicht. Als sie endlich den Innenhof betreten durften, konnte sie noch immer spüren, wo die forschen Hände sie berührt hatten. Obwohl sie den Weg zum Haupthaus allein zurücklegen durften, konnte sie die Wachen sehen, die ganz zufällig ebenfalls in die gleiche Richtung liefen. Immer mit ein paar Schritten Abstand. Man öffnete ihnen die Tür zum Haupthaus. Auch im Inneren trugen sie alle ihre Helme, doch die Visiere waren hochgeklappt.
»Hier entlang.« Lächelnd deutete eine etwas ältere Frau in verzierter Rüstung in den Gang.
***
Mit ihrer üblich stoischen Miene stand Loise vor dem Schreibtisch, während Duana mit langsamen Schritten im Zimmer hin und herlief. Ruckartig bleib Duana stehen. Ihr Blick suchte den ihrer Mutter.
»Es muss eine andere Lösung geben. Das geht nicht. Der gesamten Provinz Kor freistellen, die Flagge Fyllgors zu hissen? Fehlt nur noch, dass sie es mit Medor gleichsetzen!« Mit einer dynamischen, unbestimmten Geste in Richtung des Schreibtisches setzte Duana sich wieder in Bewegung. Loise schwieg und setzte sich auf den Stuhl, den sie wenige Minuten zuvor noch abgelehnt hatte. Frustriert raufte Duana sich die Haare, seufzte laut und blieb vor dem Fenster stehen.
»Das ist einfach dreist. Sie können unmöglich erwarten, dass wir dem zustimmen werden.« Ihre brodelnde Wut war müder Frustration gewichen. Ohne sich vom Fenster zu entfernen, sah Duana zu Loise. Sie kannte den Blick ihrer Mutter. Für sie war es schon längst entschieden.
»Es ist besser, nicht an allen Fronten zu kämpfen.« Weder der ruhige, selbstverständliche Klang von Loises Stimme noch ihre unerschütterliche Gleichgültigkeit halfen Duanas Gemüt zu beruhigen.
»Und womit wollen sie kämpfen? Ohne unsere Truppen können sie weder die Südgrenze halten noch sich gegen die Monster und Banditen wehren!« Kopfschüttelnd verschränkte Duana die Arme.
»Und wie willst du die Truppen bezahlen? Noch tragen Kor und Fyllgor einen Anteil der Kosten, vor allem bei den Stadtwachen«, erwiderte Loise bestimmt und erhob sich. »Duana. Ohne Gold sind deine Truppen schneller weg, als du trotzig Nein rufen kannst.« An der Tür von Duanas Arbeitszimmer hielt sie kurz inne, seufzte und straffte die Schultern. »Ich werde jetzt frühstücken.«
Duana erwiderte ihren Blick nicht. Abwesend starrte sie aus dem Fenster, die Stirn in Falten gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt. Von hier oben konnte man den Trainingsplatz der Wachen sehen. Die letzten Übungen wurden gerade beendet. Die südlichen Täler abgeben – Agathas Unverschämtheit hat neue Dimensionen gefunden.
Ihre Mutter mochte die diplomatischere von ihnen sein. Aber sie hatte auch nicht viel zu verlieren. Entschlossen drehte Duana sich um. Sie brauchte eine Lösung, eine Strategie. Erneut fiel ihr Blick auf den Trainingsplatz.
***
23 kleine Schüsseln zählte Breanna. Die lange Holztafel in dem Saal war reich bedeckt mit Gebäck, Käseplatten und Obsttellern. Breanna bezweifelte, dass sie jemals zuvor in einem größeren Speisesaal gegessen hatte. Oder überhaupt gewesen war. Zumindest in keinem, der tatsächlich ein Raum war. Aber ich habe auch noch nie zum Essen auf eine Herzogin gewartet.
Durch die hohen Buntglasfenster brach sich das Licht in leuchtenden Farben. Außer ihr und Beanon befanden sich bloß zwei Wachen im Saal, die sich nach ihrem Eintreten an der Tür positioniert hatten. Die Flügeltür öffnete sich und eine schmale Frau trat entschlossen ein. Trotz ihres geradezu schlichten Kleides strahlte sie eine Eleganz und Autorität aus, die Breanna zuletzt bei Herzogin Duana erblickt hatte.
»Ich bitte zu entschuldigen, dass Ihr warten müsst«, sagte die ältere Frau. »Ich bin Loise, die Burgherrin der Hohen Burg. Meine Tochter ist leider im Moment unpässlich. Zur Mittagsstunde beginnen wir mit den Verhandlungen. Aufgrund der aktuellen Lage muss ich darauf hinweisen, dass ein Verlassen der Burg eine erneute Sicherheitskontrolle zur Folge hat.« Sie neigte den Kopf.
»Selbstverständlich.« Beanons freundliches Lächeln stand dem Loises in nichts nach. »Ich habe gehört, die private Bibliothek hier auf der Hohen Burg sei die Größte des Landes. Besteht die Möglichkeit, einen Blick hineinwerfen zu dürfen?«
Loise lachte leise. »Das wird sicherlich möglich sein.«
»Möchtest du uns begleiten, Breanna?«, fragte Beanon.
Breanna sah von ihrem Teller auf. »Oh, ich möchte mich nicht aufdrängen. Dürfte ich die Gärten aufsuchen?« Sie konnte sich besseres vorstellen, als dem höflich-steifen Geplänkel zwischen den Beiden beiwohnen zu müssen.
Loise nickte. »Natürlich.«
***
Als sie das Zimmer verließ, schien für einen Moment der nervöse Klumpen in ihrem Inneren Ruhe zu finden. Es war erschreckend einfach, sich unter die Bediensteten zu mischen, nicht weiter aufzufallen. Der Trick war, mit geschäftigem Eifer zielstrebig und selbstverständlich in eine Richtung zu gehen. Sie hatte eine Aufgabe, und niemand würde sie davon abhalten.
Nun, zumindest nicht, solange sie sich in den Ziergärten aufhielt. Nachdem sie die letzten zwei Wochen fast ununterbrochen unter den feinen Leuten präsent gewesen war, genoss Breanna das gewohnte Kribbeln, die wohlbekannte Aufregung, die ersten Steine für ihren Auftrag ins Rollen zu bringen. Sie musste den richtigen Moment abpassen. Sobald die Wachen sie aus den Augen verloren hatten, konnte sie endlich das tun, wofür sie hergekommen war. Nicht mehr als Spionage und … Mord.
Das beklemmende Gefühl, welches der zweite Teil ihrer Aufgabe in ihr auslöste, schob sie entschlossen weg. Fangen wir mit dem einfacheren Teil an. Schließlich brauchte sie als Spionin Augen und Ohren an Orten, die sicher nicht für sie bestimmt waren. Das erste Mal seit Tagen fühlte sie sich, als könnte sie wieder freier atmen. Es war paradox – die Aufgabe, die für sie gefährlich war, fiel ihr leichter als ein simples Gespräch.