Ein Name für die Ewigkeit - Julia Ach - E-Book

Ein Name für die Ewigkeit E-Book

Julia Ach

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Beschreibung

Herzogin Duana hat keine Wahl: Um ihren Bruder zu finden, muss sie das blutige Spiel von Krieg und Intrige selber spielen. Ausgerechnet Spionin Sera will ihr helfen. Die Frau, die sie verraten und ihr das Herz gebrochen hat. Die Frau, die für alles steht, was sie hassen sollte. Ist sie wirklich bereit, sich diesem Kampf zu stellen? Um Duanas Leben zu retten, hat Sera einem mysteriösen Elfengott etwas versprochen: Ihre Seele und Freiheit als Pfand für die Zukunft der Herzogin. Kann Sera ihre Schuld begleichen? Oder verschlingt diese neue Macht sie, bis die Welt sie endgültig vergisst?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vorwort
Content Notes
Prolog
1. Feuer über Grendor
2. Hinter den Toren Grendors
3. (Un)ratsame Wege
4. Der Grad der Vernunft
5. Nach dem Fest
6. Der Preis, zu sterben
7. Weiße Lügen und kleine Geheimnisse
8. Am Rande der Stadt
9. Ein neuer Hafen
10. Sturmsegel und Safranbrötchen
11. Alte, neue Freunde
12. Aufgabe
13. Waldo
14. Der Anfang des Krieges
15. Suppenkräuter und Sorgen
16. Der Klang des Krieges
17. Ein Meer aus Silber und Stahl
18. Kinder des Waldes
19. Scharfe Klingen
20. Die Mauern Majdens
21. Grenzgänge
22. Hinter dem Wall aus Dornen
23. Zwischen Feinden
24. Loyalität und Lügen
25. Ein Akt der Verzweiflung
26. Ein Schatten im Schnee
27. Zukunftspläne; zerknüllt
28. Aschewind, blaues Leuchten
29. Verlorene Kinder
30. In den Flammen des Krieges
31. Alte Bekannte
32. Bloß ein kleines Feuer
33. Freunde und Freuden
34. Stille in der Nacht
35. Hinter Mauern, meine Wut
36. Der Duft von Verrat und Liebe
37. Goldene Sonne
38. Etwas Verlorenes, etwas Gefundenes
39. Ankunft in Dryfurt
40. Vögelchen, vogelfrei
41. Unter Mauern, meine Reue
42. Kind des Waldes, im Auge des Zorns
43. Auf dem Marktplatz
Epilog: Ein Name für die Ewigkeit
Danksagung

 

Ein Name für die Ewigkeit

 

Sera & Duana 2

 

von Julia Ach

 

 

 

 

 

1. Auflage, 2025

© 2025 Julia Ach

 

Cover und Lektorat von Mina Bekker:

www.minabekker.de, @minabekker.autorin.

 

Illustrationen und Buchsatz von Julia Ach.

 

Julia Hartmann

Holtenauer Straße 353

24106 Kiel

 

[email protected]

www.juliaach.com

9783759256331

 

Ausschluss KI-Nutzung

Dieses Buch ist ohne Einsatz von generativer KI entstanden.

Es ist ausdrücklich untersagt, dieses Werk oder Teile davon ohne vorherige schriftliche Genehmigung der Autorin für folgende Zwecke zu nutzen:

Automatisiertes Text- und Datamining (einschließlich KI-Training und maschinelles Lernen)

Erstellung von Datenbanken oder Modellen

Jegliche Form der automatisierten Verarbeitung oder Analyse

Vorwort

Für alle Kinder, die sich

Im Sturm verloren haben.

Für alle, die alleine Zur letzten Seite blättern.

Für alle, in deren Herzen

Wut brennen darf.

 

 

 

In diesem Buch geschehen schöne, wundersame aber auch grausame Dinge. Es handelt von Liebe, von Trauer, von Wut und Verlust. Die Figuren durchleben seelische und körperliche Gewalt. Wenn du dir nicht sicher bist, ob das Ausmaß der Erzählungen etwas für dich ist, blättere bitte auf Seite 7 und lies dir die Content Notes durch.

Gib auf dich acht und höre auf dein Herz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In ihren Händen ruht die Macht

Das Feuer der Welt zu entzünden,

Längst hallt das Echo im Sturm

Ein Name für die Ewigkeit.

Content Notes

Achtung, die Content Notes spoilern Geschehnisse im Buch!

»Ein Name für die Ewigkeit – Sera & Duana 2« enthält folgende Themen und Handlungen, die belastend und/oder triggernd wirken können.

Bitte achte auf dich! Dein Wohlbefinden ist wichtig.

 

- Tod und Trauerbewältigung

- Verlust von Eltern, Geschwistern, Freunden

- Entführung

- (versuchter) Mord, Hinrichtungen

- Blut und Wundbeschreibungen

- Folter (impliziert)

- sexuelle Gewalt (impliziert)

- Schwieriges Verhältnis zu Eltern, Bindungstrauma (Mutter)

- Alkoholmissbrauch durch Eltern

- emotionale Erpressung

- Gefangenschaft

- Beschreibungen von Gewalt

- körperliche und psychische Gewalt an Kindern

- Waisen(Häuser)

- Verrat

- Mobbing und Ausgrenzung (angedeutet)

- Krieg und Revolution

- Kriegsverbrechen

 

Prolog

Das Blut an Seras Händen war noch warm. Totenstille umgab sie und schwarzes Flirren fiel über sie wie ein Vorhang, rahmte sie ein, bis sie bloß wenige Meter weit sehen konnte. Unter ihren Füßen lag feiner, weißer Sand. Schwankend richtete Sera sich auf. Durch die Schwärze vor ihr trat der Sammler, seine knöchernen Füße schwebten über dem Grund.

»Namensdiebin.« Seine Stimme hallte um Sera herum, spielte mit ihrem Verstand und verlor sich in der Ferne. »Erneut rufst du nach mir.«

Sera drehte sich zum Sammler um. »Du hast versprochen, dass sie leben wird!« Ihre Worte tanzten zittrig in der Leere zwischen ihnen. Sera räusperte sich erfolglos. »Ist es das, was du bist? Ein – ein Verräter?«

»Bin ich das?« Das leere Gesicht war bloß eine helle, ebene Fläche. Glatte, polierte Knochen, ohne Augen, Mund oder Nase. »Ich habe sie einmal gerettet.«

»Einmal? Das war – das war nicht die Abmachung!«

»Sie lebt. Nun, lebte – ich habe deine Freunde davon abgehalten, ihr Leben zu beenden.«

»Sie kann nicht sterben!«, brüllte Sera, doch das Echo ihrer Stimme blieb aus. »Das war das Versprechen.«

»Jedes Leben hat einen Preis.« Er streckte seine knochige Hand aus. Feine, weiße Fäden leuchteten zwischen seinen Fingern auf. »Jedes Mal, wenn ihre Seele in eurer Welt verbleiben soll, muss ich dem Schicksal ein Schnippchen schlagen.« Mit der anderen Hand griff er einen der Fäden und zog daran. Er zerfiel zu weißem Sand.

»Nenn mir deinen Preis, Sammler.«

»Du hast viele Namen gesammelt, Namensdiebin. Welchen Preis willst du zahlen?«

Sera schloss die Augen. Atmete zitternd zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Als sie den Sammler erneut anblickte, war das Schwarz hinter ihm nicht mehr so düster wie zuvor. Schemenhafte Gestalten flackerten am Rand der Dunkelheit.

»Wenn ich dir meine Namen gebe, wird sie leben. Bis ins hohe Alter. Egal, wie oft du dem Schicksal dein Schnippchen schlagen musst.« Sera blickte an seiner Gestalt vorbei. Hinter ihm flirrte die vage Form von Birte, eingefroren in der Zeit, im Sprung, die Hand am Schwert. Auf seiner anderen Seite starrte ihr eine gesichtslose Menge entgegen. Sie blinzelte und die Dunkelheit kehrte zurück.

»Das reicht nicht.« Langsam ließ er die weißen Fäden fallen. Träge schwebten sie zu Boden.

»Dann nenn mir deinen Preis, Sammler!«, fuhr Sera ihn an.

»Deine Namen sind bloß der Anfang, Kind. Bring mir Geschichten. Zukunft. Leben, die du in meine Hände legst.«

»Ich soll für dich töten. Du forderst das, was er schon verlangt hat. Für dich töte ich und sie wird leben?« Ihre Stimme kippte, verhalle hoch und schrill.

»Das ist der Preis.« Er seufzte und es klang wie der Wind, der durch eine tiefe Höhle zog. »Ich bin ein Gott und du verlangst nach meiner Macht. Glaubst du wirklich, du kannst fordern, ohne etwas zurückzugeben? Nein, mein Kind … Ruf mich, wenn du ihre Namen stiehlst.« Erneut streckte er seine Hand nach vorn. »Heute fangen wir mit einem an. Du wirst genug Zeit haben, mir die Restlichen zu überlassen. Dann lebt sie. Versprochen.«

Sera griff nach seiner Hand und suchte nach einer Regung in dem leeren Gesicht. »Elenie«, flüsterte sie.

»Ich sehe, wir beginnen mit der Kindheit … Nun geh, und vergiss.« Das Echo seiner Worte blieb bei ihr, als die Dunkelheit in feinen, weißen Sand zerbarst.

 

Sie stolperte, fiel auf die Knie. Duanas blasses Gesicht war reglos, die dunklen, langen Haare ein blutgetränkter Vorhang. Der Lärm des Festes traf sie, als der nächste Blitz einschlug. Schmerz brannte sich durch Seras Körper, ihre Hände, ihre Arme. Blaue Funken tanzten über sie, füllten die Luft, trieben Tränen in ihre Augen. Graue Augen starrten in ihre. Als der Donner verhallte, kehrte das Leben in diese zurück.

Duana. Duana, ich bin hier.

Ich bin hier.

Lass mich nicht allein.

Keuchend atmete Duana ein, würgte, hustete. Bevor sie sich aufrichten konnte, packten grobe Hände Sera und zerrten sie fort. Weg von Duana, von der Stille, die nach dem Donnerschlag im Raum stand.

Schreie und Stimmen vermischten sich zu kreischendem Lärm in ihrem Kopf. Kalter Stahl an ihrem Hals. Sera blinzelte die Tränen weg. Duanas Gestalt, verschluckt von der panischen Menge. Rote, gelbe, blaue Kleider verschwammen zu einem bunten Strom aus hektischen Körpern, fremde Gesichter verzerrt in Angst und Schrecken. Zwischen den Leuten wurde Irben ebenfalls von den Wachen der Magister fortgezerrt. Er wehrte sich nicht. Sein kalter, hasserfüllter Blick traf Seras, bevor einer der Wachleute ihm die Arme auf den Rücken drehte und Irben in die Knie zwang.

»Verräter!«, zischte sie. Ich werde mir deinen Namen holen. Grobe Hände zerrten an ihr, rissen sie mit, hinein ins Chaos, hinaus aus der Markthalle.

Über Grendor tobte der Sturm. Schwarze Wolken füllten den Himmel, verbargen die Sterne. Das bunte Leuchten des Nachtfeuers, verzehrt von Dunkelheit. Helles Flackern zwischen den Holzbalken. Löcher im Dach, gerahmt von feuriger Glut. Dichter Rauch fegte durch die Stadt, als das Feuer sich ausbreitete. Die Stadt der Magister stand in Flammen.

1. Feuer über Grendor

So sehe ich also aus, wenn ich sterbe.

Duana starrte auf den leblosen Körper. Das dunkle Blau ihres Gambesons rot durchtränkt, ein nasser Fleck, der langsam wuchs. Ihre Augen blickten ins Leere. Ihr Körper war umgeben von entsetzten, starrenden Gästen, bloß helle, bunte Schlieren am Rand. Sie sah zurück zur Blutlache, die sich unter ihr bildete. Folgte der Richtung, in die ihre ausgestreckte Hand deutete – zu ihm. Duana stürzte vor. Doch nichts geschah. Vage konnte sie die Hände sehen, die nach ihm griffen. Ihn packten, zu Boden zerrten. Um sie bewegte sich die Welt weiter, die Leute stoben in Panik auseinander. Es war seltsam. Als hätte sie sich von der Zeit gelöst.

Nein. Nicht von der Zeit. Die Zeit bleibt für niemanden stehen. Aber mein Körper …

»Es tut mir leid«, brummte Norbert.

Die leisen Worte trafen Duana schmerzhaft wie der Dolchstoß zuvor. Sie blinzelte. Zumindest versuchte sie, die Augen zu schließen, doch die Dunkelheit blieb aus. »Was machst du hier?« Langsam drehte sie sich um, löste sich von Irbens Anblick. Auf der anderen Seite ihres Körpers stand Norbert – eine halbdurchsichtige Gestalt, das Emblem Pyriens auf der fein verzierten Brustplatte, sein warmes Lächeln im Gesicht.

»Ich habe geschworen, deine Seite niemals zu verlassen, Duana.« Er kniete sich auf den Boden. Berührte mit einer Hand vorsichtig ihre Stirn. Obwohl Duana wusste, dass sie hier stand, neben ihrem Körper, spürte sie die Wärme seiner Finger. »Aber du musst aufwachen, Duana. Du kannst mich nicht begleiten.«

Für einen kurzen Moment flackerte seine Gestalt, seine Worte erklangen verzerrt, hallten lange nach. Er hob seine Hand von ihrer Stirn und feiner, weißer Sand rieselte herab. Die Wärme war auf einen Schlag verflogen, als hätte ein eisiger Sturm sich lautlos angeschlichen und sie verschlungen. Norberts Gesicht verschwamm vor Duanas Augen, verlor seine Farbe, seine Form.

Eine andere, fremdvertraute Stimme zerschnitt die Luft. »Lass mich nicht allein!«

Sera.

Kalte Tränen auf Duanas Gesicht.

Und sie fiel.

 

Heißer Rauch füllte die Luft. Duana hustete. Kalter Boden unter ihr. Schmerz. Ihre Hand fand keinen Halt, bloß Nässe. Warmes Blut. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite, versuchte, sich aufzurichten. Ihre Arme wollten nicht. Fliehende Menschen stolperten an ihr vorbei, verworrene Schlieren vor ihren Augen. Eine Hand an ihrer, für einen winzigen Moment – das fremde und doch vertraute Gesicht, ein entsetzter Blick aus grünen Augen. Dann schob sich eine Gestalt zwischen sie.

Norbert? Nein. Lass mich zurück-

Der grendorsche Wachmann, Noris, kniete sich zu Duana. »Kannst du aufstehen?«, fragte er und presste seine Hand auf die Stichwunde. Mit seiner Berührung kam der Schmerz zurück. Ihr war schlecht. Heiß und kalt zugleich. Sie wollte den Kopf schütteln, doch sie brachte nur ein gequältes Keuchen zustande.

Irgendwas stimmt nicht. Ihre Gliedmaßen waren bleischwer, als hätte jemand jegliche Kraft aus ihr herausgeprügelt. Rauch und Qualm füllten die Halle. Die wirren Schreie wurden verschluckt vom Knistern und Knacken der Flammen.

»Ruhig.« Ohne große Mühe zog Noris Duana vom Boden hoch, packte sie unter den Armen und zerrte sie in Richtung der Tür. Ihre Schmerzenslaute verklangen zwischen heißem Rauch und loderndem Feuer in der einst friedlichen Nacht. Sie sackte zu Boden, sobald Noris‘ Griff sich lockerte. Alles dreht sich. Der erste Atemzug an der frischen Luft fühlte sich an, als würde sie erneut ersticken. Die eisige Winterluft brannte kalt in ihrer Kehle und sie hustete, keuchte verzweifelt.

Aus Husten wurde Würgen. Duana schaffte es nur knapp, Noris’ Stiefel zu verfehlen, als sie sich erbrach. Die Magensäure brannte in ihrem Hals, trieb ihr Tränen in die Augen. Wimmernd krümmte sie sich erneut zusammen, doch es gab nichts, was ihr Körper noch von sich geben konnte. Helle Punkte tanzten vor ihren Augen. Zitternd rutschte sie zurück, weg von dem Erbrochenen. Ihre Hände hinterließen rote Spuren auf dem Schnee. Langsam wanderte ihr Blick von den Stiefeln zur Seite. Zurück in die Richtung der Markthalle. Loderndes Feuer erhellte den Platz.

Ich muss nur kurz … nur kurz durchatmen.

Ich steh gleich auf.

Nur kurz …

Duana sank nach hinten in den Schnee, da packte eine Hand sie grob am Arm.

»Nicht einschlafen.« Noris zog sie unbarmherzig auf die Füße. »Schlechte Idee.«

Sie war zu erschöpft, um sich zu wehren. Oder zu widersprechen. Ihre Beine waren butterweich, gaben nach. Sie wollte etwas sagen, aber ihr Kopf war so leer. So still.

Duana blinzelte träge. Ihr war kalt und warm zugleich. Weicher Stoff unter ihren Händen. Ruckartig fuhr sie hoch. Heißer Schmerz zuckte durch ihre Seite. Stöhnend krümmte sie sich zusammen, kalten Schweiß auf der Stirn, und sank kläglich zurück auf die Liege. Ich kann nicht. Doch das Stechen verklang zu einem dumpfen Pochen, bloß der saure Geschmack in ihrem Mund hielt sich hartnäckig.

Der Raum war spärlich eingerichtet, doch sie kannte den Geruch. Kräuter und Salben. Wie bin ich hier gelandet? Aber Aloisia … ist nicht hier. Duanas Blick wanderte weiter durch den Raum, bis sie ihren Gambeson über der Lehne des einzigen Stuhls nahe des kleinen Fensters entdeckte. Wie lange war ich weg?

Sie löste sich vom Anblick des dunklen Flecks, der sich über die linke Vorderseite des Gambesons zog. An der Tür lehnte Noris. Es war seltsam, wie ähnlich er Norbert sah. Aber sein Wesen war ihm nicht ähnlich. Vielleicht war es das Licht der kleinen, hellen Lampen an der Decke. Jegliches Gefühl von Vertrautheit verpuffte, je länger sie ihn beobachtete. Schweigend musterte er sie. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er reglos an der Tür.

Die Stille war Duana recht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und so schwieg auch sie. Unter seinem ungerührten, wachsamen Blick mühte sie sich weiter ab, bis sie schließlich halbwegs aufrecht saß. Zitternd, Schweiß auf der Stirn. Gleich. Nur noch ein bisschen.

Erst als die Tür sich öffnete, regte Noris sich und trat zur Seite. Hinter ihm erschien eine kleine, gedrungene Gestalt. Das Gesicht des Mannes verschwand hinter dicken, halbrunden Brillengläsern, die viel zu weit vorn auf der Nasenspitze saßen. Auf dem Kopf trug er die weiße Haube der Heilenden.

»Ah, ich sehe, Ihr seid bereits wach.« Die leise Stimme des Mannes klang seltsam weich. Er hielt seine Hände vor dem Bauch gefaltet, bedachte sie mit kritischem Blick. »Nun, dann werde ich wohl mit der Behandlung fortfahren. Die Blutung ist schon gestillt.« Vor dem Waschbecken in der rechten Ecke des Raums hielt er inne, schob die viel zu weiten, langen Ärmel seines grauen Hemdes hoch und wusch sich ausgiebig die Hände. »Dennoch werde ich die Wunde oberflächlich nähen müssen. Mit ein wenig Glück wird bloß eine kleine Narbe sichtbar bleiben.«

Skeptisch beäugte Duana die Nadel in seiner Hand. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass ihr eine Wunde genäht werden musste, doch jedes Mal wünschte sie sich, wenigstens das Bild der Nadel aus ihren Gedanken verdrängen zu können.

»Wo ist er?« Mühsam presste Duana die Worte hervor, die Augenbrauen zusammengezogen.

»Sicher verwahrt.« Noris lehnte wieder an der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. Seinem Gesicht fehlte die schelmische Freundlichkeit, die Norbert immer ausgestrahlt hatte. Vielleicht wurde der gute Humor für Norbert verbraucht und für die restliche Verwandtschaft blieb nur grimmiger Ernst. »Edin wird mehr wissen, sobald sie zurück ist.«

»Hm.« Duana biss die Zähne zusammen. Verdrängte das Gefühl der Nadel, die der Heiler mit flinken Stichen durch ihre Haut stach. Die Salbe brannte mehr, als die Stiche schmerzten. Ihr war immer noch schlecht.

»Es ist erstaunlich, dass sie vom Gift nicht gänzlich gelähmt wurde«, murmelte der Heiler.

»Gift?« Noris löste sich von der Tür und trat näher. Sein Tonfall war noch immer brummig und geradezu abweisend. »Das erklärt die Übelkeit.«

»Und das Fieber. Der Rest kommt vom Schock.« Der Heiler verband ihre Wunde. »Ihr habt Glück – ich weiß nicht, ob ich das passende Gegengift schnell genug zur Hand gehabt hätte. Dankt den Göttern, dass sie noch lebt.«

Duana schwieg und mied seinen Blick. Aber es waren nicht die Götter, die mich gerettet haben. Ich war tot.

»Ihr solltet besser liegen bleiben. Ich kann nicht garantieren, dass die Naht hält, wenn Ihr nicht ruht«, fuhr er fort. Der strenge Geruch der Salbe brannte in ihrer Nase. Je mehr Duana versuchte, das kratzende Gefühl in ihrem Hals zu unterdrücken, desto schlimmer wurde der Hustenreiz.

»Wie lange?«, krächzend zwängte sie die Worte hervor.

Der Heiler hob den Kopf und musterte sie eindringlich. »Euer Leben hängt davon ab, dass Ihr Euch erholt. Ruht Ihr zu wenig, ist die Gefahr einer Entzündung oder anderer Komplikationen nicht auszuschließen. Zwei Wochen Bettruhe und die Wunde muss jeden Tag kontrolliert werden. Oder wollt ihr herausfinden, wie es sich an einer Blutvergiftung stirbt? Dann wäre meine heutige Arbeit überflüssig.« Über den Rand seiner Brille starrte er sie eindringlich an. »Auch wenn ich das Gefühl habe, Ihr werdet Euch nicht an meine Ratschläge halten. Ich weiß nicht, wie schnell das restliche Gift abgebaut wird. Ob es abgebaut wird. Ihr werdet also nicht unbedingt die Wahl haben, Herzogin.«

Duana erwiderte seinen Blick schweigend, die Zähne fest aufeinandergebissen. Unangenehm lange starrten sie einander an, dann sah er schließlich zur Seite. »Ihr mögt Eure Gesundheit für eine Selbstverständlichkeit halten.« Er straffte die Schultern. »Aber das ist sie nicht. Seid froh, dass Ihr lebt. Und gebt Eurem Körper die Chance, zu heilen, bevor Ihr ihn erneuter Gefahr aussetzt.« Er trat zurück. »Entschuldigt mich. Ich habe noch weitere Patienten, die versorgt werden müssen.«

Duana nickte langsam. Zwei Wochen. So lange kann ich nicht warten oder gar hierbleiben. Ihre Arme zitterten vor Anstrengung, als sie sich endlich gänzlich aufgerichtet hatte. Sie war völlig durchgeschwitzt. Die Vorstellung, die wenigen Schritte bis zur Tür unter ähnlichen Mühen bewältigen zu müssen … Duana seufzte. »Vielen Dank für Eure Hilfe«, presste sie leise hervor.

»Selbstverständlich.« Die langen Ärmel des Heilers rutschten herunter, sodass seine Hände gänzlich verborgen waren, und er eilte zur Tür hinaus.

Bevor diese hinter ihm zufallen konnte, erschien eine schmale Hand zwischen Tür und Türrahmen. Der Hand folgte die zierliche Gestalt der Magisterin Edin. Sie trug noch immer das gleiche, dunkelgrüne Festtagskleid. Wie viel Zeit ist seit meinem Nicht-Tod wohl vergangen? Einige Minuten? Stunden?

»Oh, Ihr seid wach! Wunderbar.« Edin warf Duana ein kurzes Lächeln zu, ehe sie sich an Noris wandte. »Das Feuer ist unter Kontrolle. Keine Fatalitäten.« Erneut sprang ihr Blick kurz zu Duana. »Zum Glück.«

Noris seufzte und die brummelige Kälte, mit der er Duana bisher begegnet war, schien für einen kurzen Moment wegzutauen. Wie von selbst hatte er sich zwischen Edin und der Tür positioniert, sein Blick ruhte auf der Magisterin. »Gut. Wir sind hier fertig. Zwei Wochen Bettruhe für die Herzogin.« Er sah durch den Türspalt in den Gang, ehe er sich zu Edin drehte. »Was ist mit den Angreifern?«

Edins Lächeln verschwand. Mit gerunzelter Stirn sah sie zu Boden, spielte an dem goldenen Siegelring an ihrem Finger. »Verwahrt, beide. Kein Widerstand, soweit ich informiert wurde. Der Rat wurde bereits einberufen. Es soll noch am heutigen Tag über die Konsequenzen entschieden werden.«

Duana inne. »Beide?« Ihre Frage verklang leiser, als sie es gewollt hatte. Doch die darauffolgende Stille war laut genug.

Als Edin sich entschlossen zu ihr drehte, war das Lächeln durch einen bohrenden, kritischen Blick ersetzt worden. »Ja, beide.« Sie hörte auf, den Siegelring hin und her zu drehen. »Der Mann, der Euch abgestochen hat. Und die Magierin, die die Stadt in Brand gesetzt hat. Die durch all unsere Zauber und Sicherheitsmaßnahmen hindurch ins Zentrum der Feierlichkeiten gelangt ist.«

Nun war es Duana, die den Blickkontakt brach. »Oh.«

»Oh, trifft es ganz gut. Ich vermute, Euch sind beide bekannt?« Die Äußerung war kein Vorwurf, aber auch nicht wirklich eine Frage. Vielmehr eine Feststellung, höflich verpackt. »Ich bin froh, dass Ihr nicht gestorben seid. Wirklich. Aber vor allem brauchen wir Eure Hilfe, um dieses Chaos zu sortieren.«

Duana glaubte nicht, dass die Magisterin sich wirklich über ihr Überleben freute. Wohl eher, dass die Geschehnisse nicht noch komplizierter sind. Etwas unbeholfen stand sie auf und versuchte zu ignorieren, dass sich der Boden anfühlte, als wäre er lebendig.

»Sie ist keine Gefahr. Die … Magierin.« Sie wollte mir helfen. Wie sie es auf Burg Norddal behauptet hat. Duana wollte an ihre eigenen Worte glauben. Edins Augenbrauen zuckten leicht.

Sie glaubt mir nicht.

»Sie hat die halbe Stadt in Brand gesetzt.« Die Magisterin hob die Hände und zwischen ihr und Duana erschien ein halbdurchsichtiges Abbild der Markthalle. Das Dachgebälk war bloß ein rußiger Überrest einer Idee. »Die Entscheidung, ob sie eine Gefahr ist, liegt nicht bei Euch. Aber die Wache …« Sie zog das Wort in die Länge, als wüsste sie nicht, welche Art der Ablehnung sie am ehesten ausdrücken wollte. »Was mit ihm geschieht, das ist Eure Entscheidung. Sobald der Rat entschieden hat, ihn in die Verantwortung Pyriens zu übergeben. Schließlich hat er versucht, Euch umzubringen. Nach allem, was wir wissen, hat sie zumindest versucht, Euer Leben zu retten.«

Das magische Bild zwischen den beiden Frauen verschwamm. Stattdessen erschien ein Anblick, der Duana leider sehr vertraut war. Doch statt Norberts Abbild kniete neben ihr eine andere Gestalt, umrahmt von hellen, blauweißen Blitzen. Es war die gleiche Art von Blitzen, die sie vor wenigen Tagen auf den verschneiten Innenhof von Burg Norddal getrieben hatte. Damals aus Neugierde. Jetzt blieb ihr bloß ein vages Gefühl von Angst und Schmerz, dass sich mit einer vertrauten Kälte durch ihren Körper zog.

Das Bild verschwand und mit ihm die Härte aus Edins Gesicht. Eine sachliche Ruhe legte sich auf ihre Züge. »Wir sollten zum Hauptgebäude zurückkehren. Wenn das für Euch möglich ist.«

Kaum sprach sie die Worte aus, trat Noris vor und griff Duanas Gambeson von der Stuhllehne. »Es ist noch immer Winter.« Er hielt ihr das Kleidungsstück hin. »Auch wenn der Weg nicht weit ist.«

Die Zähne fest aufeinandergebissen, zog Duana sich an. Eine Katastrophe. Ich besuche einmal Feierlichkeiten, und es endet in einer Katastrophe. Natürlich.

 

2. Hinter den Toren Grendors

Warmes, nasses Blut unter ihren Händen. Dumpf klingelte der Donner, der Nachhall der Blitzschläge, in Seras Ohren. Kalte, stählerne Pranken zerrten sie vom Boden, rissen sie fort von Duanas Körper. Neuer Schmerz flammte durch ihre Arme, man zog und zerrte an ihr, bis sie zu Boden ging. Lebst du wirklich? Wag es, Duana, mich in dieser Misere zu verlassen. Steh gefälligst auf!

Ein Mann in einem dunkelgrünen Wams schob sich vor sie, ein Schwert am Waffengurt. Es war einer der Wachmänner Grendors. Das Piepsen und Klingeln in ihren Ohren wollte nicht aufhören. Seine Stimme drang dumpf und verzerrt zu ihr durch. Sie starrte an ihm vorbei in das aufbrandende Chaos.

»Ich versteh dich nicht«, krächzte sie. Räusperte sich und kämpfte gegen das Kratzen in ihrer Kehle. »Es brennt.«

Er schüttelte den Kopf, antwortete etwas, und die groben Hände an ihren Armen zerrten Sera mit. Rückwärts stolperte sie hinterher, raus aus der Markthalle.

Die ersten Schritte im Schnee waren schmerzhaft, bis ihre Socken durchnässt und ihre Füße taub waren. Das hellrotgelbe Flackern der Flammen erhellte die Nacht und begleitete sie, bis die dunklen Mauern der Festung der Magister sie verschluckten.

Mit der Kälte verklang das Schrillen in ihren Ohren, und die plötzliche Ruhe in der Festung schlang sich erdrückend um Seras Herz. Und langsam, mit dem Echo ihrer nassen Füße auf dem harten Stein, wuchs eine neue Gewissheit in ihrer Brust: Sie hatte die Kontrolle verloren. Nicht nur über ihre Magie, nein, über ihr Leben. Und sie würde jeden Preis zahlen, den es brauchte, um das wieder zu ändern. Freiheit ist eine Illusion, sie hält mich in ihren grausamen Klauen gefangen, wie einen Falter im Licht. Vielleicht verbrenne ich an dieser Hoffnung, vielleicht sterbe ich daran. Ich stehle mir Zukunft, bis nichts mehr davon übrig ist.

Die zehn Wachen trieben sie voran, als sei sie störrisches Vieh, dabei wehrte sie sich nicht. Schweigend umringten sie Sera, stapften eilig tiefer hinein in die spärlich beleuchteten Korridore aus dunklem Stein. Bloß ein leichtes, silbriges Flirren hing an den Wänden und Decken. Ein Hauch Magie. Wie es hier wohl aussieht, wenn man nicht nachts zum Kerker geführt wird?

Lautlos glitt die eiserne Gittertür zur Seite. Sera verdrehte die Augen. Natürlich sind die verdammten Türen magisch. Überall auf diesem Kontinent muss man sich verstecken, wenn man Magie wirken kann, aber hier ist man sich zu fein, um Türen selbst zu öffnen. Ob es Hochmut oder Ignoranz der Magister ist? Oh, wie gern würde ich diese Mechanismen mit meiner Magie zerreißen, bis nichts von ihnen übrig bleibt.

Vor ihnen erstreckte sich ein breiter Gang, Zellentüren zu beiden Seiten. Obwohl sie keine Lichtquellen entdecken konnte, war es erstaunlich hell; als würde die Sonne an einem tristen Herbsttag durch fahle Wolken scheinen. Seras kurzes Zögern wurde sogleich mit einem Stoß zwischen die Schulterblätter quittiert.

»Verzeiht«, zischte sie. »Das Ambiente hat mich wohl überwältigt.« Sie folgte den Wachen vor ihr, bis diese vor einer der Zellen stehen blieben. Wider Erwarten schwang diese Tür nicht einfach auf. Die vorderste Wache berührte das engmaschige Gitter mit beiden Händen, bis es schwach leuchtete.

»Ist das nicht riskant? Magische Schlösser kann man knacken, oder irre ich mich?« Ihre Frage blieb unbeantwortet. Stattdessen trat die Wache, eine ältere Frau mit ernstem Blick, zur Seite und deutete in die Zelle hinein.

»Macht es Euch bequem.« Ihre Worte waren ruhig und ohne Spott, ihr Gesicht reglos und unberührt. Sera erwiderte ihren Blick, starrte für einen Moment, bis sie fand, wonach sie suchte. Angst.

»Das wird sich wohl etwas schwierig gestalten.« Sie bewegte ihre Hände, die noch immer hinter ihrem Rücken gefesselt waren. Prickelnd zog das wohlvertraute Kribbeln der Magie in ihre Fingerspitzen. Das Metall der Handschellen klimperte leise. Doch die Wache veränderte ihre Haltung nicht. »Dürft ihr eigentlich auch mitfeiern? Einen oder gar zwei Happen der Köstlichkeiten probieren, hier beim Fest? Ich mein, es soll ja für alle sein. Aber irgendwer muss wohl in den sauren Apfel beißen – nun, ihr dann wohl nicht.« Sie grinste entschuldigend. Die Struktur des Metalls veränderte sich unter ihren Fingern.

Die Frau seufzte hörbar, den Arm noch immer in Richtung der Zelle ausgestreckt. »Rein da.«

»Immer mit der Ruhe, meine Liebe.« Sera machte einen langsamen Schritt nach vorn zur Zellentür. »Ein bisschen Respekt für das Fest der Besinnlichkeit, wenn ich bitten darf!« Sie schüttelte tadelnd den Kopf. Der Druck der Handschellen ließ nach. »Ich verstehe schon.« Scheppernd fielen die Handschellen zu Boden. Entschuldigend hob Sera die Hände vor sich. »Das war eine überflüssige Frage.«

Die Handschellen klirrten noch, da entbrannte bereits Chaos. Ein fester Stoß zwischen die Schulterblätter schickte sie zu Boden. Schmerz schoss dumpf in Seras Knie und Hände. Das Geräusch mehrerer, gezogener Schwertklingen wurde nur von Seras heiserem Lachen übertönt. Stiefel auf ihrem Rücken, Hände an ihren eigenen, und der kalte Steinboden grub sich in ihr Kinn, in ihre Knie.

Sera starrte nach oben zu der Wachfrau, ihr Gesicht zu Boden gedrückt. Langsam beugte sich diese herab, hob die Handschellen auf und musterte sie eindringlich.

»Beeindruckend. So schnell ist noch niemand in den Luxus unserer Maßnahmen geraten«, murmelte sie und seufzte schließlich. Sie wirkte nicht verärgert, und der Anflug von Angst, den Sera in ihrem Blick erahnt hatte, war verflogen. Mit ruhigen, entschlossenen Griffen zog sie zwei goldene, gravierte Armreife aus einem Lederbeutel an ihrem Gürtel. »Gebt mir ihre Hände. Und haltet sie fest.« Die anderen Wachen rissen an Seras Armen, drehten sie so hin und her, bis ihre Hände vor ihrem Oberkörper fixiert waren. Die Frau streifte den einen Armreif über Seras linke, den anderen über ihre rechte Hand. Das Metall war warm und schrumpfte, bis es eng anlag, und eine kurze Kette erschien für einen Augenblick zwischen den beiden Ringen. Dann sahen sie wieder aus, wie simpler Schmuck an ihren Handgelenken.

»Spielverderberin«, murrte Sera und unterdrückte ein Keuchen. Je länger das Metall ihre Handgelenke berührte, desto stärker wurde das Ziehen. Es war ein Brennen, als hätte sie in Brennnesseln gefasst und die kleinen Bläschen aufgekratzt.

Ein weiteres Mal wurde sie in dieser Nacht grob vom Boden hochgezogen, bis sie auf wackeligen Beinen stand. Erneut trafen sich die Blicke Seras und der Wachfrau.

»Einen angenehmen Aufenthalt. Keine Sorge. Ich bin gespannt, wie lange du versuchen möchtest, die Tür ohne Magie aufzubrechen.« Es war beinahe ein Lächeln, das sich kurz auf das Gesicht der Frau stahl, ehe Sera durch die Tür in die Zelle gestoßen wurde.

Scheppernd knallte die Gittertür hinter ihr ins Schloss. Sera zuckte zusammen, widerstand dem Drang, sich umzudrehen. Auf der Pritsche vor ihr lag bloß eine Wolldecke, die Wände waren aus glattem Stein geformt. So glatt, dass sie nicht erkennen konnte, wo die einzelnen Steine begannen und endeten.

Ob sie auch hierfür Magie genutzt haben? Abfällig schnaufte sie. Stieß mit dem Fuß gegen die hölzerne Pritsche. Ihre Socke hinterließ einen nassen Abdruck. Die Kälte hatte sie eingeholt, und mit steifen Fingern mühte sie sich ab, das klamme Kleidungsstück loszuwerden. Wenn ich schon hier versauern werde, muss ich nicht auch noch krank werden. Achtlos warf sie die Socken zu Boden und ließ sich auf die Pritsche fallen. Die Beine zur Brust gezogen, mühte sie sich ab, die Wolldecke über ihre Schultern zu ziehen, und starrte zur Tür. Das Licht im Gang wurde schwächer und schließlich saß sie in völliger Dunkelheit.

Ich hätte die Wachen nicht provozieren sollen. Aber es hat sich gut angefühlt. Kontrolle, für einen winzigen Augenblick. Sera legte ihren Kopf auf den Knien ab. Ich verhalte mich wie ein wildes Tier, das sich selbst in Ketten gelegt hat. Ein Monster. Sie schnaufte leise. Es ändert nichts. Schwere legte sich um ihr Herz und zog ihre Gedanken erneut hinab in die lichtlose Dunkelheit, fort von Hoffnung und Zuversicht.

Wenn ich Duana nicht retten kann, Cahir nicht retten kann …

Wie viele Namen muss ich dir geben, hm? Was hab ich noch, was am Ende wirklich übrig bleibt von mir? Asche im Wind, und das Vergessen.

 

3. (Un)ratsame Wege

Edin drehte sich zu Duana um. Sie standen vorm Ratssaal, und die vielen Lichtquellen erleuchteten die Magisterin auf eine geradezu unnatürliche Art und Weise. »Ich kann im Rat nur für mich selbst sprechen, Herzogin. Die Gemüter mancher Magister mögen eitel und empfindlich sein, aber sie sind nicht grundlos an ihre Position gelangt. Ich weiß, dass Ihr noble Intentionen habt – das gilt nicht für alle Anwesenden.« Sie schenkte Duana ein letztes, kurzes Lächeln, ehe die Tür vor ihr aufschwang. Lautlos glitt die hölzerne Tür zur Seite.

Der Saal war so groß, dass er sich zu allen Seiten im Dunkeln verlor. Nur die Pulte der Magister, im Halbkreis im Zentrum des Saals aufgestellt, waren von hellen, schwebenden Lampen an der Decke erleuchtet. Edin war bereits an ihrem Pult angelangt, als Duana schließlich langsam hinter dem einzelnen, schlichten Stuhl zu stehen kam, der den Pulten gegenüberstand.

»Herzogin Duana.« Obwohl Edin leise sprach, trug sich ihre Stimme weit durch den Raum. »Der Rat der Magister dankt Euch für Eure Zeit.« Sie setzte sich und eine ältere Magisterin erhob die Stimme.

»Wir erbitten von Euch Auskunft über die Geschehnisse der vergangenen Nacht, Herzogin.« Ihre Stimme klang alt und rau. »Wir nehmen es sehr ernst, wenn die Gesetze unserer Stadt gebrochen werden. Und es scheint als wären zwei Eurer … Begleiter das Zentrum der Unruhen, die unsere Feierlichkeiten gestört haben. Die Frage nach den Konsequenzen für ein solches Verbrechen bedarf dringender Klärung.« Magisterin Unna neigte den Kopf und seufzte leise. »Der Rat der Zunft würde es sehr begrüßen, die Gefangenen dem Urteil des Richthofes Grendors zu übergeben.«

Duana verlagerte ihr Gewicht vom Linken aufs rechte Bein. Der Stich schmerzte bereits wieder. Sie atmete tief durch.

Freundlich bleiben.

»Wie ich mit meinen Wachen verfahre, mit Verrätern meines Landes, unterliegt nicht Eurem Urteil.« Sie ließ ihren Blick über die Ratsmitglieder schweifen. Allesamt waren sie schick hergemacht, die Mäntel und Kragen bestückt mit Broschen und feinen Stickereien. Bisher hatte sie sich in ihrer Position als Herrscherin nicht lange daran aufgehalten, was andere von ihr hielten. Doch in hell erleuchteten Versammlungssaal der Magister war sie sich plötzlich sehr bewusst, welches Bild sie abgab. Das verschwitze, noch immer teils rußverschmierte Gesicht, die losen Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Der getrocknete, dunkle Blutfleck auf ihrem Gambeson. »Ebenso, wie ich mit Begleitern verfahre, die meiner Aufsicht unterliegen.«

Sie konnte die Blicke der Magister auf sich spüren, wie tausende kleine Nadelstiche, die jeden Winkel ihres Seins inspizierten. Die der Wachen, die hinter jedem der Magister verharrten. Fühlt ihr euch jetzt mächtig? Erhaben, an euren kleinen Pulten in diesem lächerlichen Saal?

»So nennt ihr das also, wenn ihr Personen in unsere Stadt bringt, die – nach allem, was wir wissen – nicht nur in den Angriff auf Eure Person auf Burg Norddal verwickelt sind, sondern auch noch Magie beherrschen? Ein Risiko, dass Ihr offensichtlich nicht gut einschätzen könnt.« Die Stimme des Magisters zerschnitt die Stille. Er hatte sich nach vorn gelehnt, die hageren Hände gefaltet auf seinem Pult, und starrte Duana mit eindringlichem Blick aus kleinen Augen an.

»Magister Dremed.« Duana versuchte sich nicht einmal an einem Lächeln, als sie sich zu ihm drehte. »Erinnert mich daran, seit wann interessiert sich Grendor für die Belange meines Reiches? Wart Ihr es nicht, die nach dem letzten Krieg dafür plädierten, dass die Zunft der Magister sich in aller Zukunft der absoluten Neutralität verschreiben sollten? Oder ist Euch dieses Detail vor lauter Sorge um Eure eigene Zukunft entfallen?«

»Die Neutralität Grendors wurde nicht aus Willkür entschieden«, mischte sich Magisterin Unna ein. Das Gesicht der alten Frau war von Falten und tiefen Furchen gezeichnet. In ihrem Blick lag keine Feindseligkeit. Höchstens ein Anflug von freundlichem Tadel. »Ich verstehe, dass die Belange Pyriens Eurer Verantwortung unterliegen. Wie Ihr in Eurem Land verfahrt, soll nicht unser heutiges Thema sein. Jedoch ist die Sicherheit Grendors – und die Sicherheit unserer Gäste – ein hohes Gut, dass wir nur ungern in Gefahr sehen wollen. Ich bin mir sicher, die Sorgen des Magisters lassen sich besänftigen. Schließlich ist außer der Herzogin kein Gast zu Schaden gekommen.« Sie warf Dremed einen kurzen Blick zu. Grimmig funkelte er sie an, ehe er sich schließlich zurücklehnte und seine Hände abwehrend hob. Unna nickte leicht. »Ich möchte mich bei Euch entschuldigen, Herzogin. Auch Eure Sicherheit sollte während der Feierlichkeiten gewährleistet sein. Es freut mich, zu sehen, dass Ihr den Umständen entsprechend wohlauf seid.«

Duana erwiderte den Blick der Magisterin. Nach einem Moment der Stille senkte sie den Blick und seufzte leise. »Eure Sorge um mein Wohl ehrt mich, Magisterin. Es war nie meine Absicht, die Feierlichkeiten mit solchen … Komplikationen zu stören.« Ein schmales, grimmiges Lächeln zierte ihre Lippen, als sie den Blick erneut hob und die Anwesenden eindringlich musterte. »Ich habe Grund zur Annahme, dass mein Bruder, Prinz Cahir von Pyrien, vor bald einer Woche entführt wurde. Ich verstehe, dass der Frieden zwischen Pyrien und den Südstädten in den letzten Monaten brüchig war. Es wäre eine Schande, wenn die Unruhen zu vorschnellen Anschuldigungen führen würden.« Sie hielt inne, konnte ihren rasenden Herzschlag spüren, das kalte Kribbeln, dass sich durch ihren Körper zog. »Ich erbitte die Fähigkeiten der Magister, um Auskunft über den Verbleib meines Bruders zu erhalten. Welche Konsequenz auch immer daraus erfolgen mag, soll dem Rat nicht zulasten getragen werden.« Ihr Blick war bei Magisterin Edin angekommen. Edins Gesichtsausdruck war neutral, ehe Dremed erneut sein Schweigen brach. Ein leichtes, genervtes Zucken ihrer Mundwinkel, dann hatte die Magisterin sich wieder unter Kontrolle.

»Ihr wagt es, dem Rat der Zunft zu drohen?« Seine dünne Stimme wurde schrill. Polternd rutschte sein Stuhl zurück, als er aufsprang. »Und im gleichen Atemzug nach unserer Unterstützung zu fragen? Ihr seid nicht bei Sinnen!«

»Was nützt mir Eure Sorge, Magister? Haben mich Eure bemerkenswerten Zauberkünste davor bewahrt, fast zu sterben?« Auch Duana war lauter geworden. »Euer Rat behauptet, aus den Mächtigsten aller Magier zu bestehen. Ihr habt eine Abteilung, die sich mit Vorhersagen befasst. Aber diesen offensichtlichen Anschlag habt ihr zufällig übersehen? Wo ist Eure Macht, wenn sie Euch nicht schützen kann? Wenn sie Eure wohlgeschätzten Gäste nicht vor Unheil bewahrt?« Duana senkte die Stimme, den Kopf leicht geneigt. »Oder heißt all dies, dass Ihr nicht handeln würdet, um Verbrechen zu verhindern, von denen ihr wisst?« Das Schweigen war ihr Antwort genug.

»Zorn wird Euren Bruder nicht retten können.« Edin senkte den Blick. Sie spielte mit dem Siegelring an ihrer Hand, ehe sie sich aufrichtete. Alle Blicke hafteten an ihr, als sie ihren Platz verließ und vor ihr Pult trat. »Es ist ein schwieriges Unterfangen, die genaue Position einer Person ausfindig zu machen. Sehende Magie ist nicht so eindeutig, wie geschriebenes Wort oder das, was wir selbst erleben können. Es gibt keine Garantie, dass man den Prinzen Pyriens überhaupt aufspüren kann. Wir vertreten die Zunft der Magister, das mag stimmen. Aber wir sind bei weitem nicht die Einzigen, die über ein Verständnis von Magie verfügen. Auch wenn das manche hier«, sie warf einen Blick in Dremeds Richtung, »gerne vergessen wollen.«

»Ich sehe, Eure Loyalität wird ein weiteres Mal von Euren emotionalen Verfehlungen getrübt, Magisterin«, fauchte Dremed, seine erhobenen Hände bebten vor Wut. »Wieso seid ihr so erpicht darauf, Euren Sitz zu verlieren?«

»Wieso habt Ihr so viel Angst vor der Wahrheit, Dremed?«, fragte Edin beiläufig und wandte sich zur Magisterin Unna. »Wir haben Neutralität geschworen, Magisterin. Nicht Untätigkeit.«

Dremed setzte an, doch während er noch über seine wuteifrigen Worte stolperte, legte sich Stille über den Saal. Magister Kraviz, der älteste in der Runde, hatte eine Hand gehoben. Umständlich erhob er sich von seinem Stuhl. Als er schließlich stand, musterte er Duana für einen Moment, seufzte und schüttelte langsam den Kopf.

»Unsere Macht ist endlich.« Seine Worte waren unerwartet laut und klar. »Wir wissen nicht alles, was in der Welt geschieht, Herzogin. Die Zukunft wird nicht besser, wenn mehr Blut vergossen wird. Auch wenn Ihr den Rat aus der Verantwortung nehmen wollt, sind es nicht Eure Hände, die das Rad des Schicksals ins Rollen bringen. Wir haben Neutralität geschworen, als wir unseren Weg der Magie verschrieben haben. Ihr mögt zu jung sein, um die vergangenen Kriege zu erinnern. Seid froh drum. Gewalt führt Euch nicht zum Frieden. Ganz gleich, wie verständlich Eure Motivation sein mag.«

Duana hielt seinem Blick stand. Die Wut in ihrem Inneren war nicht abgeflacht. Seine leeren Phrasen waren wie der Wind, der die Glut erneut entflammte. Ihre Stimme zitterte, als sie ihm leise antwortete. »Meine Herrschaft begann mit unverschuldetem Blutvergießen. Ich habe geschworen, dem ein Ende zu setzen. Leben zu bewahren. Und wenn es meins kostet, sei es drum. Ihr Magister versteckt Euch hier im Norden, fernab der Welt. Habt ihr das Blut gesehen, das im Süden vergossen wird? Habt ihr den Verrat gerochen, dessen faulige Süße vom Südwesten her aufzieht? Ihr habt Euer Leben der Neutralität geschworen, schön. Nur zu. Lasst es Euch nicht nehmen, schweigend dabei zuzusehen, wie die Zukunft im Blut meiner Familie ertrinkt. Was Pyrien tut, soll Euch nicht weiter beschäftigen.«

Ohne die anderen Magister eines weiteren Blicks zu würdigen, machte sie auf dem Absatz kehrt. An der Tür hielt sie an. Ohne sich umzudrehen, ergänzte sie: »Ich werde morgen abreisen. Mitsamt aller, die mich nach Grendor begleitet haben.«

Das Schweigen der Magister folgte ihr aus dem Saal, verschluckte das leise Echo ihrer Schritte auf dem harten Grund.

4. Der Grad der Vernunft

»Ich hoffe, Ihr seid zufrieden.« Edin starrte Dremed an. »Noch immer schützt Ihr bloß Euch selbst mit Eurer Magie.«

Dremed schnaufte verächtlich und trat vor sie. »Wenn Euch das Volk Pyriens so am Herzen liegt, müsst Ihr nur etwas sagen. Es gibt genügend fähige Magister, die Euren Ratssitz übernehmen würden.«

»Wenn wir nach Kompetenzen aussuchen, sagt mir, was macht Ihr in diesem Saal? Vielleicht solltet Ihr Euch lieber einer neuen Verschriftlichung der gleichen, nutzlosen Zauber widmen, die ihre Schutzwirkung so blendend vorgeführt haben in den vergangenen Stunden.« Sie trat vor, näher heran, bis kaum eine Handbreit Platz zwischen ihren Gesichtern war. »Aber Ihr seid ja wohlauf, also gibt es keinen Grund, diese Schwächen zu betrachten, nicht wahr?«

Dremed bebte. Keuchte vor Wut, erhob die Hand-

»Setzen.« Ein Wort Unnas genügte, um ihn innehalten zu lassen. »Beide.«. Mit einem Seufzen wandte sich Edin ab und ließ auf ihren Stuhl fallen. Den Kopf in den Nacken gelegt starrte sie zur Decke. Sie wusste, dass die Entscheidung des Rats schon gefallen war, bevor die Herzogin den Mund aufgemacht hatte.

»Euer Verhalten ist enttäuschend, Magister«, fuhr Unna fort. »Ich erwarte, dass ihr Euch zu benehmen wisst, Edin und Dremed. Wir haben noch einen wichtigen Punkt auf unserer Tagesordnung, über den wir beraten und entscheiden müssen. Gemeinsam. Klärt Eure privaten Differenzen außerhalb unserer Sitzungszeiten.«

Edin mied ihren Blick. Stattdessen musterte sie Rafa und Fiora. Abwesend spielte die Magisterin mit dem Haarschmuck, der in ihren Zopf eingeflochten war. Rafa hingegen erwiderte ihren Blick, die Augenbrauen fragend hochgezogen und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Die Neutralität der Magister war eine Idee, ein Versprechen. Ein Grund dafür, dass die Magister ihre Familiennamen ablegten, war das Zugeständnis, damit auch ihre Loyalität der Heimatregion gegenüber abzulegen. Aber es war nur eine Idee. Spiel das Spiel, wenn du im Rat sein willst, Edin. Es ist keine Lüge, wenn du sie wirklich glaubst.

Unna erhob erneut die Stimme. »Widmen wir uns dem nächsten Punkt. Bring sie rein.« Sie deutete vage in Richtung der Tür. Die beiden Wachen an der Tür nickten schweigend und verschwanden durch die schwere Holztür. Edin betrachtete gedankenverloren, wie sich das Licht der Deckenlampen rot in den Facetten ihres Siegelrings brach. Wozu haben wir unsere Ränge, wenn keiner sich an diese Ordnung und Regeln hält?

Magister Rafa, der sich bisher ähnlich schweigsam gezeigt hatte wie Fiora, rutschte laut hörbar mit seinem Stuhl nach vorn. Schließlich war er es gewesen, der darauf bestanden hatte, das Anliegen dem Rat vorzuführen.

Lautlos schwang die Tür auf. Zwischen den Wachen wirkte die Gefangene klein. Sie hatte sich nicht gewehrt, nicht versucht zu fliehen. Die einfachen Handschellen war sie laut der Wachtmeisterin binnen weniger Sekunden losgeworden, vor den Augen aller Wachen. Jetzt trug sie verzauberte Ketten, die ihr den Zugang zur Magie erschweren sollten. Eigentlich waren sie sinnlos. Wenn sie sich tatsächlich teleportieren konnte, war es fraglich, ob die Verzauberungen überhaupt ausreichten. Dann ist sie womöglich mächtiger als wir alle zusammen; hoffen wir, dass sie das nicht weiß.

Sie trug einfache Kleidung, aber keine Schuhe. Edin kannte ihren Namen nicht. Die junge Frau hatte nicht viel gesagt, seitdem die Wachen der Magister sie von der verwundeten Herzogin weggezerrt hatten. Doch in ihrem Gesicht war nichts mehr von der entsetzten Panik zu sehen, die sich tief in Edins Gedächtnis eingebrannt hatte. Die kinnlangen Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich auf den Stuhl fallen ließ, den Herzogin Duana verweigert hatte. Nach vorn gebeugt saß sie da, die Hände ruhten in ihrem Schoß, während sie die Anwesenden ohne Scheu anstarrte.

»Namenlose Magierin.« Kraviz sah nur kurz von seinen Papieren auf, die er in den letzten Minuten feinsäuberlich auf seinem Pult sortiert hatte. »Wisst Ihr, weshalb man Euch vor den Rat der Zunft der Magister führt?«

Langsam hob sie den Kopf, betrachtete ihn und neigte den Kopf zur Seite. »Habt ihr Angst um Eure Macht, Magister?« Ihre Stimme war tiefer und rauer, als Edin erwartet hatte. Aber in ihrer Frage fand sie nichts als Neugier. Neugier – und Belustigung.

Kraviz ignorierte ihre Frage. »Versteht Ihr, dass Ihr eine Veranstaltung mit der höchsten Sicherheitsstufe, die uns Magistern möglich ist, unbefugt betreten habt?«

»Ich wusste nicht, dass Ihr Hausfriedensbruch so ernst nehmt.« Mit einem spöttischen Grinsen auf den Lippen lehnte sie sich zurück. »Aber betreten, hm. Das ist wohl Ansichtssache, nicht wahr? Vielleicht solltet Ihr an Euren Sicherheitsmaßnahmen arbeiten.«

»Also bestätigt Ihr, dass ihr Euch mittels Magie den Zutritt verschafft habt?«, unterbrach Dremed die Befragung. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er die junge Frau in der Mitte des Saals an. Für einen Moment erwiderte sie seinen Blick, das spöttische Lächeln noch immer auf den Lippen. Edin war sich sicher, ein helles Flackern in ihren Augen zu sehen.

»Ich bestätige, dass ich hier bin«, sagte sie schließlich und hob die Hände. »Darf ich diesen Schmuck eigentlich behalten oder wollt ihr den zurückhaben?«

»Magister Kraviz, gestattet Ihr?« Rafa hatte sich erhoben und wartete, bis Kraviz nickte. »Teleportation war bisher nur eine Theorie. Eine umstrittene Idee, dass man sich mithilfe von Magie frei durch Raum, ja, auch Zeit bewegen kann! Dass sie – dass sie sich sogar durch unsere Barrieren hindurch teleportieren kann, ist – ist …« Rafa kam ins Stocken. Die vielen, langen Zöpfe des Magisters wippten im Takt seiner Schritte, während er hin und her lief.

»Es ist ein Sicherheitsrisiko«, warf Dremed ein, die Arme vor der Brust verschränkt. 

»Es ist eine Möglichkeit! Wir könnten die Theorien endlich aus ihrem haltlosen Raum lösen und erforschen! Herausfinden, wie es funktioniert, was diese Magie mit den Wirkenden anstellt. Verändert sie nur ihren Ort? Oder durchdringt sie den Körper, erschafft ihn neu an anderer Stelle? Wir könnten ausloten, wo die Grenzen dieser Einflüsse und Kräfte sind!« Rafa war nach vorn getreten, näher in Richtung der jungen Frau, die wieder auf dem Stuhl in sich zusammengesunken war und ihn mit unbewegter Miene anstarrte.

»Sie ist immer noch ein Mensch.« Edin fiel ihm scharf ins Wort. Es waren nicht seine Worte, die sie verärgerten. Es war der Blick, dieser euphorische Glanz in den Augen des Magisters, der sich kalt in ihr Herz bohrte.

»Ist sie nicht.« Dremed trat neben Rafa. Sein Blick ruhte auf der Frau. Mit dem Schwung seiner Hand wehten ihre Haare zurück und offenbarten ihre Ohren. Spitze Ohren, wie Edin sie nur aus den Aufzeichnungen der Elfen kannte. Die junge Frau fixierte den Magister mit ihrem Blick, und obwohl sie sich nicht bewegt hatte, veränderte sich ihre Haltung. Ein leichtes Zucken ihrer Finger, ein harter Zug um den Mund, und aus Amüsement wurde berechnender Hass. »Sie ist kein Mensch.« Langsam drehte er sich zu Edin, ein schmales, süffisantes Lächeln auf den Lippen.

Nein, aber eine Elfe ist sie auch nicht.

»Du sprichst, als würde das einen Unterschied machen.« Nun erhob Fiora die Stimme, stand von ihrem Platz auf und trat Dremed entgegen. »Es ist egal, ob sie elfisches Blut in sich trägt oder nicht. Sie ist eine Person und verdient die gleichen Rechte wie Ihr auch!« Ihre kleine, kräftige Gestalt war gut einen Kopf kleiner als Dremed. Dennoch zog dieser den Kopf ein, trat mit erhobenen Händen zurück.

»Ich sage nur, dass ihre Abstammung ein Faktor ist, den wir nicht vergessen sollten«, ergänzte er kühl.

»Ich dachte, die Elfen wären ausgestorben.« Rafa musterte sie noch immer eindringlich. »Aber es scheint, als wären Spuren von ihnen noch immer präsent. Ich stimme dir zu, Dremed, dass die Fähigkeiten dieser Frau eine Gefahr darstellen. Aber sie sind auch eine Möglichkeit für uns. Für die Zukunft dieser Welt! Wir könnten endlich die Aufzeichnungen der Elfen über ihre Magie näher untersuchen-«

»Nein.« Edin ließ sich zurück auf ihren Platz fallen. »Das ist nicht der Weg, den wir wählen dürfen. Unsere Zukunft sollte nicht auf Unrecht erbaut werden.« Sie tippte mit der Fingerspitze auf ihren Ring, ehe sie leise nachschob: »Auch wenn das wohl nicht mehr für alle Entscheidungen gilt.« Als sie den Blick hob, starrten alle sie an. Alle – außer Fiora. Die Magisterin hatte den Blick gesenkt, straffte die Schultern und setzte sich wieder auf ihren Platz.

Die beiden ältesten Magister in der Runde, Kraviz und Unna, verfolgten den Schlagabtausch schweigend. Unnas raue Stimme hallte laut zwischen den Wänden wider, als sie ihr Schweigen brach. »Ich kann deinem Anliegen nicht zustimmen, Rafa. Ich verstehe den Reiz, die Verheißung dieses Potentials. Aber wenn wir mehr über die Magie der jungen Dame erfahren wollen, geschieht dies nur mit ihrem Einverständnis. Solange sie sich außerhalb unserer Kreise bewegt, können wir nicht mehr tun, als sie darum zu bitten.« 

»Das ist unmöglich!« Dremed schnellte herum, die Hände erhoben. »Das kann nicht euer Vorschlag sein! Den Löwen in die Grube zu holen?«

»Entweder sie wird Teil der Magister.« Kraviz erhob sich umständlich. »Oder ihr Schicksal liegt außerhalb unseres Einflusses. Dann wird es die Entscheidung der Herzogin sein, was mit ihr geschieht. Soweit ich das nicht falsch verstanden habe, steht noch ein Urteil wegen Hochverrats im Raum.« Ohne auf die Antwort der restlichen Magister zu warten, verließ er den Raum. Das leise Klacken seines Gehstocks auf dem steinernen Boden füllte die Stille zwischen den Anwesenden. Die Sitzung war beendet.

Unna folgte Kraviz langsam. Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich zu den restlichen Magistern um. »Dremed, auf ein Wort.«

Dremed löste sich nur widerwillig von seinem Platz. Als er an der Gefangenen vorbeischritt, zischte er: »Ich werde mich an dein Gesicht erinnern, Magierin.«

Sie lachte. Es war kein herzliches, schönes Lachen. Bloß ein kurzer, rauer Klang. Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen, bevor sie ihm hinterherrief: »Ich freue mich drauf, wenn wir uns wiedersehen, Dremed Pagison.«

Edin, Rafa und Fiora waren die letzten Magister im Raum. Zögernd blieb Edin vor der jungen Frau stehen, die Hände gefaltet, und suchte in dem abweisenden Blick nach etwas, das ihr Zugang verschaffen konnte. Wir sind nicht alle so grausam, müsst Ihr wissen. Die Wachen zogen sie bereits erneut auf die Beine.

»Gebt uns einen Augenblick.« Edin bemühte sich um ein schmales Lächeln. »Woher kommt Ihr?«

Das angriffslustige Grinsen verschwand. Stattdessen blieb bloß ein ernster Blick, ehe die Frau schließlich zur Seite sah und mit den Schultern zuckte. »Nicht von hier. Offensichtlich.«

Edin nickte langsam. Versuchte sich an einem Lächeln. »Sie hat überlebt. Ich weiß nicht, was ihr getan habt. Ich will es nicht wissen, wenn ich ehrlich bin. Aber es wäre nicht richtig, Euch diese Information vorzuenthalten.«

Die Frau schwieg. Sie runzelte die Stirn, senkte den Kopf und nickte kaum merklich.

»Wir werden uns wiedersehen.« Edin trat zur Seite und verließ den Saal. Das leise, zögernde »Danke« folgte ihr auf den Gang. Ich weiß nicht, wie, aber ihre Magie hat nichts mit den Elfen zu tun. Zumindest nicht mit dem, was in ihren Aufzeichnungen geschrieben steht. Entweder verfügt sie über älteres Wissen als wir, oder ihre Magie bewegt sich außerhalb unserer Gesetzmäßigkeiten.

Edin beschleunigte ihre Schritte. Beide Möglichkeiten gefielen ihr herzlich wenig. Aber sie hatte bereits eine Ahnung, wie sie verhindern konnte, dass diese Information vor ihren Augen davonkam.

5. Nach dem Fest

»Wir können keine Auskunft geben!« Die Stimme der Wache drang dumpf durch das Tor des Hauptgebäudes, wenige Meter vor Duana am Ende des kargen Korridors. Es war geradezu unheimlich, wie leer das Gebäude war. Sie blieb stehen, lauschte. Die Wache vor dem Tor schien mit jemandem zu streiten.

»Wir gehören zu ihr. Sagt uns wenigstens, dass sie noch lebt!« Eine zweite, hellere Stimme erklang. Eine vertraute Stimme. Zögernd streckte Duana die Hand nach dem Tor aus. Es gab weder Griff noch Riegel, doch bevor ihre Fingerspitzen das dunkle Holz berührten, schwang das Tor bereits auf.

»Tretet zur Seite!« Die Wache klang fast ein wenig verzweifelt.

Ungeduldig wippte Duana mit dem Fuß, während die Torflügel lautlos zur Seite glitten. Wider Erwarten fiel fahles Licht durch den schmalen Spalt. Duana blinzelte. Die Laternen brannten grell im Vergleich zum dämmrigen Inneren des Gebäudes.

»Bei den Göttern!« Hinter den beiden Wachleuten stand Birte, die Arme in die Seiten gestemmt und die Wangen rot vor Kälte. Als Duana durch das Tor nach draußen trat, neigten die beiden Wachen das Haupt.

»Lasst sie durch.« Sie musterte die Männer. Kurz zögerten sie, dann gaben sie den Weg frei. Birte stolperte mit eiligen Schritten auf sie zu. »Es – Sie ist einfach verschwunden und dann hat die Markthalle gebrannt. Wir haben versucht, sie zu finden – aber dann hieß es plötzlich, man hätte dich angegriffen und – und niemand konnte uns sagen, wo du bist oder was passiert ist.« Birte holte tief Luft, doch bevor sie ihren hektischen Strom an Worten fortsetzen konnte, zog Duana sie in eine etwas unbeholfene Umarmung.

»Danke.« Zögernd erwiderte Birte die Umarmung, ehe sie sich vorsichtig daraus löste. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie Duana eindringlich. »Wo ist Irben?«

Das erleichterte Lächeln auf Duanas Lippen starb. Sie sah an Birte und den grendorschen Wachen vorbei, zu Lareen und Joos. Weiter zu den neugierigen Blicken der Leute, die stehen geblieben waren und zu der kleinen Ansammlung herüber starrten. »Lasst uns in Ruhe sprechen. Drinnen.« Das fahle Tageslicht mochte täuschen, doch es war noch immer bitterkalt. Und je länger sie standen, desto mehr drängte sich der Schmerz in ihrer Seite zurück in ihr Bewusstsein. Ohne den beiden Wachen weiter Beachtung zu schenken, kehrte Duana mit den dreien zurück zur Gästeloge.

Der Weg war nicht weit, aber weit genug, dass Duana froh war, als sie endlich ankamen. Zielstrebig steuerte sie das Zimmer im Erdgeschoss an. Obwohl sie ganz ohne Mantel oder Umhang frieren müsste, war sie zum zweiten Mal an diesem Morgen von Kopf bis Fuß durchgeschwitzt. Kaum hatte Joos die Tür hinter ihnen zugezogen, ließ sich Duana mit einem erschöpften Stöhnen auf das nächstbeste Bett sinken.

»Ich hasse Feierlichkeiten.« Sie bückte sich, um ihre Stiefel auszuziehen. Der stechende Schmerz, der durch ihre Seite zog, ließ sie fluchen. Langsam und umständlich richtete sie sich wieder auf, die Zähne fest aufeinandergebissen. Es half nicht gegen den Schmerz, nicht genug. Einfach langsam von zehn abwärts zählen und atmen. »Setzt euch.« Duana machte eine vage, ungeduldige Handbewegung in Richtung ihrer Wachen. »Ihr habt viele Fragen. Ich habe zumindest ein paar Antworten.«

Birte musterte sie besorgt. »Brauchst du einen Heiler?« Vorsichtig setzte sie sich auf das Bett, dass am nächsten von Duana stand.

Duana schüttelte den Kopf. »Schon erledigt. Na ja, mehr oder weniger.« Sie deutete auf den dunklen Fleck auf ihrem Gambeson. »Alles wieder zugenäht. Ich weiß nicht, was genau letzte Nacht alles passiert ist. Zumindest nicht, was nach … dieser Situation geschah. Aber ich weiß, wo Sera ist.« Der Name ging ihr nicht leicht über die Lippen und für einen kurzen Moment wollte sie etwas ergänzen. Duana schüttelte leicht den Kopf, doch der Gedanke war bereits verflogen. »Es geht ihr …« Sie wusste nicht, wie es Sera ging. Bloß, dass die Magister sie verwahrt hielten, irgendwo im Inneren ihrer kleinen, tristen Festung. »Sie soll sich vor dem Rat der Magister verantworten. Wegen des Brandes. Weil sie dort aufgetaucht ist.«

»Das war sie?« Lareen saß aufrecht an der Bettkante, die Hände vor der Brust verschränkt.

»Das ist das, was die Magister mir gesagt haben, ja.« Duana zuckte mit den Schultern. »Aber es klingt zumindest nachvollziehbarer, als dass sie selbst ihre Markthalle angezündet haben.«

»Wo ist Irben?« Fragte Birte erneut, diesmal leiser, zögernd. Duana schwieg, suchte nach den richtigen Worten. Ihre Hand wanderte zu dem Blutfleck auf ihrem Oberteil.

»Oh nein.« Tränen glänzten in Birtes Augen. »Ist er …?«

»Noch nicht.« Duanas Stimme war kühl. Der Schmerz in ihrer Seite wog schwer, aber nicht so schwer wie die Wut in ihrem Herzen. Der Zorn wanderte heiß durch ihren Körper, bis er nur mühsam genug Raum in ihren Worten fand. »Dieser kleine, dreckige Verräter sitzt im Kerker der Magister. Er wird uns nur noch bis über die Grenze Grendors begleiten. Und hinter der Grenze wird auch er lernen, dass man stirbt, wenn man versucht, mich umzubringen.« Ihr Blick traf den von Birte. Die Tränen blieben, doch aus der Sorge ihrer Wache wurde etwas Neues. Wut. Gut. Soll er unseren Zorn zu spüren bekommen.

Stück für Stück erzählte sie, was die anderen noch nicht wussten. Von dem Streit mit der Landgräfin. Von dem Moment, ab dem sie nichts mehr wusste. Von dem Feuer, dem Rauch. Und von Noris, dem Wächter der Magisterin Edin, der ihr gleich mehrfach das Leben rettete.

»Noris?«, hakte Birte nach. »Hatte Norbert nicht von ihm erzählt?« Duana nickte bloß. Sie schaffte es nicht, seinen Namen auszusprechen. Dass sie ihn gesehen hatte, als sie tot gewesen war, erwähnte sie nicht. Wenn ich nur kurz dahin zurückkönnte …

»Sie hat den Sturm beschworen.« Lareens Worte rissen Duana aus ihren Gedanken. »Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aus diesem Zimmer zu verschwinden. Aber nachdem die Blitze einschlugen, war sie weg. Hier hat nichts gebrannt. Bis auf Birtes Hand«, fügte sie leiser hinzu.

»Meint ihr, sie wusste, dass er Duana angreift?« Birte zog ihren linken Ärmel runter, als Lareen ihre Hand erwähnte.

Duana zuckte abwesend mit den Schultern. »Darf ich?« Sie wartete, bis Birte ihr schließlich zögernd ihre linke Hand reichte. Zackige, rote Narben zogen sich über die Haut. »Tut es weh?«

Birte schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Für einen kurzen Moment dachte ich, ich habe keine Hand mehr. Aber der Schmerz verschwand so schnell, dass ich erst nicht sicher war, ob ich mir das nur eingebildet hab. Seitdem fühlt sich die Hand ein wenig taub an.«

»Hm.« Duana lehnte sich zurück, den Kopf an die Wand gelehnt und blinzelte müde in Richtung der Decke. »Sie werden uns nicht helfen«, murmelte sie nach einer Weile und seufzte. »Wenn wir Cahir finden wollen, müssen wir das allein schaffen.«

»Wir sollten Than Jonna kontaktieren.« Joos hatte bisher nur schweigend dem Gespräch gelauscht. Er lehnte an der geschlossenen Tür, den Kopf zur Seite gedreht, als würde er drauf hören, was draußen geschah.

»Mhm.« Duana schloss die Augen. Sie war so müde. So müde, als hätte sie eine Woche durchtrainiert, ohne zu schlafen. Und sie waren nicht einmal einen ganzen Tag in Grendor. »Wie spät ist es eigentlich?«

»Kurz nach Mittag.« Lareen erhob sich. »Ich werde die Sachen aus dem anderen Zimmer holen.«

Duana nickte, ohne die Augen zu öffnen. »Weckt mich in einer Stunde. Oder zwei. Ich muss nochmal mit Magisterin Edin sprechen«, murmelte sie, während die Zimmertür sich leise schloss.

Duana widersprach nicht, als Birte ihr die Stiefel auszog, ihr half, den Gambeson abzulegen und ein frisches Hemd anzuziehen. Es war schwieriger als erwartet, sich zu bewegen, ohne vor Schmerzen schreien zu wollen. Doch kaum lag sie im Bett, fiel sie in einen erschöpften, traumlosen Schlaf.

6. Der Preis, zu sterben

Sera saß mit angezogenen Knien auf der Pritsche ihrer Zelle. Schlafen konnte sie nicht. Es war kalt und unbequem und ihr Kopf war so voll, als hätte sich ein ganzer Bienenschwarm hinein verirrt. Auf dem Weg zurück in ihre Zelle hatte sie Irbens Gesicht entdeckt. Vielleicht war es gut, dass die Geräusche der anderen Zellen nur bis zur Zellentür drangen. Sie wollte seine Stimme nicht hören. Lächerlich. Wie schafft er es so einfach, das zu tun, woran ich scheitere? Muss ich ein herzloser Mann sein, um ohne Gnade morden zu können? Ist es das? Die Bitterkeit in ihren Gedanken hielt sich hartnäckig. Töten kann ich. Nur sie nicht.

Frustriert rüttelte sie an ihren Fesseln, doch die saßen eng und klirrten bloß leise. Sera stand auf, griff die Decke und warf sie auf den Boden. Mit den Füßen schob sie den Stoff zurecht, bis er glatt da lag und legte sich darauf, die Füße auf der Pritsche ruhend. Sera starrte die Decke an. Ihr Kopf wurde ruhiger. Letzte Nacht hatte sie versucht zu weinen. Aber die Tränen kamen nicht. Irgendwo tief in ihr drin saß ein neuer Schmerz, den sie nicht benennen konnte. Die Kälte war in ihre Knochen gezogen, in ihren Körper, und hatte in den Rissen ihres Herzens Platz gefunden.

Nolde, ist es das? Diese Leere, die du mit Gold füllen wolltest? Diese Stille?

Aber es war nicht die Stille. Die Stille war fast schon friedlich. Es war die Einsamkeit, vor der sie nicht mehr davonlaufen konnte. Diesmal hatte sie Sera eingeholt und in ihrem eisigen Griff erstickt. Ich bin ein Monster geworden, Nolde. Habe meine Prinzipien eingetauscht gegen ein Versprechen. Und ich weiß nicht, was das bedeutet. Dieses Versprechen, diese Magie, die passiert, ohne, dass ich sie kontrollieren kann.

Ich weiß nicht mal, warum ich mit dir rede. Du kannst mich nicht hören. Und selbst wenn, glaube ich nicht, dass du mir zuhören würdest. Ich kann nicht mehr ändern, was mit dir passiert ist. Aber ich muss das aufhalten, was noch kommt. Ich dachte nie, dass ich – ich, SERA, ha! – wichtig sein könnte. Für irgendwen. Nicht so.