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Was ist »zu Hause«? Der Ort, an dem wir jetzt leben? Oder der Ort, an dem wir als Kind aufgewachsen sind? Das fragt sich Saskia, während sie unfreiwillig sechs Wochen in ihrem Heimatstädtchen verbringt, weil sie sich um ihren kranken Vater kümmern muss. Was als Notfalleinsatz geplant war, entwickelt sich jedoch zu einer Erfahrung, die Saskias gesamtes bisheriges Leben umkrempelt und sie schließlich vor eine große Entscheidung stellt: gehen oder bleiben? Eine Frage, die sich nicht nur mit dem Kopf beantworten lässt, sondern vor allem: mit dem Herzen.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch
Frau Dr. Abijadi wendet sich wieder mir zu. »Aber wenn bei Ihrem Vater eine beginnende Demenzerkrankung vorliegt, dann verunsichert ihn eine ungewohnte Umgebung stark. Das kann seinen Zustand tatsächlich rapide verschlechtern, und das müssen Sie unbedingt vermeiden. Es muss jetzt darum gehen, die Krankheit, soweit möglich, auszubremsen. Das vertraute Heim spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle, das belegen zahlreiche Studien der jüngeren Zeit.«
Ich weiß sofort, was das bedeutet. Das vertraute Heim. Lenzenburg in der Elbtalaue im Wendland. Der am dünnsten besiedelte Landstrich der westlichen Bundesländer. Kein nennenswerter Handyempfang. Kein Flughafen in der Nähe. Das alles, bis Miriam endlich aus ihrem verfluchten Kanadaurlaub zurückkommt.
Sechs lange Wochen. Ich bin geliefert. Und zwar komplett.
Zur Autorin
Anne Hertz ist das Pseudonym der Schwestern Frauke Scheunemann und Wiebke Lorenz. Bevor die Autorin 2006 in Hamburg zur Welt kam, wurde sie 1969 und 1972 in Düsseldorf geboren. 50 Prozent von ihr studierten Jura, die andere Hälfte Germanistik und Anglistik. Danach arbeiteten 100 Prozent als Journalistin. Anne Hertz hat im Schnitt 3,5 Kinder, 1,0 Männer und 0,3 Haustiere, sie ist 170,5 cm groß und wiegt – je nach Jahreszeit – zwischen 58,6 und 69,5 kg. Ihre Romane haben sich weltweit über 2 Millionen Mal verkauft.
Lieferbare Titel
Sternschnuppen
Glückskekse
Anne Hertz
Ein Morgen mit Dir
Roman
HarperCollins
Originalausgabe
© 2025 HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung von FAVORITBÜRO, München
Coverabbildung von Ardea-studio / Shutterstock von Adobe Stock
E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749908639
www.harpercollins.de
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»Also nur, damit ich es jetzt richtig verstehe, Papa: Du hast zwei wildfremde Frauen angesprochen, weil du verfolgt wurdest? Und wolltest, dass sie dir helfen?«
Mein Vater hebt die Hände.
»Was heißt schon wildfremd? Sie heißen Chantal und Michelle. Und sie sind sehr freundlich.«
Ich kann einfach nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passiert.
»Ja, die mögen sehr nett sein. Aber vor allen Dingen sind es zwei Prostituierte, die du in einer Seitenstraße der Reeperbahn aufgegabelt hast. Oder sie dich. Was weiß denn ich!«
Papa sieht mich mit großen Augen an.
»Wieso glaubst du, dass die beiden … ähm … na, du weißt schon, was sind?«
Ein Blick auf die Damen, die bei dem Polizeibeamten am Nachbartisch eben ihr Protokoll unterzeichnen, und ich muss grinsen. Na, du weißt schon, was … Seit wann ist mein Vater denn so prüde? Und so stark kurzsichtig? Denn dass es sich bei Chantal und Michelle nicht um zwei Versicherungsvertreterinnen handelt, ist offensichtlich. Beide haben ihre zugegebenermaßen sehr langen Beine in goldschimmernde Nylons und äußerst hotte Hotpants gesteckt, Michelle – oder war es Chantal? – trägt dazu hochhackige weiße Stiefelchen mit Stulpen, ihre Kollegin hat sich für eine Mischung aus Plateau (vorne) und Stiletto (hinten) entschieden, und zwar aus schwarzem Lack. Komplettiert wird der Look bei beiden von einem pinkfarbenen Stretch-Bustier, bauchfrei und mit sehr hohem Polyesteranteil. Nein, kein Zweifel, mein Vater ist auf seiner Flucht an Mitglieder einer der größten Touristenattraktionen von St. Pauli geraten.
Er schluckt trocken.
»Wie auch immer. Ich war sehr froh, als ich endlich jemand Vertrauenswürdigen gefunden habe, den ich um Hilfe bitten konnte. Du kannst dir ja nicht vorstellen, was für ein Volk hier ansonsten auf der Straße unterwegs ist!«
Oh doch. Das kann ich mir genau vorstellen. Gerade in den Sommermonaten ist die Reeperbahn gedrängt voll mit jungen Leuten aus dem Umland, die hier den Beginn der Ferien, einen Junggesellenabschied oder sonst was feiern wollen. Wichtige Begleiter sind dabei in der Regel ein bis drei Flaschen Wodka, ein Bauchladen mit Schnapsminiaturen sowie Strapse für alle Beteiligten. Verständlich, dass meinem Vater niemand darunter seriös genug für sein Anliegen vorgekommen war. Der Beamte, der eben die Aussagen von Chantal und Michelle aufgenommen hat, wendet sich nun uns zu.
»Herr Hellmann, Frau Gutierez und Frau Meyerhoff haben ausgesagt, dass sie keinen Verfolger gesehen haben, als sie von Ihnen angesprochen wurden. Vielmehr hätten Sie ein bisschen verwirrt gewirkt. Sind Sie sicher, dass Sie bei Ihrer Aussage bleiben wollen?«
Mein Vater nickt energisch, ich kann mir ein Seufzen nicht verkneifen.
»Natürlich bleibe ich dabei. Wissen Sie, ich bin hier ein paar Tage zu Besuch bei meiner Tochter. Und da bin ich heute Abend auf dem Sofa eingeschlafen. Beim Fernsehen. Wer wird Millionär?. Die jungen Leute haben ja überhaupt keine Allgemeinbildung mehr. Wollen Sie hören, was die 16000-Euro-Frage war?«
»Papa!«, unterbreche ich ihn. »Es ist mitten in der Nacht, und wir sitzen auf der Davidwache, weil du Gespenster siehst. Also komm endlich zum Punkt!«
Er wirft mir einen bösen Blick zu, fährt aber wie geheißen mit seiner Erzählung fort.
»Ja, gut, ich wurde von einem Geräusch geweckt. Als ich die Augen aufmachte, saß im Sessel gegenüber eine mir unbekannte Person und starrte mich feindselig an. Ich wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte!«
»Und zwar?«, hakt der Polizist nach. Die Art, wie er das tut, sagt mir genau, was er von der ganzen Geschichte hält. Nämlich rein gar nichts. Und damit sind wir uns völlig einig.
»Der Typ wollte mich entführen!«
»Dann war es ein Mann.«
»Ja. Ein Mann. Mittelalt, mittelgroß.«
»Und er war allein.«
»Ich glaube schon.«
»Den beiden Zeuginnen gegenüber haben Sie allerdings auch eine Frau und ein Kind erwähnt, die sich in der Wohnung Ihrer Tochter aufgehalten haben sollen.«
Papa scheint etwas sagen zu wollen, hält dann aber inne und denkt nach.
»Sie haben recht. Vielleicht wurde der Mann von einer Frau und einem Kind begleitet. Ich bin mir jetzt nicht mehr ganz sicher. Schließlich war es dunkel, und ich musste mich sehr schnell in Sicherheit bringen.«
Nun ist es der Polizist, der seufzt.
»Herr Hellmann, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber warum sollte nachts gegen halb zwei eine Ihnen unbekannte Familie in der verschlossenen Wohnung Ihrer Tochter erscheinen und versuchen, Sie zu entführen?«
Ich kann dem Mann nur zustimmen. Die Geschichte ist einfach zu verrückt. Mein Vater hingegen schnappt nach Luft und kneift seine Augen zusammen, was ihn sehr ungehalten aussehen lässt.
»Woher soll ich denn wissen, warum die das sollten? Tatsache ist, dass sie es wollten. Und warum die das wollten – das herauszufinden ist doch wohl Sache der Polizei! Um ein Haar wäre ich Opfer eines Verbrechens geworden!«
»Natürlich, Herr Hellmann, das habe ich doch verstanden. Was halten Sie davon, wenn Sie hier in Ruhe ein Wasser oder einen Tee trinken und ich die Formalien schnell mit Ihrer Tochter durchgehe? Ich sage den Kollegen Bescheid, dass sie Ihnen etwas bringen.«
Mein Vater murmelt etwas Unverständliches, das der Beamte anscheinend als Zustimmung auslegt, denn er bedeutet mir mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, während sich Papa wieder auf seinen Stuhl setzt.
»Frau Hellmann, ich will ganz offen mit Ihnen sein«, sagt der Polizist, als wir an den Tresen treten, der den hinteren Teil der Wache vom Eingangsbereich trennt. »Ich glaube, Ihr Vater bildet sich die ganze Sache ein. Er war wirklich sehr verwirrt und aufgeregt, als die Frauen ihn hierhergebracht haben. Er konnte sich weder an seinen Namen erinnern noch wie er überhaupt auf die Reeperbahn gekommen ist. Es hat über eine Stunde gedauert, bis wir ihn wieder beruhigt hatten. Die beiden Damen wollten schon längst gehen, aber ohne sie hätten wir es gar nicht geschafft. Kann es sein, dass Ihr Herr Vater … äh … erkrankt ist?«
»Erkrankt?«, wiederhole ich überrascht.
»Na ja«, der Beamte windet sich, er fühlt sich sichtbar unwohl, offen auszusprechen, was er denkt, »ich meine so, mental erkrankt. Irgendwie … psychisch nicht ganz auf der Höhe?« Er holt Luft. »Also, meine Großmutter, die hatte häufiger mal Halluzinationen. Das hing tatsächlich mit ihrer Altersverwirrtheit zusammen. So alzheimermäßig, verstehen Sie?«
Ich verziehe den Mund zu einem schiefen Grinsen.
»Ach, sind Sie auch als Neurologe tätig?«
»Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich dachte nur …« Der Polizist lässt den letzten Satz in der Luft hängen, aber was er meint, ist mir auch so klar.
»Ja, vielen Dank für den Hinweis. Ich werde dem nachgehen. Aber als Erstes nehme ich jetzt meinen Vater wieder mit und hoffe, dass wir auf dem Heimweg nicht doch noch entführt werden. Grüßen Sie Chantal und Michelle von mir und richten Sie den Damen meinen Dank aus.«
* * *
Für ein Entführungsopfer schläft Papa nach unserer Rückkehr bemerkenswert tief und fest. Als ich ihm am nächsten Morgen einen Kaffee ans Bett bringe, ist er zudem erstaunlich guter Dinge. Fast scheint es, als könne er sich gar nicht an die turbulente Nacht erinnern. Ich beschließe, ihn nicht darauf anzusprechen. Stattdessen habe ich mich für heute im Büro abgemeldet und einen Arzttermin für meinen Vater gemacht. Da ich meine Hausärztin schon seit vielen Jahren kenne, habe ich nach einer kurzen Schilderung von Papas Zustand auch sofort einen Termin für ihn bekommen, obwohl er natürlich kein Patient in ihrer Praxis ist. Eigentlich hatte sich meine Schwester Miriam schon zu Hause in Lenzenburg um einen Termin beim Arzt für Papa kümmern wollen, hat es aber vor ihrem Urlaub nicht mehr geschafft. Das bleibt nun also an mir hängen, denn nach der gestrigen Nacht steht eindeutig fest: Ein Arztbesuch ist mehr als überfällig!
Überhaupt, der Urlaub meiner Schwester: Klar, ich kann verstehen, dass sich Miriam damit einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Aber müssen es wirklich sechs Wochen Kanada sein, ausgerechnet zu einer Zeit, in der es Papa so schlecht geht? Ich habe noch nie länger als zwei Wochen am Stück Urlaub genommen, selbst wenn gerade alle Familienmitglieder gesund und munter waren. Nun wird mein Vater sechs Wochen bei mir in Hamburg wohnen, und das geht schon nach einer Nacht schief!
»Du willst zum Arzt?« Papa kommt im Schlafanzug in die Küche geschlurft. »Bist du krank? Hast du nicht gut geschlafen? Und wieso musst du überhaupt zu dieser Ärztin? Du bist doch selbst eine.«
Ich starre ihn an. Er kann sich echt nicht mehr erinnern? Aber vielleicht ist es auch besser so. Ja, vielleicht ist es sogar gut, wenn meinem Vater nicht klar ist, dass ich den Arzttermin nicht für mich, sondern für ihn gemacht habe. Möglicherweise würde es ihn nur aufregen. Ich nicke also.
»Äh, ja, ich habe in letzter Zeit häufiger Kopfschmerzen. Und da ich von Selbstdiagnosen nicht viel halte und mein Studium schon hundert Jahre her ist, würde ich gern mit einer Kollegin darüber sprechen. Aber weißt du was? Begleite mich doch zu meiner Ärztin, dann können wir danach eine Kleinigkeit zusammen essen.«
Er lächelt.
»Wenn du meinst, dann komme ich gern mit.«
»Super. Vielleicht ziehst du dir schnell etwas anderes an? Es ist schon 11 Uhr. Wir müssen gleich los.«
Nach mehreren Anläufen hat mein Vater tatsächlich eine Hose und ein Hemd an. Sie passen nicht wirklich zusammen, und das Hemd ist bei näherem Hinsehen auch schräg geknöpft, aber Papa hat sich energisch geweigert, sich von mir helfen zu lassen. Ich bin deshalb einfach nur froh, endlich im Auto zu sitzen. Die Chancen, halbwegs rechtzeitig oder jedenfalls nicht völlig zu spät in die Praxis zu kommen, sind damit deutlich gestiegen.
Zwanzig Minuten später werden wir dort von der Sprechstundenhilfe freundlich in Empfang genommen. Während mein Vater die Goldfische im großen Aquarium im Wartezimmer zählt, kann ich meine Ärztin auf dem Flur zwischen zwei Patientengesprächen zur Seite nehmen und ihr erklären, dass mein Vater nicht weiß, für wen der Termin eigentlich ist. Die Ärztin lächelt, ich bin mir nicht sicher, ob dies nur Kenntnisnahme oder gar Verständnis bedeutet. Egal. Jetzt kann ich es sowieso nicht mehr ändern.
»Frau Hellmann?« Die Sprechstundenhilfe bittet mich nach kurzer Wartezeit ins Behandlungszimmer.
»Papa, komm doch einfach mit rein«, schlage ich vor und hoffe, dass er sich nicht wundert, warum er bei dem Termin dabei sein soll.
Er wundert sich nicht. Stattdessen nimmt er auf dem Stuhl neben mir Platz und schaut erwartungsvoll auf, als die Ärztin hereinkommt.
»Guten Tag! Ich bin Nina Abijadi«, stellt sie sich meinem Vater vor, der ihr kräftig die Hand schüttelt.
»So, wie kann ich denn weiterhelfen?«, fragt sie dann freundlich.
»Ähm, ja, also, ich … äh, ich habe in letzter Zeit häufig Kopfschmerzen«, behaupte ich.
»Aha.« Mehr sagt Frau Dr. Abijadi nicht, sondern mustert uns beide nur aufmerksam. Ich fange an, mein Leiden auszuschmücken, damit mein Vater keinen Verdacht schöpft. Und um schon einmal auf das eigentliche Thema zuzusteuern.
»Dann … dann weiß ich gar nicht mehr so recht, was ich gerade machen wollte.«
»Das ist aber gar nicht ungewöhnlich«, erwidert Dr. Abijadi, »mir geht es ab und zu genauso.« Sie lächelt. »Das kennen wir wahrscheinlich alle, oder, Herr Hellmann?«
»Was?«
Papa guckt erstaunt. Ich bin mir nicht sicher, ob er zugehört hat.
»Na, ich meine, jeder von uns hat doch schon mal vergessen, was er gerade machen wollte«, erklärt die Ärztin.
Jetzt nickt mein Vater.
»Natürlich. Das ist mir auch schon passiert.«
»Ach, das ist interessant«, hakt Dr. Abijadi nun nach. »Hatten Sie vielleicht auch schon mal Probleme mit Tätigkeiten, die aus mehreren Schritten bestehen, zum Beispiel Einkaufen und Kochen?«
Mein Vater legt den Kopf schief und überlegt.
»Ich weiß nicht. Einkaufen und Kochen hat immer Helga gemacht.«
»Helga?«
»Meine Frau.«
Es zerreißt mir fast das Herz, zu beobachten, wie Papa sofort sichtbar in sich zusammensackt. Und es zerreißt mir das Herz, an Mama zu denken. Meine wunderbare, unerschrockene und starke Mama, die für uns alle immer ein Fels in der Brandung war.
»Meine Mutter ist kürzlich verstorben«, erkläre ich.
»Oh, das tut mir leid«, sagt Frau Dr. Abijadi mit sanfter Stimme, nur um kurz darauf wieder in ihrem nüchternen Tonfall fortzufahren. »Herr Hellmann, nehmen wir an, Sie planen nun selbst einen Einkauf. Können Sie mir sagen, was Sie dann machen, so Schritt für Schritt?«
Wieder denkt er nach.
»Ich … äh …«, hebt er an, verfällt dann aber in Schweigen und wirft mir einen unsicheren Blick zu.
»Alles gut, Papa«, beruhige ich ihn und lege meine Hand auf seine.
»Nehmen wir vielleicht ein anderes Beispiel, Herr Hellmann«, schlägt die Ärztin vor. »Wenn Sie sich morgens ein Frühstück zubereiten wollen – wie gehen Sie da vor?«
Wieder schaut Papa sie mit großen Augen an, dann schüttelt er langsam den Kopf.
»Also, Frau Hellmann«, wendet sich meine Ärztin nun an mich, »ich würde Sie jetzt gern untersuchen. Darf ich Sie, lieber Herr Hellmann, so lange ins Wartezimmer bitten?«
»Natürlich, natürlich!«, beeilt sich mein Vater zu versichern. »Ich warte einfach draußen. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben.« Er steht auf, reicht der Ärztin die Hand und verlässt das Zimmer. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, dreht sich Nina Abijadi wieder zu mir.
»Okay, Frau Hellmann. Ich habe mir notiert, dass Sie befürchten, Ihr Vater könnte eine Demenzerkrankung entwickeln. Das nehme ich natürlich sehr ernst, denn schließlich sind wir doch Kolleginnen.«
Ich muss schmunzeln. Tatsächlich bin auch ich Ärztin, jedenfalls habe ich Medizin studiert und tapfer alle drei Staatsexamen absolviert. Nach meiner Facharztausbildung habe ich allerdings nie wieder als Medizinerin gearbeitet, sondern bin direkt zu einer Unternehmensberatung gegangen.
»Na ja, Schmalspurmedizinerin, das wissen Sie doch. Mir wäre also wirklich an Ihrer Meinung gelegen. Ich finde, mein Vater hat sich seit dem Tod meiner Mutter vor sechs Monaten stark verändert.«
Der bedauernde Blick, den mir Dr. Abijadi nun zuwirft, verheißt nichts Gutes.
»Ich muss Ihnen leider sagen, dass er auch auf mich keinen guten Eindruck macht, aber unser kurzes Gespräch eben war natürlich weit von einer seriösen Diagnostik entfernt.«
»Ja, das ist mir klar. Wissen Sie, mein Vater lebt normalerweise nicht in Hamburg und hat zu Hause sicherlich auch einen guten Hausarzt. Aber ich mache mir große Sorgen.«
Die Ärztin mustert mich nachdenklich.
»Sagen Sie, ist Ihr Vater unruhiger und aggressiver als früher? Ist er nachts sehr aktiv oder hat er vielleicht sogar Sinnestäuschungen?«
Ich lache trocken.
»Ja, das kann man so sagen. Gestern Nacht war er der festen Überzeugung, dass ihn jemand aus meiner Wohnung entführen wollte. Er hat dort fremde Menschen sitzen sehen und ist vor ihnen geflüchtet. Gott sei Dank hat er dann auf dem Kiez die Bekanntschaft von zwei reizenden Prostituierten gemacht, die ihn auf der nächsten Polizeiwache abgeliefert haben. Heute Morgen konnte er sich allerdings an nichts mehr erinnern. Also ja: Er ist nachts sehr aktiv, und er hat Sinnestäuschungen.«
»Frau Hellmann, ich denke, dass Sie mit Ihrem Verdacht richtigliegen könnten. Sie erwähnten den Tod Ihrer Mutter: Ein solch einschneidendes Erlebnis kann eine Demenzerkrankung gewissermaßen angeschoben haben, verstehen Sie? Für weitere Tests würde ich Ihren Vater gerne an einen Neurologen überweisen. Allerdings kann ich Ihnen nur raten, sich an einen Kollegen zu wenden, der am Wohnort Ihres Vaters praktiziert.« Frau Dr. Abijadi schiebt ihren Stuhl näher an den Tisch heran und beginnt, auf der Tastatur ihre Computers herumzutippen. »Ich mache Ihnen eine Überweisung fertig. Die können Sie überall in Deutschland abgeben.«
»Haben wir in Hamburg etwa keine guten Neurologen mehr? Wo sind die denn alle hin?«, wundere ich mich. »Ich meine, mein Vater wohnt im Wendland, das ist zwar landschaftlich ungemein reizvoll, aber ansonsten am Ende der Welt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Versorgung mit Fachärzten dort irgendwie besser ist als hier.«
»Nein, so meinte ich das nicht.« Frau Dr. Abijadi wendet sich wieder mir zu. »Aber wenn bei Ihrem Vater eine beginnende Demenzerkrankung vorliegt, dann verunsichert ihn eine ungewohnte Umgebung stark. Das kann seinen Zustand tatsächlich rapide verschlechtern, und das müssen Sie unbedingt vermeiden. Es muss jetzt darum gehen, die Krankheit, soweit möglich, auszubremsen. Das vertraute Heim spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle, das belegen zahlreiche Studien der jüngeren Zeit.«
Ich weiß sofort, was das bedeutet. Das vertraute Heim. Lenzenburg in der Elbtalaue im Wendland. Der am dünnsten besiedelte Landstrich der westlichen Bundesländer. Kein nennenswerter Handyempfang. Kein Flughafen in der Nähe. Das alles, bis Miriam endlich aus ihrem verfluchten Kanadaurlaub zurückkommt. Sechs lange Wochen. Ich bin geliefert. Und zwar komplett.
»Saskia, Schatz, ist es nicht herrlich? Die Luft, diese unglaublich gute Luft!« Papa ist bester Dinge. Der Wind streicht durch sein volles Haar und wirbelt die grauen Locken durcheinander. Ich habe das Dach meines Cabrios geöffnet, die Sonne scheint, und irgendwie kommt auch mir die Luft heute verheißungsvoll vor, während wir auf der Landstraße an einem Eichenwäldchen vorbeifahren. Papa reißt die Arme hoch.
»Juchhu!«, ruft er laut. »Ich liebe das Leben!«
»Papa, ich glaube, du hast einen Sauerstoffflash«, kichere ich und gebe nach der nächsten Kurve noch einmal kräftig Gas. Die Straße windet sich in langen Bögen durch die Landschaft, die Bäume fliegen an uns vorbei, bis sie wie eine grüne Wand aussehen. Hinter dem Wäldchen taucht bald ein kleines Dorf auf. Links und rechts der Straße liegen nun große Fachwerkhäuser, roter Backstein mit dunkelbraunen Holzbalken, wie sie für diese Gegend so typisch sind. Auf einem der Giebel thront ein riesiges Storchennest, im Vorbeifahren kann ich erkennen, dass sich dort gerade zwei Jungstörche zu einem Flugversuch bereitmachen. Auch mein Vater hat die Störche offenbar gesehen, er dreht sich zu mir und lacht mich an.
»Guck mal, Sassilein! Das ist bestimmt ein Zeichen! Vielleicht bekommst du mal Zwillinge!«
Ich werfe ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu.
»Bestimmt.«
Mehr sage ich dazu nicht. Als meine Mutter noch lebte, war sie die ungeschlagene Meisterin in Anspielungen auf den Wunsch nach Enkelkindern. Wie es aussieht, hat nun mein Vater diese Aufgabe übernommen. Und wie früher meine Mutter, lässt auch er bei dem Thema nicht locker.
»Sag mal, du hast doch diesen netten Bekannten, den … äh … na, wie heißt er noch mal?«
Diesmal antworte ich, ohne die Augen von der Straße zu lassen.
»Thomas, also Tom. Du meinst Tom, Papa. Der ist allerdings kein netter Bekannter, sondern seit mehr als fünf Jahren mein Freund.«
»Na, umso besser! Mehr als fünf Jahre, worauf wartet ihr noch? Ich meine, du bist immerhin auch schon vierundvierzig Jahre alt.«
Überflüssig auszuführen, was Papa damit sagen will. Auch er kann sich einfach nicht vorstellen, dass es nicht der Lebenstraum seiner ältesten Tochter ist, endlich mit Tom zusammenzuziehen und eine Familie zu gründen – trotz ihres wirklich biblischen Alters. Wobei ich nicht mal ausschließen kann, dass nicht auch Tom diesen Wunsch hat. Ich vermeide prinzipiell alle Gespräche mit ihm, die in diese Richtung führen könnten. Schließlich bin ich mit meinem Leben, so wie es ist, voll und ganz zufrieden. Ach was – ich bin glücklich damit. Es ist genau so, wie ich es haben will. Aber das hat weder meine Mutter jemals verstanden, noch sieht es danach aus, als ob jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, es Papa im Detail auseinanderzusetzen. Also fahre ich einfach weiter und murmle etwas, was mit gutem Willen als Mal sehen durchgehen könnte.
Eine Zeit lang sagt mein Vater gar nichts mehr, sondern schaut nur auf die vorbeiziehende Landschaft. Gerade kann man die Elbe sehen, gesäumt von Pappeln und Weiden, wie von einem hübschen grünen Band. Schwer zu glauben, dass an diesem Fluss, der hier so ruhig und gemächlich wirkt, nur rund hundertfünfzig Kilometer weiter abwärts jene hektische Betriebsamkeit herrscht, die den Hamburger Hafen nun mal auszeichnet.
Wir durchqueren Gartow, das Städtchen, in dem meine kleine Schwester Miriam Grundschullehrerin ist. Wobei klein relativ ist. Erstens ist Miriam auch schon zweiundvierzig Jahre alt, und zweitens ist sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr größer als ich. Heute gute ein Meter fünfundsiebzig, was mich mit meinen ein Meter fünfundsechzig insgeheim immer gewurmt hat. So gesehen macht das Miriam also nicht zu meiner kleinen, sondern zu meiner jüngeren Schwester. Trotzdem wird sie für mich immer die Kleine bleiben.
Auch hier in Gartow steht viel Fachwerk herum, allerdings mit weiß getünchten Fassaden, dazwischen adrette Neubauten mit gepflegten Vorgärten. Es gruselt mich jedes Mal ein wenig, wenn ich daran denke, dass meine Schwester im Wesentlichen nie weiter als zwanzig Kilometer von zu Hause weggekommen ist. Aber das ist natürlich völliger Unsinn, denn Miriam wirkt immer aufgeräumt und ausgeglichen, wenn ich sie treffe.
Die Straße führt weiter an einem See entlang, durch grüne Wiesen und Felder, und dann taucht es endlich auf: das Ortsschild von Lenzenburg. Von hier aus sind es nur noch ein paar Hundert Meter bis zum Haus meiner Eltern. An der Kirche vorbei, dann links ab, und schon parke ich in der Einfahrt.
»So, da wären wir«, rufe ich betont fröhlich. Mein Vater soll schließlich nicht glauben, dass ich genervt bin, weil ich wegen ihm nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage von Hamburg nach Lenzenburg gondeln musste. Auch wenn das gerade genau mein Gemütszustand ist: genervt! Eigentlich wollte ich ihn vorgestern nur schnell abholen, nun sieht es so aus, als würde ich die nächsten sechsWochen hier verbringen. Aber ich will Papa nicht deprimieren, er hat es ohnehin schwer genug.
Kurz darauf habe ich seine kleine Reisetasche und meinen großen Koffer in den Flur des hübschen Rotklinker-Fachwerkhauses gestellt. Papa lehnt derweil an der Mauer, die an das nächste Grundstück grenzt, und unterhält sich mit der Nachbarin, die im Moment unserer Ankunft aus der Haustür gekommen war. Ich bin auch nach all den Jahren in Hamburg noch zu sehr Kleinstadtkind, um nicht zu wissen, dass das kein Zufall ist. Marlies Dahl ist ungefähr der neugierigste Mensch, den ich kenne, und das schließt sogar mich selbst mit ein.
»Oh hallo, Saskia!«, begrüßt sie mich nun freudestrahlend. »Das ist aber schön, dass du schon wieder hier bist!«
»Hallo, Frau Dahl«, grüße ich freundlich zurück. Obwohl Marlies Dahl mich immer noch duzt, wie zu den Zeiten, als ich mit ihrer Tochter Verena in dieselbe Klasse gegangen bin, habe ich umgekehrt niemals damit begonnen, Frau Dahl zu duzen. Das Du hat sie mir zum einen nie angeboten, und zum anderen wäre es mir auch unpassend vorgekommen. Marlies Dahl ist und bleibt Frau Dahl für mich.
»Wolltest du deinen Vater nur vorbeibringen, oder bleibst du selbst auch ein paar Tage?«, hakt sie nach.
»Äh, nein, ich bleibe auch ein bisschen da. Ich … äh«, stammle ich. Ich habe überhaupt keine Lust, unserer Nachbarin die Wahrheit auf die Nase zu binden. »Ich habe gerade nicht so viel im Büro zu tun und dachte mir, es wäre schön, den Sommer hier im Wendland zu genießen.«
»Ach, das ist aber eine nette Idee, Saskia! Und weißt du was? Vielleicht könnte ich dich nachher oder morgen mal um einen Rat bitten – das Finanzamt hatte eine Rückfrage zu unserer Steuererklärung, und ich weiß nicht ganz, was ich antworten soll.«
Erstaunt ziehe ich die Augenbrauen nach oben.
»Hm, ich bin keine Steuerberaterin.«
»Nicht? Ich dachte immer, du machst jetzt eher was in der Richtung. Also nicht mehr Medizin.«
»Genau. Ich bin Unternehmensberaterin.«
»Ach so. Ich hatte mir einfach nur irgendwas mit Beraterin gemerkt. Nichts für ungut, ich werde langsam vergesslich. Das ist das Alter.« Sie lächelt, aber mir gibt diese Bemerkung einen Stich.
»Ich pack dann mal meine Sachen aus«, beende ich das Gespräch schnell und gehe ins Haus. Ich schleppe meinen Koffer hoch in den ersten Stock, in mein altes Kinderzimmer. Unter einem Bravo-Starschnitt von R.E.M. und vielen kleineren Pferdepostern packe ich meine Sachen aus und hänge sie in den Kleiderschrank. Der befindet sich tatsächlich noch an genau derselben Stelle, an der ihn Papa mir zu meinem sechzehnten Geburtstag aufgebaut hatte.
Direkt daneben steht mein alter Schreibtisch, und ich beschließe, hier mein neues Homeoffice einzurichten. Ich werde mein Laptop aufklappen und den Internet Cube installieren, den mir meine Assistentin Tabea gestern extra noch besorgt hat. Der Internetempfang in Lenzenburg im Allgemeinen und in diesem alten Haus im Besonderen ist gruselig, aber ich werde dieses Problem mithilfe des Cubes schon in den Griff kriegen. Jedenfalls, wenn man der Werbung über diesen Empfangsverstärker Glauben schenken darf. Bald bin ich also für mein Büro wieder ganz gut erreichbar, und dann wird sich mit Sicherheit auch hier in Lenzenburg wieder so etwas wie Alltag einstellen. Mit Papa kann ich hin und wieder einen Kaffee trinken und zusammen zu Mittag und Abend essen – da wird er sich nicht mehr so einsam fühlen, und es wird ihm schon bald besser gehen.
* * *
Nachdem ich eine Stunde lang mein Zimmer, den kleinen Flur davor und mittlerweile auch das ganze Haus nach Empfang abgesucht habe, ist mir klar, dass die Werbung im Falle des Cubes offenbar zu viel versprochen hat. Beziehungsweise: dass selbst dieses teure Teil keine Wunder vollbringen kann. Es gibt hier nirgendwo stabilen Empfang, was gleichzeitig bedeutet, dass es auch nichts gibt, was der Cube stabil verstärken kann. Auch mein Handy hat schon seit einer Stunde keinen Mucks mehr von sich gegeben. Hin und wieder zeigen sich mal ein oder zwei Balken, aber das ist wohl nicht genug, um durch das World Wide Web zu cruisen. Verdammter Mist! Tabea sollte mir die letzte Fassung einer wichtigen Kundenanalyse zumailen, und das hat sie bestimmt auch getan, was jetzt aber völlig wurscht ist, weil es keinerlei Möglichkeit für mich gibt, mir das Ganze anzusehen. Es sei denn … Ja, genau, das ist es!
»Papa?«
»Ja?«
Mein Vater taucht aus der Küche auf.
»Sag mal, hast du in deinem Büro noch das Faxgerät?«
»Ja, habe ich. Warum?«
»Ich muss ganz dringend etwas lesen, und meine Assistentin hat es mir gemailt. Leider kann ich die Mail hier nicht öffnen, also dachte ich, dass sie es mir vielleicht hierherfaxen könnte, verstehst du?«
»Natürlich. Das Gerät steht auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Die Nummer hat deine Mutter auf einen Zettel geschrieben, der klebt gleich davor.«
»Super! Du bist meine Rettung, Papa!«
Ich hauche meinem Vater einen Kuss auf die Wange und verschwinde ins Büro. Auch dieser Raum sieht genauso wie vor zwanzig Jahren aus. Mein Vater hat bis zu seiner Pensionierung als Mathematiklehrer hier oft bis spät in die Nacht gesessen und Hefte korrigiert. Ich bilde mir für einen kurzen Moment ein, dass über dem Raum noch immer eine Wolke aus Schweiß und Tränen unzähliger Schüler schwebt, die an Mathe schlicht und ergreifend verzweifelt sind.
Nun bin ich es zwar gerade selbst, die verzweifelt ist, aber das wird sich gleich ändern. Neben dem Faxgerät steht ein Telefon, dass es in dieser Form vermutlich mittlerweile ins Deutsche Museum geschafft hat: Es ist moosgrün und hat einen Schonbezug aus braunem Samt, eingefasst von einer goldfarbenen Brokatborte. Ich greife zum Hörer dieser Scheußlichkeit und tippe die Nummer meines Büros ein. Es klingelte nur zweimal, dann habe ich Tabea an der Strippe. Ich erkläre ihr kurz das Problem und gebe ihr dann die Nummer des Faxgeräts. Keine Minute später klingelt es. Tabea ist einfach auf Zack!
Leider nicht so das Faxgerät. Dessen herausragendste Eigenschaft hatte ich völlig verdrängt: Es arbeitet noch mit einer Thermopapierrolle. Das ist bei einem hundertseitigen Text wirklich suboptimal. Schon nach kurzer Zeit sieht es vor dem Faxgerät so aus, als hätte jemand mehrere Lagen Küchenpapier abgerollt. Zudem gibt es nun einen nervigen Pfeifton von sich, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Papierrolle mittlerweile fast komplett verbraucht ist. Ich werfe einen Blick in den Schrank, in dem mein Vater sein Büromaterial aufbewahrt – nichts! Großartig. Hoffentlich hat er noch irgendwo anders Material gebunkert, vielleicht im Keller oder auf dem Dachboden?
Ich suche und finde ihn wieder vor dem Haus – in ein Gespräch mit Marlies Dahl vertieft.
»Papa, das Papier im Faxgerät ist alle. Hast du noch irgendwo welches?«
Er schüttelt den Kopf.
»Nein, Sassilein. Leider nicht. Ich brauche das ja kaum noch.«
»So ein Mist!«
»Was ist denn los?«, erkundigt sich Frau Dahl, neugierig wie immer.
»Meine Assistentin hat mir etwas Dringendes gefaxt, aber ich habe kein Papier mehr, und es fehlen noch sechzig Seiten.«
Marlies Dahl legt den Kopf schief und scheint nachzudenken. Wohl mit Erfolg, denn ihre Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln, bevor sie einen Vorschlag macht.
»Hm. Versuche es doch mal im Fährhaus-Museum. Die haben im Museumscafé so eine Ecke mit Internetkram. Also, da steht ein Computer, und ein Drucker ist da meiner Meinung nach auch. Gäste dürfen das benutzen. Internetcafé, so nennt der junge Zierow das. War seine Idee.«
»Zierow?«, wiederhole ich und klinge dabei wie ein verzögertes Echo.
»Ja. Zierow«, bestätigt Marlies. »Die Familie betreibt das Fährhaus doch schon seit Ewigkeiten. Ist natürlich nicht mehr so viel los wie früher. Aber der Junge hält sich ganz tapfer. Bestimmt kann er dir helfen.«
Ich zögere. Offenbar deutlich sichtbar, denn Papa lacht und klopft mir auf die Schulter.
»Na, Alexander Zierow! Den meint Marlies. Erinnerst du dich nicht mehr an ihn?«
Oh doch. Und wie ich mich noch an Alexander Zierow erinnere!
Der erste Kuss, der erste Sex, der erste Liebeskummer. Es gibt verdammt viele Sachen, die ich das erste Mal mit Alexander Zierow erlebt habe. Die Tatsache, dass wir ab der ersten Klasse zusammen zur Schule gegangen sind, zähle ich hier nicht mal mit dazu. Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an ihn gedacht, aber jetzt, auf dem Weg in sein Café, geht es gar nicht anders. Alexander Zierow. Selbst meinem Vater, der mit seinem Gedächtnis nun solche Probleme hat, fiel sofort sein Name ein.
Marlies Dahl hat mir ihr Fahrrad geliehen, und so radle ich die schmale, mit Kopfstein gepflasterte Straße in Richtung Elbe hinunter. Zu Fuß hätte ich vermutlich auch nur zehn Minuten gebraucht, aber so dauert es keine zwei, bis ich das Fahrrad an dem Ständer vor dem Museum anschließen kann.
Als ich vor der Tür stehe, zögere ich. Es muss doch noch irgendeinen anderen Ort in Lenzenburg mit vernünftigem Internetempfang geben! Soll ich wirklich in ein Café gehen, das ausgerechnet von Alex geführt wird? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich zum Studium aus Lenzenburg weggegangen war. Gelegenheiten hätte es durchaus gegeben, schließlich fanden in regelmäßigen Abständen Ehemaligentreffen des Gymnasiums statt, an dem wir beide vor fünfundzwanzig Jahren Abitur gemacht haben. Das Letzte vor ein paar Monaten, eine Woche, nachdem wir Mama beerdigt hatten. Aber das war nicht der Grund, warum ich es nicht besucht habe. Die Wahrheit ist, dass ich auf keinem einzigen dieser Treffen war. Nicht nach fünf und auch nicht nach zehn oder zwanzig Jahren. Warum? Nichts Besonderes. Ich habe mich einfach nicht dafür interessiert, meine alten Klassenkameraden wiederzusehen, um zu erfahren, was sie jetzt so machen.
Mit Alex war das natürlich schon etwas anderes. Er war schließlich nicht irgendwer, sondern meine erste große Liebe. Aber eben auch gleichzeitig meine erste tiefe Enttäuschung. Ist es nicht ziemlich abwegig, jetzt einfach so in das Café von Alex zu marschieren, als hätten wir uns gestern noch gesehen? Wenn das letzte Treffen in Wirklichkeit ein Vierteljahrhundert her ist? In diesem Moment wird mir die Entscheidung abgenommen.
»Saskia?« Vor mir steht Alex. Vermutlich wundert er sich, warum seine Jugendliebe seit ungefähr fünf Minuten wie angenagelt vor der Tür seines Cafés steht.
»Hallo, Alex!«, grüße ich und klinge vermutlich ziemlich kühl. Dann beschließe ich, dass das reichlich albern ist, und ringe mich zu einem Lächeln durch. »Ja, ich bin es«, bestätige ich nun also deutlich freundlicher. »Ich freue mich, dass du mich noch erkennst.«
Alex lacht. Unglaublich – er klingt noch genau wie der neunzehnjährige Abiturient, in den ich so verliebt war. Die gleiche Stimmlage, die gleiche ansteckende Wärme. Ich merke, wie sich die feinen Härchen an meinen Unterarmen aufstellen.
»Wieso sollte ich dich nicht erkennen?«, sagt er dann. »Du siehst noch genauso aus wie früher. Hast dich wirklich kein Stück verändert!« Das ist nun doch ein bisschen dick aufgetragen.
»Kein Wunder«, erwidere ich, »ich habe die letzten fünfundzwanzig in der Kühltruhe meiner Eltern verbracht.«
»Ach, deswegen!« Alex reißt die Augen auf. »Das erklärt natürlich so einiges!«
»Nämlich?«
»Na, warum man dich nie mehr in Lenzenburg gesehen hat. Deine Schwester treffe ich laufend. Von dir: keine Spur! Aber wenn du neben den Schweinehälften und den Eiswürfeln geschlummert hast, ist das kein Wunder.«
»Siehst du! Und deswegen sehe ich noch so fantastisch aus.«
Nun lachen wir beide, und ich bin froh, dass sich die Situation so normal anfühlt. Alex dreht sich mit einer einladenden Geste zur Eingangstür.
»Wolltest du eigentlich ins Café? Oder hat dein Fahrrad zufälligerweise genau vor meiner Tür einen Platten?«
»Oh nein, kein Zufall. Natürlich nicht. Ich muss ganz dringend ein paar E-Mails erledigen, aber im Haus meiner Eltern gibt es nur unteridischen Internetempfang. Nicht mal der Verstärker hilft. Ich bin dir also wehrlos ausgeliefert.«
Wieder dieses warme Lachen.
»Tja, willkommen in der Provinz, du Großstadtmieze. Ich würde sagen, circa die Hälfte meines Umsatzes verdanke ich der Tatsache, dass direkt auf der anderen Seite der Elbe ein Mobilfunkmast mit einem sehr starken Signal steht. Es gibt im Café einen Gästecomputer, du kannst aber auch deinen eigenen Laptop oder deinTablet benutzen. Das WLAN ist ausgezeichnet.«
»Dann bin ich hier genau richtig!«, freue ich mich.
»Wir haben aber nicht nur ein starkes Signal, sondern auch sehr starken Kaffee«, fährt Alex fort, »und extrem leckeren Kuchen.«
Kuchen! Sofort blitzt eine Erinnerung in einem hinteren Winkel meines Hirns auf. Die berühmt-berüchtigten Backversuche von Alexander Zierow! Nie wieder habe ich so schlechte Schwarzwälder Kirsch oder so trockenen Butterkuchen gegessen. Schon damals hatten seine Eltern das Café im Fährhaus, aber zum Glück wurden dort nicht die Kreationen des eigenen Sohnes verkauft. Die waren ziemlich ungenießbar.
»Okay – ich sehe, du erinnerst dich gerade an meine Backversuche. Aber ich kann dir versichern: Ich habe die Aussichtslosigkeit meines Tuns erkannt und verkaufe im Café ausschließlich Kunstwerke unserer ausgezeichneten Konditorin Lana.«
»Puh!«, rufe ich, »das ist aber eine Erleichterung! Ich dachte schon, ich müsste mir ein staubtrockenes Stück Butterkuchen reinwürgen. Nur, damit du mir das Passwort für dein WLAN verrätst.«
»Du hast Glück. Ich verrate es dir sogar, wenn du nur ein Glas stilles Wasser bestellst«, brummt Alex, öffnet die Tür und lässt mich hindurchgehen. Direkt hinter der Tür liegt der Gastraum – und ich bin überwältig! Statt der dunklen, mit Eichenholz vertäfelten Wände, an die ich mich noch erinnern kann, stehe ich auf einmal in einem hellen, einladenden Raum mit bodentiefen Fenstern, die einen unglaublichen Blick auf die Elbe freigeben.
»Wow! Das sieht ja toll aus!«
»Warst du wirklich seit zehn Jahren nicht mehr hier?« Alex schüttelt den Kopf. »Ich dachte, ich hätte dich vielleicht einfach immer verpasst.«
Jetzt bin ich es, die den Kopf schüttelt.
»Ich war nicht mehr in diesem Gebäude, seitdem du mich kurz danach mit meinem Interrailticket am Bahnhof Uelzen hast sitzen lassen.«
»Ups.«
»Genau. Ups.« Mehr sage ich dazu nicht, und bevor die Stimmung kippt, deute ich auf einen der hübsch eingedeckten Tische. »Darf ich?«
»Na klar. Was kann ich dir denn bringen?«
»Ein Cappuccino wäre gut. Und das Passwort für euer WLAN.«
»Das lautet SchöneElbe1. S und E groß, alles zusammengeschrieben. Cappuccino kommt sofort.« Alex nickt mir zu und verschwindet. Ich setze mich und hole mein Handy und meinen Laptop aus der Tasche. Hoffentlich hält das WLAN hier, was Alex verspricht! Tut es. Leider, möchte ich fast sagen, denn keine zwei Minuten später rauschen hundertfünfzig weitere E-Mails in meinen Account. So lange war ich doch gar nicht offline! Auf meinem Handy tauchen fünfzehn ungelesene Nachrichten auf, fünf von Tabea, zehn von Tom, beide haben ziemlich oft versucht, mich zu erreichen. Ich rufe Tom über WhatsApp an.
»Endlich höre ich mal wieder deine Stimme!«, begrüßt er mich fröhlich. »Ich dachte schon, du seist von Außerirdischen entführt worden und hättest jeden Kontakt zur Erde verloren.«
»So ähnlich«, bestätige ich. »Ich habe tatsächlich keinen Kontakt mehr zur Erde, wie wir sie kennen. Nur sind es keine Außerirdischen, die mich entführt haben, sondern mein Vater. Nach Lenzenburg.«
»Moment – wollte nicht dein Vater zu dir nach Hamburg kommen?«
Ich seufze.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Okay, Hase. Dann musst du sie mir morgen erzählen. Hier ist es 9 Uhr, ich gehe gleich in mein erstes Meeting.«
Tom ist geschäftlich ein paar Tage in New York. Die Zentrale eines seiner größten Kunden hat dort ihren Sitz, ein milliardenschwerer Hedgefonds. Normalerweise wäre ich vielleicht sogar mit ihm geflogen.
»Dann wünsche ich dir viel Erfolg«, sage ich also, »und grüße die Wall Street von mir!«
Tom lacht.
»Mach ich. Ich melde mich noch mal, wenn ich etwas mehr Zeit habe. Dicker Kuss!«
Als wir aufgelegt haben, widme ich mich wieder meinem E-Mail-Postfach. Mit geübtem Blick scanne ich alle Nachrichen einmal im Schnelldurchlauf, trenne dabei die Spreu vom Weizen und überlege, was ich problemlos an Tabea delegieren kann. Auf alle Fälle Fragen zu Details des letzten Deals, den ich eingefädelt habe. Ich gebe meist nur die grobe Linie vor, während das Team dafür sorgt, dass das gesamte Zahlenwerk stimmt. Und darin ist Tabea perfekt. Es gibt einfach keine Stelle hinter dem Komma, die ihr entgeht.
Als könnte sie hören, dass ich gerade an sie denke, morst sie mich in diesem Moment über unser Videokonferenzsystem an. Wahrscheinlich hat sie aber einfach gesehen, dass ich inzwischen online bin.
»Mannomann, Saskia, wo steckst du denn?«, kommt ihre Stimme vorwurfsvoll aus meinem Laptop, noch bevor der Monitor ihr Bild zeigt.
»Tut mir leid, ich musste hier in der Provinz erst mal einen Ort finden, an dem ich überhaupt ausreichenden Empfang habe«, klage ich ihr mein Leid.
»Funktioniert der Cube immer noch nicht? Ich dachte, du hättest vorhin nur noch nicht die richtige Stelle gefunden, um ihn aufzubauen.«
»Ne, ich habe den nicht zum Laufen gebracht, der Empfang ist einfach zu schlecht.«
»Oh, Mist. Aber jetzt scheint doch alles reibungslos zu funktionieren. Wo bist du denn?«
»Es gibt eine Art Internetcafé in Lenzenburg. Oder besser gesagt: ein Café mit einem guten Gäste-WLAN. Dahin habe ich mich geflüchtet.«
»Und da kommt auch schon der Kaffee«, kommentiert Tabea. »Ich kann ihn hinter dir im Bild auftauchen sehen.«
Tatsächlich steht Alex auf einmal an meinem Tisch und stellt eine Tasse Cappuccino neben meinem Laptop ab.
»Bitte sehr!«, sagt er freundlich und geht wieder.
»Das ist aber ein netter Service«, sagt Tabea, »und ein gut aussehender noch dazu!«
»Psst!«, fauche ich. »Das kann hier doch jeder hören!«
»Wer ist denn jeder? Ich sehe hinter dir zwei Omis beim Kaffeekränzchen, ansonsten scheint der Laden doch leer zu sein.«
Ich drehe mich um. Tabea hat recht, ich bin mit den Omis allein. Die restlichen Tische sind alle frei, obwohl es mittlerweile 3 Uhr nachmittags und somit die perfekte Zeit für Kaffee und Kuchen ist.
»Stimmt. Aber Alex hätte es hören können. Das muss ja nicht sein«, flüstere ich in das Mikro meines Laptops.
»Oh, Alex? Ihr seid schon per Du? Das ging ja schnell«, lacht Tabea. »Dann bist du da ja in besten Händen.«
»Haha, sehr witzig. Alex ist ein Jugendfreund. Wir haben zusammen Abitur gemacht.«
»Wahnsinn, und der Typ ist immer noch in dem Kaff?«
»Ja«, antworte ich knapp, weil ich eigentlich nicht vorhabe, meiner Assistentin weiter Stoff für Spekulationen zu liefern. Die versteht den Wink sofort und räuspert sich.
»Also, am wichtigsten wäre, dass wir die Kundenanalyse zusammen durchgehen und du mir sagst, was wir ändern sollen. Die Praktikantin macht dann die entsprechenden Slides. Ich habe sie gebeten, heute länger zu bleiben.«
»Sehr gut«, lobe ich Tabea. »Ich bin allerdings noch nicht dazu gekommen, mir die Analyse durchzulesen. Die ersten vierzig Seiten sind als Rolle aus dem Uralt-Faxgerät meines Vater gekommen, die nächsten sechzig Seiten gar nicht. Ich brauche also noch einen Moment, dann melde ich mich wieder bei dir.«
»Kein Problem«, flötet Tabea. »Sag einfach Bescheid, wenn du so weit bist.«
»Mach ich. In der Zwischenzeit habe ich einen Spezialauftrag für dich.«
»Und der wäre?«
»Ich brauche dringend einen Termin für meinen Vater beim Neurologen. Irgendeiner hier in der Gegend. Lüchow, Uelzen, von mir aus auch in Lüneburg. Gerne mit einem Behandlungsschwerpunkt für Demenzerkrankungen.«
»Wird erledigt, Chefin!« Tabea tippt sich mit der flachen Hand an die rechte Schläfe.
»Danke! Dann mache ich mich jetzt mal an die Kundenanalyse.«
»Okay«, freut sich Tabea. »Eine wichtige Sache habe ich aber noch: Besteht eine klitzekleine Chance, dass du Freitag den Termin mit Sutaki in Präsenz wahrnimmst? Ich habe ihnen schon schonend beigebracht, dass wir dich wahrscheinlich dazuschalten müssen – sie haben es halbwegs verdaut, aber wirklich begeistert waren sie nicht. Sie wollten nämlich eigentlich den ganzen Tag in Hamburg verbringen, sich noch das Werk in Ahrensburg angucken und abends mit dir essen gehen.«
Ich seufze. Sutaki ist ein neuer und vielversprechender Kunde. Ein japanisches Pharmaunternehmen auf Expansionskurs in Deutschland. Tom hat den Kontakt gemacht, seine Anwaltskanzlei berät Sutaki rechtlich, und da unser Beratungsprofil perfekt passt, lag es nahe, uns zu vernetzen. Natürlich kann es vorkommen, dass die betreuende Partnerin – also ich – nicht immer verfügbar ist. Gerade zu Beginn einer Kundenbeziehung ist das aber zugegebenermaßen ungünstig, wobei das Fehlen beim Abendessen fast schlimmer ist als die Teilnahme an der Besprechung per Video.
»Gut, ich schau mal, ob ich meinen Vater schon einen Tag alleine lassen kann«, sage ich also. »Vielleicht hat die Nachbarin Zeit. Ich frage sie.«