Ein nasses Grab - Reginald Hill - E-Book

Ein nasses Grab E-Book

Reginald Hill

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Nach einer Autopanne landet Superintendent Andy Dalziel in Lake House, einem etwas heruntergekommenen Herrensitz. Bonnie, die kürzlich verwitwete Hausherrin, hat es Dalziel sofort angetan. Aber zugleich fällt ihm auf, dass sie der tragische Tod ihres Ehemannes nicht allzu sehr zu betrüben scheint ...

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Seitenzahl: 378

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Reginald Hill

Ein nasses Grab

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Silvia Visintini

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Motto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel

Doch wenn Melancholie vom Himmel fährt

Wie eine Wolke plötzlich tränen will,

Die alle schlaffen Blütenkelche nährt

Und Hügel hüllt ins Grabtuch des April –

John Keats, »Ode auf die Melancholie«

 

Deibel und Dalziel fangen beide gleich an,

der eine tut kein gut,

mit dem andern bist schlecht dran.

Altes Sprichwort aus Galloway

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1

Treulich geführt

Niemand wusste, wie es kam, dass Dalziel eine Rede hielt. Pascoe hatte sich nur äußerst widerstrebend zu einer kirchlichen Trauung überreden lassen, teils von der Stimme des Herzens (Mum freut sich drauf), teils von der Stimme des Geldes (Dad zahlt dafür), aber hauptsächlich wegen des – entrüstet abgestrittenen, aber durch gewisse Indizien durchaus begründeten – Verdachts, dass Ellie selbst eine wollte.

Was den Empfang betraf, waren sie sich jedoch einig gewesen. Bier und Pastete, bestimmte Pascoe. Sherry und Partyhäppchen, übersetzte Ellie ihrer Mutter. Schließlich lief es auf Champagner und Ragout-fin-Canapés hinaus, aber wenigstens musste man nicht bei Tisch sitzen, sondern konnte nach Belieben herumspazieren. Und niemand sollte Telegramme verlesen oder eine Rede halten. Am allerwenigsten Detective Superintendent Andrew Dalziel.

»Ich kenne Sergeant Pascoe, Inspector Pascoe, Peter, wahrscheinlich so gut wie jeder hier«, verkündete Dalziel.

»Am Champagner kann’s jedenfalls nicht liegen«, murmelte Pascoe. »Er wird nie betrunken. Zumindest merkt man’s nicht.«

»Das gilt nur für Scotch. Dad sagt, Andrew hat schon zwei Flaschen Champagner gekippt«, sagte Ellie.

»Er zählt also mit?«

»Nein! Es ist ihm nur aufgefallen, hauptsächlich deshalb, weil unser fideler Andrew ständig von Most redet. Und das tut weh, wenn man für echten jahrgangslosen Schampus löhnt.«

Sie kicherten und ernteten dafür tadelnde Blicke von einer Gruppe älterer Verwandter, die offensichtlich glaubten, dass Dalziels Rede das erste beruhigend normale Ereignis bei dieser Hochzeit war, wo die Braut nicht Weiß trug und es auch keine Festtafel gab, an der die ganze Gesellschaft Platz nehmen konnte. Wenn man’s im Stehen tut, zählt’s nicht, war eine Weisheit, die einen anständigen Menschen durch beinahe alle Beschwernisse des Lebens tragen konnte.

»Er ist ein guter Polizist«, versicherte Dalziel den älteren Verwandten. »Er wird es weit bringen. Verdient jeden Erfolg. Ich habe ihn von Anfang an gefördert. Und ich schmeichle mir nicht, wenn ich sage, dass ich ihm ein wenig die Stange gehalten habe …«

Er hielt inne und wischte sich die Stirn mit einem riesigen khakifarbenen Taschentuch. Die kahle Stelle, die sich unerbittlich ihren Weg durch die grauen Haarstoppeln bahnte, glänzte von Schweiß. Er lächelte jetzt, in Vorfreude auf den unanständigen Hochzeitswitz, auf den er gerade ungebremst zutrampelte, und mit seinem glänzenden Gesicht, dem breiten Grinsen, dem noch breiteren Wanst und dem stets in Reichweite seiner Lippen gezückten Champagnerglas hätte er eigentlich ein Bild Pickwickscher Jovialität abgeben müssen. Stattdessen wirkte er, als habe er eben die Tür eingetreten und geböte nun absolute Bewegungslosigkeit, weil seine Leute das Lokal umzingelt hätten.

»… ihm ein wenig die Stange gehalten habe bei seiner Karriere«, fuhr er fort. »Aber heute Abend, da muss er sich selbst helfen.«

»Herr im Himmel«, hauchte Pascoe.

Die älteren Verwandten fanden den Witz nicht besonders komisch, waren aber bereit, Punkte für den guten Willen zu vergeben.

»Ellie kenn ich nicht so gut. Aber sie wird sich wacker schlagen, da bin ich mir sicher. Mein alter schottischer Opa sagte immer, wenn du dir ein Mädel aussuchst, dann fang unten an und arbeite dich nach oben. Breite Hüften für den Nachwuchs, breite Schultern für die Hausarbeit und ein breites Lächeln für ein freundliches Wesen und ein friedliches Leben. Ellie wiederum …«

Irgendein Frühwarnsystem schien ihm gefunkt zu haben, dass er sich auf gefährlichem Kurs befand.

»Ellie«, wiederholte er. »Die Frau eines Polizisten zu sein ist ein schwieriger Beruf. Den kann nicht jede Frau ausüben. Aber wenn sie’s kann, und ich bin sicher, dass Ellie es kann, dann ist es eine großartige und lohnende Aufgabe. Für einen Polizisten gibt’s nichts Besseres, als wenn sich zu Hause jemand gut um ihn kümmert. Rein gar nichts, das kann ich Ihnen sagen … um mich hat sich seinerzeit auch jemand gekümmert … damals …«

»In jedem Tobias Rülps steckt auch ein Ritter Bleichenwang«, murmelte Ellie. »Er hätte lieber über mein großes Maul und meinen Riesenhintern weiterschwafeln sollen.«

»Und so«, schrie Dalziel, der mit diesem Ausbruch sein Abgleiten in die Selbstbetrachtung gestoppt hatte, »trinken Sie mit mir auf das glückliche Paar. Möge ihr Los ein glückliches sein.«

»Auf das glückliche Paar«, echote die versammelte Festgemeinde, bestehend aus ungefähr vierzig Verwandten, Kollegen und Freunden, während Pascoe und Ellie einander verliebt und forschend in die Augen sahen.

 

Als sie später über den Parkplatz des »Three Bells« zu Pascoes uraltem Riley liefen, trabte Dalziel neben ihnen einher und stemmte dem Regen, der sich nun bereits seit vierundzwanzig Stunden unablässig über Lincolnshire ergoss, einen Martini-Sonnenschirm entgegen.

»Viel Glück«, formulierte Dalziel lautlos Richtung Beifahrerfenster. Für Ellie war er hinter der Scheibe, an der das Wasser nur so herunterlief, so gut wie unsichtbar. Sie lächelte und winkte. Ihre Eltern und die anderen Gäste hatten ihren Hochzeitsstaat nicht dem Dauerregen aussetzen wollen, und so waren dem glücklichen Paar zumindest die üblichen primitiven Abschiedsriten erspart geblieben. Aber es gab darum auch niemanden außer Dalziel, dem Ellie hätte zuwinken können, und selbst der hatte ihnen mittlerweile Platz gemacht und sich hinter den Wagen verzogen.

»Fahren wir«, sagte sie.

Als sie sich umdrehte, sah sie ihn mitten auf dem Parkplatz stehen und den Sonnenschirm in einer Abschieds- und (versehentlich, wie sie hoffte) Drohgebärde schwingen.

»Und du bist sicher, er weiß nicht, wo wir hinfahren?«, fragte sie Pascoe bang.

»Niemand weiß das«, erklärte er voll Zuversicht.

»Na, Gott sei Dank. Ich würde ihm glatt zutrauen, dass er sich entschließt, seinen Urlaub mit uns zu verbringen.« Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entrang sich ihren Lippen, dann lachte sie plötzlich. »Aber lustig war er schon, oder? Die Stange hat er dir gehalten!«

Pascoe lachte mit ihr, und sie lachten sogar fünf Minuten später wieder, als sie von einem schwarz-weißen Polizeiwagen aufgehalten wurden und der Fahrer, ebenfalls im Panda-Look, sie fragte, warum sie einen Polizeihelm, einen Polizeistiefel und ein Transparent mit der Aufschrift Hallo! Hallo!! Hallo!!! hinter sich herzogen.

 

»Ich glaube, es ist alles sehr gut gegangen, George«, sagte Dalziel. »Sehr gut.«

Es klang, als beglückwünsche er sich selbst. Als habe er die Feier selbst organisiert.

»So sieht’s aus«, meinte Detective Inspector George Headingley und sah auf die Uhr. Er und Dalziel waren die letzten Überlebenden der fünf Polizisten, die von Yorkshire zur Hochzeit heruntergefahren waren. Genau genommen waren sie überhaupt die einzigen Überlebenden der ganzen Hochzeitsgesellschaft und hatten es nur ihrem Gewerbe und ihrem Ansehen zu verdanken, deren sich der Wirt des »Three Bells« wohl bewusst war, dass sie von ihm noch nicht in die feuchte Düsternis eines Frühlingsnachmittags in Lincolnshire befördert worden waren.

»Schauen Sie doch nicht dauernd auf die Uhr, George«, sagte Dalziel. »Trinken Sie noch einen.«

Er hatte sich von dem heimtückischen »Most« ab- und dem wahren Musenquell zugewandt. Zwei großzügige Portionen aus der Flasche Glen Grant Single Malt, die er sich besorgt hatte, hatten ihm seine gewohnte Würde und Gelassenheit zurückgegeben.

»Ich darf wirklich nicht mehr, Sir«, sagte Headingley. »Bei Ihnen ist ja nichts dagegen zu sagen, aber ich muss heute Abend noch zurückfahren. Weiß der Himmel, wie’s da oben zugegangen ist, während die fähigsten Geister sich hier unten tummelten.«

»Montage sind immer ruhig«, erklärte Dalziel. »Nur noch einen zum Abschied. Einen kleinen.«

Headingley wusste, dass Widerstand zwecklos war, wenn Dalziel sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er sah zu, wie die breite, starke Hand noch ein Quantum Scotch ins Glas goss. Da gab es kein Zittern, kein Verschütten. Was Dalziel unter einem »Kleinen« verstand, wurde in schottischen Pubs als doppelter Whisky serviert. Dalziels Herkunft wurde längst schon von seiner Sozialisierung in Yorkshire überlagert, doch in einigen Dingen schlug sein schottisches Erbe unverwässert durch. Große Traurigkeit übermannte ihn beim Anblick eines kleinen englischen Whiskys, und großer Groll, wenn jemand seinen Namen falsch aussprach.

Headingley kannte ihn, zumindest aus Erzählungen, schon sein ganzes Berufsleben. Als Headingley zur Polizei von Mid-Yorkshire stieß, war Dalziel Sergeant gewesen und hatte seinen Ruf schon begründet. Ein Gemüt wie ein Fleischerhund, hieß es bei den Sprossen des uniformierten Zweigs. Aber wenn der dich zwischen die Zähne kriegt, dann gute Nacht.

Dalziels Aufstieg zum jetzigen Rang eines Superintendent war zwar keineswegs kometenhaft gewesen, aber dennoch unaufhaltsam. Wenn das Flusspferd zum Luftholen auftaucht, behindern die weniger gewichtigen Organismen an der Oberfläche diesen Prozess auf eigene Gefahr. Einer dieser weniger gewichtigen Organismen war seine Frau gewesen.

Headingley konnte den Mann eigentlich nicht leiden, hatte sich aber in seinem eigenen Interesse einen Schutzschild aus Langmut und Zurückhaltung geschmiedet, der als Beziehung durchgehen konnte. Üblicherweise richtete er es so ein, dass er zwar in Dalziels Dunstkreis, jedoch ständig in Bewegung war. Dass er sich jetzt hier hatte festnageln lassen, war ein auf den Genuss von Champagner und Gefühlsduselei nach einer Hochzeit zurückzuführendes Missgeschick. Und auch, so vermutete er, auf Dalziels Unlust, allein zu bleiben.

»Glauben Sie, dass das gut geht?«, fragte er plötzlich.

»Was?«, fragte Dalziel.

»Das mit Pascoe und seiner Angetrauten.«

Der Dicke verschob seine Masse, der die mehrmonatige, episodische Fastenkur nicht augenfällig etwas hatte anhaben können, und heftete seinen kurzsichtigen Blick auf Headingley.

»Warum sollte es nicht?«, fragte er aggressiv.

Das weckt seinen Beschützerinstinkt, dachte Headingley. Obacht! Dass wir da bloß nichts Falsches über sein kostbares Wunderkind sagen.

Absurderweise merkte er, dass er eifersüchtig war.

Er leerte sein Glas und stemmte sich aus seinem Sessel.

»Nur so«, sagte er. »Ich muss jetzt wirklich, Sir. Ruhig oder nicht, ein paar von uns sind heute Abend wieder im Dienst.«

»Das ist mein erster Urlaub seit weiß der Himmel wie lang«, sagte Dalziel. »Heute in vierzehn Tagen bin ich wieder zurück.«

In seiner Stimme lag ein klagender Unterton, der Headingley mehr beunruhigte als Aggression.

»Wissen Sie schon, was Sie tun werden?«, fragte er vorsichtig.

»Nein.« Das graue Haupt schüttelte sich schwerfällig. »Ich werde ein bisschen rumfahren. Mir die Landschaft anschauen, wenn ich bei dem verfluchten Regen überhaupt was sehe.«

»Aha.«

Headingleys Stimme klang betont neutral, aber Dalziel bedachte ihn mit einem boshaften Blick.

»Aber wenn es mir zu langweilig wird, könnte es natürlich sein, dass ich früher zurückkomme und euch alle mit einer Zuckerstange überrasche, wo ihr sie am wenigsten erwartet.«

»Das wäre nett«, sagte Headingley. »Amüsieren Sie sich gut, Sir. Wir sehen uns in zwei Wochen.«

Als Headingley gegangen war, schraubte Dalziel langsam den Verschluss wieder auf die Flasche. Dann erhob er sich, nicht unsicher, doch mit einer Langsamkeit, die bei einem anderen durchaus in Unsicherheit hätte ausarten können. In weiser Voraussicht hatte er sich hier in Orburn ein Zimmer genommen. Im »Lady Hamilton«, dem ersten Haus am Platz, das nur ein paar hundert Meter vom »Three Bells« entfernt lag. Ein kurzer, flotter Fußmarsch war genau, was er jetzt brauchte. Der würde ihm das Wattegefühl aus dem Schädel pusten oder, bei diesem Wetter, spülen und ihn trefflich auf ein herzhaftes Abendessen vorbereiten. Diese Büfetts waren gut und schön, boten aber nichts, in das ein Mann sich so richtig verbeißen konnte, insbesondere einer, der sich entschlossen hatte, während seines Urlaubs das Fasten Fasten sein zu lassen.

Im Hotel erlebte er jedoch eine herbe Enttäuschung.

»Das Restaurant macht erst in einer Stunde auf«, eröffnete ihm der geschniegelte Direktionsassistent, der Dalziel in seiner Verbitterung vorkam, als sei er mit Möbelpolitur gesalbt. »Schließlich ist es noch nicht einmal halb sechs.«

»Tatsächlich?«, sagte Dalziel. Er trat nahe an den Mann heran und entblößte seine Zähne in einem humorlosen Lächeln. »Wenn das so ist, dann habe ich ja genügend Zeit, mich in Ihrer Küche umzusehen, nicht wahr?«

 

Trotz dieser wenig erfolgversprechenden Ouvertüre erwies sich das Essen als beinahe so gut wie in der Hotelwerbung verheißen. Und hinterher kam es, um dem Abend die restliche Würze zu geben, in der Bar noch zu einer Szene.

Eine hochgewachsene Blondine, die Dalziels Aufmerksamkeit erregt hatte, weil sie, ohne die winzigste Andeutung eines Busens, ein tief ausgeschnittenes Kleid trug, versetzte einem ihrer beiden männlichen Begleiter eins auf die Nase. Es war nicht bloß ein kleiner femininer Klaps oder Ausläufer eines etwas derben Herumgealberes, sondern ein ausgewachsener Faustschlag, der seinen Anfang hinter dem rechten Ohr der jungen Frau nahm und mit einem dumpfen Schmatzen auf der Nasenspitze des Mannes endete. Ein beachtlicher Schlag für so eine Bohnenstange. Er beförderte den Empfänger rückwärts von seinem hohen Barhocker und löste eine interessante Kettenreaktion die ganze Bar entlang aus.

Dalziel saß an einem Tisch neben der Tür und grinste vor Vergnügen. Die junge Frau, die neunzehn, höchstens zwanzig sein konnte, ergriff nun in aller Ruhe ihre Tasche und verließ den Bartresen. Dalziel stand auf und öffnete ihr die Tür.

»Gut gemacht, Mädel«, sagte er und äugte ihr leutselig in den Ausschnitt. »Das hat mir wirklich Spaß gemacht.«

»Hat es das?«, fragte sie. »Dann freuen Sie sich bestimmt über eine Zugabe.«

Dalziel stand, und er war auch viel kräftiger gebaut als ihr erster Gegenspieler. Trotzdem beförderte auch ihn der Schlag rückwärts auf seinen Tisch, wobei sein Glas zu Bruch und der Aschenbecher zu Boden ging.

»Mensch!«, sagte er und befühlte vorsichtig seine Nase, während er dem entschwindenden Rücken der schlagfertigen Maid hinterhersah.

Sein finsterer Blick glitt durch den ganzen Raum, eine Warnung an alle Anwesenden, sich bloß nicht an seiner Schmach zu weiden. Doch die meisten richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Bemühungen, die Ordnung an der Bar wiederherzustellen. Der zu Boden gegangene junge Mann blutete ein wenig, sah aber eher verwirrt als schmerzgepeinigt aus. Er war Anfang zwanzig, blond, groß, athletisch schlank, ein Typ, den Dalziel mit den Dreiviertel-Spielern moderner Rugby-Teams assoziierte, die sich hauptsächlich aus jungen Männern namens Bingo und Noddy zusammensetzten. Sein Begleiter war etwa gleich alt, aber kleiner und wohlbeleibter, genau genommen bei weitem zu wohlbeleibt für einen Jüngling in diesem Alter.

Anscheinend war er der Einzige an der Bar, der sein Glas hatte retten können, und er musterte die anderen mit einem leicht selbstgefälligen Grinsen.

»Charley«, sagte er. »Ich glaube, du solltest den Leuten hier einen ausgeben.«

»Gib du doch einen aus«, sagte Charley. »Immerhin ist sie deine Schwester, diese Kuh.«

Jemand betrat hinter Dalziel den Raum.

»Gibt’s ein Problem?«, fragte ihn eine Stimme ins Ohr.

Er wandte sich um und erblickte einen kleinen Mann mittleren Alters, der einen derart abscheulich geschnittenen alten Nadelstreifenanzug trug, dass man nicht einmal sagen konnte, er habe schon bessere Tage gesehen.

»Problem?«, fragte Dalziel zurück.

»Ich war im Restaurant. Einer der Kellner sagte etwas von einem Tumult.«

»Tatsächlich?«, sagte Dalziel. »Ich hab nix gesehen.«

Er wandte sich um und ging, hocherfreut, endlich einmal selbst an und nicht unter Zeugenblindheit leiden zu dürfen. Nur ein Sadist oder ein Zeitungsreporter würde sich durch das Gerücht von einer Rauferei aus dem Speisesaal des »Lady Hamilton« locken lassen, und Dalziel hatte keine Lust, seinen Urlaub als komische Einlage in irgendeinem Lokalblättchen zu beginnen. Und wenn er es sich richtig überlegte, hatte er auch sonst keine Lust, seinen Urlaub zu beginnen. Er sollte ihm guttun, ihm helfen, die Reizbarkeit und Erschöpfung loszuwerden, die in den letzten Monaten in seinem Berufsleben immer mehr überhandgenommen hatten. Allerdings war es gerade die Zeit, während der er nicht arbeitete, die Zeit, die er mit sich allein verbrachte, die er am meisten fürchtete, und alles, was ein Urlaub ihm bringen würde, wäre mehr von dieser Zeit. Doch probieren musste er es, so viel war ihm klar. Andernfalls … nun, es gab kein Andernfalls, das er sich ausmalen wollte.

Morgen würde er wie ein braver Tourist aufbrechen, um abseits der ausgetretenen Pfade die Landschaft von Lincolnshire zu erfahren. Vierzehn Tage Frieden und Stille, und dann wie neugeboren zurück an die Arbeit. Vielleicht.

Bis dahin jedoch schob er, wie er es nun schon viele Nächte lang getan hatte, den Augenblick des Lichtausmachens immer weiter hinaus, bis er an der Schwelle des Schlafes stand. Er schenkte sich eine wohlabgemessene Menge Scotch ein und stellte das Glas auf den Nachttisch. Dann stieg er ins Bett, gehüllt in einen Schlafanzug, der sich von Muster und Größe her als Bezug für drei oder vier Liegestühle geeignet hätte, setzte sich die Lesebrille behutsam auf die noch immer schmerzende Nase und nahm sein Buch zur Hand, Bulwer-Lyttons Letzte Tage von Pompeji. Er hatte sie aus dem Hotel mitgehen lassen, in dem er seine Flitterwochen verbracht hatte, und las mittlerweile bereits dreißig Jahre daran.

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2

Brücke ins Nichts

Die Landschaft war randvoll. Es hatte die ganze Nacht weitergeregnet, und Dalziel war mehrmals aufgewacht und hatte das monotone Pizzicato auf dem winzigen Metallbalkon gehört, den ein besonders witziger Baumeister vor das nicht zu öffnende Fenster gesetzt hatte. Es hatte mehrerer therapeutischer Malts bedurft, um sich ein paar Stunden traumlosen Schlafs zu verschaffen, und um acht Uhr hatte er fertig gepackt und war bereit fürs Frühstück.

Er ließ sich an der Rezeption die Rechnung geben, und just in dem Moment kam der Direktionsassistent vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Dalziel jedoch, dem kindischer Groll fernlag, wandte sich vergnügt an ihn.

»Hören Sie«, sagte er. »Es gibt zwei Dinge, die ich nicht mache. Ich zahle keine Mehrwertsteuer auf den Bedienungszuschlag, und ich zahle keinen Bedienungszuschlag auf die Mehrwertsteuer. Klären Sie das.«

Es dauerte zwar eine Weile, bis das geklärt war, dennoch war er kurz nach halb zehn bereits unterwegs.

Orburn, ein Landstädtchen mit ungefähr siebentausend Seelen, war ein Stiefkind sowohl des Fortschritts als auch der Geschichte. Nichts Weltbewegendes hatte sich hier je ereignet, und auch jetzt war keine Änderung in Sicht.

Dalziel hatte, mehr aus Gewissenhaftigkeit denn aus Begeisterung, in einem Reiseführer durch Lincolnshire nachgelesen und wusste daher, was es über das Städtchen zu wissen gab, nämlich nur eines: Die kleine frühgotische Kirche, in der Ellie und Pascoe getraut worden waren, hatte eine schöne achteckige Turmspitze vorzuweisen, ihn dadurch jedoch nicht nachhaltig zu beeindrucken vermocht. Die einzige Wahl, die Dalziel somit zu treffen blieb, war die Richtung, die er einschlagen wollte. Die Hauptstraße (wenn man sie denn so nennen konnte) der Stadt verlief von Osten nach Westen. Sein Wagen zeigte nach Westen, also wählte er diese Richtung. Etliche Meilen später stieß er auf die von Norden nach Süden führende Fernstraße und sah sich vor die nächste Wahl gestellt. Fuhr er nordwärts, würde er nach Lincoln kommen, dem er eigentlich einen Besuch abstatten müsste. Doch in dieser Richtung lagen auch sein Zuhause und seine Arbeit, und irgendetwas sagte ihm, er würde, einmal Richtung Norden unterwegs, nicht haltmachen, bis er den betretenen Mienen von Inspector George Headingley und seinen Kollegen entnehmen konnte, dass er sich wieder auf heimatlichem Boden befand.

Er wandte sich also gen Süden, kroch zehn Minuten halbblind im Kielwasser einer Lastwagenflotte dahin, verließ schließlich wutentbrannt die Hauptstraße und arbeitete sich über ein Netz schmaler Landstraßen wieder ostwärts. Erst jetzt erkannte er, wie nass es wirklich war. In seiner Morgenzeitung war von heftigen Überschwemmungen in einigen Teilen des Landes die Rede gewesen, aber gedruckt machte das so wenig Eindruck wie Schießereien in Ulster oder Flugzeugkatastrophen in den Anden. Jetzt allerdings, da er jedes Mal, wenn die Straße in eine Senke führte, diese mit brauner Brühe gefüllt vorfand, dämmerte ihm langsam, dass das Wetter ein entscheidender Faktor bei seinen Plänen sein würde. Schließlich blieb er stehen, teils, weil die nächste Senke verdächtig tief aussah, und teils, weil ein Wegweiser ihn auf eine von links kommende Straße aufmerksam machte oder genauer gesagt darauf, dass dort eine Straße hätte sein müssen. Parallel zu der Straße, der er folgte, verlief ein Bach, die eigentliche Ursache der ganzen Überflutungen. Und über diesen Bach spannte sich eine Buckelbrücke, jetzt allerdings eine Brücke ins Nichts. Am gegenüberliegenden Ufer war die Erde wahrscheinlich abgerutscht, der Bach hatte seine Ufer völlig zerstört, und die Brücke führte ins Wasser.

Dalziel stieg aus dem Wagen und schaute auf den Wegweiser. Drei Kilometer weiter in seiner Richtung lag High Fold, während ihn bei besserem Wetter die Brücke nach drei Kilometern nach Low Fold geführt hätte, und nach nicht einmal zwanzig (hier lachte er freudlos), hätte er Orburn erreicht. Er sah auf die Uhr. Er hatte mehr als eine Stunde gebraucht.

Er schlenderte hoch zur Buckelspitze und blickte hinaus auf die überfluteten Felder. Zu seiner Überraschung bemerkte er, dass der Regen aufgehört hatte, doch die Luft war noch immer sehr feucht. Es war ziemlich warm, und hinter der fadenscheinigen Wand der tiefhängenden Wolkendecke leuchtete es sogar schmutzig orange hervor. Hier versuchte vermutlich die Sonne in einem Akt der Selbstzerstörung etwas von der Feuchtigkeit der jüngsten Niederschläge wieder in die Luft zurückzusaugen. Nebelkringel setzten hier und da Jugendstilmuster in die regelmäßigere Abfolge von Bäumen und Hecken, die die Wasseroberfläche durchbrachen. Stellenweise erhoben sich auch höher gelegene Flächen heiter aus den Fluten. Auf einer davon war etwa einen Kilometer weit weg ein Haus auszumachen, dem Bauart und Entfernung die Umrisse einer Burg aus dem Märchenbuch verliehen. Jemand hatte eine glückliche, oder weise, Wahl getroffen, als er diesen Bauplatz gewählt hatte. Weiter als bis dahin konnte man in dieser feuchten Luft nicht sehen, doch die Fluten erstreckten sich bestimmt bis zum sichtbaren Horizont.

Wasser an Stellen, wo es nicht hingehört, hat etwas unsäglich Deprimierendes. Dalziel blickte von der Brücke hinunter, und ihm schien, als wären die braunen Tiefen voller toter Dinge. Alles, was er sehen konnte, waren Blätter und Äste, die auf der Oberfläche trieben. Vermutlich lebten darunter Fische und anderes Wassergetier. Und vermutlich hatten die Fluten bei ihrem Überfall auf trockenes Land auch getötet, keine Menschen, wie zu hoffen stand, aber sicher Vieh und Wild.

Was würde ich tun, dachte Dalziel, während er in den angeschwollen Bach starrte, der unter ihm dahinfloss, was würde ich tun, wenn ich eine Leiche vorübertreiben sähe? Sie ignorieren und weiter Urlaub machen?

Düster schüttelte er seinen enormen Schädel. Er war in seinem Leben so weise gewesen, nicht die Tiefen dessen ausloten zu wollen, was ihn selbst antrieb und ausmachte, doch er wusste nur allzu gut, dass er höchstwahrscheinlich Hexenschuss, Beri-Beri und weiß der Himmel was sonst noch riskieren und in diese dreckige Brühe hinauswaten würde, um den Leichnam zu bergen, und sich anschließend zum Befremden und Verdruss eines hiesigen Vertreters des Gesetzes so lange vor Ort herumtreiben, bis die Todesursache zu seiner Zufriedenheit geklärt wäre. Überschwemmungen wären eine gute Gelegenheit, sich eines unliebsamen Verwandten zu entledigen, überlegte er scharfsinnig.

Nein! Verflucht noch mal! So ging das nicht. Der Urlaub, darum ging es.

Frische Luft atmen, den Einklang mit der Natur suchen, in Schönheit baden, der Geschichte huldigen – a) Ferien in England plus b) ausgelaugter Polizist ergibt c) Neubelebung von b) durch a).

Egal, was für eine Leiche mir da unter der Nase vorbeischwimmt, ich sage ahoi und adieu, schwor sich Dalziel und schritt, der Symbolik ebenso ihren Tribut zollend wie der Notwendigkeit, hinunter an das vom Wasser umspülte Ende der Brücke, öffnete seinen Hosenschlitz und entleerte sich in die Fluten.

Er hatte sein Geschäft soeben verrichtet, da ließ ein Geräusch ihn aufsehen. Es war ein langes Knarren, gefolgt von einem leisen Platschen. Und es kam wieder, hinter einem keilförmigen Buchenwäldchen hervor, das etwa fünfzig Meter zu seiner Linken unerschütterlich aus dem Wasser ragte. Der Nebel schien hier besonders dicht, und Dalziel musste sich sehr anstrengen, um die graue Wand, die ihm die Sicht versperrte, zu durchdringen. Dann tauchten Umrisse aus dem Nebel auf. Die Klangfolge war wieder zu hören. Und mit einem Mal war ein Ruderboot zu sehen. Hastig machte er sich daran, seinen Hosenschlitz zu schließen.

Das Boot glitt an ihm vorüber, der Ruderer zog die Riemen mit langen, bedächtigen Schlägen durch. Er sah aus wie ein Mann, der sein ganzes Leben lang Landluft geatmet hatte, wettergegerbt und fit, irgendwo zwischen fünfzig und hundert, aber fähig, bis in alle Ewigkeit weiterzurudern. Im Bug saß, wie eine verkehrt herum montierte Galionsfigur, noch ein Mann. Sein Alter ließ sich genauer bestimmen, er musste um die siebzig sein, und sein Profil hätte jeder römischen Münze zur Ehre gereicht. Doch Dalziels Aufmerksamkeit galt weder dem einen noch dem anderen.

Mit im Boot saß nämlich eine Frau, ganz in Schwarz, bis hin zu einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Ihr Kopf bewegte sich nicht, als sie vorüberfuhr, doch Dalziel hatte das Gefühl, dass die Augen es taten und ihn hinter dem Schleier hervor anblickten. So fesselnd war dieses Bild, dass Dalziel sein makaberstes Detail zunächst gar nicht wahrnahm.

Das Ruderboot zog etwas hinter sich her, einen kleinen Plattbodenkahn.

Darauf stand ein Sarg.

Es war unverkennbar ein Sarg. An den dunklen Mahagoniseiten glänzten Messinggriffe, und drei Kränze verspritzten Weiß und Grün über den Deckel. Selbst die offenkundige Meisterschaft des Ruderers konnte das Schlepptau nicht vollkommen straff halten, so dass sich diese sonderbare Fracht ruckartig voranschob und ihr Schwung sie am Ende jedes Schlages beinahe das Heck des Ruderboots rammen ließ, als wäre hier eine Verfolgungsjagd im Gange. Aber die Frau drehte sich nicht um, und Dalziel blieb unbeweglich stehen, in einer Mischung aus Staunen und der althergebrachten Ehrerbietung, die man einem Leichenzug auf der Straße erwies.

Dann war ein neues Geräusch hinter dem Wäldchen hervor zu hören. Wieder ein Platschen, nicht jedoch das leise Eintauchen fachmännisch geschwungener Ruder, dazu Stimmengeschnatter und hie und da ein Ausruf.

Noch ein Boot tauchte aus dem Nebel auf, doch wenn das erste eine Schöpfung Lord Tennysons hätte sein können, so verdankte dieses seine Existenz eher Jerome K. Jerome.

Es war ein großer Stocherkahn von der Art, wie man ihn früher zur Entenjagd benutzte, mit einem im Bug montierten Ofenrohrgewehr, das, wenn auch durch fehlende Wartung und Nutzung verrostet, immer noch bedrohlich aussah. Fehlt hier womöglich auch die Lizenz?, fragte sich Dalziel.

Sechs Leute saßen in dem Kahn, der gefährlich tief im Wasser lag. Das Dollbord ragte maximal drei Zentimeter über die Wasseroberfläche, und bei jedem Stangenstoß des Stocherers, den Dalziel sofort als seinen Leidensgefährten des vorangegangenen Abends identifizierte, schwappte Wasser darüber. Die brustlose Maid saß neben dem wohlbeleibten Jüngling, der noch immer denselben selbstgefälligen Ausdruck zur Schau trug. Ihm gegenüber saß ein Junge von etwa sechzehn Jahren, schmächtig zwar und mit ernstem Gesicht, dem Dicken aber noch immer so ähnlich, dass man meinen konnte, er sei diesem soeben entschlüpft. Und neben dem Jungen saß eine junge Frau, deren glattes kohlrabenschwarzes Haar und teilnahmsloses Gesicht mit den hohen Backenknochen Dalziel an ein Indianermädchen erinnerte (an Pocahontas im Volksschul-Geschichtsbuch und weniger an die Kleine Rote Feder aus den Rugby-Zoten, seine beiden einzigen einschlägigen Informationsquellen).

Im Bug schließlich saß, lässig an das Gewehr gelehnt, ein dunkler, hässlicher Mann, wahrscheinlich in den Zwanzigern. Sein Alter zu schätzen war allerdings schwer, denn wie es aussah, probte sein schwarzes Haar gerade den Aufstand, und nur die Anhöhe seiner Nase und die Mulde seiner Augen setzten dem wirklich Widerstand entgegen.

Trotz des pietätlosen Schlagabtausches, der zwischen der Brustlosen und dem Stocherer stattfand, war klar, dass dieses Boot im Konvoi mit dem Ruderboot fuhr. Wenn hier irgendetwas darauf hindeutete, dass eine Trauergesellschaft unterwegs war, dann höchstens der schwarze Rollkragenpullover, den der Junge trug, obwohl auch alle anderen sich zumindest ein wenig Mühe gegeben hatten. Der Dicke trug eine schwarze Binde am Ärmel seiner Tweedjacke, der Haarige hatte sich eine schwarze Rosette an sein University-of-Love-T-Shirt geheftet, das Indianermädchen trug zwar eine weiße Bluse und weiße Hosen, sah aber aus, als sei sie eigens für eine Beerdigung geschnitzt worden, und die Brustlose hatte eine schwarze Schleife um ihren Strohhut gebunden. Ihr einziger Schutz vor dem nächsten Regenguss, der bestimmt nicht lange auf sich warten ließe, waren ein Sonnen- und zwei Regenschirme, die alle Männer außer dem Stocherer schräg über der Schulter trugen. Dieser leistete seinen Beitrag zur Feierlichkeit des Anlasses und seiner eigenen Trockenheit in Form eines schwarzen Plastikregenmantels, unter dem er allerdings in Kricketmontur zu stecken schien. Schwimmen wäre als Sport vielleicht eher angezeigt, dachte Dalziel und verfolgte interessiert die Fortbewegungsbemühungen des jungen Mannes. Im Grunde war sein Stil nicht unelegant, wie er so die Stange hochriss und sie mit einer lässigen, flinken Drehung aus seinen starken, geschmeidigen Handgelenken wieder ins Wasser gleiten ließ. Das Problem bestand wohl darin, wie Dalziel vermutete, dass die Stange dann bis zu einem Meter tief in durchweichte Erde stieß, und die Bemühungen des Stocherers, sie herausziehen, als Bremse wirkten. Und so bewegte sich der Kahn noch ruckartiger vorwärts als der Sarg.

Das Indianermädchen erblickte Dalziel als Erste und machte die anderen auf ihn aufmerksam. Der Dicke sagte etwas, und alle außer dem Jugendlichen lachten. Dalziel war durchaus bereit zuzugeben, dass der Anblick eines korpulenten Herrn, der allem Anschein nach auf dem Weg in ein über einen Meter tiefes Gewässer war, einer gewissen Komik nicht entbehrte. Dennoch mutete ihn Gelächter unter diesen Umständen als Verstoß gegen den guten Ton an.

Das Ruderboot war jetzt nicht mehr zu sehen, und Dalziel schaute dem Stocherkahn hinterher, bis auch dieser verschwunden war. Dann kehrte er über die Brücke zurück zur Straße und sondierte dort die Tiefe des Wassers. Sie war gerade noch im sicheren Bereich, und er lenkte den Wagen mit äußerster Vorsicht hindurch.

Jetzt stieg die Straße wieder an und verlief am Rand des etwas höher gelegenen Geländes zu seiner Rechten, das wie eine Sperre für den über die Ufer getretenen Bach wirkte. Von der Spitze dieser kleinen Anhöhe konnte er ziemlich weit sehen. Die Straße senkte sich wieder, und in etwa hundert Meter Entfernung war erneut ein zwischen dreißig und vierzig Meter langer Abschnitt überflutet. Doch danach stieg sie wahrscheinlich stetig über Hochwasserniveau an, denn genau jenseits der überfluteten Senke warteten ein Leichenwagen und zwei andere Autos. Der Ruderer stand im Wasser und schob den Sarg an Land, wo der mit Zylinder behütete Leichenbestatter und seine Helfer bemüht waren, ihn zu ergreifen, ohne sich die Füße nass zu machen.

Dalziel hielt an und nahm wieder seinen Beobachterposten ein. Schließlich war alles geschafft, auch die Leute aus dem Stocherkahn erreichten wohlbehalten das Ufer und verteilten sich auf die beiden Autos. Die Frau und der alte Mann hatten vermutlich schon längst im ersten Wagen Platz genommen, und so fuhr die traurige Prozession nun langsam davon. Zurück blieb der Ruderer, der im Bug seines Boots saß und sich seine wohlverdiente Zigarette drehte.

Als der Trauerzug nicht mehr zu sehen war, startete Dalziel wieder seinen Wagen und durchquerte, »One More River To Cross« summend, langsam die vor ihm liegende Senke. Nie zeigte sich das Leben so von seiner heiteren Seite wie beim Anblick einer fremden Beerdigung.

Auf halbem Wege erkannte er plötzlich, dass die Senke viel tiefer war als erwartet. Im selben Moment hustete der Motor einmal auf und erstarb. Dalziel schaltete die Zündung noch einmal ein, dann machte er sie endgültig aus.

Er kurbelte das Fenster herunter und wandte sich mit all dem Charme und der Diplomatie, die ihm zu Gebote standen, an den desinteressierten Rudermann.

»He, Sie!«, schrie er. »Schieben Sie mal an.«

Der alte Schiffer sah ihn einen Moment gleichgültig an, dann stand er langsam auf und kam näher. Er hatte Gummistiefel an, die ihm bis zu den Knien reichten, und trotzdem schwappte das Wasser gefährlich hoch bis zu den Rändern der Stiefelröhren.

Als er das offen stehende Fenster erreicht hatte, blieb er stehen und sah Dalziel fragend an.

»Und?«, sagte er.

»Stehen Sie da nicht rum«, raunzte Dalziel ihn an. »Schieben Sie.«

»Ich bin aber nicht zum Schieben gekommen«, erwiderte der Mann, »sondern zum Verhandeln.«

Er erwies sich als harter Feilscher, gänzlich uninteressiert an einer erfolgsabhängigen Remuneration. Erst als er die Pfundnote, die Dalziel ihm gegeben hatte, zu einem Quadrat mit drei Zentimetern Seitenlänge zusammengefaltet und tief an einen offensichtlich subkutanen Ort gesteckt hatte, begann er zu schieben. Doch es war umsonst. Schließlich kramte Dalziel seine eigenen Tatortstiefel aus dem Verhau im Fond und gesellte sich zu ihm ins Wasser. Langsam schob der Wagen sich vorwärts, doch als er endlich auf dem Weg nach oben war, erwies sich sein Gewicht zusammen mit dem Wasserwiderstand als unüberwindliches Hindernis.

»Scheiße!«, sagte Dalziel.

Sie setzten sich gemeinsam aufs Ruderboot und rauchten. Dalziel hatte bereits die eine Zigarette konsumiert, die er sich mittlerweile nach dem Frühstück gestattete, doch er fand, dass dies ein besonderer Anlass sei.

»Kommen sie bald zurück?«, fragte er zwischen zwei Zügen.

»Halbe Stunde«, kam die Antwort. »Dauert nicht lange, einen unter die Erde zu bringen.«

»Gut«, sagte Dalziel. »Ich werde den Leichenbestatter bitten, mich mitzunehmen. Wen begraben sie denn?«

»Mr. Fielding.«

»Wer ist das?«

»Der Mann von Mrs. Fielding«, lautete die wenig hilfreiche Antwort.

»Mrs. Fielding saß bei Ihnen im Boot?«

Dalziel langte in seine Tasche, holte die kleine Notfallflasche heraus, die er immer im Wagen mit sich führte, tat einen tiefen Zug und bot sie seinem Gefährten an.

»Dankschön«, sagte der und trank.

»Den haben Sie aber nicht daheim im Schuppen gebrannt«, fügte er hinzu, als er fertig war.

»Nein. Sind Sie Mrs. Fieldings …?«

Er ließ die Frage in der Luft hängen.

»Ich arbeite oben im Haus. Mach so ziemlich alles, was zu tun ist und sich nicht von selber tut, während man rumliegt und redet.«

»Verstehe. Keine schlechte Arbeit, wenn man’s richtig anstellt«, sagte Dalziel und grinste verständnisinnig. »Trinken Sie noch einen. Das war doch die Familie von Mrs. Fielding, oder?«

Warum er sich jetzt für die Fieldingschen Familienverhältnisse interessierte statt einzig und allein dafür, seinen Wagen aus dem Wasser und wieder flottzukriegen, wusste er selbst nicht. Aber irgendwie musste er sich die Zeit ja vertreiben, und es war ebenso schwer, sich die berufsbedingte Neugier abzugewöhnen wie das Rauchen, das Trinken oder die Gier auf die dritte Portion Fleischpastete mit Kartoffeln.

»Die meisten schon. Der Alte ist ihr Schwiegervater. Dann sind da die drei Kinder.«

»Welche waren das?«, unterbrach ihn Dalziel.

»Die zwei Jungs, der Bertie, das ist der Ältere, der mit der Wampe. Und der Nigel, der Kleine. Und ihre Schwester, die Louisa.«

»Die Dünne?«

»Sie haben aber verdammt gute Augen«, sagte der Mann und genehmigte sich noch einen. »Muss an dem Zeug hier liegen.«

»Und was ist mit den anderen?«

»Freunde. Gäste«, grunzte der Alte.

»Wegen der Beerdigung?«

»I wo. Die waren schon da, als er abgekratzt ist. Nicht, dass Sie glauben, dass es ihnen was ausgemacht hat. Keinem von denen. Nee. Die haben einfach weitergemacht.«

»Ach ja?«, sagte Dalziel und dachte daran, dass das Trio, das er am vergangenen Abend im »Lady Hamilton« beobachtet hatte, sich durchaus nicht wie gramgebeugte Hinterbliebene gebärdet hatte.

»Wie kommt’s, dass Sie das Wasser gewählt haben?«, fragte er. »Kamen die Leute von der Bestattung nicht bis zum Haus?«

»Hätten einen weiten Umweg machen müssen. Das haben sie sich gleich heute Morgen nach dem Regen von letzter Nacht angeschaut. So viel Zeit hatten sie nicht. Bei dem nassen Wetter haben sie einen Haufen zu tun. Also hat es geheißen, entweder die Boote oder warten. Und die wollten den Sarg so schnell wie möglich los sein.«

»Na ja, ist wahrscheinlich auch ein bisschen ungesund, ihn im Haus rumstehen zu haben«, sagte Dalziel nachsichtig.

»O ja. Besonders, wenn er auf dem Billardtisch steht.«

»Woran ist er denn eigentlich gestorben?«, fragte Dalziel, dem das unablässige Plätschern des Wassers langsam auf die Nerven ging.

»Die einen sagen, sein Herz hat’s nicht mehr gemacht«, meinte der Ruderer. »Und die anderen sagen, die Luft ist ihm weggeblieben.«

Nur mühsam verkniff Dalziel es sich loszuschnauzen: Kommen Sie mir ja nicht komisch!

»Und was sagen Sie?«, fragte er stattdessen.

»Ich? Was weiß ich denn?«

Er verfiel in ein Schweigen, das eindeutig nicht durch herkömmliche gesellschaftliche Gepflogenheiten zu brechen war.

Dalziel ging ein Stück am Rand des Wassers entlang und blieb dann stehen, um das Gewehr auf dem Stocherkahn zu inspizieren. Einst eine respekteinflößende Waffe, war es offensichtlich schon lange nicht mehr in Gebrauch. Geglänzt hatte das Metall zwar sicher nie (warum den armen Enten auch nur den Hauch einer Chance geben?), doch jetzt war es verrostet und verdreckt, und eine Spinne hatte hoffnungsvoll ein paar Fäden über die Mündung gesponnen.

Es fing an zu regnen, und ein paar Augenblicke später kehrte er in den Schutz seines Wagens zurück. Der Rudermann ignorierte seine Einladung, sich zu ihm zu gesellen, und blieb, wo er war. Sogar seiner Zigarette schien der Wolkenbruch nichts anhaben zu können.

Fast eine halbe Stunde später kam der erste Teilnehmer der Trauergesellschaft zurück. Es war der blonde junge Mann, allein und zu Fuß.

»Kacke!«, sagte Dalziel und kletterte wieder aus dem Wagen.

»Hallo«, sagte der Jüngling, als Dalziel näher kam. »Sind Sie im Wasser stecken geblieben?«

Dalziel gratulierte ihm mit einem Lächeln.

»Ja«, sagte er. »Wo sind die anderen Autos?«

»Ich habe Pappy gerade erzählt, dass einen halben Kilometer von hier, hinter der Kurve, das Wasser noch höher steht. Es hat ihnen schon nicht gepasst, dass sie auf dem Weg zur Kirche mit ihren kostbaren Limousinen durchs Wasser mussten, und jetzt ist es noch schlimmer. Also haben sie mich geschickt, damit ich die Boote noch ein bisschen weiter bringe.«

Doch offensichtlich machte ihm das nichts aus, denn er grinste vergnügt. Dalziel konnte sich denken, wer ihn dazu ausersehen hatte. Wer immer sich von einer Frau eins auf die Nase geben ließ, ohne unverzüglich die Ordnung wiederherzustellen, brauchte sich nicht zu wundern, wenn das erst der Anfang der Schikanen war.

Der Ruderer legte bereits ab.

»Warten Sie«, sagte Dalziel. »Ich hole meine Sachen.«

Als er zum Auto zurückwatete und seinen alten Pappkoffer auslud, kam ihm der Wasserstand deutlich höher vor. Vorsichtig kehrte er zur trockenen Straße zurück, da sah er zu seinem Verdruss, dass das Ruderboot bereits unterwegs war und ihn damit der ungewissen Gnade des Stocherkahns ausgeliefert hatte.

»Der hat’s aber eilig«, grunzte Dalziel, als er seinen Koffer sorgsam auf einen der Sitze stellte. Der Boden des Kahns sah aus, als ob selbst die kleinste Münze, aus einem Meter Höhe fallen gelassen, ein Loch hineinschlagen würde.

»Ein ergebener Diener«, sagte der andere mit genug Spott in der Stimme, dass Dalziel ihn noch nicht ganz verloren gab. »Ich bin übrigens Charles Tillotson.«

»Andrew Dalziel.«

»Dee-Ell«, echote Tillotson. »Dee-Ell. Buchstabiert D-A-L-?«

»Z-I-E-L«, ergänzte Dalziel.

»Das macht ja vielleicht Eindruck, wenn man anders ausgesprochen wird, als man sich schreibt«, sagte Tillotson und schwang die Stange. »Das ist so eine Art Test für die anderen, oder? Vielleicht sollte ich das ILL weglassen. Totson. Was meinen Sie?«

»Wie wär’s mit Tit?«, meinte Dalziel. »Geht’s heute noch los, oder bleiben wir hier sitzen, bis wir nass sind bis auf die Knochen?«

Vorsichtig setzte er sich neben seinen Koffer und schloss die Augen, als Tillotson sich äußerst elegant abstieß, die Stange augenblicklich in den Boden rammte und sich beim Versuch, sie herauszuziehen, um ein Haar selbst aus dem Kahn katapultiert hätte.

Als sie endlich die Kurve der Straße genommen und das Ruderboot wieder vor Augen hatten, hatte dieses bereits die neue Anlegestelle erreicht, und die restliche Trauergesellschaft ging schon an Bord. Zu Dalziels Enttäuschung setzte die schwarze Limousine sich in Bewegung.

»He!«, brüllte er, was ihm die sofortige Aufmerksamkeit der Trauernden eintrug und eine Schar Krickenten aufscheuchte, die gerade ihr neugewonnenes Territorium erkundete. Doch die Limousine brummte hochmütig weiter und war bald nicht mehr zu sehen.

»Blöder Arsch!«, sagte Dalziel wenig vornehm.

»Pappy muss es vergessen haben«, mutmaßte Tillotson.

»Auch ein Blödarsch.«

Eine Erklärung für seine Anwesenheit schien im Ruderboot gefordert und auch gegeben worden zu sein, denn als es ihre Höhe erreichte, zeigte sich niemand besonders interessiert an ihm.

Die Frau, Mrs. Fielding, wie er annahm, saß mit dem alten Mann im Heck. Der feiste Jüngling hatte ein Ruder ergriffen und saß jetzt neben Pappy, der Dalziels anklagenden Blick mit ausdrucksloser Miene erwiderte. Der Junge saß mit angezogenen Beinen im Bug wie die Kleine Meerjungfrau. Und die drei anderen drängten sich in dem flachen Boot, das vor kurzem noch den Sarg getragen hatte.

»Ich glaube, ein paar von euch müssen mit Charley zurückfahren«, sagte Mrs. Fielding mit fester, ziemlich tiefer Stimme. Ihr Schleier war nun gelüftet und gab den Blick frei auf ein markantes, beinahe maskulines Gesicht, dem Kummer und die Unbilden des Wetters lediglich zu einer gesunden Röte verholfen hatten.

»Ach nein«, protestierte die Dünne, Louisa. »Bertie rudert doch auch, und wir sind bestimmt nicht schwerer als ein Sarg.«

»Trotzdem«, beharrte ihre Mutter.

»Ich steige um«, sagte der haarige Dunkle, der mit einer teuer aussehenden Kamera Aufnahmen von der Überschwemmung machte. Er stand auf und stieg mit der plumpen Anmut eines Matrosen in den Stocherkahn.

Damit schienen Mrs. Fieldings Verteilungsprobleme für den Augenblick gelöst zu sein. Jetzt wandte sie sich an Dalziel.

»Es tut mir leid, dass der Wagen losgefahren ist, bevor Pappy mit dem Fahrer sprechen konnte. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit ins Haus zu kommen, können Sie von da telefonieren. Oder wenn Ihnen das lieber ist, können wir Sie hierlassen und für Sie anrufen.«

Der Mann namens Pappy fing an zu rudern, und Bertie passte sich seinem Schlag umgehend an, während Dalziel die Alternativen gegeneinander abwog. Der Regen prasselte jetzt noch stärker herab. Die Insassen des Ruderboots waren fast vollständig unter einem Regenschirmpanzer verborgen, der an den Schildwall der Wikinger erinnerte.

Dalziel wandte sich an Tillotson.

»Folgen Sie diesem Boot«, sagte er.

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3

Eine nahrhafte Brühe

Die Enten hatten sich wieder auf dem Wasser niedergelassen und folgten in sicherem Abstand.

»Ich hatte mal ’nen Freund«, sagte der Hässliche mit pseudoamerikanischem Akzent, »der hat sich ziemlich weh getan beim Versuch, eine Ente zu vögeln.«

»Ach ja?«

»Yeah. Er hatte nämlich diesen Wahn, mit der ganzen Schöpfung in Beziehung zu treten. Aber die Ente sah das anders. Hat ihm den halben Rüssel abgerissen. Danach hat er seinen Plan geändert und sich mehr auf die spirituelle Vereinigung verlegt.«

»War vielleicht keine schlechte Idee«, sagte Dalziel. »Mit den Ameisen wär’s wahrscheinlich schwierig geworden.«

Der andere lachte beifällig.

»Astrein, Mann.«

Der glaubt, er hat mich auf die Probe gestellt, dachte Dalziel. Jetzt, wo ich seinen kleinen Schocktest bestanden habe, kommt er mir wahrscheinlich mit der gönnerhaften Tour.

»Während unser Charley, der Junge da mit dem Holzschwanz, sich mehr an so was begeilt.«

Er hockte sich hinter das Gewehr und machte Geräusche, die eher zu den Salven einer Haubitze gepasst hätten.

»Nein, Hank, da bist du auf dem falschen Dampfer«, widersprach Tillotson liebenswürdig. »Mir geht’s rein um den Sport, um mehr nicht. Aber so eine Überschwemmung ist schon was Feines. Ich wette, dass ein Haufen Vögel wieder hierherkommt. Das war sicher mal eine herrliche Gegend für die Vogeljagd, bevor sie alles trockengelegt haben.«

»Kapiert, was ich meine?«, fragte Hank. »Er ist ganz wild darauf, dieses alte Phallussymbol wieder abzufeuern.«

Endlich hatten ein paar bekannte Vokale Dalziel auf die Spur dieses pseudo-mittelatlantischen Schnoddertons gebracht. Er wusste gerne, woran er bei anderen war, und ein paar grundlegende Informationen über die Herkunft einer Person waren ein guter Ausgangspunkt. Damit konnte er seine kleinen grauen Zellen beschäftigen und die Schwermut in Schach halten, die sich immer ankündigte, sobald er sich entspannte.

»Nicht viel los mit Enten in Liverpool«, sagte er. »Ich heiße Dalziel. Und Sie?«

Der Dunkle sah ihn abschätzend an, dann sagte er: »Hank Uniff.«

Dalziel lachte, ein scharfes, kränkendes Blaffen in Anerkennung der geringen Wahrscheinlichkeit, dass sein Gesprächspartner Jim Smith oder Bill Jones hätte heißen können.

»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Wie war die Beerdigung?«

»Voller Bilder, Mann«, antwortete Uniff. »He, Charley, dufte Beerdigung, was? Ich meine, als sie den Sarg ins Loch ließen, war es voll Wasser. Das war vielleicht ein Platscher.«

»Ja«, gab Tillotson zu, der gerade an ihnen vorüberkam. Er erprobte eine neue Technik, die darin bestand, die Stange vor dem Bug ins Wasser zu stoßen und dann die ganze Länge des Kahns abzuschreiten. Unvermeidbar, dachte Dalziel, dass jemand, der so offensichtlich geboren wurde, um für andere das Opfer abzugeben, irgendwann einmal über Bord geht.

»Ja«, wiederholte Tillotson, »es hatte schon was von einer Seebestattung. Fünf Faden tief dein Vater liegt und so. Hast du ein paar gute Fotos geschossen, Hank?«

»Eine ganze Rolle hab ich verschossen«, antwortete Uniff. »Aber hab ich auch das Licht richtig hingekriegt? Es war so schon schwer genug einzuschätzen, und dieser gruselige Prediger hat’s mit seinem Lamento auch nicht besser gemacht.«

Er hielt seine Kamera schützend umklammert, als wollte sie ihm jemand aus der Hand reißen.

»Hatte denn Mrs. Fielding nichts dagegen?«, erkundigte sich Dalziel.

»Bonnie? Teufel, nein. Ich meine, warum sollte sie, Mann?«

»Hank ist Künstler«, erklärte Tillotson, der soeben wieder im schnellen Trab an ihnen vorbeizog. Mit seiner neuen Technik brachte er den Kahn zwar deutlich schneller voran, doch leider zu Lasten der Richtung, wenn man von der Annahme ausging, dass das Ruderboot den kürzesten Heimweg nahm. Es war jetzt schon fast nicht mehr zu sehen und befand sich mehrere Grad nordöstlich von ihnen.

Dalziel zog sich seinen Mantelkragen dichter um den Hals und widerstand der Versuchung, selbst das Kommando zu übernehmen. Er war das Übergepäck und nicht der Kapitän. Doch irgendwie mussten seine Gedanken sich Uniff übermittelt haben, denn der grinste boshaft ob Dalziels Unbehagen und fing an, ein altes Volkslied zu pfeifen, über die Flucht des schottischen Thronprätendenten in einem kleinen Boot.

»Was für ein Künstler sind Sie denn, Mr. Uniff?«, fragte Dalziel.

»Was für Künstler gibt es denn, Mann?«, fragte Uniff zurück.

»Na ja«, erwiderte Dalziel gereizt, »da gibt’s die Hungerkünstler und die Ich-will-aber-ich-kann-nicht-Künstler und die …«

Doch seine wenig schmeichelhafte Aufzählung fand ihr jähes Ende durch die vorgeahnte Katastrophe. Tillotson rammte die Stange in eine halbversunkene Hecke, der Bug stieg in die Höhe, Tillotson kreischte auf und ging über Bord, Uniff und Dalziel verwickelten sich zu einem Knäuel, aus dem Dalziel sich gerade noch rechtzeitig befreien konnte, um zuzusehen, wie sein Koffer langsam ins Wasser kippte.

Fuchsteufelswild sprang er auf und drückte Tillotson, der sich abmühte, wieder an Bord zu klettern, seine Pranke ins Gesicht.