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Zwei raffinierte Weihnachtskrimis, mit Witz und Wärme erzählt – englisch wie Christmas Pudding, behaglich wie ein knisterndes Kaminfeuer und explosiv wie der Lauf eines Vorderladers. Tauchen Sie ein in das glanzvolle Zeitalter des britischen Kriminalromans zur schönsten Zeit des Jahres. »Ein Schuss im Schnee« Verwandt, verrückt, verdächtig – eine Familie zum Totschießen In den mittelalterlichen Ruinen von Yorkshire liegt das atemberaubende Herrenhaus Belrive Priory. Weihnachten steht vor der Tür, und der Schriftsteller Arthur Ferryman freut sich auf den verschneiten Familiensitz. Bei seiner Ankunft muss er schockiert feststellen, dass seine Cousins und Cousinen das Pistolenschießen als neuen Zeitvertreib entdeckt haben. Tatsächlich tut der exzentrischen Familie jede Ablenkung gut. Denn keiner ist dem anderen grün. Meist vertreiben sie die Zeit mit Shakespeare-Zitaten und hitzigen Diskussionen über Lucys neuestes Krimiwerk. Als einer der Gäste erschossen im Arbeitszimmer aufgefunden wird, übernimmt Inspektor Appleby und hat Schwierigkeiten, inmitten der chaotischen Familie herauszufinden, was wirklich passiert ist. »Mord in Dingley Dell« Oscar Boswell und Jack Wardle laden ein – zu besinnlichen Festtagen auf dem Landsitz Dingley Dell. Eine Dickens‘sche Weihnacht soll es geben, mit allem, was dazugehört: Gänsebraten und Pastete, Tee und Punsch am offenen Kamin, Eislaufen und Schneewandern, ein viktorianischer Kostümball ... Unter den Gästen des alten Landhauses ist auch die junge Engländerin Arabella Allen. Doch als sie bei einer Erkundungstour auf eine Leiche stößt, trügt die festliche Stimmung. Ein Schneesturm isoliert den Landsitz, und der Hausherr verschwindet auf mysteriöse Weise. Schon bald wird aus der besinnlichen Weihnacht ein mörderisches Versteckspiel.
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Seitenzahl: 666
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über die Bücher
Zwei raffinierte Weihnachtskrimis, mit Witz und Wärme erzählt – englisch wie Christmas Pudding, behaglich wie ein knisterndes Kaminfeuer und explosiv wie der Lauf eines Vorderladers. Tauchen Sie ein in das glanzvolle Zeitalter des britischen Kriminalromans zur schönsten Zeit des Jahres.
»Ein Schuss im Schnee«
Verwandt, verrückt, verdächtig – eine Familie zum Totschießen
In den mittelalterlichen Ruinen von Yorkshire liegt das atemberaubende Herrenhaus Belrive Priory. Weihnachten steht vor der Tür, und der Schriftsteller Arthur Ferryman freut sich auf den verschneiten Familiensitz. Bei seiner Ankunft muss er schockiert feststellen, dass seine Cousins und Cousinen das Pistolenschießen als neuen Zeitvertreib entdeckt haben. Tatsächlich tut der exzentrischen Familie jede Ablenkung gut. Denn keiner ist dem anderen grün. Meist vertreiben sie die Zeit mit Shakespeare-Zitaten und hitzigen Diskussionen über Lucys neuestes Krimiwerk. Als einer der Gäste erschossen im Arbeitszimmer aufgefunden wird, übernimmt Inspektor Appleby und hat Schwierigkeiten, inmitten der chaotischen Familie herauszufinden, was wirklich passiert ist.
»Mord in Dingley Dell«
Oscar Boswell und Jack Wardle laden ein – zu besinnlichen Festtagen auf dem Landsitz Dingley Dell. Eine Dickens‘sche Weihnacht soll es geben, mit allem, was dazugehört: Gänsebraten und Pastete, Tee und Punsch am offenen Kamin, Eislaufen und Schneewandern, ein viktorianischer Kostümball …
Unter den Gästen des alten Landhauses ist auch die junge Engländerin Arabella Allen. Doch als sie bei einer Erkundungstour auf eine Leiche stößt, trügt die festliche Stimmung. Ein Schneesturm isoliert den Landsitz, und der Hausherr verschwindet auf mysteriöse Weise. Schon bald wird aus der besinnlichen Weihnacht ein mörderisches Versteckspiel.
Über die Autoren und den Übersetzer
Michael Innes ist das Pseudonym von John Innes Mackintosh Stewart (1906–1994). Er war ein gefeierter schottischer Romanautor, Literaturwissenschaftler und Kritiker. Zu Lebzeiten veröffentlichte Innes fast fünfzig Kriminalromane und Kurzgeschichtensammlungen, von denen viele in DuMont’s Kriminal-Bibliothek erschienen. ›Ein Schuss im Schnee‹ liegt nun zum ersten Mal in deutscher Sprache vor.
Reginald Hill, 1936 – 2012, wurde im Norden Englands geboren und ist einer der bekanntesten Krimiautoren Großbritanniens. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Karl-Heinz Ebnet arbeitet seit mehr als 25Jahren als literarischer Übersetzer. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen zählen u.a. Mary Higgins Clark, Tobias Hill, Julian Gough und Ayad Akhtar.
Michael Innes
Ein Schuss im Schnee
Reginald Hill
Mord in Dingley Dell
Zwei Weihnachtskrimis in einem Band
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
Vollständige eBook-Ausgabe der in deutscher Sprache im DuMont Buchverlag erschienenen Werke ›Ein Schuss im Schnee‹ (© 2023) und ›Mord in Dingley Dell‹ (© 2020)
E-Book 2024
© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Die englischen Originalausgaben erschienen 1942 unter dem Titel ›There Came Both Mist And Snow‹ (© Michael Innes, 1940) bei Golancz, London und 1972 unter dem Titel ›Red Christmas‹ (© Reginald Hill, 1972) John Long Ltd., London
Die Ausgabe von ›Ein Schuss im Schnee‹ erscheint mit freundlicher Genehmigung von International Literary Properties
Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet
Covergestaltung der abgebildeten Einzelromane: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Covermotive: © eyewave/istock by GettyImage (›Ein Schuss im Schnee‹) und Landschaft © 123rf/Pavlo Kovernik; Gutshaus: © 123rf/Elena Lishanskays (›Mord in Dingley Dell‹)
Satz: Fagott, Ffm
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book: 978-3-7558-1100-8
www.dumont-buchverlag.de
Michael Innes
Ein Schussim Schnee
KriminalromanAus dem Englischenvon Karl-Heinz Ebnet
Selten habe ich Basil meinen alljährlichen Besuch abgestattet, ohne mir Gedanken über die irrationalen Gefühle zu machen, die wir Abstammung und Geburt entgegenbringen. Für einen Engländer, der Umgang mit der guten Gesellschaft pflegen möchte, sind Großeltern eine Voraussetzung; Urgroßeltern vermutlich von Vorteil. Damit hat es sich aber auch schon mit dem praktischen Nutzen von Vorfahren. Es war immer schon möglich, innerhalb dreier Generationen einen Gentleman hervorzubringen; heutzutage − da die Familien kleiner werden und die Oberschicht eilends rekrutiert werden muss – gelingt das auch in zwei. Trotzdem werden ferne Ahnen nach wie vor hochgeschätzt; und je ferner, desto stolzer sind wir auf sie. Was nun besonders unlogisch ist. Die Abstammung von unseren Großeltern teilen wir mit nur sehr wenigen Menschen. Aber die Abstammung von einem Vorfahr aus der Herrschaftszeit von, sagen wir, Johann Ohneland teilen wir mit so ziemlich jedem in England. Die Aussage, wir alle seien Söhne Adams, basiert auf fundierten genetischen Erkenntnissen. Was der ganzen Abstammungssache etwas Absurdes verleiht. Etwas Absurdes, an dem man sich erfreuen kann, wie ich feststellen möchte. Und auch wenn sich diese Freude nicht sofort erschließen mag, überkommt sie mich doch jedes Mal, wenn ich die Priorei Belrive besuche.
Mein Name lautet Arthur Ferryman. Gehen Sie kurz in sich, sinnieren Sie darüber nach, und wenn Sie über ein gängiges Vorstellungsvermögen verfügen, sehen Sie jetzt eine Person in leicht abgerissener Kleidung vor sich, die einen Stechkahn über einen Fluss stakt. Zu diesem Bild wurden Sie aber von einer falschen Etymologie verleitet; meine Vorfahren erwarben sich ihren Namen, weil sie im Mittelalter eine eiserne Faust − ferreus manus − schwangen. Wir sind Sklaven der Wörter − Schriftsteller ganz besonders −, und ich glaube, dass diese aristokratische Herleitung zusammen mit der Tatsache, dass ich in der von mir besuchten Privatschule Punt genannt wurde, zum größten Teil verantwortlich ist für den, der ich bin. Abstammung −
ein Titel, welcher sich nach fernen dunklen Zeiten sehnt, der Noahs schimmeligen Schriften ist entlehnt
− fasziniert mich immer. Genau wie, auf rationalerer Ebene, das ganze Geschichtspanorama. »O trefflicher Gebrauch jener alter Zeiten.« Spenser bringt zum Ausdruck, wovon ich insgeheim zutiefst überzeugt bin. Ich mag ein modischer Gegenwartsautor sein, dennoch glaube ich, dass die Vergangenheit weitaus besser war als die Gegenwart. Und Belrive, wo sich Vergangenheit und Gegenwart unruhig in einem schmalen Bett hin und her wälzen, beflügelt diese rückwärtsgewandte Empfindung noch mehr als die Empfindung, die wir der Abstammung entgegenbringen.
Die Faszination, die von der Vergangenheit ausgeht, liegt nun laut den Psychologen im Gefühl der Sicherheit, die sie vermittelt. Die Vergangenheit ist vorüber; in ihr kann nichts anderes mehr passieren; sie ist daher ein Zufluchtsort aus dem schwierigen Heute und dem problematischen Morgen. Für mich ist die Priorei die Vergangenheit; sie symbolisiert eine Umgebung, in der man sich, um diesen Gedanken auszuführen, nicht unablässig gegen die Erschütterungen des Unerwarteten wappnen muss. Vielleicht lag es am entsprechenden Zustand der Entspannung, dass die Katastrophe in Belrive − die so plötzlich, so unvorbereitet hereinbrach − mich derart fassungslos machte.
Man zieht es vor, die Nachricht von Gewalttaten mehr oder weniger teilnahmslos zur Kenntnis zu nehmen, aber mein Bedürfnis, mich schon im Voraus für mein Verhalten zu entschuldigen, führt dazu, dass ich mich meinem Thema auf Umwegen annähere. Daher wäre allen wohl besser gedient, wenn ich die Abstammung und den hortus conclusus der Geschichte zurückstelle und mit einer Beschreibung der Priorei von Neuem beginne.
Hortus conclusus. Genau das ist die Priorei. Denn der Park, das Herrenhaus und die Ruinen sind von einer hohen Mauer umgeben − einer Mauer aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert und letzter und kostspieliger Protest gegen die übergreifenden Nachbarn. Als der Honorable John Byng 1792 den Norden Englands bereiste, erfuhren die Baumwollspinnereien von Cambrell und Wimm gleich neben Belrive bereits gewaltigen Aufschwung. Byng vermerkte den bedauernswerten Umstand, dass Mönche und Baumwollhersteller gleichermaßen Wasser benötigten und folglich die Letzteren dazu neigten, dort zu spinnen, wo die Ersteren wuschen, innere Einkehr hielten oder zum Fischen gingen. Ebenfalls vermerkte er regelrecht angewidert − der zukünftige Viscount war ohne Begleitung unterwegs und neigte, wenn allein, zu düsteren Urteilen −, dass in der Umgegend keine Landwirtschaft mehr getrieben und die neue Industriebevölkerung von Liverpool aus mit importiertem Getreide versorgt wurde. Die Baumwollspinnereien haben sich seit den Zeiten der Torrington Diaries weiter ausgedehnt, aber noch immer gehören sie der gleichen Familie; der Wohnsitz der Cambrells – von Byng als lächerlicher, übergroßer Bürgerkasten im schlechten neuen Stil beschrieben – ist mittlerweile ein nahezu liebliches Herrenhaus in den Außenbezirken der Stadt. Selbst die Baumwollspinnereien, die die Ruinen der Priorei im Süden überragen, sind mittlerweile lieblich zu nennen. Das trifft übrigens auf einen Gutteil dessen zu, was des Teufels ist.
Recht neu und auffällig dagegen ist Cudbirds Brauerei, die im Westen an den kleinen Park angrenzt. Auch Brauer brauchen Wasser; soweit ich weiß, gründen ihr Reichtum und ihr eigentümlich hohes gesellschaftliches Ansehen darauf, dass sie kaum etwas anderes brauchen. Nicht dass die Cudbirds hochstehend sind. Sie sind, offen gesagt, Plebejer. Dennoch erschien es mir unmöglich, Horace Cudbird, der in dieser Erzählung vorkommt, nicht zu mögen. Leider erging es Basil ebenso.
Belrive also, noch vor Jahrhunderten in einem einsamen Tal mit Blick auf die fernen Yorkshire Dales gelegen, ist heute − völlig aus der Zeit gefallen − von einer reinen Industriestadt umgeben. Eine Textilfabrik, eine Brauerei, eine Hauptstraße: davon ist sein dreieckiges Gelände umgrenzt. Die Hauptstraße ist meiner Meinung nach der schlimmste Nachbar. Ja, die Brauerei stinkt. Aber bis vor Kurzem gingen Gerüche und Zivilisation Hand in Hand; tatsächlich gilt das für einige der schönsten mir bekannten Orte bis heute. Ja, die Cambrell’sche Textilfabrik hat die Fische vergiftet − trotz zahlreicher Auflagen, die im Großen und Ganzen, soweit ich weiß, gewissenhaft überwacht werden. Dennoch, mit der Textilfabrik hat der Verbrennungsmotor Einzug gehalten, und mit dessen Hilfe lassen sich innerhalb einer halben Stunde die besten Angelplätze der Umgegend aufsuchen. Textilfabrik und Brauerei stehen hinter der Hauptstraße zurück, auf der sich altersschwache elektrische Trambahnen, Busse und ein steter Strom regen Industrieverkehrs finden, ungeduldige Geschäftsleute, die zweimal am Tag in ihren Autos, und ungeduldige Arbeiter, die zweimal am Tag auf ihren Drahteseln vorbeirauschen, kreischende Kinder und kratzstimmige Frauen von morgens bis abends – daneben Fußballfans in Ausflugskutschen, Betrunkene, Heilsarmeekapellen und elektrische Bohrhämmer, die sich in regelmäßigen Abständen bemerkbar machen. Besonders sträflich sind mir immer die Trambahnen erschienen; sie jagen auf ihren gleichgültigen Gleisen mit gefährlicher Geschwindigkeit dahin, während der Fahrer unablässig mit dem Fuß die schrille Warnglocke betätigt. Ein Schaffner hat mir erzählt, sie müssen ihren Fahrplan einhalten, sonst würden sie ihre Anstellung verlieren, und nur durch diese anhaltende bösartige Folter lässt sich vermeiden, dass es nicht alle paar Meter zu einem tödlichen Unfall kommt; ohne dieses fürchterliche, aufmerksamkeitsheischende Glockenspiel würden die Verkehrsteilnehmer die Existenz von Trambahnen schlichtweg ignorieren. Das mag stimmen. Dennoch kommt es zu Unfällen. Das kleine Pförtnerhaus am Tor zur Priorei wird so oft als Verbandsplatz genutzt, dass es recht und billig wäre, die Gemeinde zur Zahlung einer regelmäßigen Miete anzuhalten.
Ich bin versucht, dem Lärm noch einen weiteren langen Absatz zu widmen. Genannt sei zum Beispiel die merkwürdige Tatsache, dass die menschlichen Bewohner sich am meisten durch jene Lärmkulisse gestört fühlen, die unentwegt zu hören ist, das Rotwild im Park hingegen nur von besonderen und gelegentlichen Geräuschen aufgeschreckt wird; den Trambahnen schenken die Tiere keine Beachtung, die Heilsarmee aber stört sie; elektrische Bohrhämmer rufen ein panisches Auseinanderstieben hervor, das erschütternd mitanzusehen ist.Ich denke, mein Argument ist deutlich genug: die in Ruinen liegende Priorei, die noch klösterliche Ruhe ausstrahlt, das Queen-Anne-Herrenhaus, das augustinischen Frieden atmet − sie sind vom Getöse unserer modernen Welt umgeben.
Diese macht sich auch visuell bemerkbar. So gibt es nachts die neue Neonreklame von Cudbird. Steht man auf der Terrasse des Hauses, kann man sie gerade so über dem verfallenen Turm erkennen. Eine Sekunde noch herrscht Dunkelheit, nur schwer ist der Umriss des Turms vor dem fahlen Schimmer des urbanen Himmels auszumachen. Doch dann materialisiert sich in der Finsternis wundersamerweise eine große grüne Flasche; sie neigt sich wie ein verrückt gewordenes Sternbild am Himmel; hundert flackernde Leuchten simulieren das hervorsprudelnde Getränk; der Turm, der wie ein Pokal darunter ruht, empfängt die Bierdusche. So gibt Horace Cudbird, der neuzeitliche Ganymed, höchstselbst den Mundschenk seiner eigenen obskuren Götter.
Gäste, die mit diesem Schauspiel nicht vertraut sind, verweilen nach dem Essen auf der Terrasse und bestaunen es minutenlang. Es hat zweifellos eine ganz eigene, fantastische Schönheit. Zwischen den Ruinen sorgt Cudbirds Werbeschild für weitere subtile Effekte. Die monströse Flasche ist dort nicht direkt sichtbar, wahrnehmbar ist lediglich eine rhythmische Abfolge von weichen reflektierten Lichtern, die auf die bröckelnden Wände und zwischen die Schatten geworfen werden. Erst die Andeutung eines giftigen Grüns – ein Hauch Licht, der sich auf das Gemäuer legt; die Flasche wird erleuchtet. Als Nächstes streichen roséfarbene Strahlen über die Ruinen wie Finger auf einer Klaviatur; der Stadt wird in riesigen Lettern mitgeteilt, dass Cudbirds Bier das Beste sei. Und plötzlich gerät die Welt ins Wanken, kippt vornüber, stellt sich auf den Kopf; ruckartig dreht sich die Flasche um die eigene Achse. Gleich darauf geht ein matter Bernsteinregen nieder wie ein langsam fallender Vorhang; einen Augenblick lang treibt die Priorei in einem schäumenden Meer aus Bier; dann, für wenige Sekunden, vor dem nächsten Wiederaufleuchten der Flasche, herrscht Dunkelheit. In diesen kurzen Sekunden der Untätigkeit, in denen Cudbird zwischen zwei Trankopfern innehält, ist die Wirkung am seltsamsten. Denn in der Dunkelheit und hervorgerufen durch eine Gaukelei der Netzhaut wiederholen sich die Phänomene; der Verstand ist kurz verwirrt zwischen seiner eigenen flackernden Schöpfung und dem, was, wie er weiß, unbeweglich vor ihm steht. Was eine ganz und gar unheimliche Wirkung hat. Die Bediensteten der Priorei gingen mit ihren Liebsten gern »in die Ruinen«; denn wenn die Reklame zu sehen ist, muss man nachts nur die andere Richtung einschlagen, um peinliche Begegnungen zu vermeiden.
Die feurige Flasche nachts, die Rauchglocke über der Stadt tagsüber, das Getöse, das nur in den frühen Morgenstunden abebbt: sie ergeben die Szenerie, die Folie, den Rahmen für das sehr schöne Zuhause meines Cousins Basil. Die Ropers sind künstlerisch begabt – ich muss anerkennen, dass mein Talent von ihrer Seite kommt – und haben seit Generationen Belrive mit ihrem Geschmack geprägt, der konservativ, aber nie behäbig ist. Das Anwesen vermittelt den Eindruck, als würde es seit Alters her gepflegt, was man üblicherweise mit einigen der großen Häuser in England assoziiert. Die Gärten sind formal, ohne etwas unangenehm Künstliches an sich zu haben; sie verlangen nicht, wie manche überladene Gärten, nach einem anderen als dem nördlichen Himmel. Der Park ist von unaufdringlicher Kunstfertigkeit, ein in Hunderten von Grüntönen illuminierter Saum, der den warmen, aber leider rußgeschwärzten Stein der Ruinen umgibt. Das Haus in seiner äußeren Anmutung ist alt und makellos zugleich; es zeugt von zwei ausgezeichneten Dingen, Kontinuität und einem sehr soliden Kontostand. Drinnen bewegt man sich inmitten der ineinander sich vermischenden und kontrastierenden Geschmäcker einer langen Abfolge von kultivierten Besitzern; es ist diese gemäßigte Diskrepanz unterschiedlicher Persönlichkeiten, die sich einer anerkannten Tradition verpflichtet sehen, die ein Haus lebendig werden lässt. Kurz gesagt, ich erachte Belrive als einen äußerst zufriedenstellenden Ort. Und als ich an dem Tag, an dem diese Chronik einsetzt, auf die Anfahrt einbog, dachte ich vor dem soeben skizzierten Hintergrund über die leicht problematische Persönlichkeit des Hausherrn nach.
Basil Roper, der siebte Baronet, war zu dieser Zeit ein Mann Mitte fünfzig, Junggeselle, berühmt und allmählich zu der Erkenntnis gelangend, dass seine Karriere zum größten Teil hinter ihm lag. Er, Entdecker und Bergsteiger, wusste, dass er nie mehr so hoch über dem Meeresspiegel stehen würde, wie er es schon getan hatte. Mit fünfzig kann man noch auf sechstausend, vielleicht auf siebentausend Meter aufsteigen. Danach arbeitet man am Teleskop und macht Geschäfte. Die höchsten Felszinnen und Gipfel der Erde ergeben sich nur der untadeligen Mechanik eines jugendlichen Herzens.
Wie die meisten Bergsteiger hegte Basil keine besondere Leidenschaft für die Höhe an sich. Dem Central Gully on Lliwedd, eine Tagestour von London entfernt, konnte er genauso viel abgewinnen wie der Querung einer monströsen Felswand im Himalaja. Dennoch birgt das Herz, so wie es als Mechanismus seine Grenzen hat, als Lebensprinzip auch gewisse Ziele. Eines von Basils Zielen war es gewesen, in große Höhen zu streben; diese Möglichkeit war nun dahin und mit ihr auch eine gewisse Spannung, auf die zu verzichten vielleicht nicht so einfach war.
Wer einer Idee gedient hat, zieht sich nur mit Unbehagen auf Praktisches zurück. Aber Basil war von Jugend an auch Wissenschaftler gewesen und hatte jetzt in vielem seine Finger mit im Spiel − in immateriellen Dingen des Geistes, in denen man nach Herzenslust rühren kann, ohne anderen in die Quere zu kommen oder viel Aufhebens zu machen. Auf geologische Diskussionen konnte er sich einlassen wie jemand, der sich auf die Einsamkeit eines arktischen Zelts einlässt. Mit einem Hammer inmitten kargen Felsgesteins die Weltzeitalter zu erkunden, verschaffte ihm die gleiche Befriedigung wie der tatsächliche Anblick unberührten Eises und unbetretener Schneeflächen. Solchen Entbehrungen kann ich nicht viel abgewinnen; ich präferiere die bevölkerte Erde – das Feld der Menschen. Nichtsdestotrotz verlangt es mich, auch den asketischen Typus zu verstehen, und auf der Fahrt zu Basils Anwesen fasste ich erneut meinen alljährlichen Entschluss: meinen Cousin mit professionellem Eifer und Gewissenhaftigkeit zu studieren. Das mag entbehrungsreich klingen, aber der fantasiebegabte Autor ist weit davon entfernt, von Luft allein zu leben. Er hat sich seinen Mitmenschen in demselben Geist zuzuwenden, in dem sich Basil archäischen Gneisen und Eruptivgestein zu widmen pflegte.
Mein Taxi fuhr um eine Biegung, und der kleine Park kam ins Blickfeld. Wie wertvoll dieses Grundstück sein musste, ging mir durch den Kopf. Nur einen Tag zuvor hatte mir ein Freund einen wunderschönen Goldpokal gezeigt, der vor Kurzem aus einem Wikingerschatz geborgen worden war, ein Gegenstand von beträchtlichem intrinsischen Wert, der als Museumsstück allerdings noch sehr viel kostbarer war. Mit Belrive verhielt es sich ebenso. Seine Lage im Gewerbegebiet einer Stadt, die wirtschaftlich keineswegs stagnierte oder gar im Niedergang begriffen war, gewährleistete, dass jeder Acre eine große Geldsumme wert war; kostbar war es gleichzeitig aber auch in einer anderen, unbestimmbaren Währung − in altertümlicher oder sentimentaler Hinsicht. Ich erinnerte mich, dass Basil sich immer äußerst gewissenhaft um die Priorei gekümmert hatte − aber wie stark empfand er die Verantwortung, die er für diesen Ort als Kulturerbe trug? Mit einigem Entsetzen wurde mir bewusst, dass meinem Cousin die Vergangenheit so ziemlich gleichgültig war. Oder zumindest das, was ich Vergangenheit nenne. Er gehörte zu jenen, die eine Abhandlung über die Geschichte verfassen und sie mit vielen großartigen Illustrationen von Mammuts und Pterodaktylen ausstatten, den Menschen aber in den Appendix verbannen. Mag sein, dass ich ungerecht bin. Basils Geschichtsverständnis war ja alles andere als gewöhnlich oder unausgegoren. Nur, menschliche Einrichtungen jener Art, mit denen wir in vielfältigen Beziehungen stehen, interessierten ihn nicht. Bestimmten fernen Kulturen – Sumerern, Babyloniern und dergleichen – brachte er durchaus die Aufmerksamkeit eines im Feld forschenden Naturkundlers entgegen. Aber an dem Punkt, an dem die richtige Geschichte beginnt – die Anfänge des dorischen Griechenlands –, da verlor sich sein Interesse. Und die Chronologie, die wirklich seine Fantasie und seinen Verstand anregte, zählte die Jahre nach Millionen. Welchen Wert also, fragte ich mich, sah Basil in den Ruinen eines Gebäudes aus dem zwölften Jahrhundert oder dem Grundstück, das seinen Vorfahren gehörte, seitdem sie es vor fast dreihundert Jahren erfolgreich gestohlen hatten? Die Epoche der Tudors musste Basil vorkommen, als wäre sie erst gestern gewesen. Ich warf einen Blick aus dem Taxi und sah noch das Eisenskelett von Cudbirds Reklametafel hinter dem Turm der Priorei verschwinden. Basil musste der Klosterturm als zeitgenössisches Bauwerk erscheinen. Und zum ersten Mal hinterfragte ich die rechtliche Lage hinsichtlich Belrive. War sein Eigentümer berechtigt, damit nach Belieben zu verfahren? Oder waren zumindest die Ruinen vor seiner launenhaften Willkür geschützt?
Diese Überlegungen wurden durch quietschende Bremsen unterbrochen. Erstaunt sah ich Wilfred Foxcroft mit einem hastigen Satz aus dem Weg springen.
Wilfred ist ein Cousin von mir. So wie die meisten Personen in dieser Erzählung.
Ich war sehr erstaunt, Wilfred zu sehen; einen weiteren Schock erlitt ich, als er sich mir zuwandte und mit etwas winkte, was eindeutig ein Revolver war. Das Taxi hielt an, und obwohl es das nur tat, weil ich an die Glasscheibe geklopft hatte, war es beinahe, als würde ich Opfer eines Überfalls. Wilfred öffnete die Tür, stieg ein und warf sorglos die Waffe auf den Sitz. »Die ist«, sagte ich, »hoffentlich nicht geladen.«
Mein Cousin lachte und ließ sich gleichzeitig so schwer fallen, dass ich Richtung Wagendach katapultiert wurde. »Mein lieber Arthur«, sagte er, »du bist mit dem Phänomen der Veronesischen Träne vertraut?«
»Ganz gewiss nicht.«
»Die Veronesische Träne ist ein zerbrechlicher Glastropfen, der unter bestimmten Voraussetzungen dem heftigen Schlag eines Hammers widersteht. Der Sicherungshebel an einem Gewehr oder Revolver funktioniert nach dem gleichen Prinzip. Ein Stoß oder ein Ruck« − Wilfred schleuderte den Revolver auf den Wagenboden − »erhöht nur die Sicherheit, mit welcher der Mechanismus gesperrt ist.«
Durch seine Worte ein wenig beruhigt, musste ich feststellen, dass Wilfred Foxcroft sich nicht verändert hatte. Jedenfalls in seinen kleinen Gewohnheiten. Ich erinnerte mich an den Schlag gegen die Wirbelsäule, der einen auf die harte Schulbank niedersinken ließ. Aus seiner Schulzeit stammte auch die irritierende Eigenart, jedes Gespräch mit irgendeinem Bruchstück unnützen Wissens anzureichern; sein Verstand funktionierte wie ein umtriebiges, aber im Grunde einfallsloses Eichhörnchen, und sein Kopf war eine Rumpelkammer voller Venezianischer Tränen und ähnlichem Krempel. Manchmal dachte ich mir, dass sein Zerwürfnis mit Basil − dieses lang anhaltende, alles überlagernde Zerwürfnis, dessentwegen ich so überrascht war, ihn überhaupt in Belrive anzutreffen − ebenfalls auf diese Geistesverfassung zurückzuführen war. In seinen Unterhaltungen glich Wilfred einem Automaten: Man warf eine Münze ein, und heraus fiel ein trockener Keks − immer der gleiche trockene Keks. Basil dagegen hatte mehr von einem Comptometer: Man drückte die Tasten und konnte darauf vertrauen, dass die relevanten Daten berechnet wurden. Diese beiden Veranlagungen kamen sich dabei auf eine gewisse Weise so nah, dass die beiden sich gegenseitig gleichermaßen auf die Nerven gingen. Die daraus resultierende Gereiztheit, verstärkt noch durch den Zwang, die Gesellschaft des jeweils anderen zu ertragen, war, wie ich schon immer mutmaßte, verantwortlich für Basils und Wilfreds Entzweiung. Aber nachdem Wilfred nun wieder in die Priorei gefunden hatte, war es wohl angebracht, meine Freude darüber zum Ausdruck zu bringen. Was ich tat, so schlicht wie möglich. »Wilfred«, sagte ich, »es ist schön, dich wieder hier zu sehen.«
Wilfred stupste mit der Fußspitze gegen den Revolvergriff, bis der Lauf, seinem Ordnungssinn genügend, parallel zum Fahrersitz lag. »Der Vorschlag«, sagte er, »sich mit dem Alten ab- und sich hier einzufinden, war gut. Ein Ortswechsel zu dieser Jahreszeit ist nicht zu verachten. In den drei Wintermonaten ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Erkältung zu erkranken, in der Provinz um fast sieben Prozent geringer als in London.«
Ich sah ihn neugierig an. Die Statistik interessierte mich nicht, meine Aufmerksamkeit galt der vorangegangenen Wendung. Der Vorschlag, sich mit dem Alten ab- und sich hier einzufinden, war gut. Wilfred war des gehobenen Englisch vollkommen mächtig, der unbeholfene Satz war daher absichtlich missverständlich formuliert. War der Streit auf sein oder auf Basils Betreiben begraben worden? Unmöglich zu sagen.
»Eine große Familienfeier«, fuhr Wilfred fort. »Hubert und Geoffrey, Lucy, Cecil, Anne. Man hat mir gesagt, es gebe in England nur acht ernsthafte Maler, die mehr als vierhundert im Jahr verdienen. Du kannst von Glück reden, dass die Leute noch Bücher kaufen!«
»Noch Bücher lesen«, korrigierte ich – unfreiwillig an dem Keks knabbernd, der aus der Maschine gefallen war. »Nach Bankiers, nehme ich an, herrscht ebenfalls rege Nachfrage?«
Wilfred, ein Bankier und ein wohlhabender dazu, lächelte selbstgefällig. »Hubert, natürlich, geht es ganz gut. Die Porträt-Aufträge reißen nicht ab. Aber Geoffrey, der so gar nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten will, verdient nicht einen Penny. Das macht Anne, diesem verhinderten kleinen Feger, gehörig zu schaffen. Weißt du, was eine nicht einmal große Leinwand samt Grundierung kostet?« Und Wilfred, der, wie ich wusste, den schönen Künsten nicht das geringste Interesse entgegenbrachte, fuhr mit der detaillierten Auflistung der Arbeitskosten eines Malers fort. Der Leser wird nicht erwarten, dass ich diesen Monolog wiedergebe, stattdessen werde ich versuchen, diejenigen Verwandten zu beschreiben, von denen ich jetzt wusste, dass ich ihnen in der Priorei begegnen würde.
Man muss mir verzeihen, wenn ich hier keinen Familienstammbaum zeichne; ein Autor hält sich zwangsläufig an die Prosa, und in schlichter Prosa glaube ich alles erklären zu können. Die Älteste aus Basils Generation der Ropers war seine Schwester Margaret. Sie heiratete in die reiche Bankiersfamilie der Foxcrofts ein und hatte zwei Söhne, Wilfred und Cecil. Wilfred ist im Bankgewerbe tätig; Cecil, der Pädagogik zuneigend, Leiter einer Internatsschule. Beide sind nicht verheiratet, und beide sind kaum zehn Jahre jünger als ihr Onkel Basil.
Nach Margaret Roper kam Basil, und ein Jahr später wurde Hubert geboren, der Maler. Huberts einziges Kind, Geoffrey, ebenfalls Maler, ist nun fünfundzwanzig.
Die Jüngste aus Basils Generation ist Lucy, mittlerweile Witwe eines gewissen Charles Chigwidden, eines erfolglosen Anwalts. Lucy Chigwidden ist Romanautorin: Ich darf den Leser vielleicht daran erinnern, dass dieser Begriff sehr dehnbar ist.
Ich selbst bin der einzige Sohn von Basils Tante Mary Roper; mein Verwandtschaftsgrad zu Basil, Hubert und Lucy ist daher der eines Cousins ersten Grades. Anne Grainger, Waisentochter und einziges Kind meiner Schwester Jean, ist jetzt einundzwanzig. Jeans Ehe war finanziell recht unbesonnen geraten; sie und ihr Mann starben bei einem Bootsunfall, als Anne noch klein war; das Kind wuchs unter der Vormundschaft von Wilfred Foxcroft auf, als dessen Protégée sie nun gesehen wurde.
Diese Absätze, sehe ich, lassen sich kaum als Prosa bezeichnen. Aber sie sind klar und entsprechen der Schlichtheit, die diese Erzählung verlangt; unsere genauen verwandtschaftlichen Beziehungen – obwohl sie für alles Folgende kaum relevant sind – können nun also von jedem, den es interessiert, leicht erschlossen werden.
Wir näherten uns dem Haus, und ich unterbrach Wilfred mit der Frage: »Hubert, Geoffrey, Lucy, Cecil und Anne. Verstehe ich recht, es handelt sich um eine große Familienfeier?«
»Genau. Ein nettes altmodisches Weihnachten. Ich werde mit Basil übers Bergsteigen reden; Hubert will mit einem Porträt von Cecil anfangen; Geoffrey und Anne werden miteinander schlafen; und Lucy wird dich überallhin verfolgen und dich um deine Ansichten zum inneren Monolog und zur Kapitelstrukturierung löchern.«
»Kapitelstrukturierung?«
»Ihr neues Lieblingswort. Warum man ein neues Kapitel da anfängt, wo man es eben tut.« Wilfred gluckste über den unwillkürlichen Seufzer, der mir herausgerutscht sein musste. »Aber wenn ich so darüber nachdenke, es gibt auch einen Außenstehenden. Mervyn Wale.«
»Sir Mervyn Wale?«, fragte ich überrascht. »Aber er gehört doch zu denen, die sich nie von der Stadt und seinen teuren Patienten loseisen können. Außerdem wusste ich gar nicht, dass er ein Freund der Familie ist.«
»Ist er auch nicht. Aber er und mein Bruder Cecil sind in letzter Zeit ganz dick miteinander, und Cecil hat Basil anscheinend überzeugen können, ihn einzuladen. Und was das Loseisen anbelangt, er sieht ausgesprochen malad aus und hält es möglicherweise für nötig, etwas kürzerzutreten.«
»Wenigstens einer«, sagte ich leichthin, »der von allen familiären Leidenschaften unbeleckt ist.«
Das war eine taktlose Bemerkung, die ich sofort bedauerte, kaum war sie ausgesprochen. Aber Wilfred ließ sich nicht beirren. »Wale, mein lieber Arthur, hat sowieso keine Leidenschaften. Nur echte wissenschaftliche Neugier. Unter dem modischen Nassauer steckt ein richtiger Wissenschaftler − irgendwas mit Kardiologie, glaube ich. Oder wenn er eine Leidenschaft hegt, dann für den armen Cecil − der sicherlich nie zuvor romantische Gefühle geweckt hat.«
Ich verspürte nicht den Wunsch, Wilfred dabei zuzuhören, wie er seinen Bruder verunglimpfte, ein Mangel in seiner Erziehung, den ich bereits bei früheren Gelegenheiten an ihm bemerkt hatte. Daher wechselte ich abrupt das Thema. »Die Waffe: Was hat sie zu bedeuten?«
Kurz starrte Wilfred mich verständnislos an. Dann ging sein Blick zum Revolver. »Ach, die«, sagte er. »Tatsächlich gibt es mehrere davon. Der ganze Spaß liegt darin, sie bei sich zu tragen.«
»Spaß?«
Wilfred rieb sich die Nase − eine Angewohnheit, wenn er kurz davor war, die Tür zur Rumpelkammer aufzureißen. »Weißt du«, sagte er, »dass die höchste Zahl an Pistolenduellen, die ein einzelner Mann je ausgetragen hat, bei neunundachtzig liegt, ein Rekord, der 1880 vom Comte de Marsan aufgestellt wurde − der damals, was für ein Zufall, gerade am Beginn seines neunundachtzigsten Lebensjahres stand?« Er hielt inne. »Während bei Degen …«
Glücklicherweise kam unser Taxi rumpelnd zum Halt. Ich sprang aus dem Wagen und sah die Stufen hinauf, die zur Eingangstür führten. Basil stand ganz oben. Als ich den Fuß auf die Treppe setzte, winkte er mir zu, und bestürzt erkannte ich, dass auch er einen Revolver schwang.
Lucy Chigwidden war ebenfalls bewaffnet, allerdings mit Korrekturfahnen. Sie hatte sie auf Basils Teetisch um sich herum ausgebreitet. Gelegentlich musste sie einzelne Blätter von der Sahnetorte retten; sie fielen zu Boden, flatterten um die vortrefflichen Knöchel des Zimmermädchens, und kurz herrschte typisch englische Verlegenheit, als der junge Geoffrey Roper sie einen Hauch zu geflissentlich auflas. Lucy hatte noch nie Korrekturfahnen gehabt. Dass sie nun welche bei sich hatte, war das Ergebnis ihrer gegenwärtigen intensiven Beschäftigung mit der Kapitelstrukturierung. Wenn man sich nicht recht entscheiden konnte, wo ein Kapitel zu Ende ist, durfte man von seinem Verleger keine druckfertigen Fahnen erwarten. Lucy schien sich vage bewusst zu sein, dass entsprechend dem wechselvollen Diktat ihrer Inspiration irgendwo schwitzende Männer Umbrüche vornehmen und Bleilettern hin und her schieben mussten. Dennoch war der Inspiration Folge zu leisten. »Arthur«, sagte sie − und die Tülle der Teekanne schwankte so bedrohlich wie ihr eigener schlingernder Verstand − »Ein einzelner Pistolenschuss knallte durch den erschreckten Raum. Würdest du sagen, dieser Satz ist zu dramatisch, um an dieser Stelle abzubrechen?«
Ich verspürte das Unbehagen, das Schriftsteller befällt, wenn sich das Faktische und das Imaginäre zu vermischen drohten. Pistolen waren eine feste Größe in Lucys Romanen; nun schienen sie aus ihren Seiten herauszukriechen und in den Händen ihrer Verwandten aufzutauchen. In einer Ecke des Salons fummelte Cecil Foxcroft ebenfalls an einem Revolver herum.
»Das«, antwortete ich, »ist schwer zu sagen; es hängt vom Ton deines Werks ab.« Ich war sehr darum bemüht, mir den Anschein zu geben, als würde ich die Frage sehr sorgfältig abwägen. »Aber für mich scheint es in Ordnung zu sein − höchst wirksam sogar. ›Ein einzelner Pistolenschuss knallte durch den erschreckten Raum.‹ Was könnte dramatischer sein? Jahrmarkt der Eitelkeiten enthält irgendwo eine sehr ähnliche Wendung.«
Lucy wirkte erfreut. Ich nahm mir ein weiteres Stück Torte.
»Ein einzelner Pistolenschuss?«, rief der junge Maler Geoffrey, der neben Anne Grainger in einem Fensteralkoven saß, quer durch den Raum. »Was ist der Unterschied, Tante Lucy, zwischen einem einzelnen Pistolenschuss und einem Pistolenschuss?«
Lucy verlangte durchaus nach literarischer Kritik, jedoch nicht in diesem Punkt. Kapitelstrukturierung war alles, was sie beschäftigte, weshalb dieser Angriff von der Seite sie irritierte.
»Und warum« − nahm meine Nichte Anne das Stichwort von Geoffrey auf − »war der Raum erschreckt? Knallte der Schuss wirklich durch den erschreckten Raum, oder knallte er durch den Raum und erschreckte alle?«
Geoffreys Vater, Hubert Roper, der missmutig in den großen Kamin gestarrt hatte, drehte sich zu seiner Schwester inmitten ihres Papierwusts um. »Hast du knallte gesagt, Lucy? Wenn es draußen im Freien passiert, jetzt, und in der Kälte, hast du möglicherweise einen klaren, scharfen akustischen Effekt. Aber in einem Raum, da bin ich mir nicht so sicher. Hast du es mal ausprobiert?«
»Nach dem Tee«, sagte Anne, »können wir nach oben in die Galerie gehen und einen Schuss abfeuern. Ich wette Sixpence, dass das richtige Wort ›hallte‹ lautet.«
Basil, der Sir Mervyn Wale im hinteren Ende des Raums eine große Karte zeigte, drehte sich nun um. Ich nahm an, er wollte zugunsten seiner Schwester Lucy intervenieren, aber ihn beschäftigte etwas anderes. »Ganz sicher nicht, Anne. Wenn dieser neue Zeitvertreib sicher und gefahrlos sein soll, dann wird nirgendwo geschossen außer auf dem Schießstand. Wir sollten es uns zur Regel machen, dass auch jede Munition dort unter Verschluss gehalten wird.«
Murmelnde Zustimmung war zu hören, wobei meine eigene Äußerung sicherlich nicht zu jenen gehörte, die am wenigsten überzeugt klang. Die Marotte mit den Revolvern, der ich mich so unerwartet gegenübersah, kam mir kindisch vor und war ganz und gar untypisch für die in Belrive ausgerichteten Hausgesellschaften. Selbst Cecil Foxcroft, der die gängige Begeisterung des Schulleiters für mechanische Dinge zur Schau stellte, fasste die von ihm inspizierte Waffe nur mit spitzen Fingern an. Warum hatte Basil − wenn es denn Basil gewesen war − so einen Unfug ausgeheckt?
Lucy hatte weitere Blätter zu Boden fallen lassen und ihren Füllfederhalter in das Sahnekännchen getunkt. »Das zeigt nur«, sagte sie, »wie sorgsam man mit Adjektiven umgehen muss. Ich meine, dass man sie nur dann gebrauchen sollte, wenn sie absolut notwendig sind.« Vorwurfsvoll sah sie zu mir, als hätte ich sie im Stich gelassen, weil ich sie nicht als Erster stilistisch verbessert hatte. »Und meinst du, der Pistolenschuss sollte nicht lieber ›schallen‹?«
»Auch das ist unnötig«, wandte Geoffrey ein. »Natürlich schallt er, sofern die Waffe nicht über einen hochgradig wirksamen Schalldämpfer verfügt.«
Lucy überlegte, nahm ihren Füller und schrieb mit einer vermutlich sehr merkwürdigen Mischung aus Sahne und Tinte. »Im Raum«, las sie schließlich laut und bedrückt vor, »war ein Pistolenschuss zu hören. Aber damit kann man doch unmöglich das Kapitel beenden.«
Es folgte ein Moment des Schweigens − ein Schweigen, mit dem sich gedrückte Stimmung verbreitete. Die gemeinschaftlich geäußerte Kritik an Lucy machte allen klar, dass es sich in der Tat um eine Familienfeier handelte.
Es war der Außenstehende, Sir Mervyn Wale, der sich der unangenehmen Pause annahm. Alt, hager, in Gedanken eher bei dem inneren Labyrinth, zu dem er unbedingt den Schlüssel finden musste, sprach er uns mit der seinem Berufsstand eigenen oberflächlichen Gefälligkeit an. »Ich bin überzeugt«, sagte er, »dass Mrs Chigwiddens Pistole, gleichgültig, welchen Ton sie abzugeben gedenkt, uns eines Tages sehr viel mehr Vergnügen und Aufregung bereiten wird als die echten Waffen, die gegenwärtig auf Sir Basils Schießstand vor sich hin knallen.«
Das Kompliment − elegant, wenngleich vielleicht einen Hauch zu gedrechselt − traf auf Anwesende, die sich unruhig auf ihren Plätzen wanden. Mir schwante, dass Weihnachten in Belrive kein Erfolg werden würde.
Um fünf Uhr vertiefte sich die Abenddämmerung zur Dunkelheit. In einer Ecke des Raums schlug eine weichtönende holländische Uhr die Stunde, deren fünfter Schlag vom schnell anschwellenden und schließlich anhaltenden Kreischen der Cudbird-Sirene unterbrochen wurde. Sekunden später, mit noch durchdringenderem Ton, erklang die Cambrell-Sirene, als wäre sie zu Unrecht der Säumigkeit bezichtigt worden. Weiter entfernte Sirenen stimmten in den Chor mit ein, und eine Minute lang konnte man meinen, die Stadt wäre von einer Herde unfreundlicher Ungeheuer umgeben, die trompetend die aufziehende Nacht begrüßten.
»Warum?«, fragte Cecil Foxcroft, »kann man keine wohlklingende Glocke anschlagen? Sirenen mit ihrem herrischen, unschönen Klang schienen mir schon immer ein so unverblümter Ausdruck von Arroganz zu sein, wie man es sich nur vorstellen kann. Wer würde sich schon willentlich mit derart brutalem Getöse an seine Mitmenschen wenden?« Cecil nahm seine Brille ab, hob das Kinn und ließ langsam den Blick über die Versammelten schweifen. Genau so, eindrücklich, war er es anscheinend gewohnt, vor seiner versammelten Schule für das Wahre und Gute einzutreten.
Cecil war etwas über vierzig; er hatte eine brillante Laufbahn hinter sich und war seinem Alter immer weit voraus gewesen. In den gelehrten Kreisen muss das nicht immer ein Unglück sein. Ein fähiger Kopf kann mit dreiundzwanzig zum, sagen wir, Fellow eines Colleges in Oxford aufsteigen und dabei ein umgänglicher Dreiundzwanzigjähriger bleiben. Allerdings ist es so gut wie unmöglich, mit Mitte dreißig zum Leiter eines großen Internats ernannt zu werden, ohne nicht sofort um dreißig Jahre zu altern. Cecil war seit gut zehn Jahren ein solcher fiktiver Fünfundsechzigjähriger und verkörperte ihn ganz großartig; so wagte sich Cecil nie an Dinge heran, die er nicht wirklich beherrschte; nur wenn ein wahrer Fünfundsechzigjähriger anwesend war, konnte man im Vergleich dazu die Fiktion erkennen. Hier nun hatte Cecil unmittelbar nach dem wahrhaft älteren Mervyn Wale das Wort ergriffen, was zur Folge hatte, dass ein leiser Hauch von Mimikry in der Luft lag.
»Und dennoch«, fuhr Cecil fort − und man konnte sich vorstellen, wie er nicht mehr vor seinen Schülern, sondern vor deren Eltern stand − »gebührt niemandem mehr meine Bewunderung als dem britischen Unternehmer. Nehmen wir Ralph Cambrell. Seine Sirene mag infernalisch klingen, sein Herz aber hat er am rechten Fleck. Wie gut er die Sache mit den Wohnsiedlungen gemeistert hat! Man sagte mir, er habe wie ein Löwe für groß angelegte Gärten gekämpft und sich durchgesetzt.«
»Ralph Cambrell kontrolliert Balltrop’s«, entgegnete Geoffrey knapp.
»Balltrop’s?« Cecil setzte sich argwöhnisch die Brille wieder auf die Nase.
»Der größte Samenhändler«, erwiderte Anne. »Im Wahlbezirk.«
Wieder senkte sich unangenehmes Schweigen über den Raum, ein Schweigen, dessen Qualität durch den stetig zunehmenden Verkehrslärm auf der Hauptstraße noch unterstrichen wurde. Von den Fabriken und Büros in der Stadt strömten Tausende von Arbeiter in die Vororte, um dort begierig Balltrop’s Primeln und Immergrün zu pflanzen, sofern die Strenge der Jahreszeit dies erlaubte.
Wale murmelte etwas über den Ausgleich legitimer Geschäftsinteressen. Ich sprach aufs Geratewohl vom nervenaufreibenden Trubel der modernen Stadt und stellte sie dem angenehmen Gemurmel der Menschen gegenüber, das im Mittelalter geherrscht haben musste. Wilfred griff mein Wort auf. »In Shakespeares London«, verkündete er und schritt zielgerichtet über den Teppich zum Muffinteller, »gab es einhundertvierzehn Kirchen, von deren Mehrzahl Tag und Nacht unregelmäßiges Glockengeläut erklang. Dazu hatte jeder Ladenbesitzer einen Burschen in Anstellung, der draußen auf der Straße schrill schreiend seine Waren anpries.« Wilfred hielt inne, einen Muffin vor dem Mund, und war sichtlich zufrieden mit der alliterativen Qualität seines Satzes. »Arthurs goldenes Zeitalter war im Grunde ein Zeitalter des Eisens und der Bronze, die sinnlos zur unablässigen Hervorrufung von Glockenschlägen eingesetzt wurden.«
Hubert Roper, hochgewachsen und lässig, einer Generation entstammend, in der sich Künstler noch durch die Eigenart ihrer Haarpracht oder Kleidung auszeichneten, hatte in seine eingehende Betrachtung des Feuers nun den vor dem Kamin sitzenden Cecil mitaufgenommen. »Wenn die Glocke der Mitternacht«, sagte er, »mit eh’rner Zunge Ruf die Nacht an ihre träge Laufbahn mahnte.« Er sah sich auffordernd um, als wollte er uns dazu einladen, Wilfreds Worte mit denen von Shakespeare zu vergleichen. Dann verlor er das Interesse und wandte sich wieder Cecil zu. Wahrscheinlich war das Licht des Kamins, das sich auf der Brille seines Neffen spiegelte, in diesem Moment wichtiger für ihn, und ich erinnerte mich, dass er ein Projekt angesprochen hatte, ein Porträt oder eine Skizze, die es anzufertigen galt.
»Shakespeares Glocken«, sagte Lucy Chigwidden, »wir sollten ein Gesellschaftsspiel daraus machen!« Angetan von dieser glorreichen Idee, räumte sie ihre Korrekturfahnen zur Seite. »Wer kann Shakespeares Glocken am längsten erklingen lassen? Ich fange an. Misstönend wie verstimmte Glocken jetzt.« Sie nickte Wilfred Foxcroft zu.
Wilfred dachte nach. »Wenn Cecil wie ein Schulleiter spricht«, sagte er, »klingt’s wie geborstne Glocken.« Er grinste seinen Bruder an.
Ich war an der Reihe und deutete zu den Fenstern und der Hauptstraße.
»Solch’ Lärm nie machten die Glocken zu den Zeiten der Pest, Noch war’n sie in solch steter Bewegung.«
Leise vom großen Tisch, wo er immer noch seine Karte studierte, sagte Basil: »Das ist nicht von Shakespeare, Arthur.« Kurzes Nachdenken bestätigte mir, dass er recht hatte; mir waren die Verse eines anderen elisabethanischen Dramatikers in den Sinn gekommen. Es war charakteristisch für Basil. So tief in seinem Verstand verstaut, dass zumindest ich es bislang nie wahrgenommen hatte, war sein Gelehrtenwissen über Shakespeares Texte. Von Basil musste man immer Unerwartetes gewärtigen.
»Onkel Arthur ist raus, weil er geschummelt hat«, sagte Anne. Es war beiläufig dahingesprochen, dennoch lag in ihrer Stimme eine Härte, die ich ihr übelnahm und die ihren launigen Kommentar im besten Fall zu etwas Ungehobeltem machte. Lucy beeilte sich, das spontane Spiel wiederaufzunehmen. Die Suche nach Glocken bei Shakespeare ging der Reihe nach im Kreis herum und kehrte zu Wilfred zurück. Basil fungierte mittlerweile als eine Art Schiedsrichter.
Wilfred zögerte; Basil begann langsam bis zehn zu zählen. Plötzlich schnippte Wilfred mit den Fingern.
»Wenn ich gestorben, traure länger nicht Als dumpfer Grabeglocken Trauerton Der Welt von meinem Scheiden gib Bericht.«
Es folgte eine Pause; jeder schien überrascht, dass Wilfred die zweite Runde überstanden hatte. Nun aber nahm Lucys mühsames Spiel eine düstere Wendung. Denn die meisten Glocken bei Shakespeare − oder zumindest die meisten, an die wir uns erinnern konnten − ertönten wegen eines Todesfalls. Geoffrey erzählte uns von »der süßen Helena Geläut’«; Cecil zitierte »und jetzt dem Kranken gleicht er, der verstört vor seiner Tür des Priesters Glöcklein hört«; Anne erinnerte an »eine dumpfe Glocke, die einst den abgeschiednen Freund geläutet«. Und dann − denn es war ein Spiel, das selbst ein gutes und informiertes Gedächtnis nicht lange überstehen konnte − waren nur noch Lucy und Wale übrig.
Lucy war an der Reihe; sie runzelte die Stirn, während Basil wieder zählte. »Nein«, sagte sie, »ich geb mich Sir Mervyn geschlagen.« Aber dann änderte sich ihre Miene. »Halt! Eins fällt mir noch ein: Meine Brust soll das Geläut dem Toten seufzen.« Triumphierend sah sie zu Wale. »Meine Brust«, wiederholte sie mit Nachdruck, »soll das Geläut dem Toten seufzen.«
Wale öffnete den Mund; dann sah ich ihn mit seltsam fins-terer Miene zögern.
»Sieben«, sagte Basil. »Acht …«
Ich sah zu Lucy, die sich bereits in kindlicher Freude auf ihren Triumph vorbereitete.
»Neun …«
Wale hob den Kopf. »Dieser Todesanblick«, sagte er mit klarer Stimme, »mahnt wie Grabgeläut’ mein Alter an die Grube.«
Sein Blick schweifte über die Anwesenden und verharrte schließlich auf Cecil, der erneut am Revolver herummachte, mit dem er zuvor schon beschäftigt gewesen war. Etwas verlegen sagte Lucy: »Romeo und Julia − natürlich.« Kaum war sie verstummt, drehte sich Wale abrupt um und verließ das Zimmer.
Peinlich berührt sahen wir anderen uns an. Dann kam Leben in Geoffrey Roper. »Ein Grabgeläut«, sagte er, »mahnt sein hohes Alter an die Grube.« Seine Miene erhellte sich. »Bei Gott, das inspiriert doch zu einem Gemälde!«
Beim Dinner drei Stunden später waren seltsamerweise alle in bester Stimmung. Ich sage »seltsamerweise«, und wenn es mir gelungen ist, das diffuse Unbehagen bei der vorherigen kulinarischen Erfrischung zu vermitteln, wird der Leser mich verstehen. Lucys Spiel hatte etwas Betrübliches an sich gehabt. Und etwas Pedantisches. Ich selbst hege natürlich den Widerwillen des berufsmäßigen Schriftstellers gegenüber dem Ergötzen, das ein literarischer Wettbewerb bietet, aber auch die anderen spürten wohl, dass es mutwillige kulturelle Kurzweil war, sein Gedächtnis nach Shakespeare-Versen zu durchforsten. Es sagte doch einiges aus, dass Basils Konversation beim Essen, obwohl unvermindert gelehrt, weit davon entfernt war, einen ähnlichen Eindruck zu erzeugen. Regengebiete, mittlerer jährlicher Bedeckungsgrad, Kotidenlinien, zyklonale Rotation und dynamische Tiefdruckgebiete sind per se nicht unbedingt reizvolle Sachverhalte. Aber Basil war von ihnen fasziniert und vermittelte deren Faszination. Meine eigene Aufmerksamkeit, zunächst so oberflächlich, dass mir kaum auffiel, wie sich das Vokabular von der Geologie zur Meteorologie verschoben hatte, war zum Ende voll und ganz geweckt. Nichts auf der Welt ist langweiliger als das Hobby anderer Leute – eine Aussage, die durch das Revolverschießen in Belrive hinreichend illustriert wurde. Aber die Meteorologie, die einige Jahre zuvor für Basil noch ein Hobby gewesen sein musste, gehörte nun offensichtlich zu einer ganz anderen Kategorie. Basil hatte sich mehr als nur damit beschäftigt; es wurde klar, dass er selbst einiges zu dem Fachgebiet beitragen konnte. Vor Kurzem hatte er eine Theorie formuliert – das bestätigten auch andere –, die ich nur unzureichend verstand, die sich aber anscheinend als ein nicht ganz unwichtiger Beitrag zu diesem sich schnell entwickelnden Bereich der wissenschaftlichen Forschung erwies.
Das alles war beeindruckend und sagte viel über Basils Verstand aus. Bemerkenswerter und bezeichnend für die Kraft seiner Persönlichkeit, die meinen Cousin zu einem führenden Vertreter des organisierten Alpinismus machte, aber war seine Fähigkeit, dieses abseitige Wissensgebiet dazu zu nutzen, uns alle zusammenzubringen und gute Laune zu verbreiten. Mit Ausnahme von Wale hatte keiner von uns irgendwelche naturwissenschaftlichen Neigungen; einige unter uns waren in einen öden Familienzwist verwickelt gewesen, bevor wir uns hier eingefunden hatten, aber jetzt lauschten wir und stellten Fragen und verstanden. In einem Zustand milder Berauschtheit, der nichts mit Belrives ausgezeichneten Weinen zu tun hatte, brachten wir sogar Vorschläge ein, die eventuell hilfreich sein könnten. Wir standen unter dem Zauber von etwas Neuem, das uns durch meisterhafte Erläuterung zugänglich gemacht wurde und durch fantasievolle Begeisterung anregte. Nur Wale gab sich etwas reserviert. Aber ich sah, dass er allem aufmerksam folgte und beeindruckt war.
Von diesen erhellenden Gesprächen ist mir sonderbarerweise nur ein höchst allgemeiner Eindruck geblieben. Ein Aspekt des Themas hat sich mir allerdings im Gedächtnis festgesetzt. Basil hatte viel über Zugbahnen zu erzählen, und über Zugbahnen könnte ich wohl immer noch einen umfangreichen und halbwegs korrekten Absatz verfassen. Anscheinend gibt es einen Tropensturm, dessen Bahn so gut wie nicht vorhersehbar ist. Versucht man die Gründe dafür nachzuzeichnen, scheint die Logik außer Kraft gesetzt; denn man findet Ausgangsbedingungen vor, die nicht zu einem Sturm, sondern zu Windstille führen sollten. An das allein kann ich mich noch deutlich erinnern, und ich erinnere mich daran wegen der impliziten Ironie. Es schien, als sorgten Basils Ausführungen für gutes Wetter in Belrive. In Wirklichkeit braute sich bereits der Sturm zusammen, der uns alle fortriss.
Es war eine schöne Nacht, trocken und frostig. Nach dem Kaffee schlüpfte ich in einen Mantel und schlenderte auf die Terrasse. Cecil stand an der Ecke und betrachtete Cudbirds riesiges Reklameschild. Er drehte sich um, als ich mich näherte, und mir schien, dass er selbst in der Einsamkeit der Dunkelheit das fantastische Spektakel mit einem Blick bedachte, der zu gleichen Teilen von weiser Duldung und unbeugsamer Verdammung sprach. »Man muss sich davor hüten«, sagte er, »solche Dinge nüchtern nach den Maßstäben des eigenen guten Geschmacks zu bewerten. Denn es liegt doch große Kraft in ihnen. Shelley hätte an der Flasche seine helle Freude gehabt.«
Wenn es jemanden gab, dachte ich, dessen mutmaßliche Reaktionen zu erraten völlig sinnlos war, dann Shelley. Ich murmelte etwas Unverständliches.
»Oder nimm Lucys Geschichten«, fuhr Cecil fort. »Einem Jünger von Henry James müssen sie überspannt und geschmacklos vorkommen.« Dabei tippte mir Cecil auf die Schulter − was, ich muss es gestehen, Groll in mir weckte. Bei James, weiß Gott, gibt es zehnmal mehr, als ich mir jemals erhoffen kann herauszulesen; dennoch bin ich über das Alter hinaus, in dem man es genießt, als Jünger dieses oder jenes Autors einsortiert zu werden. »Und trotzdem, mein lieber Arthur, bieten Lucys Liebesromane ein hohes Maß an unschuldiger Zerstreuung. Zerstreuung, die, wie man zurecht sagen muss, zudem mit intellektuellem Anreiz aufwartet, und das ist doch höchst schätzenswert in einer Zeit, die so gnadenlos gefühlsbetont ist wie unsere.« Cecil nahm seine Brille ab. »Manche unter uns, fürchte ich, führen heutzutage ein mehr als ungeregeltes Leben.«
Das war der Punkt, an dem ich merkte, dass Cecil auf etwas hinauswollte, und dass Shelley, James, Lucy und ihre Bücher nur als Einleitung für etwas dienten, was seinerseits durch ein besonderes Beispiel illustriert werden sollte. »Ungeregeltes Leben?«, fragte ich. Was immer es sein mochte, ich wollte es hinter mich bringen.
Cecil nahm mich am Arm; man hätte das als den Griff des Internatsleiters beschreiben können. »Zu den Ruinen«, sagte er, »wollen wir.«
Es war halb elf, als wir zurückkehrten, und ich hatte beschlossen, sofort ins Bett zu gehen. Auf dem Weg durch den Salon fand ich Basil erneut über die Karte gebeugt vor. Hubert hatte es sich neben ihm bequem gemacht, den musternden Blick nicht auf die große quadratische Leinwand gerichtet, sondern auf seinen Bruder. Ich blieb stehen und wollte herausfinden, welcher Winkel der Erde ihrer Begutachtung unterzogen wurde. Aber die Konzentration, die beide Männer ausstrahlten, ließ mich weitergehen. Alles, was ich hörte, war ein neues Vokabular: der Ross-Quadrant, der Viktoria-Quadrant, die Ross-Barriere.
Die Worte sagten meinem wachen Verstand nichts. Im Schlaf aber wusste ich es besser. In der Nacht träumte ich von großen Schneemassen, von Schnee, der sich bis an den fernen Horizont erstreckte. Ich träumte von Basil, der davon umgeben war, allein, die Karte vor sich auf einem Tisch aus Eis ausgebreitet. Ich träumte von meiner Nichte Anne Grainger, die einen Revolver in der Hand hielt und mit strenger Stimme sagte: »Onkel Arthur wird erschossen, weil er geschummelt hat. Onkel Arthur wird erschossen.«
»Heute Morgen wird geschossen.«
Wilfred Foxcroft, der eingehend die Frühstücksnierchen begutachtete, legte eine Betonung in jedes Wort, die mich stutzen ließ. Sein Bruder Cecil, der sich − typisch für ihn − einem gekochten Ei widmete, sah ebenfalls abrupt auf. »Hat das nicht Zeit bis zum Nachmittag?«, fragte er. »Wir sind im Urlaub, ja. Aber ich dachte, es stünden auch dringende Familienangelegenheiten an.«
Wilfred schüttelte den Kopf. »Familienangelegenheiten − vor allem wenn sie dringend sind − sollte man am besten immer aufschieben.« Er lächelte glücklich über sein geistreiches Bonmot, das mir mehr Wahrheit zu enthalten schien als Cecils wohl abgewogene Weisheiten. »Basil und ich haben einmal auf sechstausendsiebenhundert Metern Höhe Familienangelegenheiten besprochen − mit kläglichem Erfolg.«
Alle waren erstaunt. Die Zusammenkunft in Belrive war wirklich ein Urlaubstreffen, augenscheinlich aber auch eine Gelegenheit zur Versöhnung. Ein alter Streit, dessen Ursprung mit Ausnahme der beiden Beteiligten für alle im Dunkeln lag, sollte beigelegt werden. Basil und Wilfred waren tatsächlich zusammengekommen. Es war kaum zu erwarten gewesen, dass sich einer der beiden über die Vergangenheit auslassen würde. Deshalb waren wir alle verblüfft von Wilfreds Bemerkung und hofften gleichzeitig natürlich, mehr zu hören. Zehn Jahre zuvor waren die beiden Männer, Onkel und Neffe, mit einer kleinen Trägerkolonne zu einem Berggipfel aufgebrochen − zu diesem Zeitpunkt waren beide eng befreundet gewesen. Herunter kamen sie auf getrennten Routen und mit hastig geteiltem Proviant. Einen Monat später hatten sie sich in Darjeeling getroffen und sich im Beisein von Freunden schweigend die Hand gereicht. Sie hatten sich nicht nur als bloße Individuen entzweit, sondern als Bergsteiger, die einem berühmten Club angehörten; den Statuten gemäß trafen sie sich nicht mehr. Ende der Geschichte. Und jetzt schien Wilfred bereit, darüber zu reden.
Doch weit gefehlt. »Die unverträgliche Höhe«, sagte er. »Noch mal tausend Meter, und man würde selbst seinem liebsten Feind nur halbherziges Missfallen entgegenbringen. Vor allem, wenn man sich noch nicht akklimatisiert hat. Ich weiß nicht, wie Wale es sieht, aber ich glaube, wenn das Hämoglobin im Blut zunimmt …« Und schon war Wilfred wieder inmitten einer seiner belehrenden Tiraden.
Basil beobachtete ihn − mit leicht zusammengekniffenen Augen, wie ich meinte − und unterbrach ihn beim ersten Innehalten. »Um auf Cecil zurückzukommen«, sagte er ernst, »es stehen für manche von uns tatsächlich einige Themen an.« Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Familienangelegenheiten mögen mühselig sein, und häufig ist man gut beraten, zu warten, bis sie sich von selbst lösen. Zuweilen aber ist man durchaus berechtigt, die Sache offiziell und unverzüglich in die Hand zu nehmen. Das würde ich gerne anmahnen.«
Hubert Roper stellte seine Tasse ab. »Anmahnen?«, sagte er. »Wohl eher mehr als das. Du exemplifizierst es.«
Ich hatte so eine Ahnung, worauf Basil hinauswollte; ich musste an mein Gespräch mit Cecil während des Spaziergangs am Abend zuvor denken. Huberts Worte aber − oder vielmehr sein Ton − verblüfften mich, denn sie hatten etwas Rätselhaftes an sich, womit sie sich eigentlich Lucy anempfohlen hätten. Lucy hörte ebenfalls zu, allerdings nicht richtig. Dabei hängt das Verfassen von Romanen doch einzig davon ab, ob man ein Ohr für die Worte hat.
»Offiziell in die Hand nehmen?«, griff Wilfred Basils Wortwahl auf. »Was für eine unheilschwangere Formulierung. Und ich weiß wirklich nicht, ob wir uns damit beeilen müssen. Geoffrey, du stimmst mir sicherlich zu.«
War das Boshaftigkeit oder Ausdruck guter Laune in seiner Stimme? Ich musste zugeben, im Moment fehlte mir ebenfalls das Ohr dafür. Geoffrey, wie immer an Annes Seite, entschied sich für die gute Laune − vielleicht aus Prinzip. »Oh, gewiss«, sagte er. »Warum sich beeilen? Beeilen ist nur etwas für die Jugend.«
»Und welches Interesse«, fragte Anne, »kann mein Vormund schon an der Jugend haben? Gar keines, hoffe ich.«
Boshaftigkeit oder Ausdruck guter Laune − ich konnte es nicht sagen. Mein Gehör versicherte mir nur, dass Anne und Wilfred einander verstanden. Aber woher dieses Verständnis rührte oder welche Haltungen und Gefühle damit einhergingen, davon wusste ich nichts. Eine beinahe tödliche Auseinandersetzung oder ein letztlich doch gutmütiges Kräftemessen: Beides war möglich. Cecil natürlich konnte den Stand der Dinge bezeugen. Aber dass er einen verlässlichen Zeugen abgab, konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Nichts war offensichtlich, außer dass Anne und Geoffrey ineinander verliebt waren; dass keiner der beiden auch nur einen Penny besaß; und dass Wilfred eine Rolle in ihrer Zukunft zugedacht war. Das, und dass Basil versuchte, Einfluss zu nehmen. Warum? Er war Wilfreds Onkel, aber doch kaum in einer Position, die ihm Einflussnahme erlaubte. Außerdem hatte er zu Anne ein distanziertes Verhältnis – sehr viel distanzierter als meines zu ihr. Was im komplexen Familiengefüge konnte ihn dazu bewegen, die Zukunft der jungen Leute regeln zu wollen? Und was, noch einmal, hatte Hubert, den Erben von Belrive, veranlasst, Basil in diesem angespannten Tonfall vorzuwerfen, er exemplifiziere die offizielle und unverzügliche In-die-Handnahme der Familienangelegenheiten? Das Nachdenken über diese Frage erfüllte mich nun zum ersten Mal wirklich mit Sorge darüber, was in der Priorei vor sich ging.
Sir Mervyn Wale bat um die Marmelade − so ruhig, dass allen sofort peinlich bewusst wurde, dass es eben keine reine Familienzusammenkunft war. Seltsam, dass dieser Fremde eingeladen war, falls wirklich heikle Verhandlungen anstanden. Ich erinnerte mich an Wilfreds Aussage − ohne dass diese freilich irgendetwas erhellt hätte −, derzufolge Wale auf Betreiben Cecils hier sei, der mit ihm eine enge Freundschaft eingegangen war. Bislang hatte ich nicht erkennen können, welche gemeinsamen Interessen die beiden verbanden. Wale war Arzt; Cecil ein klassischer Gelehrter. Vielleicht war Wale ein einflussreicher Gönner an Cecils Internat.
Die Familienangelegenheiten jedenfalls wurden daraufhin abrupt fallen gelassen. Die Gespräche widmeten sich dem Übungsschießen, und allmählich erfuhr ich, was geschehen war. Irgendwo zwischen den Ruinen hatte sich Basil als Freiluftvergnügen an Wintertagen einen Schießstand eingerichtet. Den Grund dafür konnte ich noch nicht einmal erahnen, aber das lag zweifellos daran, dass ich wie Lucy Pistolen nicht unbedingt als harmlos ansehe. Basil aber war anscheinend so etwas wie ein Experte, und der Sport erforderte weder den Platz noch die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen wie ein Schießstand für Gewehre. Bevor sich der Reiz des Neuen in wenigen Tagen gelegt haben würde, erfreuten sich die Handfeuerwaffen großer Beliebtheit. Ich kam zu dem Schluss, dass es gesellschaftlich angeraten wäre, mich selbst mit ihnen vertraut zu machen. Lucy Chigwidden wurde nun zum Ziel einiger launiger Kommentare aufgrund des offensichtlichen Umstands, dass sie so gut wie nichts von Handfeuerwaffen verstand, obwohl ihnen in ihren gewalttätigen Erzählungen eine so herausragende Rolle eingeräumt wurde. Lucy nahm das alles gleichmütig hin; im Bett war ihr ein Licht zum Thema Kapitelstrukturierung aufgegangen, und sie war gelassener Stimmung … Und dann fragte Geoffrey seinen Onkel, ob noch jemand Fremdes zum Schießen kommen würde.
Basil betrachtete uns mit zusammengekniffenen Augen, so wie er kurz zuvor auch Wilfred betrachtet hatte; dieser Blick wurde von etwas begleitet, was man nur selten an ihm wahrnahm: einem leicht spöttischen Lächeln.
»Warum? Ja«, sagte er. »Horace Cudbird wird sicherlich kommen.«
In der folgenden Pause waren Tassen, Messer und Gabeln zu hören, die abrupt abgesetzt wurden. Cecil ergriff als Erster das Wort. »Cudbird? Wirklich, Basil, ich hätte mir nie vorstellen können …«
»Vergessen wir nicht«, sagte Geoffrey. »Cousin Cecil bewundert niemanden mehr als den britischen Unternehmer.«
»Wiewohl er hier auch eine Grenze zieht«, sagte Anne.
»Sich doch wohl eher bemüht, für Onkel Basil die Grenze zu ziehen«, sagte Geoffrey.
»Hoffen wir lieber, dass er damit nicht Kritik auf sich zieht.«
»Und Streit befeuert?«
»Hat Onkel Basil überhaupt Feuer? Oder besteht er gar nur aus Eis?«
Letztere Bemerkung wurde mit ausgiebigem Lachen quittiert, in das ich nach Kräften einstimmte. Denn der schnelle Wortwechsel zielte auf mich ab; er war eine Parodie − keine hinreichende, hoffe ich − der Dialoge, die ich in den letzten Jahren entwickelt hatte. Mein Augenmerk galt dem abschließenden Wortspiel mit Eis; es erinnerte mich an Basil inmitten der arktischen Ödnis in meinem Traum. War es möglich, dass sich mein Cousin für eine Polarexpedition rüstete? Aber vielleicht hatte Geoffrey nur andeuten wollen, dass Basils Temperament endgültig erkaltet war.
»Werden wir diesmal auch Ralph Cambrell zu Gesicht bekommen?«, fragte Wilfred. »Ich fand ihn immer ganz nett.«
»Cambrell? Ja, der kommt zum Lunch. Wir müssen etwas besprechen«, beschied Basil nüchtern. »Cudbird ist ein Mann der Ideen.«
Basil warf nur selten mit Lob um sich, und ich erinnerte mich, dass er erst kürzlich eine kategorische Ansicht zur großen elektrischen Reklametafel der Brauerei vertreten hatte. Jeder schien zu spüren, dass seine Worte Stoff zum Nachdenken lieferten. Der Kaffee wurde größtenteils schweigend eingenommen, bevor Geoffrey sagte: »Noch jemand?«
Basil nickte. »Mr X.«
Wir starrten ihn an.
»Mehr«, sagte Basil in gespieltem Ernst, »kann ich euch nicht verraten. Außer: Für einen unter euch ist Mr X eine ganz besondere Überraschung. Er wird zum Dinner kommen.«
Mein morgendlicher Spaziergang wurde kaum durch die rätselhaften Entwicklungen beeinträchtigt, die sich in der Hausgesellschaft meines Cousins allmählich abzeichneten. Es hatte geschneit, eine zarte Schneeschicht bedeckte den Park, und die nackten, rußgeschwärzten Bäume glichen gefrorenen Springbrunnen aus Ebenholz. Überall sah das Auge Stille; der jenseitige Trubel, zu dieser Stunde nur abgeschwächt zu hören, war ein Einbruch in diese Stille, und ein unrechter dazu: Eine einzelne Misteldrossel sang trotzig und eintönig dagegen an. Ein Gärtnerjunge, aus der zufriedenen Betrachtung seiner frisch angelegten, frostbedeckten Beete gerissen, rollte seine Schubkarre zu mir herüber und begrüßte mich; ich hatte seinen Vater gekannt und konnte mich noch vage an seinen Großvater erinnern.
Ich fühlte mich zu Hause. Viele meiner Schulferien hatte ich in Belrive verbracht; tatsächlich war es für mich der einzige Fixpunkt, den ich gekannt hatte. Mein Vater war Ingenieur, der häufig in Südamerika beschäftigt gewesen war; seine Begeisterung aber gehörte dem europäischen Festland. Wenn er nicht in Brasilien Brücken baute, streifte er mit einem Baedecker durch die Straßen Bonns oder stritt sich mit einem Fremdenführer über die beste Strecke von Modena nach Montagnana. Und wie jeder wohlhabende Engländer zu jener Zeit hielt er es für ganz natürlich, en famille zu reisen: Kindermädchen, Erzieherinnen, Hauslehrer wechselten sich im Lauf der Jahre ab. Meine Schulausbildung war oberflächlich; meine frühen Eindrücke waren die eines Europas in ständiger Bewegung: Die Felsen und Olivenbäume an der dalmatinischen Küste zogen am Deck eines übelriechenden, aus Triest ausgelaufenen griechischen Dampfers vorbei; Holland flog an den Fenstern eines Pullman-Waggons vorüber, und was für eine Aufregung, auf einem Deich die unglaubliche Novität einer elektrischen Straßenbahn zu erblicken; die Weinberge um Wien, die sich behäbig um uns herumzogen, während sich die Kutsche den Berg hinaufmühte – neben mir eine ältliche Engländerin, eine Zufallsbekanntschaft, die Aquarellskizzen aus ihrem Portfolio zog und meiner Mutter zeigte. Als Ausbildung war dies unvergleichlich; mit siebzehn hatte ich mir erworben, was sich jeder Romancier von den Göttern erflehte: eine hinlänglich vertraute Kenntnis dreier Hauptstädte. Ich wüsste nicht, dass Scheherazade mit mehr hatte aufwarten können.
Aber ein solcher Lebenswandel hatte nicht zur Herausbildung eines lokalen Zugehörigkeitsgefühls beigetragen, und wäre Belrive nicht gewesen, wäre ich vollkommen wurzellos aufgewachsen. Eine Villa in Ventimiglia oder San Remo, eine Wohnung in Paris, ein Londoner Club als Ausgangspunkt zu den Häusern diskret kultivierter Bekanntschaften: Davon, glaube ich, hatte Belrive mich weggeführt. Es hatte mich auf den Geschmack nach eigenem Grund und Boden gebracht; es war der Anlass, warum ich jetzt ein Haus in Chelsea besaß, das angenehm angefüllt war mit über die Jahre angesammelten Besitztümern. Diese Gedanken, denen ich nachhing, während ich zuweilen über Schnee, zuweilen über frostig sprödes Gras spazierte, machten mich nicht weniger zufrieden mit meiner Umgebung. Die Einsamkeit, die in Belrives kleinem Park zu finden war, hatte eine ganz besondere Anziehungskraft. Der Ort, so seltsam abgesondert von der Stadt, verfügte über die Eigenheit einer Zufluchtsstätte, wie man sie kaum für möglich halten würde: der Hohlraum, der sich manchmal hinter einem Wasserfall auftut, eine Höhle, die einen unerwartet vom Tosen und Glitzern des Meeres erlöst. Ich war etwas verstimmt, als ich, nachdem ich um einen Strauch bog, plötzlich Cecil und Mervyn Wale vor mir sah.
Sie hatten von einem umgedrehten Rindertrog die feine Schneeschicht weggewischt und kauerten nicht sehr würdevoll auf der so geschaffenen niedrigen Sitzgelegenheit. Mir fiel ein Rotkehlchen auf, das nahebei auf einem Zweig saß − und es war das Rotkehlchen, das mich innehalten ließ. Denn der Vogel schien sich die Szene mit der neugierigen und abwägenden Haltung seiner Art zu betrachten; er schien sich zu fragen, was hier vor sich ging; im rätselhaften Einklang mit ihm tat ich es ihm gleich. Kurz verharrte ich, und in diesem Augenblick setzte sich in mir die Überzeugung fest, dass ich in eine ärztliche Konsultation geplatzt war.
Hätte Cecil die Zunge rausgestreckt oder Wale sein Stethoskop gezückt, es hätte mich wenig verwundert − doch die beiden Männer unterhielten sich lediglich in aller Ernsthaftigkeit. Es musste Cecil gewesen sein, der sich verriet. Er war ein Poseur