Ein neuer Papi für Silke - Bettina Clausen - E-Book

Ein neuer Papi für Silke E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Die alte Jugendstilvilla gehörte Agnes Sandman. Die Siebzigjährige bewohnte zusammen mit ihrem Enkel Viktor das Parterre des Hauses. Den ersten Stock hatte sie an Veruschka Gessner und deren Tochter Silke vermietet. Veruschka Gessner war mit Viktor verlobt. Die Hochzeit sollte noch im gleichen Jahr stattfinden. »Ich will nicht, dass meine Mutti Onkel Viktor heiratet«, sagte die sechsjährige Silke zu ihrem Freund, dem Maler und Bildhauer Raoul Montagne. Dieser bewohnte das Gartenhaus, das zu der Villa gehörte. Agnes Sandman hatte es dem jungen Künstler kostenlos zur Verfügung gestellt, weil sie an Raouls Talent glaubte. »Warum willst du nicht, dass die beiden heiraten?«, fragte Raoul, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. »Weil ich Onkel Viktor nicht leiden kann.« Das klang trotzig und veranlasste Raoul nun doch, den Kopf zu heben. »Hast du einen besonderen Grund dafür, oder magst du ihn einfach nicht?« Der Maler legte die Farbpalette aus der Hand. »Ich mag ihn nicht, weil er mich auch nicht mag«, sagte Silke und schob sich auf den Hocker, der neben Raouls Staffelei stand. »Du solltest aber versuchen, ihn zu mögen«, riet Raoul der Kleinen, obwohl er Viktor Sandman selbst nicht leiden konnte. Er verstand nicht, dass eine so charmante und liebenswerte Frau wie Veruschka Gessner sich für Viktor Sandman entscheiden konnte. »Schließlich wird er schon bald dein Vati sein.« »Ich werde ihn nie Vati nennen«, sagte Silke eigensinnig. Raoul musste lächeln. Nachsichtig strich er der Kleinen übers Haar. Ich fürchte, du wirst es nicht leicht haben, dachte er. Er wusste, Viktor Sandman interessierte sich zwar für die hübsche Veruschka, aber nicht

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Sophienlust ab 211 – 246–

Ein neuer Papi für Silke

Hat Veruschka die richtige Wahl getroffen?

Bettina Clausen

Die alte Jugendstilvilla gehörte Agnes Sandman. Die Siebzigjährige bewohnte zusammen mit ihrem Enkel Viktor das Parterre des Hauses. Den ersten Stock hatte sie an Veruschka Gessner und deren Tochter Silke vermietet. Veruschka Gessner war mit Viktor verlobt. Die Hochzeit sollte noch im gleichen Jahr stattfinden.

»Ich will nicht, dass meine Mutti Onkel Viktor heiratet«, sagte die sechsjährige Silke zu ihrem Freund, dem Maler und Bildhauer Raoul Montagne. Dieser bewohnte das Gartenhaus, das zu der Villa gehörte. Agnes Sandman hatte es dem jungen Künstler kostenlos zur Verfügung gestellt, weil sie an Raouls Talent glaubte.

»Warum willst du nicht, dass die beiden heiraten?«, fragte Raoul, ohne von seiner Arbeit aufzublicken.

»Weil ich Onkel Viktor nicht leiden kann.« Das klang trotzig und veranlasste Raoul nun doch, den Kopf zu heben.

»Hast du einen besonderen Grund dafür, oder magst du ihn einfach nicht?« Der Maler legte die Farbpalette aus der Hand.

»Ich mag ihn nicht, weil er mich auch nicht mag«, sagte Silke und schob sich auf den Hocker, der neben Raouls Staffelei stand.

»Du solltest aber versuchen, ihn zu mögen«, riet Raoul der Kleinen, obwohl er Viktor Sandman selbst nicht leiden konnte. Er verstand nicht, dass eine so charmante und liebenswerte Frau wie Veruschka Gessner sich für Viktor Sandman entscheiden konnte. »Schließlich wird er schon bald dein Vati sein.«

»Ich werde ihn nie Vati nennen«, sagte Silke eigensinnig.

Raoul musste lächeln. Nachsichtig strich er der Kleinen übers Haar. Ich fürchte, du wirst es nicht leicht haben, dachte er. Er wusste, Viktor Sandman interessierte sich zwar für die hübsche Veruschka, aber nicht für deren Kind. Das war offensichtlich.

»Warum kann Mutti nicht einen so netten Mann wie dich heiraten, Onkel Raoul?« Silke legte den Kopf schief und schaute den Maler an.

Der fuhr sich nachdenklich durch seinen schwarzen Bart, der genauso gelockt war wie sein Kopfhaar. »Was soll ich dir darauf antworten, Kleines? Wahrscheinlich mag deine Mutti Onkel Viktor. Außerdem muss sie auch an eure Zukunft denken. Viktor Sandman ist reich und kann euch ein sorgenfreies Leben bieten.«

»Wir haben doch selbst Geld«, sagte Silke, die das alles nicht so recht verstand.

Offensichtlich hatte Veruschka Gessner mit ihrer kleinen Tochter nicht über diese Dinge gesprochen. Dann sollte ich es auch nicht tun, dachte Raoul. Er wusste, dass Veruschkas Mann vor zwei Jahren gestorben war und seiner jungen Frau nur Schulden hinterlassen hatte. Das hatte Agnes Sandman ihm erzählt. Auch, dass Veruschka jetzt so gut wie mittellos dastand. Sie hatte alles, was sie besessen hatte, verkauft, um die Schulden ihres Mannes bezahlen zu können. Danach hatte Agnes Sandman die junge Witwe und deren Tochter bei sich aufgenommen. Wahrscheinlich in der Hoffnung, sie mit ihrem Enkel Viktor verheiraten zu können, dachte Raoul.

»Warum hast du eigentlich einen so komischen Namen?«, fragte Silke.

Raoul musste lächeln. »Weil meine Großeltern Franzosen waren. Raoul ist ein französischer Name und Montagne auch.

Einen Moment lang überlegte Silke, dann fragte sie weiter: »Warum hast du keine Frau? Du bist doch schon alt genug?«

Wieder bildeten sich einige Lachfältchen neben den Augen des Malers, die Silke so gut gefielen. »Ich bin erst einunddreißig und muss erst einmal Geld verdienen, um eine Familie auch ernähren zu können.«

»Hast du kein Geld?«, fragte Silke treuherzig weiter.

»Nein«, antwortete Raoul und setzte eine betrübte Miene auf. »Ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Deshalb hat mir Tante Agnes auch erlaubt, hier zu wohnen.«

Das entsprach den Tatsachen. Aber Agnes Sandman ließ den mittellosen Künstler nicht nur kostenlos im Gartenhaus wohnen, sie bemühte sich auch um den Verkauf seiner Werke, was ihren Enkel Viktor immer wieder erboste. Doch Agnes, die sich sehr für Malerei interessierte, achtete nicht auf Viktors Protest. Sie hielt Raoul Montagne für talentiert, für sehr talentiert sogar. Ihrer Meinung nach war es nur eine Frage der Zeit, bis Raouls Werke berühmt wurden. In dem Künstlerviertel der Stadt war sie zum erstenmal Raouls Werken begegnet, als er sie dort in einem Café ausgestellt hatte. Das Angebot, in ihrem Gartenhaus zu wohnen, hatte Raoul dankbar akzeptiert. Hier konnte er in Ruhe arbeiten.

Erschrocken zuckte der Maler jetzt zusammen, als die Tür aufflog.

»Hier steckst du also«, herrschte Viktor Sandman Silke an. »Habe ich dir nicht verboten, das Gartenhaus zu betreten?«

Ängstlich wich Silke zurück.

»Warum haben Sie es ihr verboten?«, fragte Raoul.

»Weil ich finde, dass Sie nicht der richtige Umgang für ein sechsjähriges Mädchen sind.«

Raoul presste die Lippen zusammen. Ihm lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber er beherrschte sich.

»Los, raus hier!«, befahl Viktor und stieß Silke zur Tür.

Raoul trat zum Fenster und sah, dass Silke einen tüchtigen Klaps auf den Popo bekam. Sie riss sich daraufhin von Viktor los und lief zum Haus, direkt in die Arme ihrer Mutter.

»Was ist denn passiert?«, fragte Veruschka Gessner erschrocken, als sie Tränen in Silkes Augen sah. »Hast du etwas angestellt, Schatz?« Beschützend legte sie ihren Arm um Silkes Schultern.

Die Kleine schluckte. »Ich war nur bei Onkel Raoul …«

»Habe ich dir nicht verboten, ihn Onkel zu nennen?«, fuhr Viktor dazwischen.

»Lass das Kind in Ruhe«, verlangte Veruschka kühl. »Es ist schließlich nichts dabei, wenn sie den Maler Onkel nennt. Und ich habe ihr auch erlaubt, ihn zu besuchen.«

»Du hast …?« Viktors Augen weiteten sich. »Und das nennst du Erziehung?«

»Besser als deine Erziehung, die nur aus Verboten zu bestehen scheint«, konterte Veruschka.

»So geht das nicht. Darüber müssen wir noch sprechen«, hörte Veruschka Viktor sagen, während sie mit Silke das Haus betrat. Die beiden stiegen in den ersten Stock hinauf, den Veruschka mit Silke bewohnte.

»Musst du ihn wirklich heiraten, Mutti?«, fragte Silke.

Veruschka drehte sich um. »Ich habe es ihm versprochen.«

»Dann nimm dein Versprechen zurück. Lass uns allein bleiben, Mutti. Das ist viel schöner.«

Veruschka seufzte. Je näher der Hochzeitstermin rückte, um so mehr fürchtete sie sich davor, Viktors Frau zu werden. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Lag es daran, dass Viktor so streng und unduldsam mit Silke war? Sie wünschte sich einen Vater für ihr Kind, keinen Tyrannen. Bei ihrem Versprechen hatte sie in erster Linie an Silke gedacht. Ihr hatte sie wieder ein Zuhause und Geborgenheit geben wollen. Und nun entwickelte sich alles ganz anders als erwartet. Jetzt war Silke noch unglücklicher als vorher.

Die Kleine wiederholte ihre Frage: »Können wir nicht allein bleiben, Mutti?«

Veruschka überlegte. Wovon sollten sie leben, die Miete bezahlen? »Dann müsste ich arbeiten gehen und dich den ganzen Tag allein lassen.« Aber wo sollte sie eine Stelle finden?, dachte sie. Sie hatte keinen Beruf gelernt. Zwar beherrschte sie perfekt zwei Fremdsprachen, aber sie konnte weder stenografieren noch Schreibmaschine schreiben. Gleich nach dem Abitur hatte sie geheiratet, so dass für eine Berufsausbildung keine Zeit geblieben war. Ihre wohlhabenden Eltern hatten das auch für überflüssig gehalten. Ich muss Viktor geradezu dankbar sein, dass er mich heiraten will, dachte sie.

»Magst du ihn eigentlich, Mutti?«

»Wen?« Veruschka drehte sich um.

»Na, Onkel Viktor natürlich.«

Veruschka konnte dem forschenden Kinderblick nicht standhalten. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. Sie hatte geglaubt, ihn gern haben zu können. Und früher war er auch ganz anders gewesen. Nachsichtig mit Silke sowie höflich und zuvorkommend ihr gegenüber. Aber jetzt, dachte Veruschka, jetzt tyrannisiert er Silke und bedrängt mich, endlich seine Frau zu werden. O Gott, wenn ich nur wüsste, was ich tun soll.

*

»Du solltest etwas nachsichtiger mit dem Kind sein«, sagte Agnes Sandman zu ihrem Enkelsohn.

Der neununddreißigjährige Viktor zog ein unwilliges Gesicht. »Wie lange soll ich mich denn noch hinhalten lassen? Vor einem halben Jahr hat sie mir versprochen, meine Frau zu werden. Damals haben wir inoffiziell Verlobung gefeiert. Und damals habe ich sie zum ersten- und letztenmal geküsst. Ist das vielleicht normal?«

»Lass ihr Zeit«, riet Agnes ihm. »Sie hat ihren Mann sehr geliebt.«

»Er ist seit zwei Jahren tot!«

»Stefan Gessner war ein wunderbarer Mensch. Ihn vergisst man nicht so leicht«, sagte Agnes nachdenklich.

»Dann werde ich sie zwingen, ihn zu vergessen.«

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, mein Junge. Damit erreichst du nur das Gegenteil.«

Mit zornigen Bewegungen zündete sich Viktor eine Zigarette an. Dabei überlegte er, ob er mit seiner Großmutter über den Maler sprechen sollte. Raoul Montagne war ihm ein Dorn im Auge. Er wollte ihn loswerden. Sollte sich dieser doch woanders eine Unterkunft suchen.

»Wie lange soll dieser Vagabund eigentlich noch in unserem Gartenhaus wohnen?«, fragte er lauernd.

»Solange er will«, sagte Agnes. »Das habe ich ihm erlaubt.«

»War das nicht ein bisschen voreilig?«

Ein strenger Blick aus klaren wasserhellen Augen traf ihn. »Du verstehst nichts von Kunst. Sonst hättest du nämlich begriffen, dass Raoul kein Vagabund, sondern ein sehr Erfolg versprechender Künstler ist. Er hat seinen eigenen Stil gefunden, der ihn mit Sicherheit berühmt machen wird.«

»Da bin ich anderer Meinung.«

Agnes klopfte mit ihrem Stock auf den Teppich. »Ich habe beschlossen, dass er bleibt. Also bleibt er, und kein Wort mehr darüber.« Für ihre siebzig Jahre war Agnes Sandman geistig und körperlich noch sehr rüstig. Und wenn sie einen Entschluss gefasst hatte, ließ sie sich durch nichts davon abbringen.

Viktor wusste das, deshalb ließ er das Thema fallen. Er stieg in den ersten Stock hinauf und klopfte an Veruschkas Wohnzimmertür.

Veruscka saß mit Silke auf dem Teppich und setzte ein Puzzle zusammen. Sie sieht aus, als sei sie gerade erst neunzehn geworden, dachte Viktor. Dabei ist sie bereits siebenundzwanzig. »Störe ich?«, fragte er.

»Nein, komm herein.« Veruschka stand auf und stieg vorsichtig über das Puzzle, um es nicht zu zerstören.

»Ich wollte dir vorschlagen, dass wir für zwei oder drei Tage verreisen«, sagte Viktor, während er sich setzte.

Veruschkas Augen leuchteten auf. »Hast du das gehört, Silke?«

Doch Silke schüttelte den Kopf und nuschelte: »Mich nimmt er bestimmt nicht mit.«

»Das hatte ich in der Tat nicht vor.« Viktor schaute Veruschka an. »Ich wollte ein paar Tage mit dir allein sein.«

Veruschkas Blick wurde abweisend. »Nein, ich kann Silke nicht allein lassen.«

»Silke ist kein Baby mehr und bei Großmutter gut aufgehoben«, sagte Viktor ärgerlich.

»Darum geht es gar nicht. Sie würde sich ausgeschlossen fühlen, und das will ich nicht. Silke gehört nun einmal zu mir. Und wenn du dich damit nicht abfinden kannst, sollten wir uns noch einmal überlegen, ob wir auch wirklich zusammenpassen.«

»Wie meinst du das?«, fragte er lauernd.

»Dass du dich nicht an dein Eheversprechen gebunden fühlen musst«, sagte Veruschka schnell.

»Ich fühle mich aber daran gebunden und erwarte das gleiche von dir.« Er ging und knallte die Tür hinter sich zu.

»Jetzt hast du ihn aber geärgert, Mutti.«

»Darüber solltest du dich nicht freuen«, mahnte Veruschka. Einen Moment lang hatte sie gehofft, sich im Guten von Viktor trennen zu können. Vergebens. Er pochte auf sein Recht.

Ein Motor heulte auf. Silke lief zum Fenster. »Er fährt fort«, rief sie erfreut aus. »Dann sind wir beim Abendessen mit Tante Agnes allein. Darf ich in den Garten gehen. Mutti?«

»Du willst doch nicht in den Garten, sondern in das Gartenhaus, stimmt’s?«

»Stimmt«, gab Silke kleinlaut zu.

»Was fasziniert dich denn an Herrn Montagne so sehr?«

»Er kann so lustige Geschichten erzählen. Und überhaupt …« Ihre Geste und die leuchtenden Augen erklärten mehr als alle Worte.

»Dein Onkel Raoul muss ja ein wahrer Wundermensch sein«, sagte Veruschka neckend.

»Ist er auch«, bestätigte Silke ernst. »Du musst ihn auch einmal besuchen, Mutti. Er malt wunderschöne Bilder. Aber meistens kann man nicht erkennen, was es ist.«

Veruschka dachte an Agnes, die so viel von Raoul Montagnes Talent hielt. Sie wusste, die alte Dame verstand etwas von Malerei. »Ich werde mir irgendwann einmal seine Werke ansehen«, sagte sie.

»Komm doch gleich mit«, drängte Silke.

Doch Veruschka schüttelte lachend den Kopf. »Ein andermal. Jetzt habe ich zu tun.«

Silke rannte durch den Garten, bis sie atemlos vor Raoul stand, der mit geschlossenen Augen auf der Bank vor dem Gartenhaus saß. »Schläfst du, Onkel Raoul?«

»Nein.« Der Maler öffnete die Augen. »Ich denke nur nach. Hat dir dein Onkel nicht verboten, mich zu besuchen?«, fragte er gutmütig.

»Meine Mutti hat es erlaubt, und ich mache nur das, was sie sagt. Außerdem ist Viktor weggefahren.« Oft nannte sie ihren künftigen Stiefvater einfach nur beim Vornamen und ließ das ›Onkel‹ weg. »Weißt du noch, was du mir versprochen hast?«

Raoul nickte. »Selbstverständlich. Ich habe versprochen, ein Porträt von dir zu malen.«

»Kannst du es bitte schnell malen, Onkel Raoul? Ich möchte es nämlich meiner Mutti zum Geburtstag schenken, und das ist schon in drei Tagen.«

»Oje, oje«, sagte Raoul, so dass die besorgten Falten auf Silkes Stirn sich vertieften.

»Ich habe sonst kein Geschenk«, sagte die Kleine kläglich.

»Keine Bange«, versprach Raoul schmunzelnd. »Das schaffen wir schon noch. Du musst nur zwei Stunden ganz ruhig sitzen, damit ich dich porträtieren kann.«

»Jetzt gleich?«, fragte Silke eifrig.

»Nein.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Dafür ist das Licht schon zu schlecht. Morgen früh fangen wir an.«

»Toll.« Silke klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Gleich nach dem Frühstück komme ich zu dir.«

Raoul schaute ihr nach, als sie durch den Garten zur Villa zurücklief. Ein bezauberndes Kind, dachte er. Schade, dass sie einen so engstirnigen Vater wie diesen Viktor Sandman bekommt. Sie wird es nicht leicht bei ihm haben, und die Mutter auch nicht.

Beim besten Willen konnte Raoul sich nicht vorstellen, dass Veruschka Gessner Viktor Sandman liebte. Die beiden passten überhaupt nicht zusammen. Aber vielleicht war es gerade dieser Gegensatz, der sie aneinander Gefallen finden ließ?

Raoul stellte eine neue Leinwand auf die Staffelei, um gleich am nächsten Morgen mit Silkes Porträt beginnen zu können. Gern hätte er Mutter und Tochter zusammen gemalt. Es reizte ihn, Veruschka Gessners vollendete Züge auf der Leinwand festzuhalten. Aber natürlich wagte er es nicht, ihr diesen Vorschlag zu machen. Bisher hatte er ja kaum ein paar Worte mit ihr gewechselt. Er bewunderte sie nur immer aus der Ferne, vom Fenster des Gartenhauses aus. Und das auch nur, wenn sie in den Garten kam. Die Villa konnte er vom Gartenhäuschen aus nicht sehen. Hohe Kastanienbäume und dichte Oleanderbüsche versperrten ihm die Sicht.

Beim Abendessen waren Veruschka und Silke allein mit Agnes Sandman, was die Atmosphäre entspannte. Sie plauderten über Literatur. Beide, Agnes wie auch Veruschka, lasen viel.

Viktors Name fiel bei diesem Abendessen kein einziges Mal. Trotzdem sorgte sich Agnes Sandman, weil sie spürte, dass die Verbindung zwischen Veruschka und Viktor nicht glücklich war. Aber sicher würde sich das ändern, wenn die beiden erst verheiratet sein würden. Viktor war zwar ein pedantischer Vernunftsmensch, den sie insgeheim manchmal sogar einen Spießer nannte. Aber so eine Kritik hätte sie niemals laut ausgesprochen. Immerhin war er ihr Enkelsohn, auch wenn er sich nicht nach ihren Wünschen entwickelt hatte. Er besaß weder Fantasie noch künstlerische Ambitionen. Dafür war er sachlich und nüchtern und zuverlässig. Er würde gut für seine Familie sorgen. Er war zwar ein Tyrann, aber zuverlässig.

Agnes sah, dass Veruschka zusammenzuckte, als vor der Haustür ein Wagen bremste.

»Onkel Viktor kommt zurück«, murmelte Silke. »Kann ich schon hinaufgehen, Mutti?«

»Aber Kind, du hast doch deinen Nachtisch noch nicht gegessen«, erinnerte Agnes die Kleine. »Dabei gibt es heute Fruchtsalat mit Eis.«

Für einen Moment leuchteten Silkes Augen auf, doch dann erlosch ihre Freude wieder.

Viktor war ins Eßzimmer getreten. »Guten Abend«, grüßte er mürrisch.