Ein niederträchtiger Mord. Mutter Oberin Aquinas ermittelt - Cora Harrison - E-Book

Ein niederträchtiger Mord. Mutter Oberin Aquinas ermittelt E-Book

Cora Harrison

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Beschreibung

Der 1. Fall für Mutter Aquinas Historisch, irisch und voller Atmosphäre – für alle Fans von Martha Grimes und Inspector Barnaby. Cork, 1923. Der Fluss Lee spült der Nonne Mutter Aquinas eine junge Frau vor die Füße, im feinen, seidenen Ballkleid - und ganz offensichtlich tot. Die resolute Mutter Oberin verständigt umgehend Sergeant Patrick Cashman, einen ehemaligen Klosterschüler von ihr, der neben einem scharfen Verstand auch einen besonderen Blick fürs Detail besitzt. Nicht umsonst: Am Hals der Toten finden sich Strangulationsmale. Es dauert nicht lange, und der obduzierende Arzt – der unorthodoxe jüdische Dr. Scher – bestätigt die Vermutung, dass die junge Frau ermordet wurde. Auch ist die Identität der Toten schnell geklärt: die als vermisst gemeldete Angelina Fitzsimon, die zwanzigjährige Tochter eines respektablen Teehändlers aus Cork, die kurz davor stand, ein Vermögen zu erben. Als Dr. Scher im Saum von Angelinas Ballkleid eine Fahrkarte für die Mitternachtsfähre nach Liverpool entdeckt, ahnt die Mutter Oberin, dass hinter dem Mord an der jungen Frau mehr steckt, als es den Anschein hat. Gemeinsam mit Sergeant Cashman und Dr. Scher geht die Nonne der Sache auf den Grund – und kommt dem Mörder bald näher, als ihr lieb ist …

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Cora Harrison

Ein niederträchtiger Mord

Mutter Oberin Aquinas ermittelt

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

 

Über dieses Buch

Eine irische Nonne ermittelt in Sachen Mord.

 

Irland, 1923. Wie so oft sorgt der Fluss Lee für Hochwasser in der Stadt Cork – und spült der Nonne Mutter Aquinas eine junge Frau vor die Füße, im seidenen Ballkleid und ganz offensichtlich tot. Die resolute Mutter Oberin verständigt sofort Sergeant Patrick Cashman, einen ehemaligen Klosterschüler mit scharfem Verstand und besonderem Blick fürs Detail. Zusammen mit ihm und dem unorthodoxen jüdischen Arzt Dr. Scher findet Mutter Aquinas heraus: Die junge Frau, Tochter eines Teehändlers, stand kurz vor einer großen Erbschaft. Und sie wurde stranguliert. Als Dr. Scher im Saum ihres Kleides ein Ticket für die Mitternachtsfähre nach Liverpool findet, wird klar: Hinter dem Mord steckt mehr. Mutter Oberin, Sergeant Cashman und Dr. Scher gehen der Sache nach – und kommen dem Mörder bald näher, als ihnen lieb ist …

Vita

Cora Harrison hat als Lehrerin gearbeitet, bevor sie auf eine Farm im Westen Irlands zog und anfing, historische Romane zu schreiben. «Ein niederträchtiger Mord» ist der erste Band ihrer Reihe um die ermittelnde Nonne Mutter Aquinas.

 

Sabine Schilasky lebt und arbeitet in Hamburg. Sie hat u.a. M.C. Beaton, Alex Kava, Kwei Quartey, M.W. Craven, N. Richards/M. Costello, Clare Mackintosh und Owen Mullen übersetzt.

 

«Harrison vereint in ihrem Buch eine clevere Ermittlerin mit einem Schauplatz voller Intrigen und Spannung – ein Volltreffer.» (Publishers Weekly)

EINS

THOMAS VON AQUIN:

Videtur quod voluntas Dei non sit causa rerum.

(Es scheint, dass der Wille Gottes nicht die Ursache der Dinge ist.)

Es war Mutter Oberin Aquinas, die das tote Mädchen fand. Die Leiche hatte sich an der Pforte zur Klosterkapelle von St. Mary’s of the Isle verfangen, angespült vom Hochwasser. Einen Moment lang suchte ein abwegiges Phantasiebild sie heim: Beinahe hätte sie sich vorgestellt, eine Meerjungfrau wäre von den Fluten hergetrieben worden. Das lange silbrige Kleid schimmerte im Schein der Gaslaterne wie nasse Lachshaut, und die Strähnen durchnässter Locken waren vom selben Rotbraun wie das gekräuselte irische Moos, das Mutter Aquinas als Kind an den windgepeitschten Stränden von Ballycotton gesammelt hatte. Ihr Herz schlug schneller, als die Mutter Oberin die Pforte aufschloss und hinab in die starren blauen Augen schaute, die von einer breiten, hohen Stirn und bleichen, aufgequollenen Wangen gerahmt waren. Sie wusste, dass sie nichts mehr für das Mädchen tun konnte. Stumm bückte sie sich, berührte das eiskalte Gesicht und zeichnete anschließend mit leicht zitternder Hand ein kleines Kreuz auf die Stirn. In ihrem langen Leben war die Mutter Oberin schon oft dem Tod begegnet, dennoch blieb es ihr bis heute nahezu unerträglich, wenn er ein junges Leben traf.

Sie richtete sich wieder auf und blickte sich um. Es war niemand in der Nähe. Mutter Aquinas hatte das Kloster eilig verlassen und sich in den Nebel hineinbegeben, weil sie merkte, dass ihr die Geduld fehlte, noch länger Schwester Mary Immaculates frömmelnden Bemerkungen zu lauschen, die um die These kreisten, das Hochwasser wäre gottgewollt gewesen. Wie ihr Namenspate, der große Philosoph Thomas von Aquin, lehnte auch Mutter Aquinas die Doktrin vom göttlichen Willen ab. Ihr kam sie wie eine billige Ausrede vor, mit der Unmenschlichkeit, Schwäche und mangelndes soziales Verantwortungsbewusstsein entschuldigt wurden. Es gäbe nicht alljährlich diese entsetzlichen Überflutungen, würde einiges von dem städtischen Vermögen aufgewandt, um Maßnahmen zum Schutz vor Hochwasser umzusetzen. Schwester Mary Immaculate, dachte sie verärgert, wäre nicht ganz so schnell mit ihren üblichen Platituden vom göttlichen Willen bei der Hand, befände sie sich in der Lage jener Kinder, die ihre Schule besuchten: Die Schüler mussten mit ihren Familien in den überfüllten Häusern wohnen, die von überlaufenden Abwasserkanälen geflutet wurden. Wie immer waren es die Armen, die litten. Die Reichen waren auf die Hügel außerhalb der Stadt gezogen.

Überschwemmungen waren in Cork nichts Neues. Die Stadt hatte man auf einer Marsch errichtet, die von Flussläufen durchzogen war. Angefangen hatte es mit einer kleinen Klosteranlage, St. Mary’s of the Isle, die dann bei Ankunft der Wikinger auf eine zweite Insel ausgedehnt wurde und schließlich, als die Normannen kamen, auf eine dritte. Später verbanden die Bewohner die Wikinger- und die Normanneninsel durch eine Brücke und umschlossen sie mit einer hohen Mauer. Daraus entstand die mittelalterliche Stadt Cork: Sie befand sich direkt über dem Sumpf, besaß einen geschützten Hafen und war durch den Fluss Lee mit dem Meer verbunden. Zu Reichtum gelangte sie durch den Handel mit Butter, Fleisch und Fellen aus dem Hinterland, die ins nahe gelegene England und nicht allzu weit entfernte Frankreich und Spanien verschifft wurden. Im achtzehnten Jahrhundert zähmten die reichen Kaufleute die Flussarme mit Sandsteinmauern und bauten sich stattliche Wohnungen über den Lagerhallen, deren hoch über den Anlegestellen befindlichen Eingänge, ähnlich denen mittelalterlicher Burgen, über außen liegende Steintreppen zu erreichen waren. Wie ein Venedig unter einem nördlichen grauen Himmel prosperierte die Stadt und wurde ehrgeizig; doch anders als in Venedig waren die hiesigen Kaufleute mit ihren Wasserwegen unzufrieden. Sie leiteten die Marschabläufe in Schächte und legten auf allen Flussarmen – mit Ausnahme von zweien – breite Straßen an. Diese beiden Arme des Lee, der nördliche und der südliche, umrahmten nach wie vor die Stadt, und das Wasser unter den Straßen blieb ein Bestandteil von ihr. Letzteres entkam von Zeit zu Zeit seinen beengten Gefilden und überflutete die Stadt.

Auch Leichen, die vom Hochwasser nach oben gespült wurden, waren nichts Neues. Die Mutter Oberin kehrte nun dem toten Mädchen den Rücken zu und schritt zurück. Sie seufzte, als sie am Tor die Glocke nach dem Gärtner läutete. Als er auftauchte, wies sie ihn an, Sergeant Patrick Cashman aus der Polizeikaserne zu holen; anschließend wartete sie resigniert, dass Schwester Mary Immaculate herbeigeeilt kam, um nach dem Grund des Läutens zu fragen.

«Ich wollte eben zu Ihnen, Schwester», sagte die Mutter Oberin, sobald ihre Stellvertreterin erschien. «Könnten Sie in die Küche gehen und Schwester Rosario bitten, etwas Haferbrei für die Kinder zu kochen, die es schaffen, heute Morgen herzukommen? Ach, und holen Sie bitte einige der Socken aus dem Schrank, damit jedes von ihnen ein Paar trockene haben kann.» Dies, dachte sie mit einer gewissen Zufriedenheit, sollte Schwester Mary Immaculate beschäftigen, bis die Glocke zum Beginn des Morgenunterrichts erklang. Danach verzieh sie sich selbst ihre fehlende Nächstenliebe gegenüber der anderen Klosterfrau, indem sie voller Freude über die Annehmlichkeit nachdachte, die der warme Haferbrei und die dicken, trockenen Socken den Kindern schenken würden. Jene Strümpfe wurden ohnedies im Überfluss von den sehr alten Nonnen gestrickt, da konnten sie auch mal einem guten Zweck zugeführt werden. Sie holte ihre Uhr, die an einer silbernen Kette hing, aus der großen Tasche ihres Habits und sah nach der Uhrzeit. Immer noch erst Viertel vor neun. Patrick würde wohl nicht vor neun in der Polizeikaserne eintreffen, und schon jetzt hörte sie die Stimmen der Kinder: Sie kamen die Straße heruntergelaufen und konnten es vor lauter Aufregung nicht erwarten, ihre Geschichten von dem nächtlichen Hochwasser und der Größe der Ratten zu erzählen, die durch die Flure und über die morschen Treppen der viergeschossigen georgianischen Gebäude in der Cove Street und der Sawmill Lane geflitzt waren. Sie schmunzelte vor sich hin, als sie sich vorstellte, wie aufgeregt und munter sie alle waren, während sie zurückging, um bei der Leiche zu wachen. Immer wieder schaute sie auf ihre Uhr; die Minuten schienen unendlich langsam zu verstreichen.

Nach einer Weile kniff Mutter Aquinas vor Ärger die Lippen zusammen, als sie hörte, wie die Hintertür des Klosters aufging und die schrille Stimme von Schwester Mary Immaculate erklang, die Befehle schrie. Natürlich hätte sie daran denken müssen, dass die Nonne die Angewohnheit hatte, die älteren Mädchen vor Schulbeginn in die Kapelle zu führen.

Und sie kam gerade noch rechtzeitig. Schwester Mary Immaculate hatte die Mädchen bereits in einer Reihe aufgestellt, jede mit einem Gebetbuch in der Hand und bereit für ihren täglichen Gang, ihre Gebete an Gott zu verrichten. Besser wäre es, wenn die Schwester die Zeit nutzte, um diesen dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchen zusätzlichen Mathematikunterricht zu geben, sodass zumindest einige wenige von ihnen eine vage Aussicht auf eine Stellung in einem Geschäft oder in einer Buchhaltung haben würden, dachte die Mutter Oberin säuerlich, als sie alle Mädchen zurück in ihre Klassenräume schickte. Die letzte Schülerin in der Reihe trug einen etwa fünfzehn Zentimeter breiten Wickel aus gelbem Flanell, der mit riesigen Sicherheitsnadeln unten an ihrem marineblauen Trägerrock befestigt war.

«Was um alles in der Welt hat denn Nellie O’Sullivan an?», fragte sie. Mit ihren unbändigen Locken war Nellie ein hübsches Mädchen und schon seit ihrem sechsten Lebensjahr immer ziemlich sauber, ordentlich und gut angezogen zur Schule gekommen – in Spendenkleidern, die von der St. Vincent de Paul Society verteilt wurden. Da Nellies Geschmack eindeutig zu rüschigen rosafarbenen Ballkleidern tendierte, hatte Schwester Mary Immaculate ihr schlussendlich einen uralten blauen Trägerrock aufgezwungen und dazu noch eine Predigt über angemessene Kleidung in der Schule gehalten.

Die Mutter Oberin mochte Nellie. Sie war nicht auffallend intelligent, aber ein recht eifriges, heiteres Mädchen, das nicht bei erstbester Gelegenheit die Schule verlassen hatte – so wie ihre große Schwester Mary –, sondern dabeigeblieben war und sich stets richtig anstrengte. Ein selbstbewusstes Mädchen mit einem ausgeprägten Gespür für Richtig und Falsch. Umso mehr ärgerte sich die Mutter Oberin, als sie sah, dass Nellie schikaniert wurde.

Schwester Mary Immaculate lächelte fromm angesichts der Frage von Mutter Aquinas. «Einige der Mädchen haben ihre Trägerröcke auf lächerliche Weise gekürzt. Deshalb lasse ich sie als Erstes jeden Morgen alle knien, und wenn die Röcke nicht den Boden erreichen, tragen sie diese Verlängerung, bis sie die Säume wieder auslassen», erklärte sie selbstgefällig.

Um Himmels willen!, fuhr es der Mutter Oberin durch den Kopf, doch sie verkniff es sich, diese Worte auszusprechen. Diese Mädchen, dachte sie, hatten nicht viel Spaß. Sie waren arm in einer vermögenden Stadt, und ihre Jugend wurde in einem Land im Kriegszustand vergeudet. Der Unabhängigkeitskrieg hatte im Januar 1919 angefangen und bis zum Juli 1921 gedauert, als ein Vertrag geschlossen wurde, der die Teilung Irlands besiegelte. Kein Jahr später begann ein erbitterter Bürgerkrieg, in dem sich Brüder und Cousins gegenüberstanden und Michael Collins, der Held und Anführer im Kampf gegen die britischen Truppen, von seinen früheren Kameraden erschossen wurde. Die Pest über eure Häuser, hatte die Mutter Oberin oft gedacht. Ihre Schüler waren inmitten der Feindseligkeiten gefangen. Die letzten Jahre mussten sie täglich früher aus der Schule heimgeschickt werden, weil es Schießereien auf den Straßen gab. Erst waren es die Republikaner gegen die Black-and-Tans-Hilfstruppen der Royal Irish Constabulary, dann die Free State Army gegen die Republikaner; Kämpfe zwischen denen, die für den Vertrag waren, und jenen, die ihn ablehnten. Theoretisch war der brutale Bürgerkrieg beinahe vorbei, doch in der Praxis ging das Schießen weiter. Die Kinder hatten mit angesehen, wie die St. Patrick Street von den Black and Tans niedergebrannt wurde, waren Granaten ausgewichen und hatten die bewaffneten Schlachten erlebt, die auf jeden Aufruhr folgten. Sie hatten Überfälle, Armut, Krankheit, erbärmliches Essen und schlechte Wohnungen ertragen. Deshalb freute die Mutter Oberin sich, dass ihnen noch hinreichend Lebendigkeit und Tatkraft geblieben waren, um die Säume ihrer hässlichen, unförmigen Trägerröcke auf die modische Länge der 1920er Jahre zu kürzen. Sie würde ein ruhiges, taktvolles Gespräch mit Schwester Mary Immaculate führen müssen, die für die Schule zuständig war – und eventuell mit den Kindern eine vernünftige Rocklänge vereinbaren. Aber gelber Flanell kam nicht mehr in Frage, entschied sie. Etwas an diesem Bild stieß sie ab.

Nun jedoch musste sie sich des armen toten Mädchens vor ihrer Tür annehmen. Sie schickte eine Nachricht an die anderen Klassen, dass alle Kinder für die nächsten Stunden drinnen bleiben sollten, bevor sie wieder ihren Wachposten bei der Leiche bezog. Schließlich hörte sie die Glocke am Eingang zum Kloster.

«Sergeant Cashman ist hier, Mutter Oberin.» Schlüssel klimperten, als Schwester Bernadette durch die Gartentür hereinkam.

Er war schnell gewesen, dachte die Mutter Oberin; nun ja, sie lebten schließlich in Zeiten von Automobilen und Fahrrädern. Sie ging ihm den Weg hinauf entgegen, begrüßte ihn und nickte Schwester Bernadette freundlich zu. Sie war eine nette Frau, aber eine furchtbare Klatschbase, daher wartete die Mutter Oberin, bis die Laienschwester in Richtung Küche verschwunden war, ehe sie sich dem Mann von der Civic Guard zuwandte.

«Nun, Patrick, wie geht es Ihnen und Ihrer Mutter?», fragte sie den Polizisten. Nicht einmal eine Leiche wäre ein Grund, die üblichen höflichen Fragen zu übergehen, obgleich seine verwitwete Mutter neben dem Kloster wohnte und Mutter Aquinas folglich besser über deren Gesundheit im Bilde sein dürfte als ihr vielbeschäftigter Sohn.

Patrick Cashman hatte wie alle kleinen Jungen in dem Viertel die Klosterschule besucht, bis er im Alter von sieben Jahren auf die Christian-Brothers-Grundschule gekommen war. Die Mutter Oberin erinnerte sich an all ihre Schüler, doch Patrick genoss einen besonderen Platz in ihrem Herzen. Vor ungefähr vierzehn Jahren war er ihr erstmals aufgefallen, weil er sich weigerte, vom Schulhof ins Klassenzimmer zurückzugehen, bevor er die Ameisen fertig gezählt hatte, die aus einem Loch unten in der Mauer krabbelten. Er hatte sogar ein paar scharfe Hiebe der Lehrerin auf seine nackten und recht schmutzigen Beine ignoriert und beharrlich weitergezählt. Mutter Aquinas, die für gewöhnlich als letzte Maßnahme eingeschaltet wurde, war daraufhin aus ihrem Arbeitszimmer gekommen, um ihn vor weiterer Bestrafung zu retten. Rot vor Wut hatte Schwester Philomena die anderen Kinder nach drinnen gebracht, sodass der Schulhof leer war bis auf einen kleinen Jungen und eine Nonne mittleren Alters, die damals mit einem gewichtigen Problem rang. Nur kurz hatte sie sich gefragt, wie lange er durchhalten würde, und dann waren ihre Gedanken zu dem Thema zurückgekehrt, das sie innerlich beschäftigte: Sollte sie diesen Ort verlassen und den Vorschlag des Bischofs annehmen, als Generaloberin des Ordens nach Rom zu gehen? Hatte sie alles getan, was sie konnte, um diese Schule zu einem Ort der Hoffnung für die Armen zu machen? Würde sie in einen Stillstand verfallen, wenn sie bliebe? Wäre die neue Stellung eine Herausforderung für ihren Verstand und ihr Organisationsgeschick? Sollte sie gehen oder bleiben? Sie hatte zu dem kleinen Jungen gesehen, der immer noch Zahlen vor sich hin murmelte, und geduldig gewartet, während sie ihrem Geist eine Pause von dem Problem erlaubte.

Die Antwort auf ihre Fragen kam Minuten später, als der Siebenjährige mit einem strahlenden Lächeln zu ihr aufblickte, das umso bezaubernder war, als ihm ein paar Zähne fehlten.

«Das erraten Sie nie, Mutter Oberin», hatte er selbstbewusst gesagt. «Nicht mal der Heilige Geist selbst hätte es erraten. Es sind neunhundertsiebenundfünfzig kleine Ameisen, und die haben alle unter diesem Stein ein gemeinsames Zuhause.»

Das war ja noch schlimmer als im Armenviertel von Cork, hatte Mutter Aquinas gedacht. Die offizielle Zahl für Überbelegung von Wohnraum war bei mehr als neun Personen festgesetzt, die in einem Zimmer wohnten und schliefen, und selbst auf der Basis dieser Regelung waren die Statistiken beängstigend. Laut sagte sie, dass sie gehen und dem Rest der Klasse hiervon erzählen sollten. Zu der Zeit war sie amüsiert gewesen, doch in den darauffolgenden Jahren gelangte sie zu dem Schluss, dass jener Vorfall ausgesprochen kennzeichnend für den Charakter von Patrick gewesen war. Er war nicht außergewöhnlich klug, doch er war hartnäckig und fleißig. Und hatte er einmal etwas zu tun, ließ er sich durch nichts ablenken, bis es erledigt war. An jenem Tag hatte sie seine Konzentration und das große Interesse der anderen Siebenjährigen am Leben der Ameisen als Zeichen genommen, dass sie in ihrem Kloster bleiben und sich bemühen sollte, den hellen Köpfen aus dem Armenviertel von Cork City eine gute Ausbildung angedeihen zu lassen. Sie hatte ihre Entscheidung nicht bereut. Und weil er in einem entscheidenden Moment ihres Lebens eine Rolle gespielt hatte, war sie danach stets am Werdegang von Patrick Cashman interessiert gewesen. Dank schierem Fleiß und Durchhaltevermögen erlangte er mit vierzehn ein begehrtes Stipendium für die Christian-Brothers-Oberschule, und als er sie abschloss, besaß er die nötigen Voraussetzungen, um in die neue Civic Guard aufgenommen zu werden, die nach dem Unabhängigkeitskrieg die Royal Irish Constabulary ablöste.

Und jetzt war er hier, ein erfolgreicher junger Mann, der drei Pfund die Woche in einer Stadt verdiente, die trotz ihrer Unabhängigkeit von England unter Arbeitslosigkeit und schrecklicher Armut litt.

Er beantwortete Mutter Aquinas’ Fragen höflich und wartete ab, was sie von ihm wollte. Als sie ihn den Weg zur Kapelle hinunterführte, blickte er ein wenig verwundert drein.

«Es wurde eine Leiche angespült, vermutlich vom Fluss», sagte sie unvermittelt, sobald sie allein waren. «Kommen Sie mit und sehen Sie es sich an, Patrick.»

Er war so methodisch und vernünftig wie immer, dachte sie. Gab keine Ausrufe oder lauten Worte von sich, sondern folgte ihr einfach durch den nebelverhangenen Garten. Und dann begutachtete er kurz die Lage. Er überprüfte die Leiche, wie sie es selbst schon getan hatte, suchte nach Lebenszeichen. Als Nächstes holte er ein Notizbuch und einen Stift hervor und begann, in solch fließend schneller Schrift zu schreiben, dass es den Lehrern der Christian-Brothers-Schule zur Ehre gereichte. Anschließend nahm er einige Maße mit dem Bandmaß, das er aus seiner Tasche geholt hatte, und zeichnete eine saubere Skizze in sein Notizbuch. Schwester Aquinas beobachtete ihn mit der Nachsicht der vormaligen Lehrerin, aber auch mit der Ungeduld eines schnellen Verstandes, der mit einem langsameren, systematischeren konfrontiert war.

«Was meinen Sie?», fragte sie, während ihr Blick auf dem toten Mädchen ruhte. Sie konnte ihre Ungeduld, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, kaum zügeln.

«Etwas anders als die üblichen Leichen aus dem Fluss. Gewöhnlich sind es Mädchen von der Straße und so. Von denen sehe ich viele», antwortete er bedächtig, und Mutter Aquinas wurde flüchtig bewusst, dass hinter diesen schlichten Worten ein Kosmos von Erfahrungen existierte, der tiefer reichte als ihr eigener.

«Ich nehme an», fragte sie zögerlich, «solche Dinge geschehen oft, nicht wahr, Patrick?»

«Sie sehen sonst nicht so elegant gekleidet aus», antwortete er. «Aber ja, wir haben viele Leichen.»

«Was für eine Schande», sagte sie und dachte an die Waffen, das Morden, das Ränkeschmieden, die großen Reden, die Verträge und die Versprechen. Es stimmte sie traurig, dass sich nichts geändert, nichts für die Leute gebessert hatte, doch ihre Lebenserfahrung sagte ihr, alles andere wäre unwahrscheinlich gewesen.

Patrick zuckte mit den Schultern. Er würde, dachte Mutter Aquinas, nicht einen Zustand beklagen, an dem er selbst nichts auszurichten vermochte.

«In dieser Gegend gibt es eine Menge Ärger», sagte er beinahe entschuldigend, als wäre er für die Unruhen in den Straßen seiner Kindheit verantwortlich. «Die Wohnungen hier sind nicht sehr gut», ergänzte er, und sie beide hatten das Bild der Straße vor Augen, in der Patrick aufgewachsen war: mit dem herrschaftlichen Reihenhaus aus King Georges Zeiten, das nun als verfallendes Zuhause von zwanzig oder dreißig Familien diente, die ohne Arbeit waren, wenig Essen und noch weniger Hoffnung hatten. «Viele Prügeleien. Die Menschen sind frustriert und schlagen sich wegen einer Handvoll Münzen. Dann sind da die Selbstmorde – einige von ihnen halten es nicht mehr aus. Aber», fuhr er fort und blickte wieder zu der Leiche vor ihm, «dies hier sieht anders aus.»

Sie wusste, was er damit meinte, dass die Leiche anders aussah. Dieses Mädchen war keine Prostituierte aus der Sawmill Lane oder Bettlerin von der North Main Street. Nicht einmal das Flusswasser, das ihr Kleid durchtränkt hatte, konnte dessen hohe Qualität verbergen – Satin, glaubte Schwester Aquinas, fachmännisch geschneidert. Außerdem trug die Tote ellbogenlange Handschuhe aus feinem Leder an ihren Armen, eine Perlenkette um ihren Hals und ein Paar teuer aussehende, dem Zustand der Sohlen nach brandneue hohe Satinschuhe, die an ihren Knöcheln verschnürt waren. Etwas an ihrem Haar und ihren Augen kam der Mutter Oberin seltsam vertraut vor, doch ihr fiel keine einzige vornehme junge Lady aus ihrem Bekanntenkreis ein – immerhin hatte sie als Nonne die letzten fünfzig Jahre unter den Armen der Stadt gelebt.

Nun widmete Patrick seine Aufmerksamkeit wieder dem toten Mädchen. Abermals nahm er sein Notizbuch hervor, und Mutter Aquinas sah, wie er die Leiche von oben bis unten musterte, um sich zu vergewissern, dass er alle Einzelheiten zu der Kleidung notiert hatte.

«Sie hat etwas am Handgelenk», sagte er.

«Eine Abendtasche», erklärte die Mutter Oberin betrübt. «Sie passt zu ihrem Kleid.» Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Tanzveranstaltungen vor über fünfzig Jahren. Zu den galanten Offizieren, die ihre Namen auf ihrer Tanzkarte eingetragen hatten. Machten sie es heute immer noch so? Es war lange her, seit sie sich gestattet hatte, an jene Tage zu denken, in denen auch sie in Seide und Satin gekleidet war und eine Abendtasche am Handgelenk trug.

«Ich sehe mal, ob ich sie abbekomme.» Das Band war zweifach um das schmale Handgelenk gewunden, doch letztlich konnte Patrick es lösen.

Sie bewunderte die Sorgfalt, mit der er die tropfnasse Tasche öffnete, die nur von einem Zugband verschlossen war. Behutsam steckte er die Hand hinein, sobald er die Stoffschichten voneinander getrennt hatte. Dann zog er etwas heraus und hielt es in die Höhe.

«Ein Zehn-Pfund-Schein», sagte er ehrfürchtig. Trotz seines blendenden neuen Lohns bei der Civic Guard war es immer noch eine große Summe für ihn. Er legte die Tasche zurück auf die Leiche und steckte den Geldschein in einen Umschlag, den er aus seiner Tasche genommen hatte. Dann zog er einen wischfesten Stift aus einer anderen Tasche, leckte die Spitze an und schrieb seinen Namen auf die Umschlaglasche.

«Würden Sie bitte, Mutter Oberin?» Er reichte ihr Umschlag und Stift, und sie unterzeichnete unter seinem Namen.

«Sie sind sehr umsichtig, Patrick», stellte sie lobend fest.

«Ich reiche das Geld ein, sobald ich wieder auf der Wache bin», sagte er, als er den Umschlag in seiner Tasche verstaute. Dann wandte er sich erneut der Abendtasche zu. Patrick, dachte die Mutter Oberin, würde stets alles doppelt überprüfen.

Zu dem nächsten Gegenstand sagte er nichts, hielt ihn lediglich so hin, dass die Nonne eine kleine Tanzkarte, an der noch ein winziger Stift hing, sehen konnte. Jahresball der Kaufleute war dort in goldener Schnörkelschrift aufgedruckt, und die Mutter Oberin nickte. Natürlich, der war in diesem Monat, in der ersten Märzwoche. Doch dann runzelte sie die Stirn.

«Das Imperial Hotel?», fragte sie. Dort war der Ball schon in ihrer Jugend abgehalten worden – und wurde es noch, glaubte sie. Aber das Imperial Hotel lag nicht am Fluss und war über eine halbe Meile von St. Mary’s of the Isle entfernt. Wie war die Leiche von dort hergekommen? Sie blickte auf zum Weg, wo nach wie vor trübes Wasser aus dem einst übermauerten Ablauf quoll. Die Morgenflut hatte sich ein wenig zurückgezogen, doch der schmale Weg neben dem Klostergelände erinnerte immer noch an einen Gebirgsbach; das Wasser, das aus der Kanalisation und dem nahen Fluss emporstieg, strömte blubbernd dahin. Es war das übliche Resultat von tagelangem Regen im Verein mit einem starken Südostwind, der bei Flut das Meerwasser direkt den Lee hinaufblies.

Patrick folgte ihrem Blick, antwortete jedoch nichts. Mutter Aquinas fühlte den scharfen, beißenden Geruch des Nebels in sich aufsteigen und schluckte angestrengt.

«Da ist noch etwas», sagte er. «Es klebt an dem Futter.» Langsam und vorsichtig löste er das Objekt von der Seide. Es handelte sich um einen kleinen, rechteckigen Gegenstand – durchnässt, aber nicht aufgelöst. Eine Fahrkarte, erkannte Mutter Aquinas; der schwarze Aufdruck war noch gut sichtbar. Dort stand der Name der Cork Steam-Packet Shipping Company, und die Karte war ausgestellt für die erste Klasse auf der Fähre, die dreimal wöchentlich vom Albert Quay nach Liverpool ging. Auch das Datum war noch leserlich: 5. März 1923. Die Mitternachtsfähre, dachte die Mutter Oberin. Patrick betrachtete das Ticket eine Minute lang, bevor er es in einen anderen Umschlag und danach in eine seiner großen Taschen steckte.

«Was bedeutet das Ihrer Meinung nach?», fragte Mutter Aquinas neugierig und schämte sich anschließend ein wenig, als er nicht antwortete. Dieses Ticket für eine Reise erster Klasse von Cork nach England hatte nichts mit ihr zu tun. Ihre Rolle in dieser Angelegenheit sollte nunmehr ein Ende haben. Sie hatte den Leichenfund der Civic Guard gemeldet, und jetzt würden sie übernehmen. Patrick stand auf und streckte sich entschlossen. Es war offensichtlich, dass er nicht mehr antworten würde, denn Patrick Cashman befasste sich mit Fakten, nicht mit Mutmaßungen.

«Was tun Sie als Nächstes?», erkundigte sie sich, um ihre vorherige Frage zu ersetzen.

«Ich schicke eine Nachricht an die Kaserne, dass die Leiche abgeholt wird, überprüfe die Vermisstenliste, erstatte meinem Superintendent Bericht, kontaktiere den Leichenbeschauer und lasse den Arzt holen, damit er eine Obduktion vornimmt …»

Er überlegte einen Moment, als ginge er in Gedanken die Vorschriften durch, und nickte. «Und dann sehen wir weiter», fügte er am Ende hinzu.

«Gehen Sie nur Bericht erstatten; ich bleibe hier bei der Leiche und halte Wache», sagte sie. «So wird alles schneller geschehen, und je weniger hierüber geredet wird, desto besser, falls es irgendeinen politischen Zusammenhang gibt.» Die junge Frau könnte durch einen Unfall ums Leben gekommen sein oder Selbstmord begangen haben, dennoch durfte man Mord nicht ausschließen. Es war das erste Jahr der Unabhängigkeit, und in Cork schwelte die Hitze eines tödlichen Bürgerkrieges; da wurden politische Differenzen oft mittels Mord geklärt.

Was nicht Gottes Wille war, dachte sie in einem Anflug von Wut. Kein Gott könnte diesem Kind, wer es auch sein mochte, Böses wünschen. Sie sah Patrick an, der eine Weile verharrte, dann sanft eine nasse Haarsträhne beiseitestrich und für einen Moment sehr still war, während er einen schwarzen Bluterguss am Hals des Mädchens betrachtete. Er machte sich noch eine Notiz, und die Mutter Oberin senkte ihren Kopf. Ihr war der Bluterguss aufgefallen, als sie sich die Perlenkette angeschaut hatte. Diese junge Frau, dachte sie mitfühlend, hatte die Furcht und den intensiven Schmerz des Erwürgtwerdens kennengelernt, bevor der Tod eingetreten war.

ZWEI

THOMAS VON AQUIN:

Ignis est essentia Dei.

(Feuer ist das Wesen Gottes.)

Als sie mit dem Mädchen allein war, verweilte der Blick von Mutter Aquinas zunächst bei dem wasserdurchtränkten Körper zu ihren Füßen und wanderte schließlich zum Hals der Toten. Die Flut hatte die Leiche an ihre Pforte gebracht – was sie als Zeichen deutete, dass sie sich mit diesem Mord befassen sollte. Mit dem Willen Gottes hatte dies jedoch nichts zu tun, dachte sie gereizt, als sie sich an Schwester Mary Immaculate erinnerte. Vielmehr nahm sie sich aus Mitgefühl und intellektueller Neugierde des Problems an. Hier war ein junges Mädchen von ähnlich privilegierter Herkunft wie sie selbst. Sie musste die Tochter einer reichen Kaufmannsfamilie in Cork sein; auch ohne die Tanzkarte verrieten das Kleid, die Handschuhe und die Perlenkette, aus welchen Kreisen sie stammte.

Und warum hatte solch eine begüterte junge Frau ein Ticket für die Nachtfähre nach Liverpool in der Abendtasche? Wollte sie allein reisen? Es sah ganz so aus. Ein männlicher Begleiter hätte ohne Frage beide Schiffsfahrkarten in einer stabileren Brieftasche verwahrt.

Die Mutter Oberin trat unruhig von einem Bein auf das andere. Ihre Füße wurden kalt, und der Nebel über der gefluteten Stadt drang in ihre Lunge, sodass sie husten musste. Sie war versucht, sich drinnen einen warmen Umhang zu holen – gewiss kam niemand her. Der Weg, der an der schmalen Eisenpforte vorbeiführte und dann am Flussufer endete, war der einzige Zugang für die Einheimischen, wenn sie zur Kapelle wollten, ohne über das Klostergelände zu gehen. Der rote Sandstein, aus dem man die Kapelle, das Kloster und die Schule erbaut hatte, war über den Südarm des Flusses her verschifft und dann mit Karren über diesen Weg zum höher gelegenen Baugrund von St. Mary’s of the Isle gebracht worden. Doch auch wenn wahrscheinlich keiner herkam – bei dieser Toten zu wachen, zu der Mutter Aquinas nun wieder sah, war das Einzige, was ihr im Augenblick zu tun blieb; der letzte Dienst, den sie diesem unglücklichen Mädchen erweisen konnte. Sie rieb sich die Hände und schob sie anschließend in die weiten Ärmel ihres Habits. So blieb sie regungslos stehen, als lauschte sie der Evangelienlesung in der Messe, und blickte zu dem Flutwasser, das ihr die Leiche hergetragen hatte. Seltsam, dachte sie. Der Philosoph Thomas von Aquin hatte das Wesen Gottes mit dem Feuer verglichen, doch gewiss müsste das Wasser zuerst da gewesen sein. Es war die Quelle allen Lebens, die Quelle von allem Guten, aber auch von allem Bösen, je nachdem, wie der Mensch es nutzte.

Ihr Verstand, der seit jeher der aktivste Part von ihr war, arbeitete rege. Über fünfzig Jahre waren vergangen, seit sie auf dem Jahresball der Kaufleute im Imperial Hotel getanzt hatte, dennoch erinnerte sie sich sehr gut an den Ort – die gemütlichen, intimen Speiseräume oben, der prächtige Ballsaal im Erdgeschoss, die breite, blank polierte Holztreppe, die Marmorböden auf den Korridoren mit den schattigen Nischen. Im Geiste schritt sie alles ab, stellte sich einen Streit und ein Gerangel vor. Aber doch nicht im Imperial Hotel! Ihre Erinnerungen statteten es mit einer großen Bedienstetenschar aus, die überall diskret präsent und auf jede Eventualität vorbereitet war. Der Kaufmannsball war die größte Veranstaltung des Jahres. Was war dort letzte Nacht geschehen? Und wie war die Leiche vom Hotel in den Fluss gelangt?

Sie war tief in Gedanken versunken, als sie ein leises Geräusch wahrnahm; im nächsten Moment begriff sie, dass sie nicht allein war. Ein Kopf erschien über der Mauer des Klostergartens. Auf dem Kopf saß eine Baskenmütze, deren Umrisse im diesigen Schein der Gaslaterne plötzlich aufgetaucht waren. Die Mutter Oberin rührte sich nicht, behielt die Hände in ihren Ärmeln und blieb halb zur Pforte gedreht. In dieser Haltung war das weiße Bruststück ihres Habits verdeckt, und sie neigte den Kopf, sodass der schneeweiße Weihel an ihrer Stirn von dem Schleier beschattet wurde. Ein langes Bein, dessen Fuß in einem glänzenden Stiefel steckte, schwang über die Mauer; und ein Goldring, der ebenfalls glänzte und von behandschuhten Fingern festgehalten wurde, kam zum Vorschein, als die Gestalt mit einem «Platsch!» auf dem überfluteten Weg landete.

Eine Pistole, dachte Mutter Aquinas und blieb vollkommen regungslos. Vor dem Klerus hatte man nach wie vor einen gewissen Respekt, doch in diesen furchteinflößenden Zeiten, in denen Bruder gegen Bruder kämpfte, waren die Nerven allenthalben angespannt. Und sie wollte diesen jungen Mann – ein Republikaner, wie sie vermutete – nicht erschrecken. Vor allem war sie froh, dass Patrick nicht mehr hier war. Er hätte es als seine Pflicht gesehen, die sich anschleichende Gestalt zu verhaften, und die Civic Guards waren unbewaffnet.

Sie musste aber zu sehen gewesen sein, denn auf einmal tauchte eine Taschenlampe auf, die sie anleuchtete.

Und für eine Sekunde war ein Pistolenlauf auf sie gerichtet, der dann schnell nach unten schwenkte. Ebenso wie die Taschenlampe.

In deren Schein Mutter Aquinas genug gesehen hatte.

«Guten Morgen, Eileen», sagte sie frostig und betrachtete im Lichtschein die langen, sich unruhig bewegenden Beine.

Eileen O’Donovan war eine der begabtesten Schülerinnen gewesen, die St. Mary’s of the Isle jemals hervorgebracht hatte. Als die Mutter Oberin ihr zuletzt begegnet war, hatte sie einen blauen Trägerrock und eine ehemals weiße Bluse getragen, die vom Ruß und Rauch der Stadt blassgrau geworden war, sowie eine sehr abgewetzte blaue Strickjacke. Ihr schwarzes Haar war damals zu zwei braven Zöpfen geflochten gewesen, wohingegen es nun unter der Baskenmütze offen über ihren Rücken fiel. Und anstelle eines Trägerrockes trug sie eine maßgeschneiderte Tweedjacke, gut sitzende Kniebundhosen und darunter ein Paar auf Hochglanz polierte, kniehohe Lederstiefel. Zunächst sagte die junge Frau gar nichts. Als sie dann in einer zarten Stimme antwortete, war sie merklich bemüht, entschieden, aber höflich zu klingen: «Guten Morgen, Mutter Oberin. Was für ein furchtbarer Morgen, nicht?»

Die Mutter Oberin ignorierte die Frage. «Sind Sie ein Mitglied der Republikaner, Eileen?», wollte sie wissen, wobei sie versuchte, nicht tadelnd zu klingen. Es ging sie schließlich nichts an, was ihre früheren Schüler aus ihrem Leben machten.

«Ja, bin ich.» Im Schein der Gaslaterne wirkte Eileens Gesicht trotzig. Und sie ergänzte wie anerzogen: «Ehrwürdige Mutter.» Danach kniff sie indes die Lippen zusammen. Sie würde sich nicht entschuldigen oder irgendeine Erklärung anbieten.

«Ihre Mutter hat mir erzählt, dass Sie eine gute Anstellung in einem Büro haben.»

«Das ist richtig. Ich bin Presseoffizierin für die Republikaner. Von mir wurden schon Beiträge in allen Zeitungen gedruckt – die unsere Seite der Geschichte erzählen.» Da war ein Hauch von Stolz in der Stimme der jungen Frau. Und sie sah wie das blühende Leben aus. Sie war wohlauf und in diesen guten Sachen warm gekleidet; ihre einst eingefallenen Wangen waren voll und rosig. Es war weithin bekannt, dass die Republikaner gut bezahlten. Mutter Aquinas hatte gehört, dass sogar angesehene junge Anwälte nicht abgeneigt waren, vor den republikanischen Gerichten aufzutreten, da das Honorar doppelt so hoch war wie im neuen Freistaat. Und die Republikaner hatten keinerlei Hemmungen, sich alles, was sie brauchten, aus den florierenden Geschäften in der St. Patrick Street zu nehmen, wo sie den Besitzern fröhlich erklärten, es wäre alles für einen guten Zweck.

«Sie haben schon immer sehr … gut geschrieben», murmelte die Mutter Oberin. In letzter Minute verkniff sie sich «sehr phantasievoll», da es in Anbetracht der Situation möglicherweise unangebracht gewesen wäre. Eigentlich sollte sie sich auch nicht wundern, denn Eileen war schon immer eine Rebellin gewesen. Sie erinnerte sich an eine besonders lebhafte Unterrichtsstunde mit den besten Schülerinnen, in der ihre Beschäftigung mit Miltons Paradise Lost eine unerwartete Wendung nahm, als Eileen die These vertrat, Satan wäre ein revolutionärer Held, der gegen Unterdrückung aufbegehrte. Doch waren Worte eine Sache, Waffen und das Töten von Menschen eine gänzlich andere. Mutter Aquinas schaute wieder in Richtung der Pistole, die Eileen hastig in ihre Tasche gesteckt hatte, und dann zu der Toten zu ihren Füßen.

Eileens Blick folgte dem ihrer früheren Lehrerin, und sie schüttelte den Kopf.

«Dies hat nichts mit uns zu tun, Mutter Oberin. Es hat nichts mit der Republikanischen Partei zu tun», beteuerte sie vehement. «Wir erhielten eine Nachricht, und ich wurde hergeschickt, um nachzusehen, was passiert ist.»

«Nachricht … verstehe. Von Jimmy Logan, nehme ich an.» Mutter Aquinas hatte sich gewundert, dass die Gaslaterne nicht gelöscht worden war, doch das war nun geklärt. Jimmy, der Lampenanzünder, dürfte eine nützliche Informationsquelle für die Republikaner sein, da er rechtmäßigerweise, Ausgangssperre hin oder her, jeden Morgen und jeden Abend mit seiner Leiter in den Straßen unterwegs war und dabei ständig stehen blieb, um mit jedem in der Gegend zu plaudern. Ein unzuverlässiger Mann, dachte sie ungerührt, der keine Scheu hatte, sich notfalls Nachrichten auszudenken, wenn es keine gab. Und natürlich war er in diesen unruhigen Zeiten ganz in seinem Element.

«Und weshalb wurden Sie hergeschickt, Eileen?» Sie ermahnte sich, nicht zu vergessen, dass sie nicht mehr Eileens Lehrerin war.

«Vor allem soll ich dafür sorgen, dass niemand falsche Informationen hinterlassen hat. Sie würden staunen, wie viele Leichen ein Schild um den Hals tragen, auf dem steht ‹Auf Befehl der Irisch-Republikanischen Partei exekutierter Informant› – meistens auch noch falsch geschrieben», erklärte sie mit der geballten Verachtung von jemandem, der bereits mit acht Jahren fehlerfrei «Komitee» buchstabieren konnte.

«Nein, hier war nichts dergleichen. Ich habe übrigens die Leiche gefunden», sagte Mutter Aquinas und sah erneut die Tote an. Lauter vergeudete junge Leben, dachte sie traurig. Dieses Mädchen hier, dieses Kind einer wohlhabenden Familie mit allem, wofür es sich zu leben lohnte, war tot. Und Eileen, ihre ehemalige Schülerin, eines ihrer Mädchen mit solch einem hellen Verstand – wie würde ihre Zukunft wohl aussehen? Lange Jahre im Gefängnis? Tod durch den Galgen oder durch eine Kugel ins Herz in einer dunklen Gasse? Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie sah, wie Eileen ein Notizbuch hervorholte, das dem von Patrick sehr ähnelte, und sich einige Sachen aufschrieb, sich umschaute und sich schließlich wieder auf die Leiche konzentrierte.

«Sie ist vornehm, oder? Ist das Samt, Mutter Oberin – dieses Kleid?»

«Nein, es ist Satin.» Die Mutter Oberin hörte einen Anflug von Trauer in ihrer Stimme, als sie ihre Tränen wegblinzelte. Und diesmal galt sie ebenso sehr Eileen wie dem armen toten Mädchen. Eileen hatte die Geschichten von gutsituierten jungen Damen verschlungen, die in den Werken von Jane Austen, Dickens und Thackeray auf Bälle und Gesellschaften gingen. Doch ihr praktisches Wissen über Seide, Satin und Samt war genauso vage wie alles, was man sie im Kloster über die Engel im Himmel und die Teufel in der Hölle gelehrt hatte.

«Man wird uns die Schuld dafür geben, das wissen Sie, oder?» Eileen schrieb eifrig weiter. «Es sei denn, ich kann schnell einen Artikel unterbringen. Heute ist Dienstag, kein Markttag, also wird morgen nicht viel in der Zeitung stehen. Ich hatte vor, über die Irrenanstalt zu schreiben – darüber, welche Schande es ist, dass sie keine Gelder bekommt, während man überlegt, einhunderttausend Pfund für ein neues Rathaus auszugeben. Einige der Jungs wollten mit mir hingehen, damit ich mich umsehen kann, ohne rausgeworfen zu werden. Aber jetzt denke ich, dass ich über sie schreibe. Das andere Thema bleibt mir noch, und dies hier ist aktuell.» Nachdenklich betrachtete sie die Gestalt auf dem Boden. «Ich frage mich, wer das war», sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrer früheren Lehrerin.

Eileen musste sich in den letzten Jahren an Leichen gewöhnt haben, dachte Mutter Aquinas und war überrascht, als das Mädchen sich auf kindliche Art mit einem Fingerknöchel den Augenwinkel rieb. Diese Geste weckte rührende Erinnerungen.

«Armes Püppchen», sagte sie mitfühlend. «So hübsch angezogen. Ich frage mich, ob sie auf dem Kaufmannsball gestern Abend war. Vor dem Imperial Hotel hat es gewimmelt von Civic Guards, als ich gestern Abend die South Mall hinunterging. Wissen Sie was, Mutter Oberin? Ich würde diesem Lump, der dem Mädchen das angetan hat, gern eine Kugel in den Leib jagen. Er hat sie erwürgt, nicht? Man sieht die Male am Hals.»

Die Mutter Oberin antwortete nicht, denn ihr kam auf einmal ein Gedanke, und sie verzog das Gesicht. Wie hatte sie das nur vergessen können?

«Ich hätte nach einem Priester schicken müssen», sagte sie.

Eileen grinste. «Nun, Sie werden gewiss verzeihen, wenn ich ihn nicht hole, Mutter Oberin. Wir sind nicht sehr beliebt bei den Priestern. Der Bischof hat alle Republikaner exkommuniziert; wir wurden vom Altar verbannt. Meine Mam wäre daraufhin fast gestorben, weil sie denkt, dass ich in die Hölle komme. Sie kann sich sehr gut wegen nichts sorgen.»

Von Seiner Exzellenz Dr. Cohalan, dem Bischof von Cork, war es ausgesprochen unbedacht gewesen, all diese Menschen in einem Rundumschlag zu verdammen, fand Mutter Aquinas. Gewalt hatte es auf beiden Seiten gegeben – und manche Taten der offiziellen Autoritäten hatten die Verstöße von illegalen Vereinigungen wie den Republikanern an Brutalität und Opferzahlen bei weitem übertroffen. Die Menschen in Cork würden nie vergessen, dass der Bischof sich geweigert hatte, das Niederbrennen der Straßen durch die Black and Tans, die sogenannte Hilfspolizei, zu verurteilen, in dessen Folge Tausende ohne Heim und ohne Arbeit dastanden, während die Republikaner wegen ihres Anschlags auf eine Armeekaserne von ihm exkommuniziert worden waren. Jedoch sprach sie all das gegenüber Eileen nicht laut aus, sondern sagte: «Nun, die Civic Guards werden in wenigen Minuten wieder hier sein, um die Leiche zur Kaserne zu bringen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sich der Priester dort der Angelegenheit annimmt. Unser Pater Murphy ist ziemlich alt und sollte bei dieser Überflutung und dem Regen nicht draußen sein.»

«Die Civic Guards.» Eileen hatte den Wink verstanden und steckte ihr Notizbuch und den Stift ein. «Dann verschwinde ich lieber. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich durch den Klostergarten gehe, Mutter Oberin? Bis auf St. Mary’s of the Isle ist alles überflutet.»

«Gehen Sie diesmal durch die Pforte.» Die Mutter Oberin zögerte einen Moment, ehe sie hinzufügte: «Geben Sie acht auf sich, Eileen, auf Ihren Körper und Ihre Seele.»

Ein gerechter Krieg musste, Thomas von Aquin zufolge, «zu einem guten und gerechten Zweck geführt werden, nicht um des persönlichen Gewinnes willen – und sein Ziel muss Frieden sein». Daran erinnerte sie sich, als sie der schmalen, langbeinigen Gestalt hinterherschaute, die leichtfüßig die steilen Stufen hinaufsprang. Was hätte er zu den Zielen der Republikanischen Partei gesagt?

Dann hörte sie einen Wagen den Weg entlangkommen. Das Pferd stakste geräuschvoll durch das Hochwasser und schnaubte hin und wieder verärgert, weil ihm Wasser um die Knie schwappte. Die Civic Guards waren da und nutzten lieber Pferdestärken als einen Motor, den das Wasser ruinieren könnte. Die Mutter Oberin fing sich, um sie mit Würde zu begrüßen und dafür zu sorgen, dass die Leiche vorsichtig behandelt wurde, wenn man sie zu den gegenwärtig zuständigen Behörden brachte. Es waren mehrere Leute mit Patrick zurückgekommen – zwei Civic Guards, die ihr nicht vorgestellt wurden, Patricks Assistent, ein stiller junger Mann namens Joe, und der Arzt.

Mutter Aquinas kannte Dr. Scher, denn er war jahrzehntelang der Hausarzt des Klosters gewesen. Er war gut zehn Jahre jünger als sie und hatte das Praktizieren größtenteils aufgegeben, lehrte allerdings weiterhin Leichenpräparation an der Universität – die für sie immer noch Queen’s hieß, obwohl sie in University College, Cork umbenannt worden war. Und er arbeitete hin und wieder für die Civic Guards. Dr. Scher war ein freundlicher Mann, auch wenn er, wie Schwester Bernadette, für sein Leben gern tratschte und immerfort darauf erpicht war, sein Wissen über die jüngsten Gerüchte und Skandale in dieser Stadt der Plappermäuler zu mehren. Er hätte nicht in den Ruhestand gehen dürfen, dachte Mutter Aquinas. Seitdem langweilte er sich. Zum Glück war er nach wie vor so gütig, sein Können einigen der Armen zugutekommen zu lassen, die sich keinen Arzt leisten konnten. Die Kinder in ihrer Schule sprachen oft von Dr. Scher, den kleinen Geschenken, die er ihnen brachte, und davon, wie wunderbar seine Medizin schmeckte. Vermutlich war der Apotheker angewiesen, reichlich Zucker in jedes Fläschchen zu geben.

«Guten Morgen, Mutter Oberin», sagte er herzlich, als er von dem schweren Brauereifuhrwerk stieg und höflich seinen Handschuh abstreifte, um ihre Hand zu schütteln. Dabei blickte er hinüber zu dem Mädchen.

«Strangulation, ja?», fragte er dann.

Patrick antwortete nicht. Er stand nur da und schaute zu dem Gesicht des toten Mädchens. Eine winzige Falte erschien zwischen seine Augenbrauen, und seine braunen Augen blickten aufmerksam. Allerdings sah er sich nicht den Hals der Toten an, sondern die weit aufgerissenen Augen, die leer hinauf in den Nebel starrten. Für einen Moment trat Stille ein. Dr. Scher hatte mit einer zustimmenden Antwort gerechnet – was sein Blick zu dem jungen Civic Guard offensichtlich machte –, doch als er keine Erwiderung erhielt, schaute er abermals zu der Leiche und räusperte sich.

«Hm», brummte er, und wenige Sekunden später sagte er: «Nun, wir werden sehen. Kennen Sie sie? Könnte sie eine Informantin sein? Die Republikaner haben sich darauf verlegt, solche Leute umzubringen, um die anderen von so etwas abzuschrecken.»

Unwahrscheinlich, dachte Mutter Aquinas. Sie wunderte sich über Dr. Scher, hätte sie ihm doch mehr Verstand und mehr Wissen über das zugetraut, was in der Stadt um ihn herum vorging. Bei Mädchen, die sich so kleideten – in einem teuren Satinkleid –, war es unwahrscheinlich, dass sie zur Kaserne der Civic Guards gingen, um ihnen Informationen über ein Mitglied der Republikanischen Partei zu hinterbringen. Vielleicht flüsterten sie ihrem Vater oder Bruder etwas zu, aber sie würden sich nicht persönlich einmischen. Schwester Aquinas blickte zu Patrick und fragte sich, ob er Dr. Scher von der Tanzkarte in der Tasche des Mädchens erzählen würde, doch er verzog keine Miene und machte auch keine Ausführungen zur Toten.

«Sollen wir sie jetzt zur Kaserne bringen, Doktor?», fragte er ruhig und ohne jede Betonung.

Interessant, dachte sie, und sah von dem wortkargen jungen Mann zu dem geselligen alten. Iren standen in dem Ruf, geschwätzig und mitteilsam zu sein, wohingegen Engländer als reserviert und vorsichtig im Umgang mit ihren Mitmenschen galten. Andererseits war Dr. Scher russischer Abstammung, auch wenn er in Manchester geboren war und dort seine Kindheit verbracht hatte. Vielleicht war er deshalb anders.

«Ja, ja.» Der Arzt sah ihn nicht an, sondern studierte die Leiche, deren Kleidung er inzwischen musterte. «Irgendwelche Vermissten?», fragte er.

«Bisher nicht», antwortete nun Joe. «Gewiss eines der Mädchen vom Hafen. Deren Nacht dauert, bis die Laternen ausgemacht werden.» Hierbei blickte er zu der Laterne, die immer noch im gelben Nebel brannte. Dann sah er zu Patricks versteinertem Gesicht und wurde selbst ganz starr und stumm. Joe war sehr jung, dachte die Mutter Oberin. Vermutlich war er noch nicht lange aus der Schule. Und von Seide und Satin dürfte er noch weniger verstehen als Eileen, geschweige denn wissen, dass ein Mädchen von der Straße wohl kaum ein solches Kleid tragen würde.

Dr. Scher sah ihn gereizt und mürrisch an, schien jedoch zu dem Entschluss zu kommen, dass seine Bemerkung keiner Antwort würdig war, und beugte sich stirnrunzelnd wieder über das Mädchen. Er war für sein aufbrausendes Naturell bekannt. Die Mutter Oberin hatte Geschichten von seinen Ausbrüchen gehört – dass er nicht zögerte, seine Medizinstudenten anzuschreien, wenn sie über eine Leiche scherzten oder sie respektlos behandelten. Joe trat unsicher von einem Fuß auf den anderen und blickte zu seinem Vorgesetzten. Aber Patrick blieb weiterhin still, signalisierte lediglich den beiden anderen Polizisten, dass sie die Tote auf das Fuhrwerk laden sollten. Wieder einmal dachte Mutter Aquinas an ihr Versäumnis, einen Priester zu rufen, doch sie sagte nichts. Die Angelegenheit war ihr nun aus den Händen genommen.

DREI

CORK EXAMINER, 22. JANUAR 1923:

«Zehn oder zwölf bewaffnete Männer raubten der Bank of Ireland in Kilbeggan £ 2000, nachdem sie zuvor ein Kommando in die Kaserne geschickt und gedroht hatten, die Civic Guards zu erschießen, sollten sie sich einmischen.

Sie raubten noch weitere Geschäfte aus, bevor sie flohen.»

Patrick war nicht sicher, ob er bei der Obduktion dabei sein wollte. Gewöhnlich zwang er sich hinzugehen, aber heute hatte er das Gefühl, es nicht ertragen zu können. Es gab eine Menge zu tun, sagte er sich. Er musste das Mädchen so schnell wie möglich identifizieren. Ein Blick auf ihr Kleid, die Halskette und die Handschuhe, und er hatte gewusst, dass es um sie einigen Aufstand geben würde. Die neuen Civic Guards wurden ohnehin sehr gern von den vermögenden Kaufleuten dieser Stadt ins Visier genommen, weil sie der alten Royal Irish Constabulary nachtrauerten. Und Patrick, als Mitglied dieser neuen Polizei, konnte sich keinen Patzer leisten.

Tommy O’Mahoney war der diensthabende Constable, also würde er zu ihm gehen. Er blickte auf die Uhr im Korridor. Zehn. Ein Mädchen wie jenes müsste mittlerweile vermisst werden, außer natürlich, wenn jemand in England erwartete, dass sie mit der Fähre nach Liverpool kommen würde.

«Gibt es Vermisstenmeldungen, Constable?», fragte er, als er auf die Glasfront der Kabine zuging, in der Tommy O’Mahoney angeblich seit fünfzig Jahren saß.

«Keine einzige, Sergeant.» Tommy stand auf. Er war älter, als es Patricks Vater heute wäre, aber immer sehr korrekt.

«Dr. Scher ist beim Superintendent», ergänzte er.

Und genau in diesem Moment wurde die Tür von einem Taxifahrer geöffnet und aufgehalten. Ein Mann kam herein; er trug einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug, einen gut geschnittenen Mantel, eine Seidenkrawatte und eine Melone. «Mein Name ist Fitzsimon – meine Tochter wird vermisst. Vielleicht gab es einen Unfall …»

Patrick tat der Mann leid. Ihm taten die Leute immer leid, die mit solch einem Anliegen herkamen. Bei den meisten hörte er eine Mischung aus Hoffnung und Furcht in den Stimmen mitschwingen, und viele, wie dieser Mann, bemühten sich zu klingen, als wären sie überzeugt, vollkommen grundlos für Aufruhr zu sorgen.

«Ich fürchte, ich könnte schlechte Neuigkeiten für Sie haben, Mr. Fitzsimon», sagte er ruhig. «Eine junge Frau wurde tot aufgefunden und erst vor zehn Minuten hergebracht. Vielleicht sollten wir zuerst diese Möglichkeit ausschließen, bevor wir eine detaillierte Beschreibung aufnehmen.» Die letzten Worte waren an Tommy gerichtet, der kurz nickte.

«Kommen Sie bitte mit mir, Mr. Fitzsimon.» Fitzsimon, dachte er auf dem Weg durch den langen Korridor, Kaufmann und einer der sogenannten Großkaufleute von Cork. Patrick hegte wenig Zweifel, dass sie einen Namen zu dem toten Mädchen gefunden hatten. Die Tochter von Joseph Fitzsimon war zweifellos auf dem Ball gewesen. Über derlei Veranstaltungen wusste Patrick alles, da üblicherweise Polizisten beordert wurden, um neben dem roten Teppich am Eingang Wache zu stehen und darauf achtzugeben, dass die Armen, die Hungernden und die Obdachlosen nicht einmal in Rufweite der Reichen von Cork gelangten. Als neuer Rekrut bei den Civic Guards hatte man ihn auch für diesen Dienst eingeteilt.

«Waren Sie gestern auf dem Kaufmannsball, Sir?», fragte er.

«Ja, selbstverständlich.»

Patrick vergab ihm seinen unwirschen Ton. Schließlich hatte der Mann schreckliche Angst um seine Tochter. Seltsam war indes, dass er sie bis jetzt nicht vermisst hatte. Er hatte sie doch gewiss mit nach Hause genommen oder gesehen, wie sie jemand anders heimbrachte … Und warum hatte sie eine Karte für die Mitternachtsfähre nach Liverpool in ihrer Tasche gehabt?

«Ich habe sie nicht gesehen, weil ich den ganzen Abend oben war», sagte Fitzsimon.

Ja natürlich, so würde es gewesen sein. Patrick hatte bei dieser Veranstaltung im letzten Jahr «hinter die Kulissen» geblickt, als er durch das Imperial Hotel streifen durfte, um sicherzustellen, dass sich keine Diebe durch eines der Fenster hereinschlichen. Die Kaufleute und ihre Ehefrauen dinierten oben, während ihre Söhne und Töchter unten tanzten; das beste Orchester von Cork war engagiert worden, um für sie zu spielen. Patrick erinnerte sich, dass für die jungen Leute ein Buffet auf langen, mit gestärkten Leinentüchern gedeckten Tischen angerichtet gewesen war, die zwischen den Säulen zu beiden Seiten des majestätischen Saales standen. Ihre Eltern saßen derweil wohlbehalten oben, und es schien manch ein verborgener Flirt unter den Arkaden und in den dunklen Ecken in den Korridoren stattzufinden. Doch nicht einmal die Wagemutigsten trauten sich, durch eine der Seitentüren nach draußen in die gefährlichen Gassen hinter dem Imperial Hotel zu schlüpfen.

«Hier entlang, Sir», sagte er. Er fragte sich, ob er den Mann beim Arm nehmen sollte, als er ihn durch eine Tür führte, entschied jedoch, dass es als anmaßend gedeutet werden könnte. Was immer Joseph Fitzsimon, einem der reichsten Kaufleute in Cork, bevorstehen mochte, es kam einem einfachen Mann aus der Marsch, der nur von den Christian Brothers in der North Monastery ausgebildet worden war, nicht zu, ihn trösten zu wollen.

«Das Gesicht wird etwas verändert aussehen», warnte Patrick, der die Hand noch auf dem Türknauf hielt. «Sie war mehrere Stunden im Fluss. Trotzdem werden Sie das Haar erkennen und das Kleid …» Er ging vor dem Mann her. Es brannte nur eine Gaslampe – direkt über der Leiche –, sodass der Großteil des Raumes im Schatten lag. Schweigend schritt Patrick voran zur anderen Seite des Tisches, um dem Vater freien Zugang zu lassen.

Er war auf einen erleichterten Seufzer gefasst oder einen Anfall von lautem, verzweifeltem Weinen, doch Joseph Fitzsimon stand bloß wie erstarrt da. Und wurde dann, recht unerwartet, tiefrot – beinahe zornesrot. Er sagte nichts, blickte einfach nur für einen Moment das tote Mädchen an und wandte dann den Blick ab.

«Ja», sagte er in einem dumpfen Ton. «Ja, das ist Angelina.»

«Sind Sie sicher?», fragte Patrick sanft.

«Dieses Kleid wurde erst letzte Woche bei Dowden’s gekauft», antwortete Joseph Fitzsimon. «Hat mich eine hübsche Summe gekostet.» Er war vollkommen beherrscht. Dennoch war diese Bemerkung eigenartig, dachte Patrick; es klang beinahe so, als wäre ihm das Kleid wichtiger als das Mädchen. Ohne Frage war Dowden’s der teuerste Laden in Cork. Patrick hatte seiner Mutter dort einen Hut kaufen wollen, als er zum Sergeant befördert wurde, und sie hatte allein die Idee für absurd erklärt.

«Die Handschuhe auch. Ziegenleder. Sie würden nicht glauben …» Plötzlich verstummte er und holte ein schneeweißes Taschentuch mit Monogramm hervor, das er an seine Augen hielt. Für einen Moment blieb Patrick respektvoll stumm. Er sollte die Leiche bedecken, dachte er. In einer dieser Schubladen seitlich an der Wand müsste es ein Laken geben. Doch es war besser, vorher den Vater nach draußen zu bringen. Der alte Tommy könnte ihm eine Tasse Tee machen, und der Superintendent würde ihm wohl, wenn er hörte, dass der Teehändler im Haus war, einen Drink anbieten. Nach einer Minute berührte er das extrafeine Breitgewebe des Ärmels.