Ein Ort, der sich Zuhause nennt - Astrid Ruppert - E-Book + Hörbuch

Ein Ort, der sich Zuhause nennt Hörbuch

Astrid Ruppert

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Beschreibung

»Du sollst dein Glück doppelt leben!« Als die junge Charlotte Winter in die Fußstapfen ihrer Mutter Lisette tritt und 1936 in einer der feinsten Schneidereien Wiesbadens zu arbeiten beginnt, ahnt sie nicht, dass eine zufällige Begegnung ihr Leben komplett verändern wird. Von einer Sekunde auf die andere muss sie eine Entscheidung treffen, die ihr ihr großen Mut abverlangt. Ihre Tochter Paula und Enkelin Maya kennen Charlotte als stille, genügsame Frau und wissen nicht, dass sich hinter ihrem Schweigen ein großes Schicksal verbirgt. Welch Gefahren sie im nationalsozialistischen Deutschland auf sich genommen hat und wie sehr sie geliebt hat, das erfahren Paula und Maya erst nach und nach … Im letzten Band der Trilogie erkennen die Winterfrauen, wie ihre eigenen Lebenswege untrennbar mit der Vergangenheit ihrer Mütter verknüpft sind.  

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Zeit:14 Std. 13 min

Sprecher:Stephanie Kellner

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Kathrinschroeder

Gut verbrachte Zeit

Dritter Band einer Trilogie - was mir zum Glück erst mitten im Buch auffiel. Maja möchte den Geburtstag ihrer Großmutter feiern und der junge Mann, den sie dazu einlädt und sie werden gerade ein Paar. Doch dann bricht die Großmutter zusammen, kommt ins Krankenhaus und erhält dort Besuch aus der Vergangenheit. Das Buch springt zwischen den Zeitebenen und den Geschichten der verstorbenen Urgroßmutter, Großmutter und Maja hin und her. Die Übergänge sind angenehm und die Geschichte wird so nahegebracht, dass die fehlenden zwei Bänder vorher nicht auffallen. Es geht um Liebe, das dritte Reich, Eltern und Kinder, Verantwortung und Schuld und das Nichtwissen über die Vergangenheit der eigenen Eltern. Habe das Hörbuch mit Genuss gehört. #EinOrtdersichzuhausenennt #Netgalleyde #KathrinLiebtLesen #Hörbuch #Audiobook #Bookstagram #Rezension
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Über das Buch

»Was wiegt schon das private Glück, wenn du Aufgaben zu erfüllen hast, die viele Leben retten können?«

Als die junge Charlotte Winter in die Fußstapfen ihrer Mutter Lisette tritt und 1936 in einer der feinsten Schneidereien Wiesbadens zu arbeiten beginnt, ahnt sie nicht, dass eine zufällige Begegnung ihr Leben komplett verändern wird. Von einer Sekunde auf die andere muss sie eine Entscheidung treffen, die ihr großen Mut abverlangt. Ihre Tochter Paula und Enkelin Maya kennen Charlotte als stille, genügsame Frau und ahnen nicht, dass sich hinter ihrem Schweigen ein großes Schicksal verbirgt. Welche Gefahren sie im nationalsozialistischen Deutschland auf sich genommen hat und und wie sehr sie geliebt hat, erfahren Paula und Maya erst nach und nach …

Im letzten Band der Trilogie erkennen die Winterfrauen, wie ihre eigenen Lebenswege untrennbar mit der Vergangenheit ihrer Mütter verknüpft sind.

 

 

 

 

Für Sophia und alle Ruppertfrauen

 

 

 

 

Wohin gehen wir?Immer nach Hause.

Novalis

Die Winterfrauen

Dora Winter *1860

Lisettes Mutter

Lisette Winter *1888

Doras Tochter

Charlotte Winter *1917

Lisettes Tochter

Paula Winter *1949

Charlottes Tochter

Maya Winter *1977

Paulas Tochter

1937

Das Ladenglöckchen an der Tür der Buchhandlung klingelt unbeschwert, als sie aus dem Geschäft nach draußen tritt. Doch Lotte fühlt sich alles andere als unbeschwert. Mit einem Ruck fällt die Tür hinter ihr ins Schloss. Das Glöckchen verstummt. Jetzt ist sie ganz auf sich gestellt.

Vor wenigen Minuten hat sie sich noch vorgestellt, wie sie aus dem Laden tritt und einfach weitergeht, weil es ganz normal ist, bei schönem Herbstwetter durch Wiesbaden zu schlendern. Doch jetzt hat sie das Gefühl, jeder müsste ihr ansehen, was sie gerade wirklich tut. Angst steigt in ihr auf und sie versucht, tief durchzuatmen, gegen die Enge anzuatmen, die ihr schier den Hals zuschnürt. Sie darf jetzt keine Angst haben. Nicht jetzt. Sie hat doch nur ein Buch umgetauscht, sagte sie sich. Es ist nur ein Buch, dem man nicht ansieht, dass es so viel mehr ist als das.

Sie lässt zwei gut gekleidete Damen vorübergehen, deren blumiges Parfum einen Moment in der Luft schwebt, bevor es sich verflüchtigt, und mischt sich unauffällig unter die Menschen auf der Straße. Den rechten Arm, an dem ihre Tasche hängt, presst sie fest an den Körper.

Schon wieder hat sie jemand gestreift. Das macht sie ganz nervös. Heute macht sie alles nervös. Hat dieser Mann, der ihr gerade entgegenkam, sie nicht auch seltsam prüfend angeschaut? Oder hat sie sich das nur eingebildet? Sie bleibt vor einem Geschäft stehen und tut so, als würde sie interessiert die Ware im Schaufenster betrachten. Hoffentlich fällt niemandem auf, wie schnell ihr Atem geht. In der Spiegelung des Fensters erkennt sie erleichtert, dass der Mann die Straße kreuzt und in einem der Läden verschwindet. Es war nur ein Passant. Einen Moment lang verharrt sie vor dem Schaufenster, um sich wieder zu beruhigen. Ihr Spiegelbild zeigt eine ganz normale junge Frau. Welch gefährliche Entscheidung sie getroffen hat, kann niemand erahnen. Trotzdem beginnen ihre Beine zu zittern, als sie sich vorstellt, was passieren würde, wenn sie … nein, sie verbietet sich, daran zu denken, und geht weiter.

Die Tasche an ihrem Arm wird mit jedem Schritt schwerer und der Weg erscheint ihr endlos. Sie hat erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt, und ihr Arm schmerzt schon richtig, weil sie ihn so krampfhaft anwinkelt. Am liebsten würde sie einfach nach Hause rennen. Aber das wäre wirklich das Auffälligste, was sie tun könnte. Jetzt reiß dich zusammen, sagt sie sich. Geh einfach.

Schritt für Schritt geht sie, setzt fast mechanisch einen Fuß vor den anderen, dabei gelingt es ihr kaum, die Fragen zu unterdrücken, die in ihr aufsteigen. Warum ist sie hier? Warum hat sie bloß angeboten, diese Aufgabe zu übernehmen? Sie hat einen freien Tag. Sie könnte ihren Muck treffen oder gemütlich zuhause sitzen und mit ihrer Mutter Tee trinken. Sie könnte so vieles tun. Aber sie hat sich entschieden, jetzt, in diesem Augenblick hier zu sein, und sie weiß, dass es die richtige Entscheidung ist, für den richtigen Weg. Auch wenn es ein Weg ist, auf dem kleine hübsche Ledertaschen plötzlich schwer wie Blei werden. Auch wenn der Weg mitten hinein führt in eine ihr bisher unbekannte Angst.

1

2007

Bist du glücklich? Wenn mich das heute Nachmittag jemand gefragt hätte, hätte ich erstaunt Ja gesagt. Vielleicht hätte ich dieses Ja sogar gesungen. Oder getanzt. Denn alles hatte sich so gut angefühlt. So richtig. Vielleicht sogar zum ersten Mal. Als ob sich Türen geöffnet hätten und ich plötzlich eine hellere Welt betreten hätte, in der so viel mehr möglich war. Eine Welt, in der alles, ja, sogar ich einen Platz hatte und einen Sinn. Was für ein tröstliches Gefühl: mein Leben als Aufwärtsbewegung!

Und dann stürzte meine Großmutter zu Boden, und alles war mit einem Schlag vorbei. Vielleicht gehörte ich eben doch nicht hinein, in diese hellere Welt. Nicht auf Dauer. Da hatte ich ein paar Stunden Glück gehabt, auf und ab blubberndes, buntes Glück, und jetzt verbrachte ich meinen dreißigsten Geburtstag im Wartebereich der Notaufnahme, unter grellem Neonlicht, innerlich zitternd. Mein Kopf war schwindelerregend leer, und die Ängste, die darin Karussell fuhren, hatten viel Platz. Omas Schwarzwälder Kirschtorte lag steinschwer in meinem Magen, und ich hatte Angst, dass dies die letzte Erinnerung an meine Oma sein könnte. Die Torte, das plötzliche Auftauchen des fremden Mannes mit dem seltsamen Namen, der Moment, in dem ihre Beine einfach wegknickten. Wie klein und zerbrechlich sie auf dem Wollteppich in der Diele gelegen hatte. Heute Mittag hatte Lukas’ Gegenwart mir den Tag noch verzaubert, aber jetzt war es mir unangenehm, dass Lukas hier war. Es war alles viel zu dicht. Dass er meine schwitzige kalte Hand hielt, dass er sah, wie sich Paulas Gesicht verschloss. Dass er sich plötzlich mitten in dieser Familienkrise befand. Wir hatten nur nachmittags zusammen mit meiner Mutter Paula und meiner Großmutter in Lerchenrod meinen Geburtstagskaffee trinken wollen, um uns dann zu verabschieden und in unsere herrliche unbeschwerte neue Liebe hineinzufallen, wie in ein prickelndes Bad. So hatte ich mir das vorgestellt. Das hier war das glatte Gegenteil von all dem. Konnte irgendetwas in meinem Leben einmal bleiben? So etwas wie dieses Glücksgefühl von heute Vormittag, als Lukas unangemeldet vor der Tür gestanden hatte und wir uns plötzlich in den Armen lagen und uns nur fragten, warum wir das nicht schon längst getan hatten. In diesem Gefühl wäre ich gerne verweilt.

Paula tigerte unruhig auf dem Gang auf und ab, während wir warteten, dass endlich ein Arzt kam, um uns zu sagen, was mit Oma passiert war. Ich war nicht in der Lage herumzulaufen wie sie, ich saß reglos auf einem dieser Krankenhausstühle, auf dessen Sitzfläche aus Kunststoff ich allmählich festklebte. Seit Oma auf dem Boden gelegen hatte, so klein und krumm und blass, fühlte ich mich schwach. Meine Oma war nie krank, und wenn sie wirklich einmal krank war, dann tat sie trotzdem so, als wäre nichts. Sie gehörte in diese Generation, für die ein Bett nur zum Schlafen da war. Da legte man sich doch am hellen Tag nicht hinein. Nicht, wenn man krank war, und schon gar nicht, um es mal gemütlich zu haben, zu lesen oder einen Schlechtwettertag wegzulümmeln. So etwas gab es im unerschütterlichen Leben meiner Oma nicht. In ihrem Leben hielt man durch. Sie hatte einen Krieg erlebt, was war dagegen schon ein bisschen Fieber, eine Grippe? Und dann hatte sie doch etwas so sehr erschüttert, dass ihre Beine einfach wegknickten und sie dann viel zu lange mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag. Wer war dieser Fremde, der plötzlich vor der Tür gestanden hatte und bei dessen Anblick meine Großmutter in sich zusammengesackt war, als hätte ein Marionettenspieler plötzlich die Fäden losgelassen? Ich bin’s, der Muck. Was immer das auch bedeutete.

Paulas Schritte klackten unruhig auf dem Krankenhausflur auf und ab. Irgendwann blieb sie vor mir stehen.

»Hast du diesen Namen schon mal gehört? Ich habe ihn noch nie gehört. Muck! Was ist das überhaupt für ein Name?«

»Irgendjemand von früher? Ein Spitzname?«

Ich hatte ja auch keine Ahnung.

»Es gab niemanden im Dorf, der so hieß.«

»Vielleicht eine alte Liebe?«

»Meine Mutter und eine alte Liebe? Das glaubst du doch selbst nicht.«

Meine Mutter und meine Großmutter hatten sehr unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema Liebe. Meine Mutter hielt sich an dem Gedanken fest, dass man eine große Liebe auch mehrfach suchen und leben konnte, meine Großmutter hatte sich in ihrem Leben lieber auf eine ruhige, beständige Zuneigung zu meinem Großvater verlassen. Meine Mutter hatte das schon immer als viel zu klein empfunden und benutzte in dem Zusammenhang auch schon mal Worte wie kläglich oder armselig. Wie ich selbst zum Thema Liebe stand, war mir noch nicht so klar. Ich hatte durchaus romantische Träume, die bisher jedoch meist an der Realität gescheitert waren. Irgendwie schien meine Vorstellung von Liebe nicht richtig in mein Leben hineinzupassen. Ich glaube, mir fehlte das Vorbild für die glückliche Beziehung, die ich gerne führen würde. Die wechselnden Lieben meiner Mutter und ihr daraus resultierendes Himmelhoch-jauchzend-zu-Todebetrübt hatten in meinem Leben für viel Unruhe gesorgt und nicht unbedingt zur Nachahmung eingeladen. Vielleicht fühlte ich mich meiner Oma in dieser Hinsicht sogar näher. Obwohl es auch nicht gerade erstrebenswert war, sich so eine kleine stille Zuneigung zu wünschen. In meinem Alter sollte man doch Großes hoffen, Leidenschaft ersehnen, Hand in Hand im Gegenlicht lachend über Wiesen rennen. So endeten Liebesfilme. Aber ich wünschte, es gäbe einen Film, der genau damit anfing und mir erzählte, wie es weitergehen könnte. Denn genau das interessierte mich am meisten, ob es möglich war, eine Liebe zu leben, die groß war und trotzdem beständig.

»Es scheint jedenfalls um etwas sehr Wichtiges zu gehen, wenn es sie so erschüttert, oder?«

Die Schritte verstummten. Paula war vor uns stehengeblieben.

»Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch irgendwelche Geheimnisse meiner Mutter wissen will. Sie hat früher nie geredet, dann braucht sie jetzt auch nicht mehr damit anzufangen.«

Das war typisch für meine Mutter. Paula hatte furchtbare Angst, dass ihre Mutter ihr etwas erzählen könnte, was sie nicht hören wollte. Schon immer warf sie ihr vor, nie wirklich von sich erzählt zu haben, und vor allem nie davon erzählt zu haben, was sie während des Krieges gemacht und gedacht hatte. Und weil sie so beharrlich darüber schwieg, befürchtete Paula, dass ihre Mutter auch viel zu verschweigen hatte. Die beiden hatten sich eingerichtet in einem Zustand, in dem sie nicht viel voneinander wussten, in dem Paula sich mit Omas Standardantwort zufriedengab: Ach Kind, es waren schlimme Zeiten. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen. Sie rüttelte nicht mehr an der Tür, hinter der sich vielleicht andere Erinnerungen, andere Geschichten verbargen. Genauso gab Oma sich mit kürzesten Antworten von Paula zufrieden. Wenn sie fragte, wie es ihr ginge, und Paula mit einem knappen gut antwortete, dann reichte ihr das. Irgendwann hatten sie sich in dieser Art von stenografischer Kommunikation eingerichtet. Und wenn ich ehrlich war, machte ich dabei mit und verschwieg ihnen auch das meiste, was es über mich zu sagen gab.

Paulas Schritte hallten weiter durch den kahlen Flur. Das gleichmäßige Ticken der großen Uhr und Paulas Ledersohlen gaben einen Rhythmus vor, gegen den mein Herz in doppeltem Tempo anschlug. Lukas und meine Hand waren jetzt wahrscheinlich komplett und für immer aneinandergeklebt. Es musste so unangenehm für ihn sein. Wahrscheinlich wusste er nicht, wie er meine Hand höflich loslassen sollte, und ich beschloss, uns zu erlösen. Ich murmelte etwas von Toilette, und es gelang mir tatsächlich, meine schwitzige Hand aus Lukas’ Hand zu lösen. Bestimmt kam der Arzt genau in dem Moment, in dem ich hinter der Tür zu den WCs verschwand. Das war ja immer so. Also beeilte ich mich, seifte meine Hände trotzdem gleich zweimal ein und spülte einmal warm und einmal kalt ab, bevor ich sie auch noch doppelt gut abtrocknete. Wenigstens meine Hände waren jetzt wieder in Ordnung, auch wenn der ganze Rest von mir sich schlecht fühlte. Und ausgerechnet heute trug ich dieses Kleid. Es gab wohl kaum etwas Unpassenderes, das man unter dem Neonlicht einer Krankenhausnotaufnahme tragen konnte, als ein hundert Jahre altes Seidenkleid, dessen Stoff allmählich brüchig wurde. Ich hätte gerne etwas an, was man nach Verlassen des Krankenhauses bei sechzig Grad waschen konnte und was mich stabil und kompetent fühlen ließ. In dem Kleid fühlte ich mich verletzlich, empfindlich wie die alte Seide. Meine Urgroßmutter Lisette war davon überzeugt gewesen, dass ein einziges Kleid ein Leben verändern kann. Tatsächlich hat dieses grüne Seidenkleid, das mein Urgroßvater Emile ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag vor genau hundertundeins Jahren geschenkt hatte, ihr Leben damals komplett auf den Kopf gestellt: Nachdem Lisette das Kleid anprobiert und darin die schönste Version ihrer selbst gefunden hatte, lief sie kurz darauf mit Emile, ihrem damaligen Hausschneider, davon. Sie ließ Familie, Villa, Korsett, Stand und alle damit zusammenhängenden Erwartungen hinter sich und landete mit ihrem grünen Seidenkleid in Freiheit, in wilder bunter Fülle und in einer sehr, sehr großen Liebe, die das Leben von uns Winterfrauen noch immer überstrahlte. Oder überschattete. Je nachdem, von welcher Seite man das betrachtete. Als ich das Kleid heute Morgen übergestreift hatte, hatte ich mich auch ganz wunderbar gefühlt. Aber die wunderbaren Gefühle hatten in meinem Leben wohl wirklich nur eine kurze Haltbarkeitsspanne.

Oma lag bleich in ihrem weißen Krankenhausbett und nahm Paula und mich erst wahr, als wir direkt vor ihr standen. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, und ihre blauen Augen leuchteten, als sie uns sah. Ich griff nach ihrer Hand und setzte mich auf die Bettkante. Paula machte das Gleiche auf der gegenüberliegenden Seite, und so hielten wir sie zwischen uns, waren gleichzeitig über sie miteinander verbunden.

»Jetzt sagt mir doch mal, was genau passiert ist. Ich habe so wirre Bilder im Kopf und krieg es nicht mehr zusammen. Lag ich wirklich auf dem Boden?«

Ich war erleichtert. Sie klang wie immer.

Paula erzählte ihr, wie wir zusammen Kaffee getrunken hatten, Geburtstagskaffee. Sie ließ das Wort einen Moment im Raum stehen, und Oma nickte.

»Ich weiß doch, dass Maya heute dreißig geworden ist. Und dass sie einen neuen Freund hat. Lukas. Ich weiß das. Natürlich!«

Sie lächelte mich an.

»So natürlich ist das nicht … nach allem, was passiert ist.«

»Einen netten Freund hast du, Kind. Aber was ist dann passiert?«

Paula erzählte, wie sie die Haustür geöffnet hatte, mit Schwung, weil sie dachte, die Nachbarn kämen zum Gratulieren, und wie dann stattdessen ein erschrockener älterer Herr vor der Tür gestanden und nach Lotte Winter gefragt hatte.

»Das war der Muck? Der Muck war wirklich da? Ich habe das nicht geträumt?«

Wir schüttelten den Kopf.

»Ich dachte, ich hätte das geträumt. Ich dachte …«

Sie verstummte, und wir wagten nicht, nachzufragen, wer dieser Mann war. Der Arzt hatte gesagt, wir sollten sie nicht aufregen, nichts fragen, am besten lächeln und einfach da sein. Paula hatte theatralisch die Augen gerollt, einfach da sein gehörte nicht gerade zu ihren Kernkompetenzen. Ich hatte dem Arzt versichert, dass wir gut aufpassen würden.

»Und da bin ich zusammengebrochen?«

»Du lagst auf dem Boden. Und es hat ein paar Minuten gedauert, bis du die Augen wieder aufgemacht hast. Und dann hast du nach ihm gefragt, er hat sich zu dir auf den Boden gekniet, und ihr … ihr habt euch angeschaut.«

Dieser Blick, ich bekam jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich an diesen Blick zwischen den beiden dachte, der uns und alles um sie herum ausgeschlossen hatte. Oma nickte und schwieg wieder eine lange Zeit, und es war schwer, das Offensichtliche nicht zu fragen.

»Er ist wirklich hier?«

Wieder nickten wir. Sie schloss die Augen, seufzte tief, und ihr Gesicht entspannte sich. Aber dann begann sie, Fragen zu stellen.

»Und wo ist er jetzt?«

»Er wollte wieder in sein Hotel.«

»Wisst ihr, wo das ist? Könnt ihr ihn holen?«

»Mama … du musst jetzt erst mal zu …«

Paula versuchte, sie zu beruhigen, aber erreichte das Gegenteil. Oma versuchte den Kopf aus dem Kissen zu heben, als wollte sie gleich aus dem Bett springen und am liebsten direkt zu ihm laufen.

»Ich muss ihn sehen. Er soll herkommen. Hierher.« Ihre Augen funkelten energisch.

»Das wird er«, versicherte ich ihr. »Wir haben seine Telefonnummer und rufen ihn an. Und er wartet, bis er dich besuchen kann. Aber heute nicht mehr. Der Arzt sagt, keine Aufregung mehr heute.«

»Er muss hierbleiben. Er darf nicht wegfahren. Ich muss ihn wiedersehen!«

Oma klang so dringlich, wie ich sie noch nie gehört habe. All ihr Gleichmut, all ihre Ruhe schienen dahin, und ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. Erst als ich versprach, ihn sofort anzurufen, sobald wir aus dem Krankenhaus herausgekommen waren, und noch dreimal versprach, dass er nicht wegfahren würde, bevor sie ihn wiedergesehen hatte, beruhigte sie sich ein wenig.

Ich muss ihn sehen. Das war das letzte Satz, bevor sie vor Erschöpfung wieder einschlief.

Als wir auf dem Gang standen, schüttelte Paula den Kopf.

»Meine Güte … Wer das bloß ist?«

Wir hatten sie beide noch nie so erlebt, und es beunruhigte mich. Heute Nachmittag war ich mir noch sicher gewesen, wenn ich einen Menschen auf der Welt kannte, dann war das meine Großmutter. Der verlässlichste Mensch, an einem verlässlichen Ort. Es war verwirrend für mich, dass diese Gewissheit plötzlich völlig durcheinandergeraten war, durch einen Fremden, von dem noch nie die Rede gewesen war. Der rätselhafte Muck.

»Es klingt irgendwie doch nach großer Liebe, vielleicht, bevor sie Opa kennengelernt hat, oder?«

Paula sah mich zweifelnd an.

»Meinst du, meine Mutter hatte mal ein anderes Leben, bevor sie in Lerchenrod gelandet ist?« Paula schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Warum sollte sie dann in Lerchenrod geblieben sein?«

»Warum nicht? Du hattest auch ein ganz eigenes und anderes Leben, bevor du Mutter geworden bist, und hast mir ja auch lange genug nichts davon erzählt …«

Paula sah mich stirnrunzelnd an, und ich fantasierte weiter. »Oder stell dir so etwas vor wie Brücken am Fluss. Sie hat Opa und dich nicht verlassen, aber vielleicht hat sie den Muck geliebt? Bis heute.«

»Ich glaube, wir haben früher zu viele Liebesfilme angeschaut. Andererseits kann ich das gut verstehen, dass du heute nur an Liebesgeschichten denken willst …«

Sie nickte in Richtung Lukas, der am Ende des Flures auf uns wartete.

»Es tut mir so leid, dass das gerade heute passiert ist, ich hätte euch wirklich eine andere Art von Tag gewünscht.«

Irgendwie rührte es mich, dass Paula das sagte, dass sie an mich dachte in dem ganzen Gefühlswirrwarr, und ich schaute sie dankbar an.

»Stimmt. Ich habe ja Geburtstag. Aber das ist jetzt auch egal.«

»Wollt ihr nach Frankfurt zurückfahren und euch noch einen schönen Abend machen? So wie ihr das geplant hattet? Ich bleibe hier und kümmere mich um alles. Mach das ruhig, mein Schatz.«

Ich schüttelte den Kopf, ich würde sowieso an nichts anderes denken können.

»Ich bleibe hier, und wir machen uns zusammen einen schönen Abend. Vor dreißig Jahren, als ich auf die Welt gekommen bin, haben wir zwei ja auch einfach gemütlich zusammen abgehangen, oder? Hauptsache, Oma geht es gut.«

Paula lächelte. »Ich bin froh, wenn du bleibst.«

Wie versprochen rief ich die Handynummer an, die uns dieser Muck gegeben hatte. Er musste schon auf den Anruf gewartet haben, denn kaum dass es geklingelt hatte, war er schon dran und fragte sofort nach Lotte. Wie geht es Lotte? Jeder in Lerchenrod nannte meine Oma Charlotte. Selbst Opa hatte sie immer mit ihrem ganzen Namen angesprochen. Lotte und Muck. Das klang vertraut. Ich erzählte ihm, dass sie wohl einen Schwächeanfall hatte, aber noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben musste, um durchgecheckt zu werden. In ihrem Alter konnte ein Zusammenbruch viele Gründe haben, hatte der Arzt gesagt. Sie dürfe sich vor allem nicht aufregen, aber ich erzählte ihm auch, dass wir ihr versprechen mussten, dafür zu sorgen, dass er nicht wegfährt, ohne sie noch mal gesehen zu haben. Ich konnte hören, dass er lächelte, als er antwortete. Es gäbe keinen Grund zur Sorge, sagte er. Er habe sie so lange gesucht, niemals würde er wegfahren, ohne sie zu sehen, und wenn er monatelang warten müsste.

»Das hat er gesagt?« Paula schaute mich ungläubig an. »Am Ende hast du doch noch recht mit deiner Liebestheorie.«

Wenn ich ehrlich war, war es mir zu viel, dass Lukas da war. Es war, als ob zwei Welten kollidierten, die nicht zusammengehörten. Oder noch nicht zusammengehörten. Ein Bilderbuch hatte ich für ihn aufschlagen wollen. Kaffeetrinken mit Omas Torte, der alte Bauernhof auf dem Land, wo ich als Kind im Heu gespielt hatte, meine Mutter in Bestform. Ich hatte ihm alle schönen Seiten zeigen wollen. So hatte ich mir das vorgestellt. Ich wollte nicht, dass er mitbekam, wie das Auftauchen eines Fremden uns alle erschütterte, wie ich verheult unter kaltem diffusen Krankenhauslicht aussah. Ich wollte schön sein für ihn. Und trockene warme schlanke Hände haben.

»Wenn du zurückfahren willst, dann bringen wir dich zum Bahnhof, das könnte ich gut verstehen. Du musst wirklich nicht …«

»Ich würde gerne bei dir bleiben. Wenn das okay ist.«

Er schaute fragend zwischen Paula und mir hin und her, und Paula sagte, dass es natürlich okay war. Sie lächelte ihn an, und ich hatte wieder dieses altbekannte Gefühl, sonderbar zu sein. Dass ich diese Frage überhaupt gestellt hatte. Dass ich anscheinend die Einzige war, die sich überfordert fühlte.

In Omas Speisekammer fand sich keine einzige Flasche Wein.

»Guck doch mal im Keller«, sagte Paula. »In diesem niedrigen Kabuff hinter dem Regal mit dem Eingemachten.«

»Oma macht schon ewig nichts mehr ein.«

»Aber daneben liegt noch der Wein, oder?«

»Ich hab keine Lust, jetzt in den Keller zu gehen.«

Paula wusste doch ganz genau, wie ungern ich in den Keller ging. Ich mochte weder die Dunkelheit, in die man hineintreten musste, bis man das Licht angeschaltet hatte, noch die Tatsache, dass man ins Dunkel hineingreifen musste, um den Lichtschalter überhaupt zu finden. Und dann dieser modrige Kellergeruch und das Gefühl, unter der Erde zu sein, weit weg von allem. Das alles legte sich wie eine Bleidecke auf meine Brust, und ich bekam kaum Luft, wenn ich nur daran dachte. Paula nahm meine Hand.

»Komm, wir gehen zusammen, mein kleiner Hasenfuß. Du suchst dir einen Wein aus, und ich kämpfe die Monster nieder. Lukas, wenn du Schreie hörst, kommst du zur Verstärkung.«

»Das ist nicht witzig.«

Sie kannte doch meine Angstattacken und musste sich nicht gleich vor Lukas darüber lustig machen.

»Was trinkst du denn gerne?«, fragte Paula, und Lukas war nett, er meinte, ich würde bestimmt das Richtige aussuchen.

Paula ging vor und schaltete das Licht an. Ich atmete tief durch. Mein sauberer Frankfurter Neubaukeller sah fast aus wie eine Wohnung, allein die Tatsache, dass er fensterlos unter der Erde lag, genügte bereits, das Kellergefühl in mir auszulösen. Ich lagerte dort so gut wie nichts, damit ich nie hinuntergehen musste. Der Gewölbekeller des bestimmt zweihundert Jahre alten Bauernhauses meiner Großmutter, mit seinem gestampften Lehmboden, war wesentlich schlimmer. Und schlimm war auch, dass dort einfach alles lagerte, was man überhaupt lagern konnte, so dass man ständig hinunterlaufen musste.

Paula ging zielstrebig zu dem Weinregal, das in der düstersten Ecke des Kellers stand. Man konnte sofort erkennen, dass Oma hier alle Weinflaschen aufbewahrte, die sie geschenkt bekam. An manchen hing sogar noch eine kleine Karte. Wohl bekomm’s! Dein Otto oder Frohe Weihnachten aus Willingshausen.

»Gar nicht so dumm«, sagte Paula. »Vom Schenkenden kann man Rückschlüsse auf die Qualität des Weins ziehen. Was ist eigentlich dahinten los?«

Sie kniff die Augen zusammen und deutete auf ein komplett verstaubtes Weinregal, das fast im Dunkel einer Ecke verschwand und mir noch nie aufgefallen war. Das war kein Wunder, denn in Kellern hielt ich mich keine Sekunde länger auf als unbedingt nötig.

»Komm, lass uns wieder hochgehen.«

Allein der modrige Geruch hier unten setzte mir schon zu, aber Paula zog schon neugierig eine Flasche aus dem Regal hervor.

»Die sehen ja aus, als wären sie ein Vermögen wert.«

Sie strich über das Etikett und entfernte den dicken Staub. »Weingut Richter. Das ist das Weingut von Onkel Henri.«

Sie zog mehrere Flaschen hintereinander heraus und schaute auf die Etiketten. »Die sind alle von ihm. Er hat ihr jedes Jahr Wein geschickt. Guck dir das an, das sind ja bestimmt …«

Ich zählte eine Reihe ab und überschlug die Menge.

»Das sind fast zweihundert Flaschen?«

»Hier, Wein aus den Fünfzigern, Sechzigern. Sie hat immer Wein von ihm bekommen und ihn nie getrunken? Wusstest du davon?«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber einige Flaschen fehlen.« Ich deutete auf leere Stellen. »Manche hat sie doch getrunken. Oder meinst du, es ist Zufall?«

»Keine Ahnung«, murmelte Paula und lächelte, als sie den dicken Staub von einem Etikett wischte. »Schau mal, ein Riesling, Spätlese 1977. Dein Jahrgang. Wenn die Flasche hier tatsächlich dreißig Jahre unberührt gelegen hat, dann kann der durchaus noch gut sein. Das wäre doch ein würdiges Getränk für deinen Geburtstag, oder?«

Wir nahmen uns zwei Flaschen davon mit und suchten zur Sicherheit noch einen Weißwein aus, den Oma vor kurzem zu ihrem Neunzigsten geschenkt bekommen hatte.

»Der ist vom Bürgermeister.« Paula hielt eine Flasche Grauburgunder hoch. »Der müsste doch in Ordnung sein.«

Ich holte die guten Weingläser aus der Anrichte und rutschte zu Lukas auf die Eckbank in der Küche, während Paula einen Korkenzieher suchte. Wir betrachteten die staubigen Flaschen von Onkel Henris Weingut.

»Wie aus einem Schlosskeller, oder?«

Lukas nickte. »Und so einen besonderen Tropfen können wir jetzt wirklich einfach so trinken? Ohne deine Oma?«

Paula nickte. »Meine Mutter trinkt selten Wein. Und wenn, dann bestimmt nicht den von Onkel Henri.«

»Warum eigentlich nicht?«

»Wenn ich das mal wüsste.«

»Ich dachte, bei euch in der Familie gäbe es irgendwie gar keine Männer.« Lukas sah uns fragend an. »Zumindest klang das immer so, wenn du davon erzählt hast.«

Paula lachte. »Das hat dich sicher sehr beunruhigt?«

»Schon ein bisschen.« Lukas lächelte. »Also: Wie kommt man jetzt von Lisette, die mit dem Schneider ausgerissen ist, und ihrem antiken Seidenkleid an diesen Tisch in diesem Dorf und zu diesen alten Flaschen Wein?«

»Das wüsste ich eigentlich selbst gerne.« Ich runzelte die Stirn und sah Paula fragend an. »Wir wissen nur, dass meine Oma nach dem Krieg irgendwie hier gelandet ist und meinen Opa geheiratet hat.«

»Du weißt schon von Lisette?«

Paula schaute ihn erstaunt an, und Lukas nickte.

»Maya trägt heute ihr Kleid. Und sie hat mir oft von ihr erzählt. Sie bedeutet euch doch viel, oder?«

Paula schaute mich verwundert an. »Das wusste ich gar nicht, dass Lisette dich so interessiert.«

»Weil du mir nicht zuhörst.«

»Das stimmt nicht.«

Ich seufzte. Lukas verfolgte den Disput lächelnd.

»Obwohl, richtig, du wolltest ja das Kleid haben. Und du hast mich nach der Hausnummer in Rauenthal gefragt, wo das Haus steht. Haben wir uns eigentlich schon darüber unterhalten, was du da gemacht hast? Du hast mir gar nicht erzählt, warum du das eigentlich wissen wolltest.«

»Ist ja auch egal. Es gab ja genug anderes, was uns beschäftigt hat.«

»Nein, ist es nicht!«

»Komm, lass uns anstoßen«, sagte ich und deutete auf die Flasche in ihrer Hand. Sie hatte den Korken fast am Stück aus der Flasche bekommen, machte aber keine Anstalten, den Wein auszuschenken, sondern sah mich noch immer fragend an. Ich hätte einfach antworten können, hätte ihr sagen können, dass ich da gewesen bin, sogar zusammen mit Lukas. Aber ich war noch sauer, dass sie mich vor ihm als Angsthase hatte hinstellen müssen. Maya, die sonderbare Angsthäsin, die sich nicht in den Keller ihrer Oma traut.

»Du hättest ja nachfragen können. Aber das müssen wir jetzt wirklich nicht erörtern. Gieß ein. Bitte.«

Lukas schaute von mir zu Paula und wieder zurück und dachte sich wahrscheinlich seinen Teil, und ich hatte Angst, dass er es inzwischen schon bereute, dass er mich überhaupt geküsst hatte. Ich war nicht beschwingt, nicht interessant, ich war verklemmt und beleidigt. So sehr hatte ich es mir vorgenommen, freier, lockerer, erwachsener, mutiger aufs Leben zuzugehen, meine Gefühle zuzulassen. Stattdessen war ich verstockt und befangen wie immer und stritt mit meiner Mutter wie ein Teenager. Paula schnupperte an der Flasche, bevor sie einschenkte. Goldgelb und fast wie Sirup floss der Wein in die Gläser.

»Lisette war jedenfalls mein größtes Vorbild … sie war meine Großmutter und Mayas Urgroßmutter. Und sie hatte zwei Kinder: nämlich Henri, dessen Wein wir jetzt gleich trinken, und Charlotte, die nun im Krankenhaus liegt. Ich bin hier aufgewachsen und wollte immer weg.«

»Und für dich war es ein Zuhause.« Lukas lächelte mich an, und ich fühlte mich etwas besser. Er wusste schon so viel von mir, und vielleicht war es ja doch alles gut, wie es war.

Wir nahmen die Gläser. Der Wein duftete würzig und intensiv und wunderbar.

»Auf Maya«, sagte Paula und lächelte mich an.

»Und auf dich«, erwiderte ich. »Und Charlotte. Und auf die Lotte, die Oma einmal war.«

»Auf alle Winterfrauen zusammen.« Lukas hob sein Glas und stieß mit mir an. »Und auf die Männer auch. Sie scheinen zum Glück ja doch irgendwie dazuzugehören.«

Der Wein schmeckte süß, harzig und seltsam.

»Aber sie geben uns Rätsel auf, die Männer, oder?« Ich hielt das Glas ins Licht und betrachtete den Wein. »Warum hat Oma diesen Wein nicht getrunken, und warum hatte sie überhaupt keinen Kontakt zu ihrem Bruder? Warum kennen wir ihn gar nicht?«

»Na, ich kannte ihn schon.« Paula zuckte die Achseln. »Onkel Henri war lustig. Er hat immer Witze gemacht und immer Wein auf den Tisch gestellt. Man kam selten nüchtern wieder weg. So wie man sich einen Winzer vorstellt. Ich glaube, es war so ein Konkurrenzding zwischen den beiden. Er war Lisette näher als Charlotte. Vielleicht hatte es auch mit seiner Frau zu tun? Sie war seltsam, sein Sohn auch. Man hat sich nicht willkommen gefühlt. Ich glaube, mir war das gar nicht richtig klar, dass Onkel Henri Mamas Bruder war. Sie hat sich halt nie so benommen, als hätte sie einen Bruder. Und irgendwie war es auch immer traurig, aber ich weiß nicht, warum. Wir müssen sie fragen.«

»Wir müssen sie eine ganze Menge fragen.«

Die erste gemeinsame Nacht mit Lukas hatte ich mir deutlich anders vorgestellt. Mehr ausgelassene Verliebtheit und deutlich weniger Panikattacke. Kaum hatten wir in meinem Zimmer die dicke Federbettdecke über uns gezogen, kam die Angst. Mein Herz begann zu rasen, und Adrenalin rauschte durch meine Adern. Ich rang nach Luft und musste mich auf den kalten Fußboden legen, musste spüren, dass ich festen Boden unter mir hatte, der mich hielt, musste mir sagen, dass ich jetzt nicht sterben würde. Mir sagen, dass es nur Chemie war, die meinen Körper in Panik versetzte, wie ich es in der Therapie gelernt hatte. Dass es keinen Grund dafür gab, jetzt genau in diesem Moment solche Angst zu haben. Dass die Angst es doch eigentlich gut mit mir meinte, mich vor etwas warnen wollte. Dass es an mir war, der Angst zu sagen, dass es gerade keinen Grund gab. Ich war doch sicher. Ich lag doch auf festem Boden. Lukas fragte, ob er etwas tun könne, und als ich es verneinte, wartete er einfach ruhig ab, bis der Anfall vorbei war. Ich war kalt und erschöpft und dankbar, dass er mich einfach in die Arme nahm und mich an sich zog, um mich zu wärmen. Als auch meine Füße endlich warm wurden, schlief ich ein. Aber war das gut, wenn eine Beziehung so begann? Brauchte man nicht den unbeschwerten Schwung der Verliebtheit, weil alles sowieso von selbst schwerer werden würde? War das der Anfang unserer Geschichte? An was würden wir uns einmal erinnern, später?

1927

In Mutters Atelier brannte Licht, sie arbeitete also noch immer. Nach dem Abendessen hatte sie gesagt, sie müsse nur noch schnell etwas fertig machen und dann würde sie kommen und Lotte ins Bett bringen. Das war schon zwei Stunden her. Lotte stand am Küchenfenster und schaute in den dunklen Garten, an dessen hinteren Ende sich das Atelier befand, wo ihre Mutter Kleider entwarf und nähte. Eigentlich sollte sie einfach schon alleine ins Bett gehen. Mutter hatte so viel Arbeit und verdiente das Geld für sie alle. Tante Henriette, die bei ihnen wohnte, kümmerte sich um den Haushalt und die Wäsche, kaufte ein und kochte, damit Mutter genug Zeit hatte für die feinen Damen, die hier oft ein und aus gingen, nach Maiglöckchen dufteten und sich von ihr schöne Kleider fertigen ließen. Mutter war so fleißig und gab sich so viel Mühe, damit es ihnen allen gutging. Henriette war auch fleißig, und Henri erst. Ihr Bruder war schon fünfzehn und half Mutter bei allen schweren Arbeiten im Garten. Er kümmerte sich um das Holz, er schleppte die Kohlen und hievte für Henriette die schwere, nasse Wäsche zur Mangel. Das konnte Lotte alles nicht, dafür war sie noch zu klein. Es ärgerte sie, dass sie erst zehn Jahre alt war. Sie wäre gerne so groß und nützlich wie Henri. Wenn sie bei etwas half, dann war es niemals so wichtig wie all das, was Henri tat. Sie würde ja sogar am liebsten noch jeden Abend ins Bett gebracht werden wie ein kleines Mädchen.

»Du bist ja noch wach!«

Henri war neben sie getreten und folgte ihrem Blick hinaus aus dem Fenster zu dem hellen Viereck, das hinten im Garten leuchtete. Sofort wurde es auch in ihr heller und leichter. Wenn Henri da war, wurde immer alles ein bisschen besser.

»Mutter findet wieder kein Ende. Bestimmt hat sie gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist. Soll ich rübergehen und fragen, ob sie zum Gute-Nacht-Sagen kommt?«

Henri wusste genau, dass Lotte im Dunkeln Angst hatte und sich nicht traute, allein durch den Garten zu gehen, obwohl das Licht aus dem Atelier hell und freundlich herüberstrahlte. Und er wusste auch, dass Lotte nicht gut einschlafen konnte, wenn Mutter ihr nicht Gute Nacht sagte. Aber Lotte schüttelte tapfer den Kopf. Es war viel wichtiger, dass Mutter ihre Arbeit fertigbekam, damit auch sie irgendwann schlafen konnte.

»Ich kann ja auch alleine ins Bett gehen.«

Das war denn eben ihre Art, der Mutter zu helfen. Sie war groß genug, um das zu verstehen, auch wenn es gar nicht so einfach war, sich davon selbst zu überzeugen. Henri schien das zu spüren.

»Dann husch mal hoch, und ich komme gleich und schaue nach, ob du auch schön zugedeckt bist.«

Lotte zog ihr warmes Nachthemd an, das Mutter aus weichem Flanell für sie genäht hatte, und schlüpfte ins Bett. Sie wartete, bis Henri kam, der ihr die Decke bis zur Nasenspitze zog und dann mit gespieltem Ernst ihre beiden langen blonden Zöpfe sorgfältig unter die Bettdecke stopfte.

»So, damit sie auch nicht frieren …«

»Das sind doch Haare! Die frieren doch nicht!«

»Was weißt du denn schon, du kleine Reblaus!« Henri riss seine Augen ganz weit auf. »Letzte Nacht haben sie so laut geschlottert, dass ich davon aufgewacht bin!«

Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, und Lotte hoffte, dass er nicht gleich wieder ging. Am besten konnte sie schlafen, wenn alle hier oben unterm Dach in ihren Betten lagen und Lotte sie atmen hörte. Dann fühlte sie sich geborgen wie in einer Höhle.

Das Haus, in dem sie zu viert lebten, war klein. Im Erdgeschoss gab es eine Küche und die gute Stube und den Anbau mit dem Badezimmer. Wenn man die Treppe hinaufging, befanden sich unter den steilen Dachschrägen zwei Zimmer, eines links und eines rechts. Durch Vorhänge, die sie in die Mitte unter dem First aufgehängt hatten, wurden die beiden Zimmer in vier Schlafstübchen aufgeteilt, so dass jeder eine eigene kleine Kammer hatte. Mutter und Henriette schliefen auf der einen Seite und Henri und sie auf der anderen. Am liebsten hätte Lotte gar keine eigene kleine Kammer gehabt. Am schönsten hätte sie es gefunden, wenn alle vier Betten, ohne trennende Wände und Vorhänge, nebeneinanderstehen würden und sie wie eine Bärenfamilie zusammen in ihrer Höhle ihren Winterschlaf hielten. Und sie als Kleinste mittendrin. Aber Mutter war oft traurig, und dann fand Lotte es besser, alleine in ihrem Bett zu liegen. Es war besser, sich vorzustellen, dass ihre Mutter lächelte, als hilflos danebenzustehen, wenn sie weinte, und nichts tun zu können, um sie zu trösten. Manchmal war es einfach schöner zu träumen.

»Schlaf schön, Lottchen, und ich sag der Mama, dass sie nachher noch reinkommt und dir einen Schlaf-weiter-Kuss geben soll.«

»Schlaf du auch schön, Henri. Und lass die Tür auf, ja?«

»Na klar …«

Henri nickte und ließ die Tür einen großen Spalt aufstehen, damit etwas Licht vom Treppenhaus hereinscheinen konnte. Lotte mochte die Dunkelheit nicht. Wenn es in mondlosen Nächten so dunkel war, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte, kroch die Angst in ihr hoch. Sie hatte Angst davor, dass alle weg waren und vergessen hatten, sie mitzunehmen. Angst davor, ganz alleine und verlassen zu sein. Sie schaute auf den Streifen Licht, der in ihr Zimmer fiel, und flüsterte ihr Nachtgebet, in dem sie den lieben Gott bat, auf sie alle aufzupassen. Auf Mama und Henriette, auf Henri und auf ihren lieben Vater, der irgendwo im Himmel wohnte, ganz nah beim lieben Gott. Und auf ihre Freundinnen Käthe und Rosi und bitte auch auf sie selbst.

Rosi wartete schon vor dem Gartentor. Am liebsten hätte Lotte sich einfach ihren alten Mantel und ihren Schulranzen geschnappt und wäre hinausgelaufen, um mit Rosi zur Schule zu gehen. Aber sie konnte nicht hinauslaufen. Mutter stand vor ihr mit dem neuen kornblumenblauen Wollmantel und schaute sie mit freudiger Erwartung an. Der Mantel war wirklich schön, da hatte Mutter recht. Sehr schön. Und auch, dass sie einen Wollstoff in genau ihrem Lieblingsblau gefunden hatte, der überhaupt nicht kratzte, war einfach ein Wunder. Wo sie den bloß wieder aufgetrieben hatte. Niemand hier hatte einen Mantel aus so schönem Stoff. Aber genau das war ja das Problem. Unglücklich schaute Lotte auf den neuen Mantel. Mutter hatte die halbe Nacht daran genäht, um sie heute Morgen damit zu überraschen. Einfach so. Lotte hatte weder Geburtstag noch Namenstag noch war es Weihnachten. Niemand in ihrer Klasse bekam einfach so einen neuen Mantel. Und dann noch einen so auffälligen, leuchtend blauen Mantel. Niemand würde sie mögen, wenn sie in diesem Mantel zur Schule ging. Besonders die Mädchen am Fenster nicht. Aber ihre Mutter war so stolz und hatte so müde Augen und konnte überhaupt nicht verstehen, dass sie überhaupt zögerte. Also ließ Lotte den braunen Mantel, den sie immer trug, hängen und schlüpfte in den neuen Mantel.

Rosi riss die Augen auf, als Lotte damit aus dem Haus kam.

»Der ist genauso blau wie deine Augen! Ach, ist das ein schöner Mantel, ich wünschte, ich hätte auch so einen schönen Mantel!«

»Und ich wünschte, ich könnte ihn dir schenken ich will ihn gar nicht haben.«

Rosi sah sie ungläubig an. Rosi bewunderte alle Kleider, die Lisette für Lotte nähte. Am liebsten würde Lotte ihrer Freundin alle diese Kleider schenken, die immer so viel bunter und ungewöhnlicher waren als die Kleider, die alle anderen Mädchen trugen. Sie wollte nicht anders sein. Sie wollte einfach nur dazugehören. Aber mit den außergewöhnlichen Kleidern, die ihre Mutter für sie anfertigte, war es unmöglich, einfach dazuzugehören.

Es war natürlich genau so, wie Lotte es erwartet hatte. Alle steckten die Köpfe zusammen, als sie in ihrem neuen kornblumenblauen Mantel auf den Schulhof kam.

»Siehst du«, sagte sie zu Rosi, die den Mädchen, die am Fenster saßen und dumm glotzten, die Zunge rausstreckte, »ich hätte meinen alten Mantel anziehen sollen.«

Rosi sah sie ungläubig an: »Die sind doch nur neidisch! Das kann dir doch egal sein, du hast einfach den schönsten Mantel vom ganzen Dorf!«

Aber es war ihr nicht egal. Es war ihr überhaupt nicht egal. Sie wollte kein Paradiesvogel sein, und sie wollte auch nicht die Tochter eines Paradiesvogels sein. Bei ihnen zuhause war alles anders. Bei ihnen waren die Wände und die Möbel bunt gestrichen, im Garten wuchsen Blumen in allen Farben zwischen dem Gemüse, und ihre Mutter hatte oft ungewöhnlichen Besuch, über den im Dorf viel geredet wurde. Schauspielerinnen und Künstler, die sich von ihr ungewöhnliche Kleider nähen ließen, aus besonderen Stoffen, die sie eigens in Wiesbaden bestellte. Französische Seide, die weich und kühl über die Haut glitt, raschelnder Taft oder zarter Batist. Aus den Resten nähte sie Kleider für Lotte, und wenn dann immer noch etwas übrig war, verwendete sie die kleinen Stücke für bunte Kissen für die gute Stube. Lotte versuchte sich zu sagen, dass es nicht wichtig war, viele Freundinnen zu haben. Dass die Eschbachmädchen von nebenan ihre besten Freundinnen waren und dass man nicht mehr brauchte. Aber trotzdem. Die Mädchen, die die besten Plätze am Fenster ihres Klassenraums hatten, waren eine große Clique, und sie würde so gerne dazugehören. Sie verstand es ja, wenn ihre Mutter ihr sagte, dass es wichtig war, das zu tun, was man selbst für richtig hielt. Dass es wichtig war, seinen eigenen Weg zu gehen und so zu sein, wie man eben war, ganz egal, was die anderen sagten. Sie schämte sich dafür, dass sie lieber genauso sein wollte wie die anderen, um in die Gruppe der Mädchen am Fenster aufgenommen zu werden.

Als sie nach der Schule zusammen mit Rosi nach Hause ging, überholten die Fenstermädchen sie lachend. Hanne, die so etwas wie die Anführerin der Gruppe war, zeigte mit dem Finger auf sie. »Dass das Bankert sich auch noch rausputzt wie ein Pfau. Dass die sich nicht schämt! Also, meine Mutter sagt immer …«

Was Hannes Mutter immer sagte, konnte Lotte nicht mehr verstehen, denn die anderen hatten laut aufgejohlt. Rosi blieb empört stehen und zog ihre Freundin in den Kolonialwarenladen, vor dem sie gerade standen.

»So ein dummes Zeug, komm, hör gar nicht hin. Ich habe gestern zwei Pfennig gefunden, wir fragen jetzt nach Bonbons.«

Lotte ließ sich in den Laden ziehen, wo Rosi zielstrebig auf die Theke zusteuerte, ihre zwei Pfennige hinlegte und Herrn Rosenkrantz fragte, wie viele Bonbons man dafür denn bekommen könne. Er schaute auf das Geldstück und erwiderte, er würde eigentlich nur Tütchen zu fünf Pfennigen verkaufen. Rosi blickte seufzend auf die bunt bedruckten Papiertütchen, die alle Kinder liebten, weil sie eine Überraschungsmischung aller Bonbons enthielten. Lotte schaute gar nicht auf, sie betrachtete ihre Schuhspitzen und fragte sich, was wohl schlimmer war. Ein herausgeputzter Pfau zu sein oder ein Bankert?

»Aber ohne Ausnahmen ist das Leben ja langweilig.«

Er reichte jedem der Mädchen ein buntes Tütchen über die Theke und zwinkerte Lotte zu, als sie die Tüte in ihre Manteltasche gleiten ließ. »Und das ist bei Menschen übrigens genauso. Langweilig, wenn alle gleich wären, oder?«

Lotte schaute ihn dankbar an und hielt das Tütchen in ihrer Manteltasche ganz fest.

Henriette hatte die Linsensuppe schon auf den Tisch gestellt, und Lotte sah, dass kleine gelbe Eierklößchen darin schwammen. Eierklößchen waren das Beste. Heute war doch noch ein richtig guter Tag.

»Rufst du rasch deine Mutter, dass das Essen fertig ist?«

Lotte lief durch den Garten, um Lisette zu holen, die überrascht von ihrer Näharbeit aufsah, als Lotte ins Atelier kam. Sie hatte wieder die Zeit vergessen, so sehr war sie in ihre Arbeit versunken. Zusammen gingen sie zurück in die Küche, wo die Suppe schon in den Tellern dampfte.

»Und? War es jetzt schlimm, mit einem schönen Mantel in die Schule zu gehen?«

Lisette sah sie fragend an, und Lotte schüttelte den Kopf, als sie ihren Mantel auszog, um ihn in den Flur zu hängen. Mutter musste ja nicht wissen, was die Mädchen gesagt hatten. Es würde sie nur traurig machen. Aber als sie aus den Ärmeln schlüpfte, fiel das Bonbontütchen aus der Tasche.

»Wie kommst du denn zu den Bonbons? Und woher hast du das Geld dafür?«

Lisette und Henriette sahen sie beide fragend an. Lotte hob das Tütchen auf, legte es auf das Küchenbuffet und setzte sich an den Tisch. Stumm rührte sie in ihrer Suppe.

»Lotte?«

»Hab ich geschenkt bekommen.«

»Und wer schenkt dir einfach so Bonbons? Du weißt, dass du keine Bonbons annehmen sollst, wenn niemand dabei ist.«

»Rosi war dabei.«

Lotte druckste herum, sie wollte ihrer Mutter nicht erzählen, wie sie zu den Bonbons gekommen war. Aber natürlich ließ sie nicht locker. So erzählte Lotte eine sehr kurze Fassung, in der zwar der nette Herr Rosenkrantz vorkam, die Worte ›Pfau‹ und ›Bankert‹ jedoch genauso wenig erwähnt wurden wie die Fenstermädchen oder der neue blaue Mantel, mit dem schließlich alles angefangen hatte.

Bevor Lotte nach dem Essen zu den Eschbachs ging, um mit Rosi zu spielen, lief sie zu ihrer Mutter ins Atelier.

Das Atelier war wie ein Gartenzimmer, dessen gesamte Front aus Fenstern bestand, so dass man direkt in den Garten schaute. Im Sommer standen alle Fenster und Türen offen, und Licht und Blütendüfte durchfluteten den Raum. In der kalten Jahreszeit war es hier um einiges kühler als im Haus, nur direkt am Ofen war es richtig warm. Deshalb hatte Lisette ihren Nähtisch nahe an den Ofen gerückt. Im Schrank hinter ihr stapelten sich die Stoffe. Schwerer Samt lag neben kariertem Kattun, buntem Jacquard und schimmernder Seide. Manche Stoffe lehnten auf Rollen gewickelt an der Seite. Lotte liebte besonders die große Kommode, deren Schubladen Samtbänder beherbergten, gestickte und gewebte Borten, Litzen, Knöpfe in allen Größen, die unterschiedlichsten Perlen, funkelnde Pailletten, Seiden- und Tüllblüten in allen Farben. Lotte schaute zu, wie ihre Mutter eine Bluse mit kleinen Perlen bestickte.

»Das wird so schön.«

»Ich wünschte, ich hätte mehr Geduld.« Lisette streckte seufzend den Rücken, der vom langen, gebeugten Sitzen schmerzte. »Oder eine Stickerin, der ich diese Sachen bringen kann.«

»Wenn du willst, lerne ich das, und dann sticke ich alles für dich. Kann man das denn lernen, so schön zu sticken?«

Mutter lächelte sie an. »Das kann man. Wenn du Lust dazu hast, bringe ich es dir bei.«

»Mutter, können wir ein Kleid für Rosi nähen?«

Lisette sah von ihrer Stickerei auf.

»Einfach so? Ein Kleid?«

Lotte nickte.

»Das nächste Kleid, das du für mich nähen würdest, könntest du doch einfach für Rosi nähen?«

»Und was ist mit Käthe?«

Daran hatte Lotte nicht gedacht. Rosis große Schwester Käthe wäre bestimmt traurig, wenn sie kein Kleid bekommen würde.

»Und wenn du das übernächste Kleid dann für Käthe nähen würdest?«

»Du willst für deine Freundinnen auf zwei Kleider verzichten?«

Lotte nickte. »Ich bekomme viel öfter neue Kleider als die beiden. So viele brauche ich gar nicht.«

»Dann hoffen wir mal, dass du nicht so schnell wächst, wenn die nächsten zwei Kleider nach nebenan gehen …«

»Heißt das Ja?«

»Ja. Und du hast recht. Die beiden werden sich bestimmt darüber freuen.«

»Und wenn ich doch wachse, dann setzen wir einfach etwas an.«

Lisette lächelte. »Weißt du, was wir machen? Wir nähen ihnen schöne Kleider für Henriettes Hochzeit. Das wird sie freuen, wenn sie für das Fest etwas Neues anziehen können, oder?«

Lotte strahlte. »Ja! Und ich habe ja schon zwei feine Kleider, ich brauche gar kein neues. Rosi und Käthe brauchen das viel eher.«

»Möchtest du mal eine Überraschung sehen?«

Lotte nickte, und Lisette trat mit ihr hinter den Vorhang, der einen kleinen Raum für Anproben abtrennte. Jetzt stand darin eine Schneiderpuppe, auf der weiße zusammengesteckte Stoffbahnen drapiert waren.

»Wird das Henriettes Hochzeitskleid?«

Lisette nickte, legte einen Finger auf die Lippen, und Lotte tat es ihr lächelnd nach. Sie würde bestimmt nichts verraten.

»So etwas Schönes hatte ich noch nie.« Henriette sah ungläubig an sich herunter, und Lisette ermahnte sie, gerade zu stehen. »Das ist ja wie für eine Prinzessin.«

Henriette stand in ihrem Brautkleid im Atelier, und Lisette betrachtete prüfend, wie das Kleid fiel.

»Oder eine Fee!«, sagte Lotte und sah sich nach dem Nadelkissen mit den Stecknadeln um, weil sie schon ahnte, dass Mutter irgendetwas sehen würde, was noch perfekter werden sollte. Lisette sah immer etwas, was noch perfekter werden sollte. Mit zusammengekniffenen Augen trat sie ein paar Schritte zurück, und genau wie Lotte es erwartet hatte, streckte sie die Hand aus und lächelte, als sie sah, dass Lotte das Kissen schon in der Hand hatte.

»Siehst du es auch? Dieser Ärmel hier sitzt noch nicht so schön, wie er sollte …«

»Ich hatte noch nie schönere Ärmel«, seufzte Henriette und fragte Lotte, wie ihr das Kleid gefiel, während sie sich vor dem Spiegel drehte und versuchte, sich von hinten zu sehen. Das Kleid war wunderschön. Mutter konnte wirklich zaubern. Sie dachte sich Kleider aus, die jeden Menschen schöner machten, ohne ihn zu verkleiden. Henriettes Kleid war zauberhaft und ungewöhnlich, und trotzdem passte es zu ihrer stillen und bescheidenen Art. Es rahmte sie ein wie ein Gemälde. Das konnte ihre Mutter richtig gut. Für jeden das richtige Kleid finden. Nur für sie, für ihre Tochter, bekam sie es nie richtig hin. Lotte wusste nicht, was ihre Mutter in ihr sah, sie wusste nur, dass sie anders war als die Kleider, die Mutter für sie nähte. Der blaue Mantel, das Kleid mit der bunten Borte am Saum. Es waren wirklich schöne Kleider, an jedem anderen Mädchen hätten sie Lotte gefallen. Aber sie fand, sie passten nicht zu ihr.

Mutter zog und zupfte an allen möglichen Nähten herum, überall, wo der Stoff keine Falten warf, wo sich ihrer Meinung nach aber Falten befinden sollten, befestigte sie Nadeln, um die Stellen zu markieren.

»Ich glaube, so ist es gut, oder?«, fragte Henriette, die langsam nicht mehr stillstehen konnte.

»Die zwei Brautkleider, auf die es ankommt in meinem Leben, die müssen perfekt sein, da setze ich all meinen Ehrgeiz dran. Und das ist einmal dieses hier, für die beste Freundin, die man haben kann, und das andere wird das Brautkleid für Lotte. Falls sie mal heiraten sollte.«

»Ich will genau so eines, wie Henriette hat …«

»Du bekommst mal genau das Hochzeitskleid, das perfekt zu dir passt!«

»Warum hast du nie geheiratet?«

Lisette seufzte und antwortete nicht. Stattdessen konzentrierte sie sich sehr darauf, einige Nadeln umzustecken, und Henriette bedeutete Lotte mit Blicken, nicht weiter davon zu sprechen. In dem Augenblick polterte Henri zur Tür herein.

»Oh, was ist das denn?«, rief er erstaunt und blieb wie angewurzelt stehen. »Eine Prinzessin in unserer Mitte!«

Henriette strahlte ihn an. »Ach, Unsinn!«

Lotte konnte jedoch genau sehen, wie sehr es sie freute, dass Henri das sagte.

»Schade, dass ich dich nicht heiraten kann, der Toni hat’s gut!«

»Nein, ich habe es gut, dass der Toni mich nimmt, so alt, wie ich schon bin. Und ohne Aussteuer und alles.«

Lisette schüttelte energisch den Kopf.

»Nein! Er kann wirklich froh sein, eine Frau wie dich zu bekommen. Diese ganze Familie kann froh sein, dich zu bekommen. Aber du vergisst uns nicht vor lauter Toni und Weingut in deinem neuen Leben, oder?«

Henriette lächelte kopfschüttelnd. »Niemals. Ihr seid doch meine Familie.«

Henriette war Mutters älteste Freundin, die bei ihnen wohnte, seit Lotte zur Welt gekommen und ihr Vater im großen Krieg in Verdun gefallen war. Lotte kannte es nicht anders, als dass Henriette bei ihnen wohnte. Sie konnte es sich gar nicht vorstellen, wie es ohne sie hier zuhause sein würde.

Henri schaute ihnen bei der Anprobe zu, aber nach einer Weile rückte er mit seinem Anliegen heraus. Er wollte unbedingt zur Versammlung der Nationalsozialisten, die heute Abend im Ort stattfand.

»Du bist viel zu jung, um das alles zu verstehen.«

Lisette war es nicht recht, dass Henri dorthin ging.

»Ich bin jedenfalls alt genug, um zu verstehen, dass uns alles genommen wurde im letzten Krieg!« Henri brauste sofort auf. »Das kann doch nicht so weitergehen? Sollen sie uns ewig weiter demütigen?«

»Toni geht auch hin«, warf Henriette ein. »Er kann Henri ja mitnehmen, es schadet doch nichts, wenn er sich das alles mal anhört.«

»Unser Vater ist in Frankreich gefallen, und jetzt trampeln sie auf uns herum, als ob das immer noch nicht reicht, was sie uns angetan haben! Und wir müssen sie auch noch durchfüttern. Kistenweise trinken sie unseren Wein! Irgendwann ist auch mal Schluss. Wir müssen unsere Väter rächen.«

Lisette steckte schweigend einige Nadeln fest. »Rache war noch nie ein guter Ratgeber.«

»Wie sollen wir denn wiederbekommen, was uns zusteht? Wann sollen unsere Weinberge denn wieder uns gehören?« Henris Wangen waren rot, weil er sich so aufregte.

»Was diese Sturmabteilung überall anrichtet, das hilft Deutschland aber auch nicht weiter. Man kann nicht einfach auf jemanden draufhauen, nur weil er anderer Meinung ist. Vor allem wird dieser jemand niemals seine Meinung ändern, im Gegenteil!«

»Das werden wir ja sehen.«

Lisette steckte die Nadeln zurück in das Kissen, und Henriette schaute sie fragend an. »Sind wir fertig?«

Lisette nickte, und Henriette drehte ihr den Rücken zu, damit sie ihr die Knöpfchen am Rücken lösen konnte, und zwinkerte Henri zu, ohne dass Mutter es sah.

»Diese Schlägertrupps, das sind doch dumme Jungen, die nur nicht wissen, wohin mit ihrer Kraft, die wird Hitler schon noch zurückpfeifen. Und mit denen will Henri ja bestimmt nichts zu tun haben, oder?«

Henri war Henriette dankbar, dass sie für ihn Partei ergriff.

»Bestimmt nicht! Aber Deutschland war mal ein stolzes großes Reich. Und das muss es doch auch wieder werden. Die Linken sind da keine Hilfe.«

»Es zeigt aber, wes Geistes Kind dieser Hitler ist, dass er solche Leute um sich schart. Und ob das der Weg ist, Deutschland zu Größe zu verhelfen? Schlägereien? Ich weiß nicht.«

»Ich will ja nicht in die SA, ich will mir anhören, was sie zu sagen haben.«

»Gut.« Lisette hatte die Knöpfchen nun alle geöffnet. »Dann geh halt hin. Du hast ja recht, man muss sich auskennen. Aber weißt du«, sagte sie und wandte sich ihm ernst zu, »dein Vater und ich waren immer der Meinung, dass Nationalismus niemals wichtiger sein darf als Frieden. Krieg ist grausam. Und zu großer Nationalismus ist der Beginn davon. Wir sind alle Menschen, egal wo wir aufwachsen. Genau das hätte Emile jetzt zu dir gesagt.«

»Der von Franzosen umgebracht wurde. Das hat ihm nicht geholfen, oder?«

Lotte hielt die Luft an. So etwas hatte Henri noch nie gesagt. Er wurde rot, denn er wusste selbst, dass er zu weit gegangen war.

Lisette sah ihn traurig an und lief dann abrupt aus dem Atelier hinaus in den Garten. Henri blieb stocksteif stehen.

»Geh dich entschuldigen, lauf ihr nach«, sagte Henriette. »Mach schon.«

»Ist doch wahr«, brummte Henri, während er sich langsam in Bewegung setzte, um seiner Mutter zu folgen. Henriette sah ihm mit besorgtem Gesicht nach und streckte Lotte eine Hand entgegen. »Das wird schon wieder, meine Kleine. Mach dir keine Sorgen.«

Aber Lotte wusste genau wie Henriette auch, dass das nicht unbedingt der Fall sein würde. Vielleicht würde Mutter in einer Stunde wiederkommen und alles wäre so wie vorher. Vielleicht würde sie aber auch tagelang in Kummer versinken. Kaum aus ihrem Zimmer kommen, nicht essen, nicht sprechen, nicht nähen. Es kam jetzt seltener vor, dass Mutter in ihr dunkles Trauerloch fiel und das ganze Haus plötzlich gedämpft und still wurde und alle nur noch flüsterten. Aber wenn es passierte, dann war es so, als wäre Mutter verschwunden. Dann war Lotte ganz allein und musste warten. Warten, bis Lisette von selbst wieder auftauchte. Und man wusste nie, wie lange es dauern würde und wie viele Versprechungen dem schwarzen Loch zum Opfer fallen würden. Der Ausflug zum Rhein? Kakaotrinken in Schlangenbad am Wochenende? Zusammen in die Heidelbeeren gehen? Alles fiel dann aus. Alles. Oder der schreckliche Tag, als sie mit Mutter hier alleine gewesen war und die Künstlergesellschaft aus Wiesbaden vorbeigekommen war. Eine Schauspielerin aus Berlin war in einem Stück im Wiesbadener Theater zu sehen und hatte spontan beschlossen, sich von Mademoiselle Winter eine neue Garderobe entwerfen zu lassen. Aber Mutter hatte stumm im Bett gelegen und nicht reagiert, und Lotte hatte nicht gewusst, was sie den wartenden Künstlern sagen sollte, die unterm Pfirsichbaum lagerten und Wein tranken. Irgendwann hatte der netteste von ihnen, Jakob Scheerer mit dem großen Schnäuzer, nach Mutter geschaut. Der Maler kam oft vorbei auf seinen langen Spaziergängen und machte Skizzen im Garten, den er in wildflammenden Farben malte. Lotte war es oft ein bisschen unheimlich, wie ihr Garten auf den Bildern aussah. Jakob war traurig von oben wieder heruntergekommen, hatte Lotte übers Haar gestrichen und alle dazu gebracht, wieder zu gehen. Wenn Mutter in das Trauerloch fiel, blieb nur eines: abwarten.

»Jetzt musst du mir wohl helfen, das Kleid auszuziehen, schaffen wir zwei das zusammen?«

Lotte nickte und stieg auf einen Stuhl, um das Kleid behutsam an den Schultern festzuhalten, während Henriette vorsichtig aus dem Kleid schlüpfte, ohne dass die Nadeln sie piksten oder herausfielen. Zusammen hängten sie es über die Schneiderpuppe, und Lotte zupfte es wieder in Form, so wie Lisette es immer machte, während Henriette sich ihr Alltagskleid aus Waschkattun wieder anzog.

»Sie wird doch jetzt ganz bestimmt nicht traurig, weil du doch bald heiratest und dein Kleid brauchst, oder?«

»Da wirst du recht haben, mein Lottchen. Komm, wir räumen hier noch ein bisschen auf, dann füttern wir Berta, und dann richten wir das Abendbrot.«

Berta hatte immer Hunger. Die Ziege senkte den Kopf und stupste Lotte an, wenn sie ihr alles aus den Händen gefressen hatte. Doch nie stupste sie so fest, dass es wehtat. Es war ihrer beider Spiel. Und nichts fand Lotte so lustig wie Berta, wenn sie den Kopf schief legte und ungläubig meckerte, weil Lottes Hände leer waren. Wann immer Lotte Kummer hatte, pflückte sie Bündel von Spitzwegerichblättern, weil Berta die am liebsten mochte, und schaute bei ihr vorbei. Und wenn Berta dann wieder den Kopf schief legte, musste Lotte einfach lachen. Bei schlechtem Wetter stand die Ziege in ihrem kleinen Verschlag und freute sich besonders über Lottes Besuch, manchmal so sehr, dass sie tolle Sprünge machte. Bei gutem Wetter war sie draußen irgendwo angebunden, und man musste immer aufpassen, dass das Seil nicht so lang war, dass sie Mutters Salatbeet erreichen konnte. Henriette hatte Lotte beigebracht, wie man sie melkte, und auch, wie man erst Sahne und dann Butter aus der Milch machte, und Lotte kannte alle Geschichten, wie die Ziege ihnen während der Hungerszeiten mit ihrer Milch geholfen hatte. Jetzt half die Ziege Lotte auch, mit ihren lustigen Grimassen und tollen Sprüngen. Und Lotte fand das genauso gut, wenn nicht sogar besser als die weiße Ziegenbutter.

Am Tag vor der Hochzeit saß Lotte auf Henriettes Bett und schaute ihr beim Packen zu. Mit jedem Stück, das Henriette einpackte, wurde Lotte ein wenig schwerer zumute. Henriette besaß nicht viel. Alles, was ihr gehörte, passte in eine Tasche und in eine leere Weinkiste, die sie von Tonis Weingut mitgebracht hatte. Als Henriette alles verstaut hatte, setzte sie sich neben Lotte. Sie schwiegen und betrachteten die gepackte Tasche, die Henriette nun mitnehmen würde in ihr neues Leben. Lotte lehnte stumm ihren Kopf an ihre Schulter, ihr Herz war schwer wie Blei. Henriette schlug den Arm um sie und zog sie an sich. Natürlich wusste Lotte, dass Henriette glücklich war, einen Mann gefunden zu haben, der sie heiratete und in seine Familie aufnahm. Obwohl sie keine Mitgift hatte und obwohl sie schon beinahe vierzig Jahre alt war. Henriette hatte immer gedacht, sie würde mal eines von den alten Fräuleins werden, aber jetzt würde sie eine Winzersfrau sein und mit Toni und seinen Eltern auf deren Weingut im Ort leben. Natürlich freute sie sich. Aber es war so traurig, dass Henriette sie deshalb verlassen musste.

»Ich bin ja nicht weit weg«, versuchte Henriette sie zu trösten. »Der Hof ist keine fünf Minuten von hier, du kommst mich jeden Tag besuchen, hm? Sonst vermisse ich dich doch viel zu sehr.«

Lotte nickte stumm.

»Und du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, auch mitten in der Nacht, wenn es sein muss, das vergisst du niemals, ja?«